Persona: Shadows of Mirror von ShioChan (Kagami no Kage) ================================================================================ Kapitel 123: CXXIII – Schmerzhafte Erinnerungen ----------------------------------------------- Dienstag, 29.September 2015 Gemeinsam mit Akane verließ Mirâ die U-Bahnstation in Jûgôya-ku, von welcher aus sie zu ihrer Schule gelangten, und schaute überrascht auf Hiroshi, welcher bereits am Ausgang auf sie wartete. „Morgen“, hob er zur Begrüßung die Hand. „Ohayou Hiroshi-kun“, grüßte auch die Violetthaarige ihren Kumpel, welcher ihr ein liebevolles Lächeln schenkte. „Kommt nicht oft vor, dass du uns hier abfängst“, meinte Akane, welche genau wusste, dass Hiroshi immer eine andere U-Bahn nahm und sie sich deshalb eher selten auf dem Weg trafen, „Hat das nen Grund?“ Der Blonde kratzte sich am Hinterkopf: „Wenn ich ehrlich bin, dann schon… es gibt da etwas, was mich beschäftigt.“ Seine Sandkastenfreundin hob die Augenbraue: „Etwas privates? Oder etwas wegen der Spiegelwelt? Dann sollten wir das lieber alle gemeinsam besprechen.“ „Nein, es reicht, wenn Mirâ davon erfährt“, meinte der junge Mann nur, was die beiden Frauen dazu veranlasste sich kurz gegenseitig fragend anzusehen, „Ich weiß nicht, ob ihr das schon mitbekommen habt, aber wir haben seit gestern einen neuen Referendar an unserer Schule.“ „Ah dieser grauhaarige Typ. Meinst du den?“, fragte Akane frei heraus und bekam daraufhin ein Nicken als Antwort, „Was ist mit dem?“ „Sein Name ist wohl Narukami Yu. Er ist seit gestern auch Trainer des Fußballclubs. Aber… findet ihr es nicht auch komisch, dass mitten im Schuljahr ein Dozent an unsere Schule wechselt? Ganz zu schweigen, dass ich das Gefühl habe, dass mit dem Typen etwas nicht stimmt“, Hiroshi hatte sich den Finger ans Kinn gelegt und wirkte, als würde er über etwas nachdenken. Überrascht sah Mirâ ihren Kumpel an. Er hatte also auch so eine Ahnung wie sie. „Ich weiß was du meinst, Hiroshi-kun“, sagte sie deshalb, „Ich glaube auch, dass da etwas nicht ganz stimmt. Aber wir sollten die Situation vielleicht erst einmal beobachten und nichts überstürzen.“ Ihre beiden Freunde, die sie bereits seit Beginn dieses Abenteuers begleiteten, sahen sie kurz fragend an, doch schienen es dann ebenfalls für besser zu halten, das Ganze zu beobachten. Unnütz in Gefahr bringen wollten sie sich immerhin auch nicht. Es war klar, dass die Sache zum Himmel stank, doch sich kopflos hinein und am Ende vielleicht noch in eine aussichtslose Situation zu stürzen, brachte sie auch nicht weiter. Deshalb machte Mirâ den Vorschlag, dass sie die Sache noch einmal in Ruhe mit den anderen besprechen sollten, sobald sich die Gelegenheit ergab. Nickend stimmten ihre Klassenkameraden ihr zu und beließen es erst einmal dabei. „Aber hört mal, ich hab da noch was…“, meinte die Violetthaarige plötzlich und bekam so wieder die volle Aufmerksamkeit ihrer Freunde, „Seit gestern erreiche ich Mika nicht mehr. Ich habe es mehrmals versucht, aber sie reagiert nicht. Das macht mir wirklich Sorgen.“ „Gestern war Vollmond, oder?“, fragte Akane, „Vielleicht hat sie eine Spur aufgenommen und deshalb nicht mitbekommen, wie du sie gerufen hast.“ Mirâ dachte über die Worte ihrer Freundin nach. Da war natürlich etwas dran. Über diese Möglichkeit hatte sie gar nicht nachgedacht. Es konnte natürlich sein, dass wirklich jemand drüben war und Mika dessen Spur aufgenommen hatte. Plötzlich merkte die Oberschülerin, wie ihre innere Unruhe langsam abklang. Ein wenig jedenfalls, denn ein einige kleine Zweifel und damit Sorge blieben. Trotzdem beließ sie es erst einmal dabei. Mit Sicherheit würde sich Mika bei Gelegenheit bei ihr melden. So versuchte sie erst einmal nicht weiter darüber nachzudenken, während sie mit ihren beiden Freunden die Schule erreichte. Der restliche Schultag verging weitgehend ereignislos, weshalb die Stimmung zwischen Mirâ und Akane ziemlich ausgelassen war, als diese das Schulgebäude verließen. Sie hatten sich vorgenommen noch einen kurzen Abstecher in der Innenstadt zu machen und einen Bubble Tea zu trinken und etwas zu bummeln, bevor sie Nachhause fahren würden. Ausgelassen unterhielten sich die beiden jungen Frauen auf dem Weg zur U-Bahn, als Akane etwas im Augenwinkel auffiel. Sie stoppte in ihrem Satz und blickte fragend auf die andere Straßenseite, wo sie Hiroshi, Shuya und Naoto erkannte. Zweiterer winkte den beiden Mädchen zu, was für sie eine Aufforderung sein sollte, kurz zu ihnen zu stoßen. Akane jedoch hatte nicht wirklich Lust dazu, vor allem nicht, nachdem sie Obata gesehen hatte. Zwar war sie während der Klassenfahrt mit ihm ausgekommen, aber auch nur um den Frieden in der Gruppe zu bewahren. So jedoch ging sie ihm lieber weiterhin aus dem Weg. Doch bevor sie irgendwie protestieren konnte, hatte Mirâ sich bereits bei ihr untergehakt und sie in die Richtung der Jungs gezogen. „Na ihr beiden? Auf dem Heimweg?“, fragte Shuya grinsend. „Fast, wir wollten noch einen Bubble Tea trinken gehen“, antwortete Mirâ lachend. „Klingt lecker. Können wir uns euch anschließen?“, kam eine weitere Frage des Blau-Violetthaarigen, welcher kurz darauf jedoch von Hiroshi unterbrochen wurde. „Ich dachte wir wollten auf den Bolzplatz“, gab er seinem Kumpel einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. Dieser zuckte kurz zusammen: „Ach ja… vergessen…“ „Oh man Shuyan, war doch dein Vorschlag“, lachte Naoto. „Na dann hat sich das ja erledigt. Komm Mirâ, wir gehen, bevor es zu voll wird“, zog Akane leicht an Mirâs Ärmel, weil sie nur noch schnell wegwollte. Fragend richteten sich die roten Augen ihrer besten Freundin auf sie, während diese zu einem Satz ansetzen wollte. Doch ehe die Violetthaarige etwas sagen konnte, ertönte plötzlich ein hämisches Lachen in ihrer Nähe, weshalb sie den Blick abwandte. Dieser richtete sich daraufhin auf zwei junge Männern in typischen schwarzen Oberschuluniformen mit Stehkragen. Dieser wiederum war blau und von einem weißen Streifen durchzogen, ebenso wie der breite Saum der Jacken. Neben sich vernahm Mirâ ein genervtes „oh nein“, doch bevor sie darauf reagieren konnte, begann bereits einer der beiden Jungs das Gespräch. „Wenn das nicht Shuya ist“, sagte er fies grinsend, „Ist ja lange her. Du bist ja wirklich an die Jûgôya gegangen. Hätte gar nicht gedacht, dass du die Aufnahmeprüfung dort bestehst.“ Sein Blick wanderte hinter den Blau-Bioletthaarigen zu Hiroshi und Naoto: „Gleiches gilt für euch beide. Pff. Sag mal, Shuya, wird es dir nicht langsam leid, dich mit diesen Loosern von Gaijins zu umgeben?“ Überrascht über diesen Ausdruck, riss Mirâ die Augen auf. Sicher, Hiroshi und Naoto sahen nicht unbedingt wie typische japanische Jungs aus, doch niemals wäre sie auf die Idee gekommen, sie als Ausländer zu betiteln. Und vor allem so abwertend. Sie wollte etwas sagen, doch plötzlich trat Akane vor: „Na hört mal…“ Auch sie stoppte plötzlich, als Shuya sich vor sie stellte und sein Gegenüber böse anschaute: „Hast du ein Problem damit, dass ich auf die Jûgôya gehe? Oder seid ihr neidisch? Für mehr als die Yûzora hat es bei euch ja anscheinend nicht gereicht. Also lasst mich mit eurem dummen Gesülze in Ruhe und macht euch vom Acker. Es ist und bleibt meine Sache, mit wem ich mich umgebe.“ Damit hatte er sich in Bewegung gesetzt und ging. Seine Schulkameraden folgten ihm und ließen die beiden perplex wirkenden Schüler zurück. „Irgendwann kriegst du das zurück, Nagase!“, rief einer der beiden ihnen noch nach, doch Shuya hob nur zum Abschied den Arm und reagierte nicht weiter darauf. Schweigend lief die Gruppe daraufhin einige Meter nebeneinander her. Mirâ lagen verdammt viele Fragen auf der Zunge, doch sie traute sich nicht diese auszusprechen, zumal seit dem Zusammentreffen eine so merkwürdig gedrückte Stimmung war. Plötzlich jedoch hielt der Blau-Violetthaarige an und veranlasste so auch den Rest der Gruppe stehen zu bleiben. „Hiro, Nao. Sorry deswegen…“, wandte er sich mit einem kleinen Grinsen an seine beiden Kumpels, welche jedoch nur den Kopf schüttelten. „Wir sind es doch gewohnt. