Am Tag ist es leicht von Niekas ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Childhood is a disease – a sickness that you grow out of. (William Golding, Autor von „Lord of the Flies“) „Was machen wir noch hier, Sensei?“, fragt Raidou, während er dem Mann hinterher hastet. „Die Sensoren haben gesagt, in diesem Versteck befinden sich keine Iwa-Nins mehr. Wir haben alle getötet. Machen wir lieber, dass wir hier rauskommen, damit wir das Gebäude in die Luft jagen können.“ „Es gibt einige versiegelte Räume im Keller“, antwortet Hideaki. „Ich vertraue unseren Sensor-Shinobi, aber selbst sie können mal irren. Wir werden überprüfen, ob dort unten nicht doch noch jemand ist.“ „Sie meinen, dort verschanzen sich noch Iwa-Nins?“ „Vielleicht. Aber wahrscheinlicher ist, dass sie die Räume als Zellen genutzt haben.“ Raidou muss schlucken. Der Krieg tobt schon seit zwei Jahren. Kriegsgefangene sind an der Tagesordnung, aber er hat mit seinen sechzehn Jahren noch nicht an einer Befreiungsaktion teilgenommen, und ein wenig mulmig ist ihm schon. Hinter Hideaki erreicht er einen engen, düsteren Flur. An jeder Seite sind drei sorgfältig verriegelte Türen zu sehen. „Es wird dauern, bis wir diese Räume alle gesichert haben, Sensei.“ Hideaki schließt kurz die Augen und atmet tief ein. Er hat im vorangegangenen Kampf viel Energie verbraucht, aber er nimmt sich noch einmal zusammen. „Byakugan!“ Mit seinen ausdruckslosen, weißen Augen sieht er den Gang entlang, die Adern an seinen Schläfen treten vor Anstrengung hervor. Nach wenigen Sekunden löst er das Bluterbe der Hyuugas wieder auf und nickt. „Hinter der zweiten Tür rechts sollten wir nachsehen. Ansonsten ist niemand hier.“ „Was ist hinter der zweiten Tür rechts?“ „Ein regloser Körper, relativ klein. Er ist vermutlich bewusstlos, aber gib mir vorsichtshalber Rückendeckung.“ „Verstanden, Sensei.“ Raidou bleibt ein paar Schritte zurück, während Hideaki zur Tür geht, den Riegel beiseite zieht und sie öffnet. Er verschwindet in der Zelle, und einen Moment später erklingt seine Stimme. „Die Luft ist rein, Raidou. Komm her und hilf mir.“ „Ja, Sensei“, murmelt Raidou und betritt den Raum zögernd. Er ist erdrückend klein, mit einem einzigen vergitterten Fenster. Überall auf Wänden und Boden sind dunkle Flecken von Feuchtigkeit zu sehen. Auf dem Boden liegt ein Junge, Arme und Beine von sich gestreckt, die Schultern noch kindlich schmal. Ein tiefer, halb verkrusteter Schnitt zieht sich über seine rechte Wange, die Augen hat er geschlossen. Seine hellen Haare sind teilweise mit Blut verklebt, aber Raidou erkennt sofort das Stirnband mit dem Konoha-Abzeichen, das darunter zu erahnen ist. „Ist das einer unserer Genin, Sensei?“ Hideaki antwortet nicht, geht neben dem Jungen in die Hocke und überprüft seinen Puls. „Er lebt. Ein Glück. Aufgrund seiner eher leichten körperlichen Verletzungen gehe ich davon aus, dass sie ihn mit Genjutsus gefoltert haben.“ Raidou blinzelt nervös und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. „Hoffentlich hat er das ... verkraftet. Geistig, meine ich.“ „Die Iwa-Nins hatten kein Interesse daran, dass er den Verstand verliert. Das hätte ihn schließlich als Informationsquelle unbrauchbar gemacht. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob ...“ Hideaki hält inne und lacht kurz auf. „Natürlich. Das erklärt alles.“ „Was meinen Sie, Sensei?“ „An dem Verlauf des Angriffs war von Anfang an etwas seltsam. Die Iwa-Nins scheinen sich auf einen Überfall vorbereitet zu haben, sind aber offenbar von völlig falschen Angaben ausgegangen. Die falsche Richtung des Angriffs, die falsche Truppenstärke ... Weißt du nicht mehr, wie ich gesagt habe, jemand müsste sie mit Fehlinformationen gefüttert haben?“ „Und Sie meinen, das war dieser Junge?“, fragt Raidou mit großen Augen. „Wahrscheinlich.“ „Hoffen wir, dass er diese Kühnheit nicht mit dem Leben bezahlt.“ „Wenn er draufgeht, beantrage ich, dass der Hokage ihm posthum einen Orden verleiht“, sagt Hideaki und lacht erneut. Die Augen des Jungen öffnen sich flatternd. Sie sind trüb und blutunterlaufen, und sie scheinen sich auf nichts zu fokussieren. Die Ausdruckslosigkeit macht Raidou Angst. Vielleicht hat der arme Kerl ja doch den Verstand verloren. „Hallo, Junge“, sagt Hideaki. „Kannst du uns hören?“ Der Junge reagiert nicht. „Du bist jetzt in Sicherheit. Wir haben dieses Versteck ausgehoben und alle Iwa-Nins getötet. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Das nützt doch nichts, Sensei“, murmelt Raidou. „Bringen wir ihn lieber hier raus.“ „Wie heißt du?“ Der Junge holt tief Luft, bringt aber kein Wort hervor. Seine Lippen zittern. Ein wenig Blut sickert aus dem Schnitt an seiner Wange. „Vielleicht versteht er Sie nicht, Sensei.“ „Vielleicht ist er auch nur zu schwach zum Sprechen.“ Raidou sieht den Jungen an, die hellen Haare, den ein Stück weit offen stehenden Mund. „Er erinnert mich an jemanden“, sagt er langsam. „Ach ja?“ „Er sieht aus wie Morino-san in jünger. Hat er einen Sohn?“ Hideaki blinzelt verblüfft. „Ja, ich glaube schon. Aber ich weiß nicht ...“ Der Junge reißt die Augen auf und gibt einen gurgelnden Laut von sich. Offenbar erfordert es seine höchste Konzentration, zwei Worte auszusprechen. „Morino Ibiki.“ Kapitel 1: Wahrheit ------------------- Zum Abschied drückt Mutter Ibiki noch einmal an sich, ihren lieben Jungen, dem sie die dunkelbraunen Augen vererbt hat. Sie wirkt ein bisschen fremd in ihrer Jounin-Uniform und mit den streng zurückgebundenen Haaren. „Auf Wiedersehen, mein Großer. Du passt ein bisschen auf Ima auf, bis ich wiederkomme, ja?“ „Mache ich“, sagt Ibiki, und sie lächelt und geht, wie jedes Mal. Ibiki ist sieben Jahre alt, aber er weiß, dass seine Mutter einen lebensgefährlichen Beruf hat. Irgendwann wird ein Abschied der letzte sein. Drei Wochen später, sie sind beinahe mit dem Frühstück fertig, kommt ein Jounin-Kollege von Vater vorbei und raunt ihm irgendetwas zu. Er wirkt sehr ernst, und Vater wird blass. Ibiki weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. „Hokage-sama hat mich gerufen. Ich muss schnell zu ihm.