Der Sohn des Leuchtturmwärters von Shunya ================================================================================ Kapitel 2: Geisterhafte Erscheinung ----------------------------------- Zurück im Haus sitzen wir uns in Jannes' Zimmer gegenüber und schauen einander unwohl an. Diese Erscheinung am Leuchtturm wirkte unheimlich. „War das wirklich ein Mensch?“, fragt Tom im Flüsterton. „Was denn sonst? Sah ziemlich menschlich aus!“, murrt Jannes, dem der Schrecken scheinbar noch immer in den Gliedern sitzt. „Na ja, vielleicht ist es nur eine lebensechte Vogelscheuche?“, wirft Tom seine Vermutung in die Runde. Ich schüttele den Kopf. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Tom! Das war eindeutig ein Mensch!“ „Aber wie kommt der in den Leuchtturm?“, will Jannes wissen. „Der ist doch abgeschlossen. Ich meine, da hängt doch ein Vorhängeschloss an der Tür!“ Ratlos schweigen wir. „Und wenn diese Person dort eingeschlossen worden ist?“, murmele ich leise. Tom und Jannes sehen mich entsetzt an. „Warum?“, fragt Tom mit großen Augen. „Woher soll ich das denn wissen?“, erwidere ich ärgerlich. Ich lehne mich gegen Jannes' Bett und verschränke die Arme vor der Brust. „Jedenfalls ist das nicht normal, dass da jemand in dem Turm ist!“ Jeder hängt für einen Moment seinen eigenen Gedanken nach. Ich sehe aus dem Fenster und schaue in den Sternenhimmel. Von meinem Platz aus kann ich den unteren Teil der Mondsichel erkennen. Noch immer habe ich das Gesicht mit diesen weit aufgerissenen Augen vor mir. Augenblicklich rinnt mir ein Schauder über den Körper. Was hat es mit dieser Person auf sich und wieso zum Teufel ist es noch niemandem hier in der Gegend aufgefallen, dass jemand im Leuchtturm eingesperrt ist? Das wirkt alles äußerst dubios auf mich. Haben die Inselbewohner etwas zu verbergen? Oder hat ein Außenstehender diese Person dort eingesperrt? „Sollen wir es meinen Eltern erzählen?“, fragt Jannes zögernd. Ich sehe zu ihm und wiege bedächtig meinen Kopf von einer Seite zur anderen. Das wäre wohl am einfachsten. „Meint ihr nicht es wäre spannender, wenn wir der Sache auf den Grund gehen würden?“, fragt Tom plötzlich begeistert und beugt sich vor. „Wir machen es wie Die drei Fragezeichen!“ „Spinnst du?“, entfährt es mir entsetzt. „Das ist eine Jugendbuchreihe und das hier ist die Realität! Wenn wir uns in so ein Abenteuer stürzen, kann das ziemlich hohe Konsequenzen nach sich ziehen! Außerdem sind wir nicht so schlau wie Justus, Peter und Bob!“ „Aber er hat Recht.“ Ich sehe zu Jannes und seufze bitterlich. „Nicht du auch noch!“ „Sieh es doch mal so. Ihr seid diesen Sommer hergekommen und wolltet etwas Aufregendes erleben. Wir lösen das Rätsel um den Leuchtturm!“, meint Jannes. Ich blicke verstört von meinem Cousin zu Tom. Zwei gegen einen. Das ist unfair! „Wie wollt ihr das anstellen? Zum Leuchtturm spazieren, das Schloss öffnen und diese Person herausholen? Stellt ihr euch das echt so einfach vor?“ Ich bin noch immer gegen dieses Vorhaben. Ich wollte ja Sommerurlaub am Strand, aber von einer Rettungsaktion war niemals die Rede gewesen! „Ohne mich!“ Abwehrend sitze ich auf meiner Matratze und sehe die beiden Jungs mir gegenüber griesgrämig an. „Dir ist es also egal, ob diese Person drauf geht?“, fragt Tom mich bestürzt. „Ich meine, dass muss doch schrecklich sein so allein auf sich gestellt zu sein mit niemandem reden zu können und wer weiß, ob dieser Mensch regelmäßig was zu essen bekommt!