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Shuyan“, meinte Hiroshi lächelnd und mit den Schultern zuckend, welchem Naoto nur nickend zustimmte. „Ähm… entschuldigt, wenn ich da so direkt frage. Aber was sollte das von denen?“, stellte Mirâ nun doch die Frage, die ihr auf der Seele brannte und auf die kurzes Schweigen folgte. Ihr blonder Kumpel seufzte plötzlich und kratzte sich am Hinterkopf: „Tja… wie erkläre ich das jetzt?“ Fragend sah die Oberschülerin den jungen Mann an, welcher zu überlegen schien wo genau er anfangen sollte. „Weißt du“, versuchte Naoto einen Anfang zu finden, „Diese beiden sind mit uns gemeinsam auf die Mittelschule gegangen. Und… naja…“ „Diese beiden Ar***** haben Hiroshi extrem gemobbt“, kam es plötzlich von Akane, welche den Blick gesenkt und ihre Hände zu Fäusten geballt hatte, „Bringt es doch einfach auf den Punkt!“ Sofort war die Aufmerksamkeit aller, allem voran Mirâ, auf die Brünette gerichtet. Doch so schnell wie die Violetthaarige zu ihrer besten Freundin geschaut hatte, so schnell war ihr Blick auch wieder zu Hiroshi gewandert. Dieser hatte ein kleines Lächeln auf den Lippen, welches die junge Frau jedoch nicht wirklich zuordnen konnte, und beobachtete seine Sandkastenfreundin. Egal wie sie es drehte und wendete, sie konnte das Gesagt nicht wirklich zuordnen. Sicher, es würde einiges erklären, vor allem sein Verhalten in Ryus Dungeon, doch es passte einfach nicht. Hiroshi wirkte nicht, wie der Typ Mensch, der normalerweise zum Opfer von Mobbing wurde. Der Blonde schien ihren Blick auf sich zu bemerken und nickte dann, bevor er sich abwandte. Seufzend lehnte er sich an das Geländer hinter sich und blickte gen Horizont: „Akane hat Recht… Weißt du, ich war nicht immer so, wie jetzt. In der Grund- und Mittelschule hatte ich überhaupt kein Selbstvertrauen und habe versucht jedem Streit aus dem Weg zu gehen. Ich konnte mich nicht wehren, weil ich zu viel Angst davor hatte. Dazu hatte ich von Natur aus schon immer hellere Haare als alle anderen, was selbst den Lehrern sauer aufstieß. Also war ich das perfekte Mobbingopfer. Während der Grundschulzeit und im ersten Jahr der Mittelschule habe ich mich deshalb hauptsächlich hinter Akane versteckt. Und sie ist für mich jedes Mal in die Presche gesprungen und hat versucht mich zu verteidigen.“ „Mit mäßig Erfolg, wie ich gesehen habe…“, murmelte Erwähnte. Hiroshi sagte dazu erst einmal nichts, sondern erzählte weiter: „Nachdem du die Schule gewechselt hast, Akane, wurde es tatsächlich schlimmer. Ich hatte keine Lust mehr in die Schule zu gehen, aber hatte keine andere Wahl. Wie hätte ich das auch erklären können? Hilfe von Lehrern konnte ich auch nicht erwarten. Denen war nur wichtig, dass ja nichts davon nach außen gelang. Und meine Eltern? Mit denen konnte ich auch nicht drüber sprechen. Rin wollte ich damit nicht belästigen. Tja… ich war irgendwann soweit, dass ich einfach nur verschwinden wollte. Und wäre Shuya damals nicht gewesen…“ Er brauchte nicht einmal weiterzusprechen, damit Mirâ verstand, was er damit sagen wollte. Mit vor den Mund gelegten Händen starrte sie ihren Kumpel geschockt an. Sie wusste gar nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihre Freundin Akane jedoch schon. Diese stürmte plötzlich an ihr Vorbei und packte Hiroshi wütend am Kragen. „Sag mal willst du mich verarschen?