“ „Darf ich mit?“, fragt Ima begeistert, die grundsätzlich immer mit will, wenn Vater irgendwo hin geht. „Diesmal nicht, Prinzessin. Ich gehe allein.“ „Musst du auf eine Mission? Sag dem Hokage, du kannst nicht gehen! Erst, wenn Mutter wieder da ist.“ Vater verzieht den Mund und streicht ihr über die Haare. „Das werde ich Hokage-sama sagen. Ich bin bald wieder da. Ibiki? Pass auf deine Schwester auf.“ Die Tür fällt hinter ihm und dem anderen Jounin zu, und Ibiki sieht ihnen nach. „Warum muss Vater zum Hokage, Ibiki?“, fragt Ima und löffelt Zucker in ihren Tee. „Vielleicht, weil Mutter tot ist“, sagt Ibiki. Sie hält inne und sieht ihn mit großen Augen an. „Wirklich?“ Ibiki könnte antworten, dass das die nächstliegende Erklärung ist, aber er zögert. Ima ist erst fünf. Manche Dinge kann man ihr nicht sagen. „War nur ein Scherz. Vielleicht eine Frage zu Vaters letzter Mission oder so.“ Ima zuckt die Achseln und gibt sich damit zufrieden. „Machst du nochmal das mit den Vögeln, Ibiki?“ „Hab ich doch gestern erst gemacht.“ „Bitte! Das ist so lustig!“ Und Ibiki gibt sich geschlagen. Er experimentiert gerne mit Genjutsus herum. Er kann schon Räume größer oder kleiner werden lassen und Hitze erzeugen, wenn er sich anstrengt, aber am liebsten hat Ima Illusionen von Tieren. Einmal hat Ibiki die komplette Wohnung mit imaginären Ziegen bevölkert, wie er das geschafft hat, weiß er selbst nicht mehr. Was auch immer er tut, Ima lacht darüber. Sie vergöttert ihren großen Bruder, der sie Dinge sehen lässt, die gar nicht da sind. Und Ibiki gefällt es, vergöttert zu werden. Vater kommt nicht wieder. Gegen Nachmittag holt Inoichi sie ab, ein erst siebzehnjähriger Jounin und Kollege von Vater. Ibiki und Ima haben ihn gelegentlich getroffen und mögen ihn für seine beherrschte, selbstsichere Art. „Wo ist Vater, Inoichi?“ „Er musste auf eine Mission“, erklärt Inoichi und zieht den Reißverschluss von Imas Anorak zu. „Aber er wird bald wiederkommen.“ „Wann ist bald?“ „Vielleicht in zwei Wochen oder so.“ „Wieviel mal schlafen?“, fragt Ima. „Warum musste er auf eine Mission, bevor Mutter wieder da ist?“, fragt Ibiki ernst. Inoichi sieht ihn an, beißt sich auf die Lippe und steht auf. „Das weiß ich nicht genau“, antwortet er auf eine der Fragen, vielleicht auf beide. „Jedenfalls habe ich ihm gesagt, ihr beide könntet so lange bei uns bleiben. Das würde euch gefallen, oder?“ „Ja!“, ruft Ima und hängt sich an Inoichis Hand. Ibiki will so viel fragen, ob Mutter tot ist, wie er es die ganze Zeit vermutet, und warum Vater ausgerechnet jetzt weg muss. Aber er betrachtet Imas leuchtende Augen und sagt nichts. Der Yamanaka-Clan bewohnt ein großes Haus mit vielen kleinen Zimmern, unzähligen Treppen und einem Blumenladen im Erdgeschoss. Die Familie ist groß und gastfreundlich, oft sind andere Shinobi zu Besuch, befreundete Clans wie der der Nara und der Akimichi gehen ein und aus. Bei den Yamanakas ist immer etwas los, und zwei weitere Kinder fallen zwischen all dem kaum auf. Ibiki und Ima werden in dem Zimmer einquartiert, in dem auch Inoichis Nichten schlafen, die gerade zu Besuch sind. Ima versteht sich gut mit den etwa gleichaltrigen Mädchen, Fubuki und Kozue, und spätestens am zweiten Tag hört sie auf, nach Mutter und Vater zu fragen. Sie ist ständig unterwegs, unten im Blumenladen zwischen den Regalen und Tischen, im kleinen Garten hinter dem Haus, irgendwo auf der Straße. Sie ist glücklich. „Wo ist Vater?“, fragt Ibiki am zweiten Tag beim Frühstück. Die Mädchen sind schon vom Tisch aufgestanden, man hört ihr Lachen aus dem Garten. Inoichi wirft einen Blick auf das geöffnete Fenster und senkt die Stimme. „Er hat eine Mission übernommen. Reine Routine. Er wird wiederkommen.“ „Aber Mutter nicht, oder?“ Inoichi zögert. „Wenn sie tot ist“, fährt Ibiki fort, „dann sag es mir. Ich werde nicht weinen.“ Er reckt kämpferisch das Kinn, eine Geste, die Vaters Kollegen jedes Mal zum lachen bringt. Der Junge hat genau dein Gesicht, Morino, er bewegt sich sogar wie du! Inoichi lacht ebenfalls, wenn auch traurig. „Deine Mutter ... ist bei ihrer letzten Mission verschollen.“ „Heißt das, dass sie tot ist?“ „Es heißt, dass ihr Körper nicht gefunden werden konnte, aber alle Anzeichen darauf hindeuten, dass sie tot ist.“ „Also gibt es eine Möglichkeit, dass sie am Leben ist?“, bohrt Ibiki nach. „Sie ist nicht am Leben, Ibiki“, sagt Inoichi leise. „Verschollen ist nur ein Wort, ein Euphemismus. Es bedeutet tot. Immer.“ „Was ist ein Euphemismus?“ „Ein Wort, das etwas schöner beschreibt, als es ist.“ „Wie wenn der Arzt einem eine Spritze gibt und sagt, es ist nur ein kleiner Pieks?“ „Ganz genau.“ „Ich mag Euphemismusse nicht“, sagt Ibiki ernst. „Ich habe lieber die Wahrheit.“ „Es ist eine Unsitte“, stimmt Inoichi ihm zu. „Mit den Euphemismen. Das sollte aufhören.“ „Genau. Wir sagen einfach, Mutter ist tot.“ „Du bist ein tapferer Junge, Ibiki.“ „Ich habe die ganze letzte Nacht geweint“, antwortet Ibiki achselzuckend. „Ich habe mir ja gedacht, dass Mutter tot ist. Am Tag ist es leicht, nicht zu weinen.“ „Du bist ein tapferer Junge“, wiederholt Inoichi, muss lachen und strubbelt ihm durch die Haare. Ibiki sieht zum Fenster hinüber. „Jetzt muss ich es nur noch Ima sagen.“ „Jemand muss es ihr sagen, ja.“ „Nicht jemand“, beharrt Ibiki. „Ich. Vater ist doch nicht da.“ „Ich kann es ihr auch sagen. Oder meine Mutter. Oder wir warten, bis sie fragt. Du musst das wirklich nicht auf dich nehmen.“ „Entweder ich oder Vater. Alles andere wäre nicht fair Ima gegenüber.“ Ibiki runzelt die Stirn, als ihm ein Gedanke kommt. „Inoichi?“ „Ja?“ „Ist Vater deswegen auf die Mission gegangen, weil er sich nicht getraut hat, uns zu sagen, dass Mutter tot ist?“ Inoichis Gesicht verdüstert sich und er greift nach Ibikis Hand. „Das ist Unsinn, Ibiki. Es war eine dringende Mission, und er musste weg. Es war nicht seine Entscheidung.