Trümmerliebe zu falschen Zeit von Sternenschwester (Hetalia-Challenge Juni) ================================================================================ Kapitel 1: Trümmerliebe zu falschen Zeit ---------------------------------------- Berlin - 1947 Ivan blickte nur kurz auf als die Türe beinahe lautlos aufging und der Teppich dumpf die Schritte des Ankömmlings dämpfte. Mit einem unbeholfenen Zug unterschrieb er noch schnell das Dokument, welches vor ihm lag, bevor er vollends seine Aufmerksamkeit dem Mann zuwandte, welcher nun sein Büro mit seiner ganzen Anwesenheit ausfüllte. Er wusste nicht, was genau es war, aber wenn der Sekretär des amerikanischen Diplomaten einen Raum betrat, so war er automatisch dessen Mittelpunkt. Es war unmöglich einen Alfred F. Jones zu übersehen oder gar zu ignorieren. Dabei verhielt sich Jones ganz entgegen des Klischees eines diplomatischen Angestellten. Seine Haltung war meist zappelig und nervtötend ungeduldig, ganz zu schweigen, dass er häufig unnötig viel Gebrauch von seinem viel zu lauten Organ machte. Doch auch in seiner Erscheinung fiel der Amerikaner auf. Ungewöhnlich jung für seinen Posten, besaß er ein jugendliches, weiches Gesicht, welches von einer feinen, quadratischen Brille dominiert wurde. Die gewöhnlichen blauen Augen blickten meist ungesund vertrauensselig in die Welt, auch wenn sich Ivan persönlich überzeugen konnte, dass der Junge alles andere war als ein unbeschriebenes Blatt. Nur entzogen sich die kaum sichtbareren Wörter und Krakeleien den gewöhnlichen Blicken seiner Mitmenschen, die einfach zu sehr von seinem sonnigen Lächeln eingenommen wurden. Aus den Augenwinkeln konnte Ivan beobachten wie der junge Amerikaner ungeduldig an seinem Hemdärmel zupfte. Ungewollt schoss Blut dem Russen in Körpergegenden, die für die Situation unpassend erschienen und nur mühsam unterband er den Blickkontakt zu den Blonden. Um sich einen Vorwand zu geben, schob er das Stück Papier zurück in die Akte, aus der er es einst geholt hatte und fischte schon nach der nächsten Mappe. „Was gibt es, Mister Jones?“, fragte Ivan dann dennoch nach, nachdem sich der andere weiterhin ungewöhnlich schweigsam gab. Ein nicht zu hörendes Knistern erfüllte die abgestandene Luft des Büros. Ein Knistern, das nur in Ivan wieder hallte und bei dem er auch wusste, dass es der amerikanische Sunnyboy ebenfalls wahrnehmen konnte. Ein zarter, warmer Schimmer legte sich auf die Wangen des Jüngeren und ab diesen Zeitpunkt nahm eine Routine ihren Anfang, deren Ende Ivan seit einiger Zeit Kopfschmerzen und schlaflose Nächte bescherte, aber nach der sein Körper immer wieder lechzte. „Mister Thomson würde Sie bitten, sich dieses Protokoll durchzulesen.“ Mit festem Griff, welcher dem ockerfarbenen Karton einen leichten Knick bescherte, reichte ihm Jones die Dokumentenmappe. Zum ersten Mal seitdem der Sekretär des amerikanischen Diplomaten den Raum betreten hatte, blickte Ivan auf und seine violetten Augen trafen auf die blauen Irden seines Gegenübers. Das Grinsen, welches der Amerikaner Ivans Erfahrung nach immer wie eine Maske vor dem Gesicht trug, verblasste nur einen kurzen Augenblick und der große Russe meinte, die Gedanken hinter der breiten Stirn tuscheln zu hören. Wortlos nahm er das Angebotene, wobei seine breite Hand wie unabsichtlich die knöchernen Finger des Amerikaners berührte und einen Wimpernschlag zu lang bei ihnen verharrte. Ein kaum zu vernehmbarer Ruck ging durch den Jüngeren und auch die Wangen nahmen nur eine Nuance mehr an Farbe. „Ich werde es zu gegebener Zeit tun.“ Mit Bedacht verstärkte Ivan seinen russischen Akzent und mit Erregung beobachtete er, wie Jones immer unruhiger wurde. Von der werdenden Macht berauscht, die er auf den anderen ausübte verschränkte Ivan, kaum hatte er die Mappe zu den anderen gelegt, ohne sich weiter damit zu befassen, die Finger ineinander und fixierte den jungen Mann vor sich. „Sieht man Sie heute Abend bei der Soirée, Mister Jones?“ Mit einen Schlag schien der Angesprochene ernst zu werden und auch sein Gezappel milderte sich merklich. Doch der abwägende Blick ging Ivan durch Mark und Bein. Es passte nicht zu diesem jungen Mann, auch wenn dem Russen die Gewissensbisse nicht unbekannt waren, die nun hinter den Blonden Strähnen Jones Verstand malträtieren mussten. Nur zu gut kannte er die kleinen Teufel, die einem in schwachen Momenten einflüsternden und das schwache Fleisch noch mehr in die Verfrühung lockten. Der Kampf dauerte jedoch bedeutend kürzer als die letzten Male und geschlagen richtete Jones wieder das Wort an den russischen Diplomaten. „Ich werde heute Abend anwesend sein.“ Ein ihm typisches Lächeln zierte Ivans Züge. Ein Lächeln, welches seinen Feinden, wie auch seinen Freunden, wenn er je welche gehabt hatte, einen merkwürdigen Schauer über den Rücken jagen konnte und auch Jones schaffte es sichtlich nicht sich dieser seltsamen Empfindung gänzlich zu entziehen. „Eine Frage noch, welche Blumen wären angebracht für Mister Thomsons Gattin?“ Die glatte Stirn des Sekretärs legte sich in Falten und ungewöhnlich lange dachte der junge Amerikaner nach, bis er dann langsam antwortete. Zu langsam für eine solche Banalität. „Ich glaube ein kleiner Strauß Krokusse wäre den Umständen her angebracht.“ Ivan verbot sich seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen und trug stattdessen ein Lächeln zur Schau, das zum Wolf gepasst hätte, im Moment bevor er die Großmutter fraß, um dann auf das unschuldige Mädchen mit der roten Kappe zu warten. Dabei hatte Jones keine androgynen Züge und war schwer mit dem Mädchen aus dem Märchen zu vergleichen, wenn man davon absah, dass beide sich mit den Falschen eingelassen hatten. „Mhm, ich glaube mit Verlaub, Jones, ein Strauß Windrosen würden besser zu den blauen Augen der betreffenden Dame passen.“ Obwohl er seine Bemerkung sanft und ohne bestimmenden Unterton ausgesprochen hatte, kam der Druck bei Jones an. Nun war der Rotton auf den Wangen des Amerikaners nicht mehr zu übersehen und auch die Unruhe ergriff wieder Besitz von ihm. Jedoch wies er Ivan nicht darauf hin, dass die Frau seines Vorgesetzten grüne Augen besaß, denn die Dame war irrelevant in diesem Gespräch und würde die Blumen auch nie erhalten. „Wie Sie meinen. Ich werde sehen was ich tun kann.