“, appelliert er an mein Gewissen. „Tom hat Recht, Markus. Wir müssen das Mädchen befreien!“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Wie kommst du darauf, dass es ein Mädchen ist?“ „Na, wegen der langen Haare.“ Irritiert sehe ich Jannes an. Komisch. Hat er nicht richtig hingesehen oder habe ich mich geirrt? Mir kam es so vor als wäre es ein eher männliches Gesicht gewesen. Oder habe ich mich bei all der Aufregung getäuscht? Ich muss zugeben, dass ich das Gesicht nicht allzu gut erkennen konnte, immerhin war es ziemlich finster und der Mond hat den Leuchtturm von der anderen Seite beschienen. Nicht mal das Licht des Leuchtturmes selbst konnte uns dabei behilflich sein etwas zu erkennen. „Ich weiß nicht. Mir behagt das alles einfach nicht.“ „Wir müssen doch einfach nur in der Nacht noch einmal dahin. Das Vorhängeschloss mit dem Schneidbrenner öffnen und dann bringen wir das Mädchen zu mir nach Hause. Wir erzählen meinen Eltern davon, die dann die Polizei rufen und am nächsten Tag stehen wir als Helden in der Zeitung!“, folgert Jannes begeistert von seiner Idee. Skeptisch verziehe ich meinen Mund zu einer Grimasse. Das hört sich bei ihm alles so einfach an. „Das... Mädchen... ist doch in dem Turm eingesperrt. Was machen wir, wenn wir der Person über den Weg laufen, die es dort hingebracht hat?“, frage ich. Wenn die Jungs auf einem Mädchen beharren, dann muss ich mich wohl oder übel geirrt haben. „Sollen wir es tagsüber tun? Meinst du, dann ist es sicherer?“, fragt Tom. „Das glaube ich nicht, immerhin sind tagsüber viele Urlauber am Strand unterwegs. Die müssen uns nur kurz sehen und alarmieren bestimmt die Polizei, weil wir an dem Turm randalieren.“ Jannes nickt bestätigend zu seiner Vermutung und schüttelt den Kopf. „Nachts sieht uns keiner. Da ist es auf jeden Fall sicherer!“ „Vielleicht sollten wir nachher trotzdem noch mal hingehen? Dann können wir uns davon überzeugen, dass da tatsächlich eine Person ist.“ Ich sehe zu Tom und zucke mit den Schultern. Die beiden Jungs sind ohnehin schon bereits voll in ihrem Element und scheinen sich auch nicht mehr wirklich von ihrem Plan abbringen zu lassen. Was bleibt mir da anderes übrig, als mich ihnen anzuschließen? Wenn auch etwas widerwillig. „Wir sollten schlafen gehen, wenn wir die nächste Nacht schon wieder wach bleiben wollen.“ Ich ziehe meine Bettdecke zurück und auch Tom und Jannes verziehen sich in ihre Betten. Ich schlinge meine warme Decke um meinen Körper und obwohl es total warm im Zimmer ist, fühlt sich mein Körper eiskalt an. Mich überkommt ein ungutes Gefühl. Ist das wirklich eine gute Idee mit dieser turbulenten Befreiungsaktion? Es ist frühmorgens. Als ich aufwache, habe ich das Gefühl eine ganze Woche keinen Schlaf bekommen zu haben. Die ganze Nacht habe ich mich unruhig im Bett hin- und hergewälzt. Alpträume von dieser Person im Leuchtturm und dem Dikjendälmann haben mich die ganze Zeit geplagt. Ich sehe zu Jannes' Bett, doch es ist bereits leer. Er scheint wohl schon irgendwo im Haus herumzuturnen. Ich vernehme ein unterdrücktes Stöhnen neben mir. Ich drehe mich auf die Seite und sehe zu Tom, der mit dem Rücken zu mir liegt. Hat er einen Alptraum? Ich fange meistens auch erst morgens mit dem Träumen an. Ich weiß allerdings nie richtig, wann der Traum beginnt, meistens bin ich dann schon mittendrin, aber wie er angefangen hat weiß ich nie. „Tom?