“ „Du lügst. Vater hat immer frei bekommen, um auf uns aufzupassen, wenn Mutter nicht da war. Warum sollte der Hokage ihm ausgerechnet jetzt eine Mission geben, wo wir Vater brauchen, Ima und ich? Wir sind jetzt Halbwaisen. Wir brauchen ihn, Inoichi. Warum lügst du mich an?“ „Ist doch gut, Ibiki.“ Inoichi tätschelt seine Hand. „Du hast ja recht. Dein Vater hätte die Mission ablehnen können, aber er hat es nicht getan.“ „Warum?“, fragt Ibiki herausfordernd. „Hat er Ima und mich nicht lieb?“ „So etwas darfst du nicht einmal denken, hörst du? Er liebt euch sehr, aber er hat auch eure Mutter sehr geliebt. Ich denke, er wusste einfach nicht, wie er mit ihrem Tod umgehen sollte. Er hat die Mission übernommen, um Zeit zu gewinnen. Zeit, in der er nicht an sie denken muss. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann vielleicht, dass er sich ihrem Tod nicht so tapfer stellt wie du.“ „Also ist er ein Feigling?“ Inoichi lacht fassungslos. „Du drehst einem das Wort im Munde herum. Du solltest Verhörspezialist oder so etwas werden.“ „Du hast die Frage nicht beantwortet“, sagt Ibiki, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Dein Vater ist bei der ANBU, er gehört zu Konohas absoluter Elite. Unter den Jounin kennt jeder den Namen Morino – das wirst du noch merken, wenn du selbst ein Shinobi bist. Es gibt niemanden, der ihn nicht aufs Höchste achtet.“ All das muss nicht heißen, dass er kein Feigling ist, denkt Ibiki, aber er sagt es nicht. Stattdessen nickt er Inoichi zu und steht auf. „Ich geh und sag's Ima.“ Inoichi seufzt tief. „Wenn du meinst.“ Ima heult so laut auf, dass Kozue und Fubuki erschrocken zu ihr und Ibiki hinüber sehen. „Ich will nicht, dass sie tot ist!“ „Sie ist aber tot, Ima“, sagt Ibiki. „Sie kommt nie mehr wieder.“ „Ich will nicht, ich will nicht!“ Zaghaft greift Ibiki nach ihrer Schulter. „Nicht weinen, Ima. Soll ich ein Genjutsu machen, damit du wieder lachen kannst?“ „Nein!“, kreischt Ima, schubst ihn weg und rennt davon. „Ich will kein Genjutsu! Ich will, dass Mutter wiederkommt!“ Sie läuft zu dem Baumhaus im hinteren Teil des Gartens, klettert die Leiter hinauf und verschwindet darin. Ibiki bleibt stehen, wo er ist. Wenn sie seine Genjutsus nicht sehen will, weiß er nicht, was er noch tun soll. „Was ist denn passiert?“, fragt eine Frau, die den Garten gerade betreten hat. Sie heißt Inoko und ist irgendeine ältere Schwester oder Cousine von Inoichi, so genau blickt Ibiki bei den Familienverhältnissen der Yamanakas nicht durch. „Ich habe Ima gesagt, dass Mutter tot ist. Sie weint.“ Die Frau sieht ihn mit großen Augen an. „Rumi ist tot?“ „Ja.“ „Sie ... war eine entfernte Cousine von mir.“ „Dann tut es mir leid für Sie“, sagt Ibiki. „Oh nein, nein. Es tut mir leid für euch beide.“ Inoko mustert ihn besorgt. „Aber euer Vater ist sicher bald wieder da.“ Ibiki nickt nur, und Inoko sieht hinüber zum Baumhaus. „Die arme Ima. Wir sollten sie wohl eine Weile in Ruhe lassen. Ich werde später nach ihr sehen.“ „Danke“, murmelt Ibiki. „Mich will sie nicht sehen, glaube ich.“ „Nimm es nicht persönlich, Ibiki. Sie wird sich wieder einkriegen.“ Erneut nickt er nur und geht ins Haus. Er ist der große Bruder. Seit Imas Geburt vor fünf Jahren, als Mutter ihm die winzige Neugeborene in die Arme gelegt hat, hat er seine Schwester als Geschenk gesehen, als kleines Wunder, das er beschützen muss. Er hat Mutter versprochen, auf Ima aufzupassen. Aber wenn sie ihn nicht einmal sehen will, weiß er nicht, was er tun soll. Zum Abendessen taucht Ima auf, wenn auch ziemlich verweint. Sie isst wenig. Als sie abends im Bett liegen, nebeneinander auf der Gästematratze, tastet sie nach Ibikis Arm. „Ibiki?“ „Hmm.“ „Ich wollte dich nicht schubsen. Tut mir leid.“ „War gar nicht schlimm.“ Ima verstummt kurz. „Inoko hat gesagt, Mutter ist jetzt im Himmel. Sie guckt immer noch zu, was wir machen, und passt auf uns auf.“ Ibiki schweigt. „Ich wollte dir das nur sagen“, erklärt Ima. „Falls du das noch nicht wusstest.“ „Nein, wusste ich nicht. Ich dachte, sie wäre einfach tot.“ „Ist sie auch. Aber sie ist noch da, weil wir sie lieb hatten.“ Ibiki spürt, wie ihm die Tränen in die Augen steigen. Im Dunkeln ist es schwer, nicht zu weinen. Er würde Ima gerne glauben, aber tief drinnen weiß er, dass nach dem Tod nichts mehr kommt, dass es Mutter einfach nicht mehr gibt, als hätte man sie aus dem Familienfoto in der Küche herausgeschnitten. „Das ist schön“, bringt er hervor. „Du darfst ruhig weinen, Ibiki. Inoko sagt, das muss man manchmal, und es ist nicht schlimm.“ Er schluchzt auf, und Ima schlingt die Arme um ihn. „Mutter sieht, wie du weinst, Ibiki“, flüstert sie beruhigend. „Aber sie ist nicht böse, solange du irgendwann wieder fröhlich bist. Vielleicht morgen oder so.“ Kapitel 2: Enttäuschung ----------------------- Elf Tage, nachdem die Nachricht von Mutters Tod kam, steht Vater wieder vor der Tür der Yamanakas. Er trägt noch seine ANBU-Uniform, ohne die Maske, mit einem unauffälligen grauen Mantel darüber. Sein Gesicht wirkt grimmig, aber so wirkt es ohne sein Zutun immer, wegen dem kantigen Kiefer und dem resoluten Zug um seinen Mund. Ibiki und Ima helfen gerade Frau Yamanaka dabei, einige Blumen zuzuschneiden. Ima jauchzt auf, als sie Vater sieht. „Du bist wieder da!“ Sie lässt die Schere fallen, rennt auf ihn zu und schlingt die Arme um seine Beine. Vater beugt sich herunter, hebt sie hoch und küsst sie auf die Wange. Sein rechter Arm zittert leicht. „Na, meine Prinzessin? Alles in Ordnung?“ „Vater?“, fragt Ima und lehnt sich ein Stück von ihm weg, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Ibiki sagt, Mutter ist tot.“ Vaters Lippen zucken. Er greift nach Imas Nacken und drückt ihren Kopf an seine Brust. „Wir schaffen das“, murmelt er. „Wir schaffen das schon.“ Frau Yamanaka tritt näher und wischt die Hände an ihrer Schürze ab. „Da sind Sie ja wieder, Seigou-san! Gut, Sie wohlbehalten wieder hier zu haben.“ „Vielen Dank, dass Sie auf die Kinder aufgepasst haben“, erwidert Vater. „Wie soll ich das je wieder gutmachen?