“ Zufrieden nickte Ivan und lehnte sich zurück. Auch Jones nickte gedankenverloren, wobei er beim Sprechen vermieden hatte den Russen anzusehen. Doch dann glitt sein Blick schleichend zu ihm und bedachte ihn lange, wobei sich Ivan sicher war, dass er nach einem Erkennungszeichen suchte, das die Botschaft verstanden worden war. Hitze stieg im Russen auf und er sehnte sich nach dem Augenblick, wo er sich dieser Wärme auf lustvolle Weise entledigen konnte. Kurz schwankte sein Geist zu den Erinnerungen vor ein paar Wochen zurück, als sie ihr Verlangen in diesen Raum bei zugesperrter Tür gestillt hatten. Weiteres Blut pulsierte in seinen Unterleib, als er wieder zurückdachte, was alles auf der Arbeitsplatte seines Tisches geschehen war oder an das verblüffte Gesicht Jones, als er seinen Kopf zum ersten Mal nach unten gedrückt hatte. Es war unvorsichtig von ihnen beiden gewesen. Unvorsichtig und überladen von der Spontanität, die sich ihrer beider an diesem Tag bemächtigt hatte, wenn auch eine Reihe von Anzeichen, diesem ersten ernstzunehmenden Kontakt vorangegangen war. Wie lange waren sie beide umeinander geschlichen, nur um dann aus einer Laune heraus ihren Fantasien freien Lauf zu lassen? Seltsamer waren dann jedoch die darauffolgenden Tage gewesen. Ivan hatte schon befürchtet den Amerikaner für immer von sich weg gescheucht zu haben, bis dieser dann plötzlich mal vor der Tür seines Quartiers gestanden hatte. Er hätte dem Jungen einst den Kopf waschen sollen für diese Torheit. Dass er ihn ausgerechnet bei seiner Unterkunft, wo ihn jeder raus und rein gehen sieht, aufgesucht hat, aber stattdessen hatte er ihn kommentarlos in seine Räume gezogen. Ivan konnte es sich nicht erklären, was genau es war, aber die Anwesenheit dieses Sunnyboys schien sein Gehirn auf ungünstige Weise weichzukochen und ihn selber jede sonstige Vorsicht vergessen zu lassen. Was dann zwischen Tür und Angel begonnen hatte, trieb im Verborgenen und unter Codewörter die seltsamsten Blüten. Der Russe wusste nicht, ob er es Liebe nennen konnte, aber er begehrte den Yankee. Verlangte ihn für sich, auch wenn er sich schmerzhaft der Grenze bewusst war, die immer mehr aufgrund ihrer beider Nationalitäten und Ideologien einen tiefen Graben schaufelte. Doch er genoss ihre Zweisamkeit zu sehr, als dass er ihr kleines Spielchen abbrechen wollte. Er kam und ging, wurde dabei von Alfred nie aufgehalten oder gar verlangte der Amerikaner was. Ivan liebte jedoch mehr die Augenblicke, wenn er noch ein wenig neben dem erhitzen Körper verweilte, irgendwo, wo man sie beide nicht suchen würde und mit dem Jüngeren Banalitäten aus ihrem Leben austauschte, als die Freiheit welche ihm in dieser Beziehung gewährleistet wurde. In diesen seltenen Momenten, wo sie länger beieinander blieben, sprachen sie über Dinge, die sich Abseits des politischen Lebens abspielten und sie beide dennoch bewegte. In diesen Augenblicken fühlte sich Ivan von der politischen Wirklichkeit nie so weit entfernt wie anderswo. Als gäbe es diesen dunklen Schatten, der über Europa und der restlichen Welt lauerte nicht. Dabei lieferten sie sich in diesen Stunden jedoch nicht offen dem anderen aus, sondern blieben lieber bei gröberen Banalitäten. Dieses noch immer vorhandene Misstrauen war zwar schmerzlich und entblößte die Oberflächlichkeit ihrer Beziehung, aber überlebensnotwendig, wenn man ihre Herkunft bedachte. Sie beide hatten zu viel zu verlieren und ihr Schicksal war auch mit anderen Leben verbunden. Ivan hatte eine Schwester, deren Los er bei jedem seiner Handlungen im Kopf behielt. Sein Regime zögerte nicht die Taten eines Einzelnen nur auf den Betreffenden zu projizieren. Doch auch an Jones schien ihre verbotene Beziehung an der Substanz zu zerren, auch wenn dieser seinen Zustand versuchte vor der Welt zu überspielen. Sie waren beide so verschieden und doch gingen sie auf die gleiche Art mit ihrer beider Situation um. Mit einem Ruck in Gedanken, verfrachtete Ivan sein Gewissen wieder in die Realität zurück, zu seinem Objekt der Begierde, welches ihn noch immer mit diesen herrlich banal blauen Augen betrachtete. So wie das Rotkäppchen den bösen Wolf mustern würde. „Richten Sie noch Mister Thomson meine Grüße aus, Genosse.“ Mit Amüsement sah Ivan zu wie Jones bei den Worten leicht die Augen zu Schlitzen verengte und sich dann Richtung Tür wandte. Nachdem er die Klinke ergriffen hatte, drehte sich der Amerikaner noch einmal um. „Übertreibe es nicht, Dude.“ Ohne sich für die Frechheit zu rechtfertigen, verschwand Jones für die nächsten Stunden aus Ivans Leben.   „Nein, Matthew es geht mir gut.“ Sichtlich entnervt fuhr Alfred mit den Fingern die frische Bügelfalte seiner schwarzen Hose nach, während er sich mit der anderen Hand den dunklen Hörer weiterhin ans Ohr hielt. Seinen Bruder konnte er mit dem forschen Ton jedoch nicht überzeugen. Nach einem weiteren kurzen Wortwechsel und einer ruppigen Verabschiedung hängte Alfred den Hörer schließlich auf und verließ die kleine Kabine. Trotz hereinbrechenden Abend war noch nicht viel vom sonstigen hektischen Betrieb im Hotel zu spüren, was aber vielleicht mit der miserablen Situation nach dem Krieg zusammen hing. Sie konnten überhaupt froh sein, dass dieses Etablissement, wenn auch eingeschränkt seinen Gästen inmitten des Elends die Pforten geöffnet hatte. Beim nächsten Spiegel hielt er kurz inne und betrachtete sich kritisch. Ein junger Mann, mit blonden, sauber gescheitelten Haaren blickte ihn ungewöhnlich finster an. Der schwarze Anzug saß genau, die Krawatte zierte perfekt seinen Hals und keine nicht gewollte Falte verunglimpfte sein Äußeres. Sah man ihm seinen inneren Sturm, der tief in ihm tobte, wirklich so sehr an? Oder konnte man seine seelische Erschöpfung an der Stimme erkennen? Für einen kurzen Augenblick schloss er seine blauen Augen und atmete tief die stickige Luft des Foyers ein. Als er danach wieder einen Blick in den Spiegel warf, beglückte er sich selbst mit einem breiten Siegergrinsen, welches er auch sonst ungefragt mit der Welt teilte. Doch das Lächeln schwächelte, als er zögerlich die Blume hervorholte, welche er kurz bevor sein Bruder ihn ans Telefon ausgerufen hatte, besorgen gegangen war. Vorsichtig wickelte er das Windröschen aus und betrachtete es kritisch. Sollte er es wirklich erneut wagen? Was wenn ihnen Fortuna diesmal doch die Gunst versagte oder das Spiel sonst eine böse Wendung nahm? Doch bevor sein Verstand sinnvoll die Risiken und Gefahren zum Vergnügen ausgewogen hatte, nestelten seine Finger schon am Knopfloch. Wenig später prangte das Röschen in seiner unschuldigen Reinheit von seiner Brust. Unwohl fuhr sich Alfred noch einmal über das Gesicht um die Erschöpfung der letzten Tage loszuwerden. Kurze Zeit später fand sich der junge Amerikaner auf der Straße wieder. Kühle Nachtluft umhüllte ihn augenblicklich, kaum hatte er das Foyer verlassen, um sich im schlecht beleuchteten Berlin auf den Weg zu machen. Sicher Alfred hätte sich zur Festivität, wo wieder alle wichtigen Menschen in Berlin um die Macht schlichen, mit einem Fahrdienst hinbringen lassen können. Schließlich war er doch der Sekretär des amerikanischen Diplomaten. Aber das Verlangen bevor er sich in die Höhle des Löwen wagte, die Beine zu vertreten, um noch einmal zu versuchen seine Gedanken zu ordnen, war einfach zu stark gewesen, als dass er sich diesem erwehren konnte. Ebenso wie er nie es schaffte sich diesem verdammten Russen zu entziehen. Vor allem dann nicht, wenn