“, flüstere ich. Mein Mund ist ganz trocken von der warmen Luft im Zimmer. Ich setze mich auf und klettere zu ihm rüber. „Tom?“, frage ich nun etwas lauter. Er zuckt gewaltig zusammen und sieht erschrocken zu mir. „Wa-was?“ Da er ohne Decke geschlafen hat, kann ich nur zu gut sehen, was er da gerade wirklich treibt. Ich schmunzele. „Was denn? Ich bin aufgewacht und hatte 'nen Ständer! Jannes war eh nicht da und du hast geschlafen wie ein Stein!“, verteidigt er sich grummelnd. Ich grinse breit und sehe auf seine Latte. „Darf ich zusehen?“, frage ich frech. Tom wird knallrot im Gesicht. „Ich kratze dir die Augen aus, wenn du noch weiter da hin guckst!“, meckert er beschämt und zieht seine Boxershorts hoch. „Schadeeeee~...“, gebe ich langgezogen nach. „Ich gucke, ob das Badezimmer frei ist!“, meint Tom mürrisch und steht auf. Er läuft zur Luke und klettert in den Flur herunter. Ich lasse mich derweil lächelnd ins Bett zurücksinken und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Mein Blick fällt kopfüber aus dem Fenster. Ich sehe den beinahe wolkenlosen Himmel. Es verspricht ein schöner Tag zu werden. Mein Blick schweift zu Toms Bett. Der Anblick eben hat sich regelrecht in mein Auge gebrannt. Ich schlucke. Erst vor kurzem ist mir klar geworden, dass ich mich für den männlichen Körper interessiere. Immer öfter bleibt mein Blick auf den Männern hängen als auf Frauen. Etwas ungewohnt ist es ja schon und wirklich wohl fühle ich mich dabei auch nicht wirklich. Tom weiß ja mittlerweile von meinem Geheimnis und ich bin wirklich froh, dass er es akzeptiert hat. Ich hatte wirklich Angst, dass er dann nicht mehr mein Freund sein möchte. Umso beruhigender ist es zu wissen, dass er mir zur Seite steht. Ich bin schon am überlegen gewesen, es Jannes zu sagen, aber zurzeit bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich notwendig ist. Die Sache mit dem Leuchtturm steht ja seit gestern sowieso im Mittelpunkt. Die Luke öffnet sich. „Was denn? Schon fertig?“, frage ich lachend, doch ich irre mich, denn Jannes' Wuschelkopf taucht im Zimmer auf. „Fertig? Womit?“, fragt er verdattert. „Ach nichts, ich dachte nur Tom kommt rein.“ „Aha. Na ja, egal. Meine Mutter meint, wir gehen heute Wattwandern! Ist das perfekte Wetter dafür!“, erzählt er mir begeistert. „Cool!“ Ich setze mich auf und strecke mich ausgiebig. „Kommst du runter? Ma deckt gerade den Tisch zum Frühstück.“ „Ja, gleich.“ Jannes verschwindet wieder. Ich zerre mir die verschwitzten Klamotten vom Leib und ziehe mir etwas Frisches über. Da Tom im Bad ist, muss ich wohl oder übel bis nach dem Essen auf eine kühle Dusche warten, obwohl ich kein Problem damit haben würde mit ihm zusammen zu duschen. Ich öffne die Luke, lasse sie auf und laufe die Treppe herunter. Aus dem Badezimmer höre ich das Rauschen der Dusche und laufe direkt in die Küche, wo es schon herrlich nach Kaffee und frisch aufgebackenen Brötchen duftet. Die Terrassentür ist geöffnet, so dass die frische salzige Luft hereinströmt. Ich setze mich neben Jannes an den Tisch. „Guten Morgen, Markus? Gut geschlafen?