“ „Ach, was reden Sie da? Das ist doch selbstverständlich in Konoha. Und Sie haben meinem Inoichi schon oft genug aus der Klemme geholfen.“ Vater nickt und sieht Ibiki an, Ima weiterhin auf dem Arm. „Also ... gehen wir nach Hause, Kinder.“ „Ich hab Hunger!“, sagt Ima und kuschelt sich an seine Schulter. „Wir holen uns auf dem Heimweg etwas zum Mitnehmen.“ „Sie können auch hier essen, wenn Sie wollen“, bietet Frau Yamanaka an. „Wir haben Gäste zum Abendessen, auf einen mehr kommt es da wirklich nicht an. Ibiki und Ima haben wir ohnehin eingeplant. Gute Tischmanieren haben Ihre Kinder, wenn ich mir dagegen meine ansehe ...“ „Vielen Dank, aber wir gehen lieber nach Hause. Kommst du, Ibiki?“ Ibiki nickt und legt die Blumen beiseite. Ima klammert sich immer noch an Vater fest, und er trägt sie den ganzen Weg nach Hause, obwohl sein rechter Arm immer stärker zittert. „Stimmt es, dass Mutter jetzt im Himmel ist?“, fragt Ima, als sie in der Küche sitzen und Reis aus Pappschüsseln essen. „Ja, ist sie“, antwortet Vater. „Und sie passt immer auf dich auf.“ „Sieht sie auch, wenn ich mir nicht die Haare kämme?“ „Natürlich.“ Ima seufzt. „Das habe ich Inoko nicht geglaubt. Verdammt.“ Ibiki isst langsam und beobachtet Vater. Er ist blass, seine rechte Hand zittert immer wieder. Den Mantel hat er mittlerweile ausgezogen, unter seinem schwarzen Pullover drückt sich etwas Dickeres an seinem rechten Oberarm ab. Sicher hat er einen Verband an der Stelle. Der Gedanke, dass Vater verletzt wurde, ist seltsam. Er hätte sterben können. Oder der Arm hätte ab sein können, dann wäre Vater vielleicht unfähig gewesen, weiter als Shinobi zu arbeiten. So viele schlimme Dinge hätten passieren können, und dabei haben Ibiki und Ima ja nur noch Vater. Jetzt, da Mutter tot ist. „Bist du schon satt, Ibiki?“ Vaters Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. „Hab nur an was anderes gedacht“, murmelt Ibiki und isst weiter. Ein bisschen schämt er sich dafür, dass er geglaubt hat, Vater wäre ein Feigling. „Du solltest ins Bett gehen“, sagt Vater, als Ima zum ersten Mal gähnt. „Ibiki und ich räumen den Tisch ab.“ Ibiki sagt nichts dazu. Ima rutscht von ihrem Stuhl, klettert auf Vaters Schoß und schlingt ihm die Arme um den Hals. „Gute Nacht, Vater.“ „Gute Nacht, Prinzessin.“ „Du kommst doch zum Gute-Nacht-sagen, oder?“ „Natürlich. Wenn du die Zähne geputzt hast und im Schlafanzug im Bett liegst.“ Sie saust hinaus, und Ibiki beginnt damit, den Tisch abzuräumen. „Ibiki“, sagt Vater. „Ich brauche kurz deine Hilfe.“ „Ja, Vater.“ „Der Arm muss neu verbunden werden, das dauert nicht lange. Komm mit.“ Ibiki nickt, und Vater geht voraus ins Badezimmer und holt den Verbandskasten aus dem Schrank. Er nimmt eine Rolle Mullverband hervor und zieht den Pullover aus. Sein rechter Oberarm ist dick in Bandagen gewickelt. „Hier. Du musst einfach nur den alten Verband abmachen und einen neuen anlegen. Ich helfe dir, so gut ich kann. Es ist nur etwas schwierig mit einer Hand.“ Noch einmal nickt Ibiki, ihm fällt nichts zu sagen ein. Vorsichtig schneidet er den Verband neben dem Knoten auf und beginnt, ihn abzuwickeln. Je mehr Lagen des weißen Stoffes verschwinden, desto deutlicher drückt sich ein rot-brauner Fleck hindurch. „Unser Iryonin hat die Verletzung versorgt. Vielleicht gehe ich morgen ins Krankenhaus, wenn es dann noch nicht besser sein sollte.“ Mittlerweile ist Ibiki bei den untersten Bandagen angekommen, die komplett mit Blut getränkt sind. Mit spitzen Fingern versucht er, das widerspenstige, steif gewordene Material zu entfernen. Der muffige Gestank des Blutes wird immer aufdringlicher, ihm wird beinahe schlecht. Und seine Finger kleben. „Kein Grund, die Nase zu rümpfen. Das ist doch nur Blut.“ Ibiki beißt die Zähne zusammen und zieht die letzte Schicht besudelten Stoffes beiseite. Er sieht verschmierte Haut, unter der sich die Muskeln des Oberarms wölben. Quer darüber klafft ein fingerbreiter Schnitt mit ausgefransten, dunklen Rändern. Er sieht Haut und rohes Fleisch und Eiter und Blut. Im letzten Moment kann er den Würgereiz unterdrücken. „Nimm die sauberen Bandagen und wickle sie einfach drum.“ Vater klingt müde. „Ich muss wohl wirklich morgen ins Krankenhaus gehen, aber für die Nacht wird es in Ordnung sein.“ Ibiki beißt sich auf die Unterlippe. „Mach schon. Worauf wartest du?“ Er gibt sich einen Ruck, fingert die weiche Verbandsrolle auf und legt den Anfang behutsam über die Wunde. Ängstlich schielt er zu Vaters Gesicht, aber der zuckt mit keiner Wimper. Angespannt rollt Ibiki den Verband weiter aus, aber das erste Stück rutscht gleich wieder weg. Er zupft es zurecht, aber es will nicht wie er, und er weiß nicht, was er machen soll. „Ich kann das nicht“, murmelt er. „Es ist nur ein bisschen Blut“, erwidert Vater stirnrunzelnd. „Wie willst du ein anständiger Shinobi werden, wenn du davon schon weiche Knie bekommst?“ Ibiki will sagen, dass er erst sieben Jahre alt ist, aber er tut es nicht. Stattdessen wickelt er den Verband um die Wunde, so schnell er kann. Es gerät krumm und schief, aber es ist ihm egal. Als die Bandagenrolle endlich aufgebraucht ist, reißt er das Ende ein und verknotet es. Erst danach sieht er auf und bemerkt Vaters fassungslosen Blick. „Weinst du?“ Nervös wendet Ibiki den Kopf ab und zieht die Nase hoch. Draußen vor dem Fenster wird es schon dunkel. „Es ist nur eine Fleischwunde, Ibiki. Ich habe schon schlimmere Verletzungen gehabt.“ Ibiki schluchzt auf und beißt sich auf die Lippe, um es nicht noch einmal tun zu müssen. Vater greift nach seinem Arm und schüttelt ihn. „Du willst doch ein Shinobi werden, oder nicht? Ibiki?“ „Schon.“ „Na also. Und wie willst du das tun? Hast du vor, bei jedem kleinen Kratzer umzufallen und dich tot zu stellen?“ Ibiki starrt auf den Boden, durch die Tränen kann er ihn kaum noch sehen. Vater atmet einige Male schwer. „Wie konnte ich eine solche Enttäuschung von Sohn in die Welt setzen?