“, schrie sie ihn an. Ruhig blickte er sie jedoch nur mit seinen blauen Augen an und brachte sie dann mit einem gekonnten Griff dazu ihn loszulassen. Auch als er sein Hemd wieder richtete sagte er nichts dazu. Stattdessen ergriff Shuya das Wort: „Ich habe damals, als ich in Hiros und Naos Klasse gekommen bin mitbekommen, dass die Klasse es auf ihn abgesehen hatte. Weil ich sowas von meiner Schwester kannte und wusste, wohin das führt, habe ich versucht dagegen vorzugehen. Das Beste ist natürlich jemanden in die Klasse zu integrieren, was allerdings ein wenig Mitarbeit desjenigen bedeutet. Wenn derjenige sich sperrt wird es schwer. Hiro war leider am Anfang so ein Fall, was ich allerdings bei jahrelanger Schikane auch verstehen kann. Es hat mich einiges an Zeit gekostet überhaupt sein Vertrauen zu bekommen, was unsere Klasse wieder versucht hat zu zerstören. Ich wollte nie wieder miterleben, wie sich jemand etwas antut, weil er von anderen fertig gemacht wird. Vor allem, wenn es sich dabei um Familienmitglieder und Freunde handelt. Deshalb bin ich bis heute froh, dass ich damals rechtzeitig kam.“ Überrascht sahen die beiden Frauen zu Shuya, welcher nur leicht grinste. „Ich hab doch mal erwähnt, dass ich Shuyan einiges zu verdanken habe. Jetzt wisst ihr, was ich damit meinte…“, meinte Hiroshi; den Blick wieder auf den Horizont gerichtet. Wieder breitete sich Schweigen aus. Doch wie hätte es anders sein sollen nach solch einem Thema? Mirâ wurde allerdings einiges klar. Sie verstand nun, wieso die Freundschaft der beiden Jungs etwas so Besonderes war und wieso die Sache mit Ryu und Megumi Hiroshi so an die Nieren ging. Und gleichzeitig dankte sie Shuya dafür, dass er damals an Ort und Stelle war. Wie hätte sie sonst Hiroshi kennenlernen können? Klar und deutlich spürte sie das warme Glühen in ihrer Brust, welches dieses Mal jedoch um einiges stärker war, als sonst. „Entschuldige Mirâ. Aber mir ist gerade die Lust auf Bubble Tea vergangen. Ich geh nach Hause“, sagte Akane plötzlich mit zittriger Stimme. Sie hatte den Blick gesenkt und die Hände zu Fäusten geballt, was darauf schließen ließ, dass sie kurz davor war zu weinen. Angesprochene ging auf sie zu und wollte mit ihr sprechen, doch ehe sie die Brünette überhaupt erreicht hatte, rannte diese plötzlich davon. Vollkommen perplex von dieser Reaktion sah Mirâ ihr kurz nach, bevor sie sich ebenfalls in Bewegung setzte. Sie rief den Jungs noch eine Verabschiedung zu und folgte dann ihrer besten Freundin. In so einer Situation wollte sie sie nicht alleine lassen. Dass Hiroshi ihnen dabei mit traurigem Blick nachschaute, fiel ihr nicht auf. Es dauerte eine Weile, bis Mirâ ihre beste Freundin eingeholt hatte, was vor allem daran lag, dass diese eindeutig eine bessere Ausdauer hatte, als sie selbst. Doch endlich schaffte sie es deren Hand zu greifen und sie damit zum Anhalten zu bewegen. „Akane… ich verstehe dich. Mich hat es auch geschockt, was ich da gehört habe“, sagte sie vorsichtig, „Möchtest du darüber sprechen?“ „Sag mir bitte, dass das nur ein böser Traum war, Mirâ“, nuschelte die Brünette nur verzweifelt, doch bekam darauf keine Antwort, „Verdammt… verdammt… verdammt…“ Ihre beste Freundin wusste nicht, was sie darauf sagen sollte: „Ich verstehe dich…“ Ihr Gegenüber schüttelte jedoch plötzlich den Kopf: „Nein Mirâ. Entschuldige, aber das tust du nicht… weißt du… ich habe Hiroshi immer verteidigt, weil ich dachte, ihm damit zu helfen. Aber eigentlich habe ich damit nichts erreicht… viel mehr… oh Gott… Mirâ, er wollte dich das Leben nehmen! Ich kann das nicht glauben!“ „Das ist aber nicht deine Schuld, Akane. Du hast getan, was du für richtig hieltest“, versuchte Mirâ sie zu beruhigen. Doch wieder schüttelte Akane den Kopf: „NEIN! Ich hätte… ihm anders helfen müssen…“ Plötzlich versagten dem braunhaarigen Mädchen die Beine und sie sackte auf die Knie, während ihre Freundin dies zum Anlass nahm sie in den Arm zu nehmen und fest an sich zu drücken. Just in diesem Moment konnte Akane ihre Tränen nicht mehr unterdrücken und fing bitterlich an zu weinen. Mirâ unterdessen schwieg und rieb ihr nur beruhigend über den Rücken. Sie gab der Brünetten die Zeit, welche sie brauchte, um das gehörte zu verarbeiten. Dass es sie härter treffen würde, als die Violetthaarige, war vorhersehbar, immerhin stand Akane Hiroshi viel näher, als sie selbst. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass sie so reagierte. So saßen die beiden Oberschülerinnen eine ganze Weile auf dem Boden, bis sich die Brünette langsam wieder beruhigte. Erst dann ergriff Mirâ wieder das Wort: „Hör zu Akane. Ich bin mir sicher, dass Hiroshi dir nie irgendwelche Vorwürfe gemacht hat. Mit Sicherheit war er dir dankbar, dass du für ihn da warst, auf deine Art. Also hör bitte auf dir Vorwürfe zu machen.“ „Meinst du?“, schniefte Angesprochene und bekam dafür ein Nicken als Antwort, „Ich hoffe du hast Recht. Danke Mirâ. Dafür, dass du dabei und dann einfach da warst.“ „Das ist doch selbstverständlich, Akane. Du bist immerhin meine beste Freundin“, kam es lächelnd zurück, woraufhin die andere junge Frau ihr erneut in die Arme fiel. Wieder breitete sich das warme Glühen in ihrer Brust aus, als sie nun endlich auch verstand, wieso die brünette Schülerin im Dungeon so auf Hiroshis Gefühlsausbrüche reagiert hatte. Am späten Abend hockte Akane auf der Couch im Wohnzimmer und hatte dabei die Beine eng an sich gezogen. Mit immer noch roten und geschwollenen Augen starrte sie auf ihr grünes Smartphone, auf welchem sie den Nachrichtenchat mit Hiroshi geöffnet hatte. Die letzten Nachrichten waren bereits einige Tage alt, was daran lag, dass sie meisten nur in der Gruppe schrieben. Nur wenn es um wirklich private Dinge ging, schrieben sie sich direkt. Aber auch das war mittlerweile recht wenig geworden. Das letzte Thema betraf wieder einmal Rin. Sie hatte Hiroshi vor einigen Tagen gefragt, ob es diesbezüglich etwas Neues gab, doch bisher war alles unverändert. Nun jedoch starrte sie auf das geöffnete Antworten-Feld und die einzelnen Schriftzeichen, die sie nur auswählen musste, um einen Text zu verfassen. Doch sie zögerte. Was sollte sie auch schreiben? Sich entschuldigen, dass sie so reagiert hatte? Oder ihn fragen, ob er bescheuert war? Oder sollte sie sich doch lieber nach seinem persönlichen Befinden erkundigen? Andererseits hatte er sie ja auch nicht gefragt. Murrend sank ihr Kopf auf ihre Knie. Sie war wütend, wusste allerdings nicht genau auf wen. Auf sich selbst, weil sie nichts ändern konnte? Auf Hiroshi, der dass die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte? Auf diese Idioten, die ihn ständig fertig gemacht hatten? Es war egal, denn nichts davon ergab Sinn. Erschrocken ließ Akane beinahe ihr Smartphone fallen, als dieses unvermittelt begann zu klingeln, während das Display Hiroshis Namen anzeigte. Überrascht darüber, dass er sie just in diesem Moment anrief, wo sie überlegte ihm zu schreiben, nahm sie das Telefonat entgegen. "Ja?", fragte sie und versuchte so normal wie möglich zu klingen. Das allerdings ging daneben, denn ihre Stimme zitterte und verriet so ihre Verunsicherung. Sie schluckte und hoffte, dass Hiroshi es nicht mitbekommen hatte. Die kurze Stille, welche jedoch folgte verriet ihr, dass er es sehr wohl mitbekommen hatte. "Hast du kurz Zeit?", fragte er ohne direkt darauf einzugehen, "Wenn ja, können wir uns kurz treffen? Am Pilzspielplatz?" Überrascht weiteten sich kurz die Augen der Brünetten, bevor sie jedoch zustimmte und auflegte. Eine viertel Stunde später saß sie auf besagtem Spielplatz auf einer der Schaukeln und sah sich um. Obwohl dieser Ort mittlerweile in die Jahre gekommen war, so hatte er nichts von seinem Charme verloren. Seinen Namen hatte er von den verschiedenen großen Steinstatuen, in Form von Pilzen, die über den Platz verteilt waren und die zum Klettern einluden. Ein kleines Lächeln legte sich auf Akanes Lippen, als sie sich daran erinnerte, wie sie gemeinsam mit Hiroshi als kleine Kinder über den Platz getobt waren, während ihre Eltern oder Rin auf sie aufgepasst hatten. Ständig war sie auf die Pilze geklettert und hatte versucht ihren Kumpel dazu zu bewegen es ihr gleich zu tun. Damals war er allerdings noch ein kleiner Angsthase gewesen und hatte sich dagegen gewehrt. Trotzdem hatten sie hier viel Spaß zusammen. Und dass, obwohl ihr Kumpel es damals sowohl in der Schule, als auch Zuhause nicht einfach hatte. Plötzlich wurde ihr Blick traurig, während sie sich wieder an das Gespräch am Nachmittag erinnerte. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und ihr wurde übel, als sie daran denken musste, was sie über Hiroshi erfahren hatte. Sie senkte den Blick. Wie konnte es nur dazu kommen, dass er so verzweifelt war und keinen anderen Ausweg sah? Schuldgefühle kamen in ihr auf. Bereits nachdem sie erfahren hatte, was geschehen war, fühlte sie so. Wäre es anders gewesen, wenn sie ihn anders unterstützt hätte? Oder wenn sie weiterhin Kontakt gehabt hätten? Sie presste die Lippen aufeinander, als ihr so ganz langsam bewusstwurde, welchen Fehler sie damals begangen hatte. "Ist lange her, was?", holte Hiroshis Stimme sie aus ihren Gedanken. Erschrocken sah sie zu ihrem Kumpel, welcher, mit den Händen in den Hosentaschen, gemütlich auf den Spielplatz geschlendert kam und neben ihr zum Stehen kam. Sofort wandte sie sich wieder dem Boden zu. Sie konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen. Es quietschte, als sich Hiroshi neben ihr auf der Schaukel niederlies und mit dieser leicht hin- und herpendelte, während er sich mit den Füßen vorsichtig abstieß. Dann kehrte wieder Stille ein, welche nur durch das leise zirpen der letzten Zikaden unterbrochen wurde. "Dir ist klar, wieso ich das bisher nicht erwähnt habe... oder?", unterbrach Hiroshi das Schweigen mit dem Blick gen Himmel gerichtet, "Mir war klar, dass du so reagieren würdest, wenn du davon erfährst..." "Was... ist damals passiert?", fragte Akane kleinlaut ohne aufzuschauen, "Wieso bist du auf so einen irrsinnigen Gedanken gekommen?" Sie spürte trotzdem den kurzen Seitenblick des Blonden auf sich ruhen. "Hm...", kam es kurz von dem jungen Mann, welcher nun ebenfalls auf seine Schuhe schaute, "Ich hab versucht alleine klar zu kommen, nachdem du weg warst. Für unsere Klasse war das damals einfach nur ein gefundenes Fressen, aber ich dachte nur dran, dass es irgendwann auch mal zu Ende sein würde. Dann kam Shuya an unsere Schule..." Ganz ruhig erklärte er ihr, wieso sein Kumpel am Nachmittag meinte, dass er Schwierigkeiten hatte sich mit ihm anzufreunden, weil er sich so gesperrt hatte. "Du hast ja bestimmt selber mitbekommen, dass Shuyan jemand ist, der immer und überall sofort Anschluss findet und jeden mitzieht. Das war mir, der von solchen Menschen bisher immer nur fertig gemacht wurde, einfach zuwider. Ich dachte, wenn ich mich auf ihn einlasse, würde er das auch nur ausnutzen und mich später gemeinsam mit der Klasse fertig machen. Also bin ich ihm aus dem Weg gegangen", erklärte Hiroshi weiter und musste plötzlich leicht lachen, „Er war echt hartnäckig und deshalb bin ich irgendwann eingeknickt. Aber ich war echt skeptisch…“ Er erzählte weiter, dass das seiner Klasse allerdings ein Dorn im Auge war, immerhin habe Shuya ihn damals dazu gebracht mehr an sich selbst zu glauben und Selbstvertrauen aufzubauen, sodass er es sogar bereits schaffte sich gegen Kleinigkeiten zu wehren. Zusätzlich baute ihn damals auf, dass sein Kumpel ihn zum Fußballclub geschliffen hatte und er dort, mit einigen Ausnahmen, auch endlich Anschluss fand. Das machte ihn zusätzlich etwas stärker. Aber das schützte ihn nicht gänzlich vor den Sticheleien der anderen. "Dass ich Shuya als Kumpel hatte, machte es einfacher... dachte ich jedenfalls", meinte er weiter, "Aber wie gesagt, die anderen hat das genervt...