“, fragt meine Tante, woraufhin ich nicke und nach einem Brötchen greife. So richtig Hunger habe ich eigentlich noch nicht wirklich, trotzdem esse ich lieber etwas. Nach kurzer Zeit gesellt sich auch Tom zu uns an den Tisch, mir gegenüber. Wir schmieden Pläne und versuchen uns nicht anmerken zu lassen, dass wir für die Nacht ein ganz anderes Abenteuer planen. Trotzdem werfen wir uns hin und wieder verschwörerische Blicke zu oder müssen ein dreistes vorfreudiges Schmunzeln unterdrücken. Nach dem Essen verschwinde ich im Badezimmer und gönne mir endlich eine wohlverdiente, kühlende Dusche. Bei dem Wetter ist das wirklich eine Wohltat sich den Schweiß der Nacht abzuwaschen. Meine Hände gleiten über meinen Körper. Ich sehe an mir herunter und runzele die Stirn. Obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass ich Männer genau wie Frauen attraktiv finde, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn, wenn es erst mal soweit ist überhaupt hochkriege und dass ich mit 18 Jahren immer noch keinen Sex hatte ist fast noch deprimierender. Besonders, wenn ich mitbekomme, dass jüngere Knirpse aus der Schule noch vor mir Sex haben. Wie frustriert müssen dann erst die Leute sein, die noch später ihr erstes Mal haben? Seufzend trockne ich mich mit einem Handtuch ab und ziehe mir meine Klamotten über. Ich suche Tom und Jannes, die im Garten auf den Gartenstühlen in der Morgensonne brutzeln und sehe hinaus aufs Meer. Mein Blick gleitet aber schnell wieder ins Haus. Ich betrete die Küche und gehe dann ins Wohnzimmer. Meine Tante sitzt auf dem Sofa und liest in einem Magazin. Sie sieht auf, als ich mich ihr nähere. „Na, was gibt’s Markus?“ „Ich wollte mal fragen, ob es hier einen Leuchtturm gibt?“ „Natürlich, wir haben hier einen ganz in der Nähe stehen. Willst du ihn dir ansehen?“ „Äh... ja, vielleicht. Kann man da reingehen?“ „Hm, dass weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Soweit ich weiß ist aber außer dem Leuchtturmwärter schon ewig niemand mehr dort drinnen gewesen.“ Ich setze mich neben ihr auf das Sofa und werfe einen Blick in ihr Magazin, während sie weiterblättert und bleibe noch eine zeit lang bei ihr. „Ich gehe wieder raus.“ „Ist gut, mein Junge.“ Meine Tante lächelt, tätschelt mir den Kopf und widmet sich wieder ihrem Heft. Ich trotte hinaus zu den Jungs. Sehr viele Informationen habe ich ja nicht bekommen. Mir sind allerdings auch nicht gerade viele Fragen eingefallen. Am Nachmittag, mein Onkel hat sich inzwischen auch wieder blicken lassen, fahren wir zu einer Führung am Strand, die etwas weiter entfernt ist. Meine Verwandten kennen sich zwar gut mit den Gezeiten aus, aber mit einem Führer eine Wattwanderung zu unternehmen ist doch wesentlich sicherer. Mein Onkel parkt den Wagen auf einem Besucherparkplatz und zusammen laufen wir hinunter an den Strand. Momentan ist Ebbe und für etwa ein oder zwei Stunden können wir uns im Watt austoben. Unsere Leiterin sieht auch gar nicht mal so übel aus. Sie hat rötliche Haare, eine nicht zu verachtende Oberweite und ist ziemlich schlank. Tom und Jannes belagern sie von Beginn an und stellen ihr lauter Fragen, die so gar nichts mit Wattwandern zu tun haben. Ich lächele darüber nur und laufe über den matschigen Grund. Meine Füße versinken im Schlick und so hocke ich mich hin und grabe ein wenig, bis ich einen Wurm finde. Ich trage ihn eine Weile mit mir herum, ehe ich ihn wieder frei lasse und zusehe wie er sich ein neues Versteck im Matsch sucht. Jannes jammert herum, weil er in eine Muschel getreten ist, was zwar keine Verletzung mit sich gebracht hat, aber manchmal ist selbst er eine unverbesserliche Dramaqueen. Tom gesellt sich zu mir. Auch seine Beine sind mittlerweile ganz verdreckt. Grinsend sieht er mich an und legt mir einen Arm um die Schultern. „Na, alles klar, du Einzelgänger?