“ Er würde gerne sagen, dass er auch Mutters Sohn war und sie nie enttäuscht von ihm war, dass sie immer gesagt hat, was Ibiki für ein kluger und vernünftiger Junge ist, der so verlässlich auf seine Schwester achtgibt, der niemals lügt. Als er den Mund öffnet, muss er wieder weinen. Die schmutzigen Bandagen liegen auf dem Boden und stinken nach Blut. „Sieh mich an, Ibiki!“ Vater schüttelt ihn. „Sieh mich an und verteidige dich, anstatt zu weinen wie ein Baby! Soll so die Zukunft Konohas aussehen?“ „Du tust mir weh!“, heult Ibiki und wehrt sich halbherzig. „Lass mich los!“ Vater stößt ihn weg, und Ibiki verliert das Gleichgewicht und landet auf den Fliesen des Badezimmers. Sein Kopf stößt gegen die Ecke des Schrankes, er kreischt auf und versteckt das Gesicht in den Armen. „Tu mir nicht weh! Bitte!“ „So etwas sagt ein Shinobi nicht!“, donnert Vater. „Und so etwas will ich von dir nicht hören! Wenn du dich nicht verteidigen kannst, habe wenigstens genug Würde, nicht zu winseln wie ein Hund!“ Ein dumpfes Geräusch erklingt aus einiger Entfernung, und beide halten inne. Im Nebenzimmer hat Ima zu weinen angefangen. „Jetzt hast du sie geweckt mit deinem dummen Geschrei“, zischt Vater. „Was für ein Shinobi willst du werden?“ Er steht auf, streicht flüchtig über den unordentlichen Verband an seinem Arm und verlässt das Badezimmer, ohne Ibiki eines Blickes zu würdigen. Ibiki bleibt auf den Fliesen liegen und tastet vorsichtig nach der schmerzenden Stelle über seinem Auge, wo er sich den Kopf gestoßen hat. Er verbeißt sich das Weinen. Im Stillen schwört er sich, beim nächsten Mal keinen Laut von sich zu geben. Er wartet, bis er Vaters Schlafzimmertür gehört hat, und schleicht sich dann im Dunkeln ins Kinderzimmer. Ima ist noch wach. „Vater hat gesagt, ihr habt über Mutter geredet.“ „Hmm“, macht Ibiki und zieht seinen Schlafanzug unter dem Kopfkissen hervor. „Ihr habt gestritten, sagt er. Aber ihr habt euch wieder vertragen und euch entschuldigt.“ „Stimmt.“ „Ich will nicht, dass ihr euch streitet“, sagt Ima leise. „Machen wir jetzt auch nicht mehr“, antwortet Ibiki. „Nie wieder.“ In Zukunft wird er dafür sorgen, dass Ima nichts hört. Am nächsten Tag geht Vater mit ihnen auf den Markt und kauft ihnen ein Eis, und als Ima die Windräder am Nebenstand bewundert, kauft er ihr davon auch eins. „Was ist mit dir, Ibiki?“ „Ich möchte keins, danke, Vater“, antwortet Ibiki. Vater wirft ihm einen flüchtigen Seitenblick zu, und Ibiki sieht seine Fassungslosigkeit, seine Angst, seine Reue. „Wenn du ... irgendetwas anderes haben willst, sag es nur. Egal, was du willst.“ „Das werde ich, Vater“, sagt Ibiki lächelnd und weiß, dass er die jämmerliche Entschuldigung nicht annehmen wird. Er ist eine Enttäuschung, hat Vater gestern noch gesagt. „Na, da hast du aber ein ganz schönes blaues Auge“, sagt die Verkäuferin zu Ibiki, als sie Ima das bunte Windrädchen reicht. „Was hast du denn da gemacht?“ Vater sieht auf den Boden. „Mich auf dem Schulhof geprügelt“, sagt Ibiki und ballt die Faust. „Aber ich habe gewonnen!“ Er lacht, die Verkäuferin lacht, und Vater kitzelt Ima auf seinem Arm, damit sie nicht weint. Kapitel 3: Unfug ---------------- An dem Tag, an dem Mutter ein Jahr lang tot ist, ist Vater wieder auf einer Mission. Statt ihm ist es Inoichi, der mit Ibiki und Ima zu dem steinernen Denkmal der Gefallenen geht und einen Blumenstrauß hinlegt. Ima nutzt die Gelegenheit, um Mutter alle möglichen Dinge zu erzählen, dass Ibiki schon acht ist, dass sie jetzt auch auf die Akademie geht, dass alle gesund und munter sind. Ibiki ist still. Er redet nie mit Mutter, weil er nicht glaubt, dass es sie noch gibt. Ima mag der Gedanke gefallen, dass Mutter im Himmel ist und alles sieht, was sie tun, aber Ibiki macht das Angst. Wenn Mutter alles sehen würde, wüsste sie auch, wie Vater ihn behandelt, dass er Ibiki noch immer kaum ansieht, auch wenn er ihn nicht mehr geschlagen hat. Und das braucht Mutter nicht zu wissen, genauso wenig wie Ima. Es würde sie nur traurig machen. Es passiert im darauf folgenden Sommer, an einem drückend heißen Tag. Die Kinder spielen auf einem alten Trainingsplatz in einem nördlichen Viertel Konohas, ein sandiger Hinterhof mit einem verrosteten Maschendrahtzaun und ein paar Zielscheiben an Holzpfählen. Einige Jungen aus Ibikis Klasse sind da, Gai und Asuma und Tokara, und noch ein paar andere, die Ibiki nur entfernt kennt. Sie werfen ihre schon reichlich stumpfen Shuriken und Kunais auf die Zielscheiben und üben ein bisschen Henge no Jutsu, oder sie spielen fangen oder treten den alten Ball herum, den irgendjemand in einem Gebüsch gefunden hat. Als es zu dämmern beginnt, werden einige Kinder von ihren Eltern abgeholt, und die anderen gehen nach und nach heim. „Kommst du mit, Ibiki?“, fragt Gai, als nur noch sie beide da sind. „Nein“, antwortet Ibiki. „Ich bleibe noch.“ „Ich muss wirklich los, sonst verpasse ich das Abendessen. Willst du vielleicht mit uns essen?“ Früher hat Ibiki das manchmal getan. Er mag die Maito-Familie sehr. Gais Vater redet viel und gerne und sagt nie nein, wenn man fragt, ob er einen Huckepack trägt. Gais Mutter ist eine eher leise, unauffällige Frau, aber ihre Kochkünste sind ein Wunder. Dennoch schüttelt Ibiki den Kopf. „Ich übe noch ein bisschen. Henge no Jutsu kann ich gar nicht.“ Gai grinst und zeigt ihm den Daumen nach oben. „Das ist gut, Ibiki! Du musst deine Schwächen erkennen und an ihnen arbeiten. Schwächen lassen sich in Stärken verwandeln!“ Amüsiert zieht Ibiki die Augenbrauen hoch. „Wer sagt das?“ „Mein Papa“, antwortet Gai strahlend. Ibikis Lächeln wankt. „Dann wird es wohl stimmen.“ Offenbar deutet Gai seine Reaktion falsch, denn er ballt wütend die Fäuste. „Mein Papa mag nur Genin sein, aber er weiß viele Sachen! Und er ist verdammt stark!“ „Ich weiß. Ich beneide dich um deinen Papa.“ Verwirrt lässt Gai die Fäuste sinken und lacht. „Ach ... ja, er ist große Klasse! Aber deiner ist doch auch nicht schlecht. Mein Papa erzählt, dass er ein sehr guter Shinobi ist.“ „Schon.“ „Jedenfalls, viel Erfolg beim Üben!“, sagt Gai und schlägt Ibiki auf die Schulter. „Ich sehe dich dann morgen!“ „Bis morgen, Gai.