“ Ein Seufzen entkam seinen Lippen, bevor er erzählte, wie er eines Morgens in die Klasse kam und vor dem Lehrerpult die Unterlagen lagen, die er am Vortag zum Lehrerzimmer hätte bringen sollen. Da er allerdings noch mit dem reinigen der Tafel beschäftigt war, hatte Shuya ihm angeboten die Unterlagen dorthin zu bringen. „Er war auch mit den ganzen Papieren losgelaufen und hatte mir am Ende sogar bestätigt, dass alles erledigt sei…“ Als sein Lehrer das Chaos bemerkte, bekam er tierischen Ärger. Auch seine Verteidigung brachte nichts. Sein Lehrer meinte damals einfach nur, dass er nicht einfach eine Ausrede für sein Fehlverhalten suchen sollte. So hatte Hiroshi begonnen zu glauben, dass Shuya ihn betrogen hatte und ihm mit der Aktion eine auswischen wollte. „Eigentlich hätte mir klar sein sollen, dass er sowas nie gemacht hätte, aber ich habe ihm einfach zu wenig vertraut und nur geglaubt, was ich sah“, erzählte er weiter und erwähnte dabei, dass er sich dann einfach nur verraten gefühlt hatte. Er fühlte sich einfach nur furchtbar alleine gelassen. Hilfe, die er sich holen wollte, wurde hart abgelehnt. Und er dachte, dass die Menschen, denen er vertraut hatte, ihn verraten hatten. Er war der Meinung gewesen, dass er nicht einmal mit seiner Familie darüber sprechen konnte. Seine Mutter hätte ihm sowieso nicht geglaubt. Dann kam an diesem besagten Tag auch noch dazu, dass seine Eltern am Morgen einen Streit hatten. Nachdem seine Mutter ihm auch noch suggeriert hatte, dass es mal wieder seine Schuld war und ihm dann auch noch die Sache in der Schule widerfahren war, fiel einfach der Schalter. „So richtig registriert, was danach passiert ist, hab ich erst, als Shuya versucht hat mich davon abzuhalten über den Zaun auf dem Dach zu klettern“, ging es weiter- Der junge Mann spürte den geschockten Blick der Brünetten auf sich, doch reagierte nicht darauf. Er selbst erinnerte sich ja selber nicht gerne daran. Stattdessen meinte er nur, dass es kein Aufsehen diesbezüglich gab, da Shuya der Einzige war, der das mitbekommen hatte. Damals hatten sie sich sogar geprügelt, weil Hiroshi so wütend auf den Blau-Violetthaarigen war. Dieser hatte sich darauf eingelassen, einfach nur, damit der Blonde damals seinen Frust loswerden konnte: "Danach hat er mir erzählt, was mit seiner Schwester passiert ist und dass er deshalb so ist, wie er ist und er mir wirklich nur helfen wollte. Ich hab diese Hilfe dann angenommen und selber etwas dafür getan, um aus diesem Strudel herauszukommen. Ach, und letzten Endes kam heraus, dass einer unserer Mitschüler, mit denen Shuya eigentlich auskam, für das Chaos mit den Unterlagen verantwortlich war. Aber eine Entschuldigung des Lehrers oder der Verantwortlichen habe ich nie bekommen.“" "Entschuldige...", kam es plötzlich von Akane, "Hätte ich dich damals anders unterstützt, dann wäre es wohl nicht so weit gekommen. Ich... hatte damals immer das Gefühl, ich müsste dich beschützen, aber... vielleicht hätte ich anders reagieren sollen oder dir helfen sollen selbstbewusster zu werden. Stattdessen bin ich immer gleich dazwischen gegangen, was dazu geführt hat, dass du dich hinter mir versteckt hast und sie dich erst recht fertig gemacht haben, nachdem ich weg war. Außerdem... hätte ich dich wohl nach meinem Umzug mal besuchen sollen. Nicht mal das habe ich für nötig gehalten. Ehrlich gesagt dachte ich anfangs, dass es vielleicht besser wäre, erstmal etwas Abstand zu dir zu nehmen, damit du für dich stärker wirst. Und plötzlich warst du auch nicht mehr auf dem Handy erreichbar. Da dachte ich, dass du mich wirklich nicht mehr brauchst und habe mich erst recht nicht mehr getraut, zu dir zu kommen. Hätte ich damals doch nur anders reagiert... in allen Situationen... es tut mir so leid, Hiroshi..." Eine Hand legte sich auf ihren Kopf, den sie wieder hängen ließ, und wuschelte ihr leicht durch das Haar. "Du brauchst dich weder entschuldigen, noch dir für irgendwas die Schuld geben", meinte der Oberschüler neben ihr nur ruhig und erklärte