“, fragt er munter und drückt mich an sich. Ich lächele und strecke ihm die Zunge heraus. „Und du baggerst unsere Führerin an?“, necke ich ihn. „Man will ja nichts anbrennen lassen und mal ehrlich mit so einer scharfen Braut will doch jeder sein erstes Mal erleben!“ Ich boxe ihm in die Seite und lasse mich mitziehen. Wir trotten hinter der Gruppe her und schnell wandere ich mit meinen Gedanken wieder zu diesem Turm. Ehrlich gesagt will ich da kein zweites Mal hin. Am liebsten würde ich diesen Leuchtturm für den Rest der Ferien aus meinem Kopf verbannen. Kann sich nicht einfach die Polizei darum kümmern wie es sich eben gehört? Ich greife nach Toms Handgelenk und er bleibt überrascht stehen. „Was ist?“ „Glaubst du echt, dass es eine so gute Idee ist heute Nacht noch mal zu diesem Turm zu gehen? Was ist, wenn die Leute auftauchen, die das Mädchen dort eingesperrt haben?“ „Keine Sorge, wenn etwas passiert rennen wir einfach weg.“ Tom grinst unbekümmert und rennt wieder nach vorne. Seine Füße bleiben im Schlick stecken und geben schmatzende Geräusche von sich. Ich schlendere hinter der Gruppe her und als die Wanderung beendet ist, gehen wir alle nach oben an den Strand um uns an einem eisernen Hahn, der auf einem Podest aufgebaut worden ist, die Hände und Beine abzuwaschen. Anschließend fahren wir heim und essen zu Mittag. Erstaunt betrachte ich den Schneidbrenner in meiner Hand. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Onkel tatsächlich einen hat und kann nur hoffen, dass der auch funktioniert damit wir das Vorhängeschloss öffnen können. Wir müssen leider eine ganze Weile warten, denn mein Onkel und meine Tante scheinen noch nicht vorzuhaben schlafen zu gehen, stattdessen sitzen sie vor dem Fernseher, während wir auf dem Dachboden hocken und hibbelig darauf warten endlich mal in die Nacht hinaus zu verschwinden. Abwechselnd schleichen wir hinunter und schauen nach, ob sie noch im Wohnzimmer sind. Es dauert bis Mitternacht, ehe sie sich ins Bett bequemen. Tom ist längst an meiner Schulter eingepennt was ich ehrlich gesagt schon ein wenig genieße. Jannes' Kopf taucht in der Luke auf und triumphierend zeigt er mit dem Daumen nach oben. „Tom, wach auf! Es geht los!“ Müde schmiegt er seinen Kopf an meinen Hals was mir eine wohlige Gänsehaut verursacht, als ich seinen warmen Atem spüre. Ich rüttele unsanft an Toms Schulter. „Wach auf!“ Tom setzt sich gerade hin, reibt sich mit der Hand über sein Gesicht und gähnt. „Bin ja schon wach...“, murmelt er. Ich grinse und erhebe mich, ziehe ihn mit mir hoch und zusammen folgen wir Jannes die Treppe hinunter. Wir schleichen durch das Haus und erreichen die Tür, versichern uns noch einmal, dass uns keiner bemerkt hat und schließen leise die Haustür hinter uns. Aufatmend grinsen wir einander schelmisch an und rennen in die Nacht hinaus. Diesmal fühle ich mich jedoch mit jedem zurückgelegten Meter unwohler. Was ist, wenn uns heute Nacht doch noch jemand bemerkt? Unwillkürlich muss ich mal wieder an den Dikjendälmann denken. Hätte Jannes mir doch bloß nie diese dumme Geschichte erzählt! Ich sehe mich beim Laufen um und halte die Augen offen. Die Mondsichel hat bereits etwas zugenommen und erhellt die Umgebung ein klein wenig, trotzdem müssen wir die Taschenlampe benutzen. Zu meiner Linken höre ich das Meer rauschen. Bald ist Vollmond, stelle ich fest und schaue mir die Sichel noch einmal genauer an. Der