“ Er dreht sich um und geht, und Ibiki sieht ihm eine Weile lang nach. Er ist müde, der Schweiß läuft ihm an den Schläfen herunter, aber er kann sich nicht dazu überwinden, nach Hause zu gehen. Vater ist gestern Abend wiedergekommen, noch hat er ihn kaum zu Gesicht bekommen. Heute wollen sie alle zusammen essen gehen, aber Ibiki hat keine Lust. Immerhin freut Ima sich, denkt er, während er die Kunais aus den Zielscheiben zieht und einige Schritte weiter weg geht. Er versucht, das Ziel zu treffen, aber er kann sich nicht konzentrieren. Er hat zu viele Gedanken in seinem Kopf. Imas leuchtende Augen, als Vater zurückgekommen ist. Wie sie auf ihn zu gerannt ist und ihn umarmt hat. Ihr Lachen. Sie hat keine Ahnung von dem, was zwischen Ibiki und Vater vorgeht, und wenn es nach Ibiki geht, kann das ruhig so bleiben. „Ibiki.“ Er hört die Stimme und dreht sich langsam um. Vater steht an der Öffnung im Zaun und sieht zu ihm herüber. „Da bist du ja. Einer von deinen Freunden hat gesagt, ich sollte mal nachsehen, ob du noch hier bist.“ Ibiki fällt nichts zu sagen ein. Vater kommt näher und sieht sich auf dem Trainingsplatz um. Er betrachtet die in der Zielscheibe steckenden Kunais und hebt eine Augenbraue. „Hast du die geworfen?“ „Ja“, antwortet Ibiki und weiß, dass sie nicht annähernd das Zentrum der Scheibe getroffen haben. Vater sagt nichts dazu, und das ist vielleicht das Schlimmste, was er hätte sagen können. „Aber ich kann andere Sachen besser“, bemerkt Ibiki. „Zum Beispiel?“ „Genjutsu. Ich bin sehr gut in Genjutsu.“ Er hat erwartet, dass Vater wenigstens ein bisschen anerkennend aussehen würde, aber das tut er nicht. „Mein Sensei hat gesagt, das ist ein Talent“, fährt Ibiki etwas entmutigt fort. „Weil man ziemlich exakte Chakrakontrolle dafür braucht. Es kommt nicht oft vor, besonders nicht in meinem Alter. Er hat gesagt, dass ich mich darauf konzentrieren soll.“ „Und wenn ein feindlicher Shinobi mit einem Schwert auf dich zukommt?“, fragt Vater. „Welches Genjutsu hilft dir dann?“ Sein Spott lässt Ibiki zusammenzucken. „Ich dachte ... Sensei hat gesagt ...“ Innerhalb eines Wimpernschlages ist Vater verschwunden. Ibiki schnappt erschrocken nach Luft, und im nächsten Moment steht Vater hinter ihm und hat ihm den rechten Arm auf den Rücken gedreht. „So ein Unfug. Genjutsus sind hübsche Spielereien. In einem Kampf Mann gegen Mann nützen sie dir gar nichts.“ „Aber Sensei hat gesagt ...“, beginnt Ibiki. „Wenn du anderer Meinung bist, dann zeig mir, was du kannst. Befreie dich.“ Ibiki will die Hände nach vorn nehmen, um irgendein Siegel zu schließen, aber Vater umklammert seinen rechten Arm und biegt ihn etwas höher. Ibiki beugt sich vor, damit es nicht wehtut. „Ich ... ich kann nicht, Vater.“ „Natürlich nicht.“ Mit einem Ruck lässt Vater ihn los. Ibiki stolpert einen Schritt nach vorn, fängt sich und richtet sich auf. Vater mustert ihn eingehend. Er weiß nicht recht, was das ist in seinem Blick. „Um dich aus manchen Situationen zu befreien, brauchst du körperliche Kraft und ein paar Tricks, was Taijutsu angeht. Aber dafür bist du einfach noch zu klein.“ „Ich bin ja erst acht. Nächsten März werde ich neun.“ „Selbst für einen Achtjährigen bist du zu klein“, erwidert Vater ungnädig. „Zu mickrig. Kein Wunder, essen tust du ja nicht anständig. Der Alltag eines Shinobi ist hart, die kleinsten Dinge können über Leben und Tod entscheiden. Und bei deiner körperlichen Verfassung sehe ich schwarz.“ „Ich werde mich anstrengen“, murmelt Ibiki und ballt die Fäuste an seinen Seiten. Vater wirkt, als wollte er irgendetwas sagen, aber dann schüttelt er den Kopf und wendet sich ab. „Komm mit. Wir wollten doch zusammen essen, hast du das vergessen?“ „Nein“, flüstert Ibiki und folgt ihm. Kapitel 4: Irrglaube -------------------- „Hey. Hey, Asuma.“ Asuma sieht nicht von seinem Blatt auf. Verstohlen blickt Ibiki sich im Klassenraum um, aber Sensei schaut gerade in eine andere Richtung. „Asuma!“ „Was?“ „Was kommt bei der dritten Aufgaben hin?“ „Hast du wieder nicht gelernt oder was?“, raunt Asuma. „Ich hatte zu tun.“ „Dein Problem.“ Ibiki verdreht die Augen. Er hatte wirklich besseres zu tun, als für einen dummen Mathetest zu lernen. Die anderen haben ja keine Ahnung. Suchend sieht er sich nach weiteren potenziellen Abschreibkandidaten um. „Gai?“ „Nicht so laut“, zischt er. „Sensei hört uns.“ „Gib mir mal eben dein Blatt.“ „Bist du verrückt?“ „Nur mal gucken.“ „Geht nicht, Sensei sieht das.“ „Gleich, wenn er wegguckt.“ „Zu riskant.“ „Ein Shinobi muss bereit sein, Risiken einzugehen, Gai.“ „Jetzt sei schon still“, zischt Asuma. „Es reicht, wenn du durchfällst. Zieh uns nicht da rein.“ „Eigentlich sollten sie das belohnen“, sagt Ibiki. „Belohnen, dass du wieder nicht gelernt hast? Hättest du wohl gerne.“ „Meine kreative Umgehensweise damit, meine ich.“ „Schüler schreiben seit Menschengedenken ab. Was ist daran kreativ?“ Leise reißt Ibiki ein Stück von seinem Blatt ab und knüllt es zusammen. „Es geht nur darum, wie man es anstellt, Asuma.“ Er wirft das Papierknäuel, und es trifft Mizukis Hinterkopf, der zusammenzuckt und sich umdreht. „Was ist?“ „Gib mir mal dein Blatt“, flüstert Ibiki. „Vergiss es.“ „Nur ganz kurz.“ „Nei-hein.“ „Du kriegst mein Frühstück.“ „Trotzdem nicht.“ „Zählt Bestechung auch zu den Tugenden eines Shinobi?“, fragt Asuma grinsend. „Weiß nicht. Aber die Fähigkeit, unauffällig an Informationen zu kommen, ganz sicher.“ „An dem unauffälligen Teil musst du noch arbeiten, Ibiki“, erklingt die tadelnde Stimme seines Senseis hinter ihm. „Wenn du nichts kannst, gib ab.“ „Aber die Idee ist gut, oder, Sensei?“, fragt Ibiki und drückt ihm sein leeres Blatt in die Hand. „Warum machen wir nicht mal einen Test, bei dem es nur darum geht, unauffällig zu schummeln?“ „So einen Test hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Und selbst wenn ...“ Sensei wirft einen Blick auf das Blatt und verzieht spöttisch den Mund. „Selbst wenn, würdest du mit einem leeren Blatt garantiert durchfallen.“ „Du hast was?