dieser es mit seinem schweren russischen Akzent darauf anlegte. Wärme breitete sich auf seinen Wangen aus und verlegen zupfte sich Alfred den Schal ein wenig mehr ins Gesicht. Doch kaum hatten seine Fingerspitzen das wollene Textil losgelassen, kam ihm der Schal von Braginsky in den Sinn, welchen dieser immer trug, zu jeder Tageszeit. Bilder ihrer letzten intimeren Begegnungen überfluteten das überreizte Gehirn des Amerikaners und die Hitze stieg ihm immer mehr zu Kopf. Wie er letztens ungeduldig die Finger unter den Schal geschoben hatte und an ihm gezerrt hatte, um besser an den breiten Hals zu kommen… Wie der Hüne hastig sein ordentlich gebügeltes Hemd aus der Hose gezupft hatte, um ihn kurze Zeit später gegen die Wand zu drücken… Die unbeherrschten Küsse auf seiner Haut, das Ziehen an empfindlichen Stellen auf seiner Brust, der drängende Druck im Lendenbereich… Alfred blieb kurz stehen und setzte sein rot gewordenes Gesicht der kühlen Berliner Nachtluft aus. Doch die verräterische Färbung war nicht mehr sein einziges Problem. Ein guter Teil seines Blutes hatte beschlossen die Reise nach unten anzutreten und das Pochen im Schritt setzte ein. Der Amerikaner beglückwünschte sich zu seinem Entschluss den eleganteren, längeren Mantel ausgesucht zu haben und verfluchte dazu sein schwaches Fleisch. Um sich abzulenken, ließ er den Blick über seine Umgebung schweifen. Schutt und Trümmer umgaben ihn. Wie schön musste Berlin einst gewesen sein, wenn es nun so hässlich, so dreckig und grau vor seinen Füßen lag. Der Nachthimmel wurde langsam von blau zu schwarz und nur vereinzelt blickten schwache Lichter durch die Dunkelheit. Seufzend nahm der Amerikaner seinen Weg wieder auf. Wie schrecklich schön konnte dieser Fleck auf Erden sein? Er hatte es einst gespürt, dass diese Stadt, nachdem sie von all den Schrecken der letzten Jahre gezeichnet war, nichts Gutes für ihn übrig behalten konnte und er hatte Recht gehabt. Ihre Nächte fraßen ihn in Form eines Russen auf. Ganz egal, ob dieser anwesend war oder nicht. Ein Teil seiner Gedanken kreiste viel zu oft um dessen Gestalt und das war in den jetzigen Zeiten, wo sich ein fürchterlicher Sturm nach dem vergangenen Orkan wieder zusammen braute, höchst ungünstig. Aber das war noch nicht alles. Seitdem er den gefährlichen Tanz mit Braginsky gewagt hatte, wurden seine Träume unruhiger und kürzer, da er immer wieder ruckartig aufwachte. Sein Wesen war nur noch unausgeglichener als früher und seine einstige natürliche Fröhlichkeit wandelte sich immer mehr zum Farce, hinter dem sich Alfred vor der Welt verkroch. Das Beste wäre wohl gewesen, er wäre nach Hause gegangen. Den ganzen Schutt, welcher Europa und Asien in ihm hinterlassen hatten, beiseite zu räumen und es dabei zu vergessen. So wie es wohl das Gesündeste für ihn wäre, dass er für immer die violetten Augen aus seinem Leben strich. Vielleicht sollte er, war er einmal auf den amerikanischen Kontinent zurück, zu Matthew nach Kanada immigrieren und ein neues Leben beginnen. Fern ab vom tödlichen Roulett, das nun am alten Kontinent inszeniert wurde. Doch dann schüttelte Alfred entschlossen den Kopf. Es kam gar nicht in Frage, dass er vor dem Leben die Waffen streckte und er würde den Teufel tun den Schwierigkeiten auszuweichen. Noch weniger würde er Amerika den Rücken kehren. Wenn es bedeutete Leben und Heim zu riskieren, um den dunklen Ritter zu begegnen, dann würde er auch dies tun. Er wusste, dass er fürs Gute kämpfte und auch dran glaubte. Nur in seltenen Momenten beschlich ihn die Frage, ob Braginsky sich nicht die ähnliche Ansichten hinter seiner breiten Stirn zusammen spann. Diese Überlegung kam meist dann, wenn ihn der andere wiedermal mit diesem nachdenklichen Blick bedachte, der dann alles Kindliches verloren hatte. Ein Schein, welcher sonst Braginsky Züge ausmachte und Alfred bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Alfred konnte sich gut daran erinnern, dass es ein bewölkter Tag gewesen war. Ein Tag, wo er noch zu sehr beschäftigt war seine Rolle als Sekretär so gut wie möglich auszuführen. Bis dahin hatte er sich nie als Bürohengst gesehen, doch sein Vater hatte ihm diesen Posten zugespielt, in der Hoffnung sein Sprössling würde dieses weise als Karrieresprungbrett nutzen. Doch durch sein unstetes Gemüt war es Alfred in den ersten Tagen schwer gefallen, sich an die ganzen inoffiziellen Regeln zu halten. Wie gut war ihm der strenge Blick Mister Thomsons in Erinnerung geblieben, wenn er sich durch sein hitziges Gemüt einen Fauxpas erlaubt hatte. Doch dann bei seiner ersten Sitzung mit den Vertretern der Sowjetunion war er auf Braginsky gestoßen und Fortuna hatte wieder mal bewiesen, dass sie einen seltsamen Humor besaß. Er hatte bis dahin viel über den Mann aus Moskau gehört und vieles gab nicht eben Grund zur Beruhigung. Einst soll Braginsky einer der gefürchtetsten Vollstrecker beim Geheimdienst gewesen sein und sein Hang zum berechneten Sadismus war berühmt berüchtigt. Doch auch wenn der Mann, der auf den Platz der betroffenen schwarzen Legende ein Hüne war, und in seiner Uniform noch beeindruckender erschien, passte vieles nicht in das von Alfred davor zusammenphantasierte Bild dieses Russen. Er hatte sich eine finstere Person ausgemalt, mit dichten Bart und stechenden, dunklen Augen. Als er zum ersten Mal in das runde Gesicht gesehen hatte, hatte er keine Härte entdecken können, wie ihm auch nur ein Blick auf eine fassbare Grausamkeit hinter den violetten Augen verwehrt worden war. Alles an diesen Riesen schien zu weich und jung. Als wäre der Russe ein Kind aus dem Nimmerland, nur etwas größer. Die runde Nase, das kurze Kinn, das schüttere mausgraue Haar, die großen violetten Augen, die ihre Umgebung mit kindlicher Neugier musterten. Selbst die Stimme war ungewöhnlich sanft und angenehm tief. Alfred mochte es, wenn sich Braginsky das Wort erhob, was dieser jedoch selten tat. Meistens saß er einfach nur aufmerksam am Tisch, die Finger in einander gekreuzt und seine Mitmenschen aufmerksam beobachtend. Eine seltsame, unheimliche Aura, welche paradoxer Weise durch sein kindhaftes Lächeln verstärkt wurde, umgab den Russen auf näheren Blick und seine spitzen Kommentare waren ebenfalls kein Anlass gewesen das Misstrauen der anderen Partei gegenüber fallen zu lassen. Doch eben diesen Mann war Alfred mit Haut und Haar verfallen. Er war nie dahinter gekommen, was es gewesen war, dass ausgerechnet dieser Hüne auf ihn aufmerksam wurde. Vielleicht war es der Zwischenfall, wo er Oberst Kirkland sein Wasserglas durch eine übereifrige Bewegung über die gestärkte Uniform gekippt hatte. In den darauffolgenden Tumult, welcher durch den französischen Diplomat Bonnefoy ausgelöst wurde, weil sich dieser ein anrüchiges Kommentar nicht verkneifen konnte, spürte er das erste Mal den durchdringenden Blick des Russen auf sich ruhen. Danach war es irgendwie von