dann, dass es nichts brachte sich nun darüber den Kopf zu zerbrechen, was gewesen wäre, wenn etwas anders gelaufen wäre. Er selbst hatte oft genug darüber nachgedacht und war letzten Endes zu dem Entschluss gekommen, dass es wohl nichts geändert hätte. Es gab eben Dinge, mit denen sie lernen mussten umzugehen, selbst wenn es verdammt schwer war. Und letzten Endes war ja dank Shuya nichts geschehen und er lebte noch. Den aufkommenden Protest seiner Sandkastenfreundin unterband Hiroshi schnell, als diese versuchte den Kopf zu heben, indem er diesen wieder sanft nach unten drückte. Er ahnte, dass sie eine Diskussion mit ihm beginnen würde, was gewesen wäre, wenn Shuya eben nicht da gewesen wäre, doch auf so ein Gespräch wollte er sich nun nicht einlassen. Auch darüber hatte er sich immerhin schon oft genug Gedanken gemacht. "Fang damit bitte nicht an. Es ist okay so", meinte er nur, "Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass ich immer froh war, dich als Freundin zu haben. Zu wissen, dass du immer auf meiner Seite warst, hat mir wirklich geholfen und mir die Tage einfacher gemacht. Und ja, es war schwer, als du plötzlich nicht mehr da warst, aber auch daran bin ich ja irgendwie gewachsen. Ich konnte mich ja auch nicht ewig hinter dir verstecken. Oder?" Er lachte, merkte aber das Beben in Akanes Körper, welches kurz darauf von Schluchzen begleitet wurde, bevor die junge Frau bitterlich in Tränen ausbrach. Hiroshi ließ sie gewähren und gab ihr die Zeit, die sie brauchte, während er ihr weiter über den Kopf strich. Es war abzusehen, dass es so enden und sie sich Vorwürfe machen würde. Aus diesem Grund wollte er ihr davon auch gar nicht erzählen. Akane hatte sich immer für ihn verantwortlich gefühlt. Seit dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Und er hatte es zugelassen und diese Art von Hilfe zu gerne angenommen, immerhin war es der einfachste Weg gewesen. Im Nachhinein hätte er schon damals mehr an sich arbeiten müssen, doch er hatte es nicht für nötig erachtet, denn Akane war ja immer da. Und diese Einstellung hatte sie beide nun an diesen Punkt gebracht, an dem sie jetzt waren. So verging einiges an Zeit, bis sich die Brünette wieder soweit beruhigt hatte. "Geht es wieder?", fragte Hiroshi sanft und bekam als Antwort ein Nicken, woraufhin er sich lächelnd von der Schaukel erhob, "Ich hoffe du verstehst, wieso ich es lieber für mich behalten hätte. Ich rede ja selber nicht gerne drüber, immerhin weiß ich selber wie dumm dieser Gedanke war. Aber nun weißt du auch, wieso mich die Sache mit Ryu und Megumi erst recht beschäftigt hat. Aber ich denke um die beiden braucht man sich keine Sorgen machen. Megumi ist geistig viel stärker, als ich damals. Es hat mich wirklich erstaunt, wie erwachsen sie mit der Sache umgeht. Hätte ich damals nur halb so erwachsen denken können, ich wäre wohl nie auf den Gedanken gekommen, aufs Dach zu steigen. Und Ryu... naja er macht Fortschritte und hat gelernt, dass es keine Schwäche ist sich Hilfe zu suchen. Es ist ja nicht so, dass er nicht die Kraft hätte sich verbal zu wehren. Ihm fehlt es wohl einfach nur an körperlicher Kraft, aber das wird er schon aufholen." Akane beobachtete ihn eine Weile und lächelte plötzlich auch wieder: "Du bist auch ziemlich stark geworden..." "Hm?", fragend drehte sich der junge Mann zu ihr um, weil er nicht genau verstanden hatte, was sie gesagt hatte. Die Brünette jedoch schüttelte nur den Kopf, stand mit Schwung auf und boxte ihm plötzlich leicht mit der Faust in den Rücken, was den Blonden mit einem Schmerzenslaut nach vorne stolpern ließ. Protestierend wollte er sich zu ihr umdrehen, doch wurde von der Brünetten unterbrochen. „Ich bin froh, dass du noch lebst…“, murmelte Akane peinlich berührt, was ihrem Kumpel daraufhin jedoch ein Lächeln auf das Gesicht zauberte: „Ja, ich auch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)