“, fragt Inoichi lachend. „Eine neue Art von Tests vorgeschlagen“, wiederholt Ibiki. „Mit schummeln. Das wäre auch viel besser, um uns auf den Alltag als Shinobi vorzubereiten, oder?“ „Du bist ein verrückter kleiner Junge.“ „Ich bin nicht klein!“ Inoichi strubbelt ihm durch die Haare und liest noch einmal den tadelnden Eintrag in Ibikis Hausaufgabenheft. „Deine wievielte Ermahnung in diesem Monat ist das jetzt?“ „Die erste.“ „Oh nein. Da war dieses eine Mal, als du überall in der Klasse Frösche hast auftauchen lassen ...“ „Das war im letzten Monat“, widerspricht Ibiki. „Und es war eine gute Möglichkeit, um meinen Mitschülern zu zeigen, wie man ein Genjutsu auflöst. So etwas lernt man in der Praxis am besten!“ „Dein Sensei weiß deine Verbesserungsvorschläge zu seinem Unterricht offenbar nicht zu schätzen“, sagt Inoichi schmunzelnd. „Und du?“ „Was meinst du damit?“ Ibiki sieht ihn nicht an. „Ach, gar nichts. Ich meinte gar nichts.“ Inoichi legt ihm die Hand auf die Schulter. „Deine Genjutsus sind gut, Ibiki. Im Moment reichen sie nur aus, um Akademieschüler zu täuschen, und sie befassen sich vielleicht mit etwas banalen Dingen – aber Übung macht den Meister.“ „Jemand hat gesagt ...“ Ibiki bricht ab und fängt noch einmal an. „Manche sagen, mit Genjutsus kann man sowieso nichts anfangen.“ „Das habe ich auch schon oft gehört“, sagt Inoichi stirnrunzelnd. „Ein unfassbarer Irrglaube. Gute Shinobi werden zu schnell überheblich und vergessen, wie sehr sie auf ihre Wahrnehmung angewiesen sind. Kontrolliere die fünf Sinne eines Menschen, und du kontrollierst seine Gedanken. Kontrolliere seine Gedanken, und du kontrollierst alles, was er ist. In unserem Clan weiß das jeder.“ „Danke“, sagt Ibiki und schlingt spontan die Arme um ihn. „Wofür war das denn?“, fragt Inoichi verblüfft. „Einfach so“, erwidert Ibiki, schnappt sich sein Hausaufgabenheft und läuft hinaus. Er hat so viel Freude in seinem Bauch, dass er singen möchte. „Der Baum hat ein Gesicht gekriegt!“ „Warte“, sagt Ibiki und klemmt die Zunge zwischen die Zähne. „Es muss irgendwie anders gehen ...“ „Es ist dein Gesicht!“, fährt Ima begeistert fort. Sie ist ein gutes Testobjekt für Ibikis Genjutsus, aber sie wäre ein noch besseres, wenn sie etwas geduldiger wäre. Nebeneinander hocken sie auf der Treppe vor Yamanakas Blumenladen und starren einen Baum auf der anderen Straßenseite an. Einige Passanten werfen ihnen fragende oder belustigte Blicke zu. „Warte. Warte. Was siehst du jetzt?“ „Es kommt raus!“, ruft Ima. „Es kommt auf mich zu! Ist das ein Doppelgänger, Ibiki?“ „So ähnlich. Aber als Genjutsu.“ „Der Doppelgänger-Ibiki hat aber keine Arme“, stellt Ima kritisch fest. „Und er ist ein bisschen blau im Gesicht.“ „Das kriege ich noch hin. Es ist ein Prototyp.“ „Ein was?“ „Ein Prototyp“, erklärt Ibiki. „Das heißt, dass ...“ „Vater!“, ruft Ima und springt auf. Verwirrt dreht Ibiki den Kopf und flucht im nächsten Moment. Er sollte an seiner Konzentration arbeiten. Kaum wird er abgelenkt, löst sich das mühsam gesponnene Genjutsu in Wohlgefallen auf. Seufzend betrachtet er Ima, die die Straße hinunter rennt und sich Vater in die Arme wirft. Diesmal trägt er eine normale Jounin-Uniform, sein linkes Hosenbein sieht unten wie angesengt aus. „Ich habe gedacht, du wärst länger weg! Inoichi hat gesagt, es wäre eine schwierige Mission diesmal. Toll, dass es nicht so lange gedauert hat!“ Wenn es nach Ibiki gegangen wäre, hätten sie noch länger bei Yamanakas bleiben können, aber das sagt er nicht. Vater hat Ima hochgehoben, und Ibiki geht langsam zu den beiden hinüber. „Hallo, Vater. Schön, dass du wieder da bist.“ „Ibiki.“ Vater streicht ihm über den Kopf und lächelt flüchtig. „Wie geht es dir? Was macht die Schule?“ „Alles in Ordnung.“ „Ibiki hat mir Genjutsus gezeigt, Vater!“, sagt Ima strahlend. „Die sind echt lustig! Er kann so, dass ein Ibiki aus dem Baum rauskommt. Jedenfalls fast. Das ist lustig!“ Vater wirft Ibiki einen langen Blick zu und wendet ohne ein Wort den Kopf ab. „Und wie geht es dir sonst so, Prinzessin?“, fragt er Ima und streicht ihr über die Wange. „Du bist anders geworden, Vater“, sagt Ibiki. Ima liegt schon im Bett, Vater sitzt noch im Wohnzimmer und schreibt an dem Bericht über seine letzte Mission. „Was meinst du?“, fragt er, ohne aufzusehen. „Bevor Mutter gestorben ist, warst du anders zu mir.“ „Findest du?“ Ibiki atmet schwer. „Ich werde mein Bestes geben, Vater. Aber es wird nie genug sein.“ „Genug wofür?“ „Um dich davon zu überzeugen, dass ich keine Enttäuschung bin.“ Langsam hebt Vater den Kopf und sieht ihn an. „Aber du gibst nicht dein Bestes, Ibiki. Ich habe dir klar gesagt, was du tun musst, um zu überleben. Ich habe dir gesagt, du sollst aufhören, dich auf deine kindischen Genjutsus zu konzentrieren, die ohnehin jeder durchschaut. Und stattdessen bist du mit nichts anderem beschäftigt.“ „Wenn ich viel übe, durchschaust selbst du sie irgendwann nicht mehr.“ Vater errötet vor Wut. Er steht auf, kommt einen Schritt auf Ibiki zu, der zum Schutz die Arme hebt, und greift nach seinem Ohr. „Hör mir genau zu, Ibiki. Um so gut zu werden, müsstest du mindestens fünf Jahre Arbeit in dein Genjutsu stecken. Leider wirst du dafür nicht lange genug am Leben bleiben, wenn du keine nützlicheren Techniken lernst. Schwächlinge und Träumer wie dich sortieren sie in den ersten Monaten als Genin aus. Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren Shinobi, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe unzählige Jungen wie dich gesehen, und keiner hat seine ersten fünf Missionen überlebt.“ Ibiki starrt an ihm vorbei. „Wenn ich sterbe, willst du sagen können, ich habe es ja gewusst. Alles andere ist dir egal, oder?“ Ein Ruck reißt ihn zur Seite, er landet auf dem Boden. „Hast du eine Ahnung, was du da redest? Du bist mein Sohn! Ich will dich davon abhalten, dich auf lange Sicht umzubringen! Zu deinem eigenen Besten!