einen zum anderen gekommen, selbst wenn Alfred wie ein Schlafwandler zu einem Treffen zum anderen gewankt war. Er war zu der Zeit noch immer verwirrt gewesen über seine Gelüste gegenüber den Russen und das Glück auf einen Mann zu stoßen, der mit ihm diese Abweichung der Norm teilte. Dass er anderes gepolt war, wusste er schon seit seiner Jugend und die Zeit in der Marine hatte seine Befürchtungen schwul zu sein bestätigt. Aber wie es nun mal seine Natur war, hatte er sich mit seiner Situation arrangiert, wenn ihn auch Zweifel und Scham über seine Orientierung öfters in stillen Momenten überfielen. Er hatte schon vor Braginsky Liebschaften gehabt, doch diese waren meist flüchtig gewesen und gingen selten über ein paar Nächte hinaus. Es wurde still schweigen akzeptiert, wenn zwei Männer aufgrund mangelnder Anwesenheit von Frauen, gegenseitig halfen ihre sexuelle Triebe zu befriedigen, aber mit den Jahren lechzte Alfred nach mehr. Er wollte sich nicht nur berühren lassen, weil jemand auf einen kurzfristigen Fick aus war. Er wollte mehr als eine Scheinwelt, welche am nächsten Tag wie eine Seifenblase zerplatzte, egal wie schimmernd und spiegelnd die Oberfläche war. Er wollte neben den Zärtlichkeiten und Begehren auch lieben. Das Gefühl bekommen, dass sich jemand ehrlich freute ihm nahe sein zu dürfen. Sich nach ihm sehnte und ihn nicht nur wegen seines Körpers wegen zu sich wünschte. Doch traf dies auf Braginsky zu? Was war es, was den großen Russen bei ihm hielt? Ihn immer wieder dazu drängte, sich mit ihm in versteckten Winkeln zu treffen. Augenblicklich fror Alfred diesen Gedanken ein und erhöhte lieber sein Tempo, um rechtzeitig anzukommen. Er wollte sich nicht der Frage stellen, was sie eigentlich für einander waren. Sicher, Alfred bekam immer öfter das Gefühl, den Wolf von Moskau wie keinen anderen zu kennen und dennoch blieb ihm der Russe bei jedem neuen Aufeinandertreffen immer noch fremd. Sie gaben sich gegenseitig hin, sprachen hin und wieder miteinander, während die verbleibende Lust aus ihnen floss, um einer kurzweilig angenehmen Leere Raum zu lassen, aber mit jedem Mal wurde Alfred unzufriedener. Gut, Braginsky nannte es Freiheit und gerecht, das sie beide jeder Zeit gehen konnten, ohne dass ihnen tiefgehende Beziehungen den Weg versperrten und Alfred fand es auch erst gar nicht schlecht. Doch in letzter Zeit kam dem jungen Amerikaner immer mehr der Verdacht auf, sich zu sehr nach dem anderen zu sehnen, während dieser sich nur an ihn gewöhnt hatte und es als selbstverständlich ansah, dass er für ihn sprang, kaum spürte er einen Druck. Es schmerzte Alfred in Unwissenheit zu leben, dass der Ältere in ihm, wie schon andere zuvor nur den schönen Leib sahen und für ihn seine Anwesenheit als hübscher Zeitvertreib darstellte. Doch Alfred wollte bei diesem Mann mehr sein als nur eine Möglichkeit Druck abzubauen. Mühsam zwang sich Alfred von seiner Grübelei Abstand zu nehmen und wie die Motte, auf ihrem tödlichen Flug zum Licht, hastete der junge Amerikaner weiter durch die Straßen Berlins, ohne sich von weiterem Zweifel den Weg zum Spießrutenlauf gestalten zu lassen. In günstigen Augenblicken ließ Ivan seinen Blick über die Gäste huschen. Es war eine kleine Gesellschaft und gestaltete sich eindeutig zu den Anlässen, die dem Russen ein Gräuel waren. Jedes gefallene Wort, jede gemachte Geste wurde genauestens analysiert und das nicht nur von den Betreffenden selber. Orden blinkten im gelben Licht der Glühbirnen, während die Kleider der Damen raschelten. Von jeder Besatzungsmacht waren Vertreter erschienen und auch wenn jedes Gesicht gute Miene zum bösen Spiel machte, war die Anspannung, welche die Stadt beherrschte, selbst unter den fröhlichen Gesichtern nur zu gut spürbar. Nicht weit von ihm schienen sich jedoch zwei Gäste offen zu einem Streitgespräch hinreißen zu lassen, aber an ihre beiden Anblicke hatte man sich im geteilten Berlin einstweilen gewöhnt. Es war nichts Neues mehr, wenn der französische Diplomat Francis Bonnefoy den englischen Offizier Arthur Kirkland vor allen Leuten zu necken begann. Für eine Weile betrachte Ivan interessiert das kurze Intermezzo zwischen den zwei Parteien, bis sich dann die strenge Begleitung Bonnefoys in den Streit einschalte. Mit ein wenig Feingefühl und vor allem ihrer strikten Aura, schaffte die geborene Monteganesin beide Streithähne erfolgreich auseinander zu bringen. Hin und wieder beneidete Ivan Bonnefoy um diesen treuen Schatten. Die Frau mit den aufmerksamen, blauen Augen und der wallenden, brauen Haarmähne, welche sie im Dienst immer hochgesteckt trug, war die strukturierende Kraft hinter dem charmanten Franzosen. Eine vorbildliche Sekretärin und noch mehr eine bewundernswerte Frau. Wohl auch eine der wenigen, an den sich der Charme Bonnefoys weiterhin die Zähne ausbiss. Die Menge beruhigte sich und ging wieder dazu über den Schein von geeinten Verbündeten vorzugaukeln. Ivan hätte sich ja eine Entschuldigung aus den Fingern gesaugt, wenn diese Abendgestaltung ihm nicht die Möglichkeit geboten hätte Jones wiederzusehen. Hier war neutrales Terrain und weniger auffällig, wenn sie in unmittelbarer Nähe zu einander waren. „Genosse!“ Mit der Trägheit eines Bären, wandte Ivan den Kopf zu Seite und blickte in das schöne Gesicht Natalia Arlovskaya. Liebreizend sah sie ihn an, doch wo bei den meisten anwesenden Männern nun das Feuer entfacht worden wäre, begann es in Ivan nicht einmal zu glühen. Dennoch bedachte er sie mit seinem kindlich naiven Lächeln und nickte ihr zu. „Genossin Arlovskaya.“ Ihre feingeschnittenen Züge hellten sich noch mehr auf. Es war so ungewohnt das zierliche Geschöpf in einem Kleid zu sehen und nicht wie üblich in ihrer sowjetischen Uniform. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir den nächsten Tanz gönnen würden?“ Ihre Worte klangen gefestigt und verlangend, wie jedes Mal wenn sie ihn ansprach. Eine Gänsehaut überzog Ivans Rücken und ein plötzliches Verlangen zu fliehen überfiel ihn hinterhältig. Er wusste nur zu gut, dass man ihn auf den diplomatischen Parkett aufgrund seiner Unberechenbarkeit fürchtete und hinter vorgehaltenen Hand so manche Anekdote über seine Zeit beim Geheimdienst weiterreichte, aber diese Frau machte dem ehemaligen Wolf von Moskau Angst. So wie früher seine „Kunden“ einem Nervenzusammenbruch nahe waren, wenn sie begriffen, wer sich ihrer während der Verhöre annahm, so rang Ivan innerlich um seine Contenance beim Anblick dieses Frauenzimmer. Arlovskaya war penetrant ihm gegenüber, verfolgte ihn mit Inbrunst, wie ein Jäger seine Beute und vergötterte ihn auf eine Weise, die leicht schon an Wahnsinn vorbei schrammte. Je mehr er sie abwies, umso heftiger buhlte sie um seine Gunst und das Jones ihr bisher noch nie vor das Fadenkreuz geraten war, grenzte an ein Wunder. Wiederum hatte dieser Junge auch mehr Glück als Verstand, wie sich Ivan regelmäßig überzeugen konnte. Er war sich sicher, wenn jemand auf den Amerikaner schoss, dann just in dem Augenblick wo sich dieser hinunterbeugte, um eine Dollarmünze aufzuheben. Hastig verschloss er die Vorstellung, Arlovskaya könnte sie beide bei ihren Stelldichein erwischen, zu den Gedanken, die nie zu Ende gedacht werden durften. Zu grauenvoll war das Ergebnis und der Ausgang wäre schlimmer, als eine einfache Fahrt nach Sibirien. Verzweifelt wälzte Ivan seine Gedanken hin und her, um nach einen möglichst eleganten Fluchtweg vor dieser Dame zu finden, da schlug der Zufall erneut willkürlich zu. Doch die Erlösung erschien ihm dann im Nachhinein schlimmer als die Möglichkeit, mit seiner Parteigenossin das Tanzbein zu schwingen und ihrer Besessenheit nach ihm weiter zu befeuern. „Genossin Arlovskaya, ich fürchte, ich kann Ihnen Genosse Braginsky für den kommenden Tanz nicht freigeben.