Leuchtturm kommt nach einiger Zeit in Sichtweite. Sein Lichtstrahl wandert wie eine riesige Taschenlampe über das Meer. Wir laufen eilig zum Eingang und während die Jungs sich noch einmal das Vorhängeschloss ansehen schaue ich hinauf zum Fenster. Ich sehe etwas, dass wie ein schlaff heraus hängender Arm aussieht, bin mir jedoch nicht sicher und will es ehrlich gesagt auch nicht herausfinden. Der Anblick ist so schon gruselig genug. Vielleicht ist das Mädchen ja mittlerweile tot? Nervös sehe ich mich immer mal wieder um, während Jannes den Griff des Schneidbrenners fest in der Hand hält und die Flamme mit einem kleinen Rädchen aufdreht, warte ich ungeduldig und trete von einem Bein auf das andere. Etwas ungelenk benutzt er das Gerät, schafft es aber dennoch das Vorhängeschloss abzubekommen. Er schaltet den Schneidbrenner aus und wirft das Schloss erleichtert achtlos auf den Boden. Tom greift nach dem Türgriff, bekommt die eiserne Tür allerdings nicht auf. Zu dritt zerren wir an der Tür, die quietschend und zäh nachgibt. Wir blicken in die Finsternis und keiner von uns wagt es den ersten Schritt zu tun. „Freiwillige vor...“, murmelt Tom. Ich sehe von ihm zu Jannes und beide schauen mich erwartungsvoll an. Wieso nur wundert mich das jetzt nicht? Seufzend strecke ich die Hand aus und bereitwillig überreicht Jannes mir die Taschenlampe. „Schisser...“, brumme ich und betrete den Leuchtturm. Muss ich gerade sagen, mir schlottern schon seit einer ganzen Weile die Beine. Ich sehe noch einmal zurück, ob die Jungs mir auch ja folgen. Mit der Taschenlampe leuchte ich die Umgebung ab. Der Boden ist aus hartem Beton, aber außer einigen Sicherungskästen gibt es hier nicht allzu viel zu sehen. Es sind insgesamt 21 Stufen bis zur ersten Etage, die wir erklimmen müssen. Die neue Batterie in der Taschenlampe sorgt zwar für eine bessere Sicht, aber wenn man bedenkt was vor uns liegt beziehungsweise wer uns erwartet wird mir doch ein wenig bange zumute. Vor mir befindet sich eine weitere Tür mit einem Sicherheitsschild, welches den Zutritt verbietet. Wahrscheinlich ist dort drinnen ebenfalls nur Technikkram vorzufinden. „Das ist der Akkuraum. Da sind glaube ich nur Generatoren oder so was drinnen.“ Jannes flüstert es mir leise ins Ohr. Ich nicke und laufe die nächsten Stufen hinauf. Diesmal zähle ich nur 15. Kleine Bullaugen auf dem Weg hinauf, zeigen uns an wie hoch wir bereits gelaufen sind. „Da ist ein Klo...“, stellt Tom entgeistert fest als wir das nächste Stockwerk erreichen und ich mit der Taschenlampe alles absuche. Es gibt sogar eine Dusche und zwei Waschbecken. Alles ist ziemlich dreckig und man merkt, dass hier länger nicht sauber gemacht worden ist. Wieder steigen wir 14 Stufen nach oben und so langsam frage ich mich, wann wir denn nun endlich die Spitze erreichen. Die dritte Etage sieht etwas heimeliger aus, wenn auch äußerst verkommen und wenn man es näher betrachtet wirkt es schon ein wenig wie ein Schlachtfeld. Es gibt eine Essecke, eine Küche und an der Decke hängt sogar eine Lampe, welche aber nur ein schwaches Licht spendet, als Tom sie einschaltet. Auf der Theke steht lauter dreckiges Geschirr und in einigen Ecken sammelt sich der Staub. Wieder zähle ich 15 Stufen, die wir hoch laufen müssen. Nimmt das denn nie ein Ende? Auf der vierten Etage befindet sich ein Schlafraum. Ein paar Schränke und drei Betten, aber scheinbar werden nur zwei benutzt. Die Decken liegen unordentlich zerknüllt auf den Matratzen. „Hm, hier scheint wirklich jemand zu wohnen...