“ Die eisige Kälte in der Stimme umhüllte Ivans Seele, wie immer, wenn ihr Besitzer das Wort in seiner Anwesenheit erhob. Eine schwere Hand drückte sich auf seine Schulter und nicht einmal der steife Stoff seiner Uniform dämpfte das Gewicht. Ivans kindliches Lächeln gefror augenblicklich ein und verlor jegliche Weichheit. „Denn ich muss noch Wichtiges mit unserem Genossen besprechen.“ Auch Arlovskaya hatte ihr Lächeln abgelegt und Ivan konnte in ihrem Gesicht nur zu deutlich das Unbehagen, welches die dunklen Augen, welche auf ihr ruhten auslösten, erkennen. Mechanisch nickte sie und ausnahmsweise beneidete Ivan seine Parteigenossin jetzt um die Möglichkeit nun vor dem Mann hinter ihm zu fliehen. Vorsichtig ging die junge Frau ein paar Schritte zurück, drehte sich dann hastig um und tauchte in das nächste Grüppchen von Gästen unter. „Würdest du mir bitte folgen, Ivan?“ Als Frage gestellt räumte der drohende Unterton jeden Zweifel aus dem Weg, dass es sich um ein Befehl handelte. Die breite Hand auf der Schulter drückte langsam zu und mit innerem Widerwillen drehte sich Ivan um. Kalte, schwarze Augen musterten ihn kühl, aber es barg sich auch ein leichter Spott hinter ihnen. Wie immer, wenn sich Ivan der ungeteilten Aufmerksamkeit des anderen sicher war, füllte ihn eine unangenehme Leere und seine sonst so perfekte Maskerade bekam sichtbare Risse. Obwohl er den Mann seit Jahren kannte, bemerkte Ivan nicht das kleinste Anzeichen der vergangenen Zeit. Das graue Haar war weder weniger geworden, noch heller. Die hochragende Gestalt des Älteren war immer noch imposant und wies keine Anzeichen der drückenden Last des Alters auf. Doch was Ivan noch immer in den Tiefen seiner Seele beunruhigte, war die Kälte, welche sein ehemaliger Vorgesetzter und Mentor ausstrahlte. Eine Gänsehaut kroch dem Russen über den Nacken bis zum Haaransatz, wo er förmlich zu spüren glaubte, wie die ersten feinen Härchen sich aufstellten. In diesen Momenten gab es keine Zweifel, warum der breite Mann immer nur General Winter gerufen wurde und sein richtiger Name schon längst in Vergessenheit geraten war. Ein kurzer, aber umso deutlicher Druck im Kreuz, ließ Ivan in einen Trott verfallen und mit dem General auf den Fersen entfernte er sich von der kleinen Festgesellschaft, um sich dann ein paar Minuten später sich in einem dunklen Konferenzzimmer wiederzufinden. Zu spät wurde sich Ivan wirklich bewusst wohin ihn seine Schritte geführt hatten und in welchen Maße er alleinig auf die unheimliche Gestalt hinter ihm geachtet hatte. Sein Unbehagen, welches sich Nahe an der Angst aufhielt, hatte seine Aufmerksamkeit soweit narkotisiert, dass er im Unterbewusstsein eben in den Raum gelaufen war, wo er sich dann mit Jones unauffällig, wenn die ersten Gäste aufbrechen würden, zurückziehen hatte wollen. Doch nun war es der General, welcher die hohe Flügeltüre hinter ihnen beiden, beinahe lautlos schloss und ihn somit mit sich einsperrte. Wortlos und ohne auf die angespannte Haltung Ivans zu achten, schritt der General zu einem der hohen Fenster, welche noch immer leichte Schäden des Krieges vorwiesen. Für eine kurze Weile, die Ivan so zäh vorkam wie einen amerikanischer Kaugummi, herrschte eine eisige Stille über dem Raum, dessen Blütezeit dank der Auswirkung der letzten Jahrzehnte schon längst hinter ihm lag. Erst das grausame Quietschen der Scharniere der Fenstergläser ließ das Schweigen zerbrechen und kühle Abendluft durchflutete das Zimmer. Kurz glomm ein kleiner roter Schein auf und im Schein einer entfernten Straßenlaterne flüchtete kurze Zeit später unbemerkt Rauch in die Freiheit. „Ivan, komm doch her.“ Innerlich sich gegen den Befehl auflehnend, doch wissend, dass es keinen Zweck hatte, Widerstand auf seine Kosten zu leisten, stellte er sich neben die breite Gestalt des General, welche selbst ihn in den Schatten drängte. Kommentarlos wurde ihm ein offenes Zigarrenetui hingehalten, doch er verzichtete und fischte stattdessen nach seinen Zigaretten. Mit leicht zitternden Fingern zog er eine Nikotinstange aus den Päckchen. Wenig später erfüllte das Schnappen eines Feuerzeuges die kahlen Wände des Raumes. Einst hatten wertvolle Bilder und Möbel hier zum Inventar gezählt, aber der Krieg hatte auch hier sich durchgefressen und alles kahl hinter sich gelassen. Ohne auf die Zurückweisung einzugehen, steckte der General sein Etui in die innere Manteltasche wieder ein und ließ seinen eisigen Blick nach draußen schweifen. „Der diplomatische Dienst tut dir nicht gut.“ Nur mühsam unterdrückte Ivan das Bedürfnis nicht unter den plötzlichen Worten zusammenzuzucken. Die dunklen Augen fuhren langsam seine Gestalt ab und ungewollt, kamen dem Russen Bilder aus der Vergangenheit auf. Bilder und Empfindungen, welche er längst hinter sich gelassen hatte und nur dann wieder hervor brachen, wenn er den Mann neben sich zu nahe an sich heran ließ. Unter inneren Anstrengungen verkniff sich Ivan eine Antwort aus Panik, während er immer mehr sich in die Ecke getrieben fühlte. Die Situation wurde ihm unbehaglich und mit Misstrauen wartete er auf den weiteren Verlauf des Gesprächs. „Was hat einen Mann wie dich dazu gebracht, deine Arbeit im Geheimdienst abzulegen und hier anzufangen. Du warst doch einer unser besten Männer.“ Der stechende Blick zeigte Wirkung und beim nächsten Zug wandte sich Ivan nur kurz zum General um. „Ihr wisst am besten warum ich um meine Versetzung gebeten habe.“ Kurz blitzten die schwarzen Augen in der Dunkelheit auf, doch sonst konnte er keine Reaktion an der Haltung des Größeren erkennen. Eine Schweigepause trat ein und Ivan war sich nicht sicher, ob er dies begrüßen sollte. Doch dann hallte die düstere Stimme erneut von den blanken Wänden des Raumes. „Aber ich habe dich nicht gehen lassen, damit du dich jetzt mit diesen kapitalistischen Abschaum begnügst.“ Ein Eisschauer rauschte kaskadengleich dem Russen den Rücken herunter und für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen brutal weggezogen. Nervös zog er noch einmal an seiner Zigarette und versuchte krampfhaft sich äußerlich nichts anzumerken. Doch der giftige Rauch beruhigte seine bis zum Äußersten angespannten Nerven nicht eine Sekunde und seine Hand, mit der er den Stängel hielt zitterte leicht. Er hätte es ahnen können, das der General nicht lange mit ihm spielen würde, selbst wenn dies hin und wieder seine Art war. Kalter Angstschweiß brach unter den schweren Stoff seiner Uniform aus, während der kühle Nachtwind mit den Enden seines Schals spielte. „Macht es dir Spaß, wenn dieser amerikanische Welpe sich unter dir windet? Wenn du deine Macht über ihn bis zum letzten ausüben kannst.“ Beinahe unmerklich war ihm der General näher gekommen, doch Ivan starrte starr weiterhin auf die leere Straße unter ihnen. „Freust du dich, dass sich der Spieß zu deinen Gunsten gedreht hat und du für einmal oben bist?“ Er wusste, dass sich Atem warm anfühlen musste, aber der Hauch an seinem Ohr, kam Ivan eisig vor. Erinnerungsfetzen vergangener Jahre flogen in einem wilden Wirbel an seinem geistigen Auge vorbei. Wie der Ältere ihn einst berührt hatte, ohne auf seine Angst oder Furcht Rücksicht zu nehmen. Wie der Schmerz, der immer wieder gekommen war, als sich der andere genommen hatte was er wollte, ihn durchflutet hatte. Wie die Scham, diesen Treiben schutzlos und wehrlos gegenüber zu sein, ihn Stunden, Tage und Wochen später noch immer malträtierte. Wie er jedes Mal in Hast und kaum angezogen den Raum, wo es passierte verlassen hatte, immer die dunklen Augen in seinem Rücken spürend. Wie sehr ihn allein schon die Anwesenheit des anderen erdrückt hatte und ihm doch die Möglichkeit zur Flucht aus seinem Schatten fehlte. „Also, kleiner Ivan, hast du mir nicht etwas zu erzählen?“ Alfred hetzte durch die Gänge. Wie von ihm im Unterbewusstsein erwartet, hatte er sich wiedermal von der Distanz her völlig verschätzt und war lange nach dem Beginn des Abends eingetroffen. Erschöpft hatte er sich den Mantel abnehmen lassen und war zur Gesellschaft geeilt. Nach einem kurzen Gespräch mit seinem Vorgesetzten und einer galanten Koketterie mit dessen Gattin, welche schmerzhaft an der Grenze des Anstandes streifte, versuchte Alfred langsam die hünenhaften Gestalt eines gewissen Kommunisten in der Menge auszumachen. Doch egal wie sehr sich der junge Sekretär den Hals verrenkte und aufmerksam die Umgebung im Auge behielt, fand der Amerikaner nicht die Person, welche ihn in Gedanken bis hier her begleitet hatte. Dafür war er bald mit Oberst Kirkland konfrontiert, welcher versuchte seinen Frust, den sich Alfred nur aus einem Streit mit Bonnefoy erklären konnte, auszulassen zu können. Nach einer ermüdenden Diskussion, welche Alfred eine halbe Stunde seines Lebens gekostet hatte, schaffte er es von dem Briten loszukommen. Ein Umstand, welchen er dem französischen Diplomaten zu verdanken hatte, welcher der Aufsicht seiner strengen Sekretärin entfleucht war und nun versuchte seinen englischen Verbündeten in ein hitziges Gespräch zu verwickeln. Wenn die Abwesenheit eines gewissen Russen Alfred nicht besorgt hätte, wäre er dieser amüsanten Vorstellung beigewohnt, doch nun zog es ihn raus aus dem stickigen Saal. Vorsichtig bedacht keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, versuchte der Amerikaner unauffällig das Ende des Saales zu erreichen und durch die hohen Türen zu entfliehen. Ein schlecht erleuchteter Gang breitete sich gähnend vor ihm aus, doch seine Füße kannten den Weg und führten ihn traumwandlerisch vor das Kabinett, an welches er zu gelangen, er erst in ein paar Stunden gerechnet hatte. Ohne Zögern streckte Alfred die Hand nach der alten Messingklinke aus, welche schon locker im Holz hing, da vernahm er tiefe Stimmen hinter der Tür. Eine war ihm nur zu gut bekannt, verfolgte sie ihn doch regelmäßig im Schlaf. Die zweite, nicht hellere Stimme, doch irgendwie viel bedrohlicher, war ihm nicht geläufig, aber auch nicht völlig unbekannt. Doch etwas im Unterton dieser zweiten Stimme klang frostig und verursachte Alfred einen unangenehmen Schauer. Unsicher nahm er wieder die Hand von der Türklinke und drückte vorsichtig ein Ohr gegen die abblätternde Farbe des Holzes. Dumpf erreichte ihn ein Gespräch, dessen Inhalt sich aufgrund der Sprache ihm entzog, doch seine Kenntnis reichte soweit aus es als Russisch zu erkennen. Angestrengt und mit den wenigen Fetzen, die er von der slawischen Sprache beherrschte, konzentrierte er sich auf die Geschehnisse im Raum. Völlig vertieft, bekam er nicht mit, wie sich Schritte leise auf ihn zubewegten. Erst als sich die Türklinke senkte, merkte Alfred den Fehler seiner Unaufmerksamkeit. Hastig entfernte er sich von der Türe, aus der eine breite Gestalt trat. Im fahlen Schein der Lampen erkannte der Amerikaner den Russen, welcher nun vor ihm stand und mit wenig Überraschung in den dunklen Augen ihn von Kopf bis Fuß musterte. Der Mann war größer und imposanter als er es sich in seinen Vorstellungen ausgemalt hatte. Die silbernen Haare und der gleichfarbige Bart umrahmten ein hartes Gesicht, welches von dunklen, beinahe schwarzen Augen beherrscht wurde. Mit Unbehagen ging Alfred instinktiv ein paar Schritte zurück. Durch den stechenden Blick fühlte sich der Amerikaner wie ein Stück Schlachtvieh, welches sich dem Metzger ausgeliefert sah und er ahnte, wie der breite Mann einst zu den Spitznamen General Winter gekommen war. Es war unmöglich die eisige Ausstrahlung nicht zu bemerken. „Ihr müsst Alfred F. Jones sein.“, murrte der Mann in einem fast unverständlichen Englisch. Zu schwer lastete der russische Akzent auf den Wörtern und im Gegensatz zu Braginsky, wo es Alfred sogar erregend fand, schüchterte es ihn nur noch mehr ein. Doch seiner Natur treu raffte der junge Amerikaner all seinen Mut zusammen und stellte, sich wie einst im Krieg seiner Angst. „Ja, der bin ich.“ Er versuchte so gefasst wie möglich zu klingen und stellte sich mit festem Stand vor den General. Dieser begegnete seinem forschen Auftreten mit keiner Regung, nur der Schnurrbart erzitterte kurz vor Amüsement. „Dann lasst Euch eine Warnung sagen, junger Alfred. Jugend alleine schützt einem nicht im Spiel mit dem Feuer oder sollte ich sagen mit dem Teufel.“ Für einen Wimpernschlag lang weiteten sich die blauen Augen, nur um sich dann zu Schlitzen zu verengen. „Soll das eine Drohung sein?“ Ein kehliges Lachen erfüllte den Gang, welches Alfred noch weniger behagte als der stechende Blick. „Ich muss es mir nicht leisten, Euch zu drohen, Genosse Jones. Ich habe Euch schon längst… wie beschreibt Ihr es noch schnell? In der Hand?“ Auch wenn Alfred sich bewusst war, dass die tapezierte Wand zwei gute Meter von ihm entfernt war, meinte er sie nur deutlich genug im Rücken zu spüren. „Ach mein lieber Freund.