“, vermutet Jannes und sieht sich interessiert um. „Leute, hier geht es noch mal 15 Stufen hoch!“, jammere ich und beleuchte ein weiteres, etwas kleineres Schlafgemach. Hier steht bloß ein Bett und auch dieses ist nicht gemacht. Und wieder die gleiche Anzahl an Stufen die ich hochlaufen muss. So langsam spüre ich meine Muskeln, die keinen bock mehr haben. Ich erreiche die sechste Etage und finde eine Tür vor. Mit klopfendem Herzen öffne ich sie, allerdings ist es nur eine kleine Kammer mit irgendwelchen Gerätschaften. Jannes und Tom haben mich inzwischen eingeholt und blicken ebenfalls neugierig über meine Schulter hinweg hinein. Auf diesem Stockwerk befindet sich auch ein Sicherungskasten sowie mehrere Spinde. „Hier geht’s weiter nach oben!“, meint Tom etwas lauter und hastig zischen wir ihm zu damit er nicht allzu laut wird. Tom lächelt verlegen und deutet mit der Hand eine weitere Treppe hinauf. Noch ein letztes Mal erklimmen wir 14 Stufen. Das erste was meine Taschenlampe erfasst ist der große gläserne Behälter, der das Licht auf seine Reise aufs Meer schickt. Es sieht schon recht beeindruckend aus. „Ich habe die Tür nach draußen gefunden!“, meint Jannes triumphierend und öffnet sie. Was ich ursprünglich also für ein Fenster gehalten habe war eine Tür. „Whoa, da ist sie!“, brüllt er plötzlich. Ich renne zu ihm, zerre ihn zurück und halte meine Hand auf seinen Mund. „Scheiße, willst du sie verschrecken?“, meckere ich ungehalten und merke, dass wir uns auf einer Aussichtsplattform befinden, welche im Kreis verläuft. Ich leuchte mit der Taschenlampe zu dem Mädchen hinüber. Verschreckt zieht sie die Beine nahe an den Körper, die eben noch über die Aussichtsplattform gebaumelt sind und hält sich an einer Sprosse fest, kauert sich zusammen und rutscht rückwärts von uns weg. Ihre Haare sind tatsächlich sehr lang, etwas verwildert und strähnig. Sie trägt ein verwaschenes ausgeleiertes Shirt, das wohl mal weiß gewesen sein muss. Es sieht eher gräulich aus. Sie trägt eine beigefarbene Shorts und ist barfuß. „Hallo!“, grüße ich sie leise und versuche mich ihr vorsichtig zu nähern. Mir klopft das Herz bis zum Halse und ich merke wie meine Stimme vor lauter Aufregung leicht zittert. Die geisterhafte Erscheinung war also doch kein Trugbild. Hier lebt tatsächlich ein Mensch und wahrscheinlich nicht alleine. „Wir wollen dir helfen. Ich und meine Freunde. Wir können dich hier aus dem Leuchtturm herausholen.“ Ich strecke meine Hand aus, doch das Mädchen rutscht weiter von mir weg. Hilfesuchend sehe ich zu Tom und Jannes, doch die geben mir mit Handzeichen zu verstehen, dass ich weitermachen soll. Seufzend widme ich mich wieder dem Mädchen. „Wir wollen dir nichts antun. Wir wollen dir doch bloß helfen.“ Vorsichtig strecke ich erneut die Hand aus und versuche ihr die Haare aus dem Gesicht zu schieben, doch sie zuckt zusammen und geht erneut auf Abstand. Aus dem Inneren des Leuchtturmes höre ich plötzlich von den Wänden widerhallende schwere Schritte, die sich uns immer weiter nähern. Mir gefriert das Blut in den Adern. Ich sehe zu den Jungs auf, die ebenfalls zur Tür schauen. Wir sind nicht allein. Irgendjemand kommt hier hoch und wird längst bemerkt haben, dass die Tür gewaltsam geöffnet worden ist. „Wir müssen hier weg!“, flüstert Jannes panisch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)