“ Hohn tropfe wahrnehmbar aus der Stimmlage. „Ein junger Mann wie Ihr mit Ambitionen wird doch schon längst erkannt haben, wie gefährlich eine solche Liaison für die eigene Person sein kann. Vor allem dann, wenn der falsche Vogel der richtigen Stelle sein Lied darüber singt.“ Mit einem Schlag spürte der junge Amerikaner wie ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. „Ich glaube kaum, dass Euer Vater erpicht drauf ist, den Grund für Euer langes Junggesellendasein zu erfahren, nicht wahr? Oder warum Ihr schon seit Jahren Euren Dienst in Europa vorschiebt, um der Heirat in der Heimat zu entgehen.“ Unglaube spiegelte sich in den blauen Augen, doch der amüsierte Blick des Hünen ließ den jungen Sekretär ahnen, dass dieser erst die Spitze des Eisberges aufdeckte und er, Alfred, die Titanic war, welche bei einem ungeschickten Manöver direkt darauf Kurs nahm. „Und wollt Ihr wirklich Euer Los im amerikanischen Dienst für eine Bettgeschichte riskieren?“ Mühsam beherrscht biss Alfred die Zähne zusammen, um nicht auf diese Bemerkung mit einer verbalen Antwort zu reagieren, die er später womöglich bereut hätte. „Ach, gefällt es Euch nicht das ich impliziert habe, das Ihr vielleicht nicht mehr als kurzweiliger Besucher für intimere Zwecke im Leben meines früheren Schützlings seid?“ „Euer… Euer Schützling?“ Für einen Moment vergaß Alfred die Situation, in welcher er steckte und starrte den Sowjetbürger ungläubig an. „Ach, hat Euch Genosse Braginsky nie erzählt, wer sein Vorgesetzter im Geheimdienst war. Wer ihm einst den Posten ermöglicht hatte, welchen er nun bekleidet? Nun sollte ich mich beleidigt fühlen, aber das ist natürlich nichts gegen Euren Schmerz.“ Eine kurze Pause entstand, welche doch bald vom nächsten verbalen Angriff beendet wurde. „Vielleicht solltet Ihr wirklich endlich aus eurem Traum erwachen, Jones. Die Realität nimmt auf Träumer keine Rücksicht. Ein Grundsatz den Braginsky seit seinen Diensteintritt für das Wohl des sowjetische Vaterland sich immer zu Herzen genommen hatte. Wenn ich auch immer gedacht hätte, dass der Junge zum Wohl seiner Schwester sich klüger verhalten würde.“ Mit jedem gefallenen Wort verpuffte der zusammengeraffte Mut und allmählich konnte Alfred die Anstrengungen den Starken zu spielen nicht mehr kaschieren. Resigniert ließ er den Kopf sinken. Alfred war heldenhaft, das stand nicht zu Debatte. Mehr als einmal hatte er unter waghalsigen Wagemut bewiesen, dass er immer bereit war für den Glauben an eine Sache seinen Kopf zu riskieren, doch die harten Jahre im Kriege hatten ihn auf schmerzhafteste Weise gelernt zu erkennen, wann eine Schlacht verloren war. Die dunklen Schmutzflecken auf dem roten Teppich zu seinen Füßen verschwammen ein wenig, als er den Druck in den Augenwinkeln spürte. Wütend über sich selbst, schloss er kurz die Augen, verbot sich jedoch die verräterischen Spuren in den Sakkoärmel zu wischen. Schlimm genug, dass er sich von einem Feind in diesem Maß in die Knie zwingen ließ. Nur allmählich raffte er wieder seine angeschlagene Beherrschung zusammen. „Was verlangt Ihr von mir?“ Alfred was sich nur zu gut bewusst, dass er verloren hatte und diese Schmach war ebenso schmerzlich, wie tausend Nadelstiche in seiner Seele, doch der Zorn, welchen er in seiner Frage gesteckt hatte, schien den Hünen kurz in Erstaunen zu versetzen. In einem bedrohlich langsamen Tempo und einem beunruhigen großzügigen Lächeln kam der Russe auf ihn zu und als er auf gleicher Höhe mit ihm war, konnte Alfred nur ein leises Flüstern vernehmen. „Ihr werdet zur rechten Zeit den Preis für euer Spiel erfahren, kleiner Ami. Doch bis dahin seit versichert, dass euer Geheimnis nicht an Ohren dringt, die besser in Unwissenheit gelassen werden sollten, ob nun euer Schein hält oder nicht. Liebe ist was flüchtiges, vergesst das nie.“ Ohne ein weiteres Wort an ihn zu richten, ging der General weiter. Alfred drehte sich auch nicht um oder lauschte den verstummenden Schritten. Er eilte zur Tür, welche er unter großer Hast öffnete. Am offenen Fenster stand die Person, welche er zu treffen im Hauptsaal erhofft hatte und nicht hier in diesem trostlosen Raum. Der Russe wandte ihm den Rücken zu. Geräuschvoll ließ Alfred die Tür hinter sich zufliegen. Aufgeschreckt wirbelte Braginsky herum und starrte ihn fassungslos die ersten entscheidenden Sekunden einfach an. In dieser kurzen Zeit überwand Alfred mit sichtbaren Zorn in den blauen Augen den Abstand, welcher sie beide trennte. Mit einem Zug am Schal, wobei der Russe aus Überraschung seinen kurzen Zigarettenstummel fallen ließ, zerrte Alfred dessen Gesicht auf die Höhe des seinigen. „Was wollte der Arsch von dir? Und woher weiß der Mistkerl von uns?“ In den violetten Augen, die nun durch die Finsternis ungewöhnlich dunkel erschienen, erkannte Alfred die vergangene Furcht und einen Mann, dessen Existenz er bis dahin nicht bemerkt hatte. Es passte nicht in seiner Vorstellung, dass sich ein Hüne wie Braginsky, vor dem sich die halbe Welt fürchtete, plötzlich seinerseits vor jemanden Angst hatte. Mit Unbehagen versuchte der sowjetische Diplomat sich wieder aufzurichten, doch fügte er sich kurz später in sein Schicksal, als ihm klar wurde, dass dies nicht möglich war, ohne dass er durch seinen Schal erwürgt wurde und blieb weiterhin in gebückter Haltung. „Das politische Parkett kann ebenso tödlich sein, wie ein Schlachtfeld, Jones. Das müsste selbst dir inzwischen klar geworden sein. Nur sind die Waffen und Tricks viel diskreter, aber eben so gefährlich wie eine vorgehaltene Pistole an der Schläfe.“ Braginsky flüsterte die Worte monoton, doch sie rasteten nicht in Alfreds Verstand ein. Dafür brachten sie den Amerikaner nur noch mehr in Rage. „Du lässt dich doch nicht von diesem Motherfucker in die Knie zwingen, Bragnisky?“ Überfordert von der ruhigen Haltung des Hünen ließ Alfred schlussendlich den Schal los, worauf Braginsky überrascht vom fehlenden Zug, nach hinten stolperte und sich ans kurze Fensterbrett klammerte. Ein leises Lachen entkam ihm, welches verbittert immer stärker wurde und wie ein Echo von den Wänden hallte. „Wie naiv bist du eigentlich, Jones? Hörst du endlich auf nur an dich zu denken und auch ein Mal zu Abwechslung an andere? Oder vernebelt dein verdammter Heldenkomplex endgültig das Hirn?“ Das irre Lachen war noch in Resten im Gesicht des Hünen zu erkennen, aber die Augen spiegelten einen Ernst wieder, den Alfred noch nie bei Braginsky erblickt hatte. „Ach, und du denkst also an mich, wenn du mich zu dir zitierst, wie einen Hund?“ „Jones, ich habe eine Schwester in Moskau. Glaubst du wirklich, dass ihr nichts passieren wird, sollte ich einmal den roten Stern enttäuschen? Es wurde schon für weniger ganze Familien nach Sibirien geschickt, weil einer Grenzen überschritten hat, die es nach System her nicht gibt.“ Alfred schnaubte erbost, während ein Teil seines Verstandes verzweifelt versuchte gegen seine dunkle Laune anzukommen. Braginsky hatte nie von seinen familiären Situation gesprochen und auch wenn Alfred in vielen Punkten ignorant war, dämlich war er nicht. Wäre er in der Situation des anderen gewesen, das war ihm kristallklar, so hätte Matthews Wohl an erster Stelle gestanden. Doch sein Zorn siegte, so dass sich der Jüngere nicht beherrschen konnte ein bissiges Kommentar zu äußern. „Dein rotes Reich ist ja ein richtiges Heldenland. Ironie, dass ausgerechnet du in der Funktion die du innehast, ein Land verkörperst, welches bereit ist, dir ohne Bedenken in den Rücken zu schießen.“ Alfred hätte auf seine Worte eine aggressive Handlung erwartet. Das Braginsky die Augen zu Schlitzen verengte, seine Faust gegen ihn erhob oder nun seinerseits mit spitzen Worten seinen Stolz angriff. Doch die äußerliche Ruhe des anderen erschreckte ihn regelrecht und die Worte die folgten umso mehr. „Echte Helden denken über die Konsequenzen ihres Handelns nach, Jones. Wann wirst du es endlich verstehen, Heldentum, welches nur auf einen selbst zurück fällt, gibt es nicht!“ Eine Schweigepause entstand, in welcher sie sich beide nur anstarrten, zögernd weiter Feuer ins Öl zu schleudern. Die Stille drückte auf die Schultern des Amerikaners, während sein Gehirn verzweifelt danach trachte das Chaos in ihm drinnen soweit zu schlichten, das vernunftbegabte Entscheidungen wieder getroffen werden konnten. Doch dieser Prozess führte unweigerlich an einer Frage vorbei, welche sich Alfred nie offen zu stellen wagte, auch wenn sie in einsamen Stunden sein Gewissen malträtierte. „Und was bin ich dann, Braginsky, ich mein außer eine Gefahr für dich und deine Schwester?“ Zögerlich suchte eine Antwort in den runden Gesichtszügen des anderen. „Hat er Recht? Bin ich nur eine Bettgeschichte, mit der du dir den Verstand wegvögeln kannst? Eine ewige Mätresse, über die du verfügen kannst, wie es dir passt?“ Obwohl die Temperaturen Alfred nicht zum frösteln brachten, schlang er beide Arme um seinen Oberkörper, während ihn Braginsky weiterhin mit diesem undefinierten kühlen Blick bedachte. Ein Blick, der auf den jungen Sekretär eine Wirkung hatte wie ein ganzer Kübel mit Eiswasser. Als die Stille immer drückender und länger wurde, wandte der Amerikaner um und schritt mit schleifenden Schritten zu Tür. Quälend langsam öffnete Alfred die eine Flügeltüre, blieb dann aber im Türrahmen stehen und warf einen letzten trotzigen Blick zu Braginsky. „Hör mir zu Ivan…“ Verstört hob der Russe den Kopf. Es war das erste Mal, dass ihn der andere mit seinem Vornamen ansprach. Es klang so vertraut und fremd zugleich. „Wenn du noch dabei bist, bin ich es auch, aber nur unter der Bedingung, dass ich mehr als der Arsch bin, an dem du deine Triebe auslebst.“ Irritiert über die Worte konnte Ivan nicht anderes als den Jüngeren anzustarren. Beinahe kam es ihm so vor als würde er den Amerikaner das erste Mal sehen. Oder lag es nur an diesen traurig ernsten Blick, wie der eines Träumers, welcher endgültig zurück auf den elenden Weg in die Realität geworfen worden war. Sicher, Jones… nein Alfred, war zwar deutlich jünger als er, doch der Krieg hatte aus dem Jüngling, der einst der Amerikaner gewesen war, einen Mann gemacht. Doch nun wurde sich Ivan erst des Alters des andern bewusst. Wie sehr in diesem jungen Mann, welcher die letzten Jahre die Schrecken des blutigen Konfliktes durchstehen musste, um sich lebend nun da zu befinden, wo er war. Ivan hatte nie nachgefragt, wo Alfred genau die Kriegsjahre verbracht hatte, aber die wenigen Augenblicke, wo sie das Thema gestreift hatten, war der Jüngere ungewöhnlich wortkarg geworden oder hatte versucht mit seinem überschwänglichen Gemüt das Thema zu wechseln. In keinen anderen Moment hatte Ivan das Gefühl bekommen einen klareren Blick hinter die Fassade des Jungen zu erwischen. Eine leise Ahnung bekommen wie viel in dem Mann zerstört worden war, das er sich nun an für ihn unerreichbare Ideale klammerte. Ebenso wie er nie die Hoffnungen des anderen wahrgenommen hatte, oder gar seine Erwartungen an das Leben. Hoffnungen und Erwartungen, die Ivan im Schnee seiner eigenen Jugend einst begraben hatte. Das Leben hatte nur selten fair mit ihm gespielt und sein Überlebensdrang hatte ihn gegenüber höheren Idealen abgestumpft. Er hatte es gelernt, das zu nehmen was sich bot, ohne nachzufragen, wie lange er es halten konnte. Aber Alfred standen all diese bitteren Erfahrungen noch bevor und das war eine Sache, um die ihn Ivan nicht beneidete. Er hatte zwar schon die sehnsuchtsvollen Blicke im Rücken gespürt, wenn er gegangen war, aber er hatte nie die Möglichkeit einbezogen, das Alfred ernsthaft was festeres erhoffte. Ivan hatte immer mit den Grundsatz gelebt nie mehr zu fragen, als was es gesund für einen war. Was man nicht erhoffte, konnte einem nicht krank machen vor Sehnsucht. Doch nun hielt ihn dieser kleine Amerikaner ernsthaft im übertragenden Sinne die Pistole an die Brust. Sprach von einer Möglichkeit, deren Existenz gegen jeglichen Verstand sprach. Das hatte ihm das Gespräch mit dem General nur zu deutlich gemacht und doch… Wenn zwei Narren denselben Traum hatten, konnte dieser dann nicht ein wenig länger der Realität entfliehen? Alfred wollte sich schon wegdrehen, da überbrückte Ivan hastig die wenigen Meter, welche sie beide trennten und zog den Jüngeren in seine Arme. Mit einem Schubs ließ er so leise wie möglich die Türe ins Schloss fallen und zog den anderen weg vom Eingang. Vorsichtig klammerte er an dem Jüngeren, als wäre er aus Glas, würde jederzeit zerbrechen, während er durch einen Ruck spürte, wie Alfred sich in seinen Schal verkrallte. Erst jetzt fiel Ivan die kleine weiße Blume im Knopfloch des schwarzen Anzuges auf. Traurig richtete er den Blick auf diesen unschuldig anmuteten Fleck weiß, welcher in der Dunkelheit gut zu erkennen war. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass der andere ihn mit dieser Sprache mehr ausdrücken wollte, als sein Einverständnis zu einen weiteren Treffen. Er hatte es nicht verstehen wollen, dass die Botschaften dahinter ernst gemeint waren. „Mein dummer kleiner Held.“, flüsterte Ivan in die blonden Haare des Amerikaner, während er diesen stärker gegen seine Brust drückte. „Mein dummer kleiner Held, warum musst du immer mehr verlangen, als es gut für dich ist?“ Ein leises Schluchzen erfüllte den Raum, während sich Berlin vor dem Fenster weiterhin in der Dunkelheit seine Wunden leckte und sich neue turbulente Zeiten sich am Horizont abzeichneten. Zeiten, an denen Ivan sicher war, dass die Liebe, welche im Schutt begonnen hatte zerbrechen würde, doch er war zu träge geworden, um nun aufzugeben. Ebenso wusste er, dass das Energiebündel ihn ebenfalls nicht kampflos aufgeben würde und das war ein gutes Gefühl. Gut und erschreckend zugleich. Vielleicht fanden das Rotkäppchen und der Wolf doch zusammen, denn Märchen gingen doch immer gut aus, oder nicht? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)