“ Sensei hat gesagt, er ist etwas Besonderes, geht es Ibiki unaufhörlich durch den Kopf. Inoichi hat gesagt, es ist ein Irrglaube, dass Genjutsus nutzlos wären. Er will sich aufrichten, aber bevor er es tun kann, greift Vater nach seinem Kragen und zieht ihn hoch. „Du wirst dich in den praktischen Fächern an der Akademie verbessern und ein bisschen an Körpergewicht zulegen. Wenn ich das nächste Mal sehe, wie du mit deinen Genjutsus herumspielst, breche ich dir die Finger. Haben wir uns verstanden?“ Ibiki sieht ihm in die Augen und hört die Uhr ticken. „Hast du das verstanden, Ibiki?“ „Du bist verrückt, Vater“, flüstert Ibiki, und es macht ihm Angst, wie hoch und verängstigt seine Stimme klingt. „Ich bin nicht irgendein böser Shinobi oder so. Ich bin's, Ibiki. Ich bin erst acht. Hörst du dir selber beim Reden zu?“ „Es ist zu deinem Besten“, wiederholt Vater schroff, lässt ihn los und geht. Am nächsten Morgen ist alles wieder in schönster Ordnung. Zu dritt sitzen sie um den Frühstückstisch, und Ima lacht und redet wie üblich viel zu viel für diese frühe Stunde. „Wir fangen heute mit Zielwerfen an, hat Sensei gesagt. Ich habe meine Kunais doch eingepackt, oder, Vater?“ „Natürlich, Prinzessin“, antwortet er ruhig. „Ich hoffe wirklich, dass ...“ Sie hält inne und lacht. „Ibiki!“ „Was denn?“, fragt er scheinheilig. „Der Zuckertopf hat einen Rüssel!“ Stirnrunzelnd sieht Vater hin. Der Zuckertopf hat tatsächlich einen kleinen, blauen Elefantenrüssel bekommen, der Krümel von der Tischdecke aufsammelt und in Imas Richtung winkt. Sie muss so sehr lachen, dass sie sich an ihrem Tee verschluckt. „Kai“, sagt Vater trocken und berührt Imas Arm, um das Genjutsu aufzulösen. Ima hört trotzdem nicht auf, zu lachen. „Ibiki macht immer so lustige Sachen! Er muss dir das mit dem Baum mal zeigen, Vater!“ „Schön, wenn es dich amüsiert.“ Vater lächelt dünn und greift nach der Teekanne. „Möchtest du noch etwas, Ibiki?“ Ibiki sieht ihn wachsam an, späht in seine erst halb geleerte Teetasse und ringt mit sich. Er spürt Vaters Wut, sie ist auch kaum zu übersehen an seinen bebenden Lippen, außer vielleicht für Ima. Langsam greift er nach seiner Tasse. „Sehr gerne, Vater.“ Er hält sie ihm hin, und Vater gießt ihm den heißen Tee über die Hand. Ibiki lässt die Tasse fallen, zuerst nur vor Schreck. Der Schmerz kommt erst danach, es brennt, es ist heiß und es brennt. Er heult auf, stößt seinen Stuhl um und rennt zum Waschbecken. „Ibiki? Was ist denn passiert?“ Fahrig dreht er den Wasserhahn auf und hält die Hand darunter. Der Schmerz lässt ein wenig nach, aber es brennt immer noch. Seine Haut ist gerötet, an einigen Stellen zeigen sich Blasen. „Was ist passiert?“ „Es tut mir leid, Ibiki“, erklingt Vaters kühle Stimme hinter ihm. „Hast du dir etwas getan?“ Ibiki beißt sich auf die Unterlippe, bis es mehr wehtut als die Hand. Er will Vater so viele Dinge sagen, aber er wird es nicht tun. Nicht, wenn Ima da ist. „Ibiki? Tut es sehr weh?“ Besorgt tritt sie neben ihn und beäugt seine Finger. „Tut mir leid, Ibiki“, sagt Vater noch einmal. „Geht schon“, murmelt Ibiki. „War ja keine Absicht.“ Kapitel 5: Krieger ------------------ Ungefähr zwei Jahre später bricht der Krieg aus. Anscheinend haben Konflikte schon länger geschwelt, aber niemand hat Notiz davon genommen, ausgenommen vielleicht die hochrangigen Jounin und ANBU. Eines Morgens geht in ganz Konoha die Nachricht um, dass der Hokage Iwa den Krieg erklärt hat. Vater wird stiller und ernster als sonst, aber Ibiki glaubt nicht, dass Ima das überhaupt bemerkt. Am Alltagsleben in Konoha ändert sich nichts, und wenige Tage später haben die Kinder schon wieder vergessen, dass Krieg ist. Zumindest die Kinder, die noch keine Shinobi sind. Am Tag vor der Abschlussprüfung von der Akademie sind sie wegen einer Zielwerfen-Übung draußen, und plötzlich sitzt da dieser alte Mann auf einer Bank. „Hokage-sama! Was für eine Überraschung!“ Ihr Lehrer steht unwillkürlich stramm und sieht sich zur Klasse um. „Los, begrüßt Hokage-sama!“ „Guten Morgen, Hokage-sama!“, rufen sie ihm entgegen, ein Durcheinander aus hellen Stimmen. Der Hokage lächelt und lässt seine Pfeife sinken. „Guten Morgen. Ich bin nur hier, um mir Konohas Geninanwärter anzusehen. Bitte stört euch gar nicht an mir.“ Der Lehrer nickt, noch etwas unschlüssig. „Wie Sie wünschen. Also los! Habt ihr alle eure Shuriken?“ Sie stellen sich der Reihe nach auf, und obwohl anfangs noch viele den Hokage anstarren, gerät er im Eifer des Gefechts bald in Vergessenheit. Ibiki hat gerade seinen Wurf beendet (zweimal beinahe ins Schwarze), als der Mann ihn anspricht. „Du, mit der dunklen Jacke. Kommst du mal eben zu mir?“ „Natürlich, Hokage-sama.“ Überrascht löst Ibiki sich von seinen Klassenkameraden und geht zum Hokage auf seiner Bank hinüber. Der alte Mann mustert ihn von Kopf bis Fuß, das Gesicht voller Lachfalten. Ein dünner Qualmfaden schlängelt sich aus seiner Pfeife. „Wie heißt du?“ „Morino Ibiki.“ „Oh, natürlich, Ibiki. Bei deiner Ähnlichkeit mit deinem Vater hätte ich es mir denken müssen. Du wirst an der morgigen Genin-Prüfung teilnehmen, nicht wahr?“ „Ja, Hokage-sama“, antwortet Ibiki und streckt die Brust vor. „Bist du sicher, dass du dafür bereit bist?“ Er ist der zweite nach Vater, der bezweifelt, dass Ibiki sich mit seiner körperlichen Verfassung überhaupt zum Shinobi eignet. Mit zehn Jahren ist er immer noch wesentlich kleiner als Gleichaltrige. „Ich bin bereit, Hokage-sama. Mein Genjutsu ist wirklich gut, fragen Sie meinen Sensei!“ Der Hokage lächelt und zieht an seiner Pfeife. „Das habe ich schon. Er hat mir bestätigt, dass du ein guter Schüler bist ... abgesehen von ein paar Flausen im Kopf.“ Ibiki grinst. „Man tut, was man kann.“ „Dein Vater muss stolz auf dich sein.“ In der Stimme des Alten liegt etwas Lauerndes, und Ibiki beschließt, es zu ignorieren. „Ich werde mein Bestes geben, um ihn stolz zu machen.“ Der Blick des Hokage bleibt an Ibikis aufgeplatzter Lippe hängen, das Ergebnis einer Auseinandersetzung an dem Abend, bevor Vater auf seine Mission musste. Ibiki hat aus purem Trotz Genjutsu-Käfer aus der Wand krabbeln lassen, und Vater hat ihm eine Ohrfeige gegeben. „Ibiki? Gibt es irgendetwas, was du mir sagen möchtest?“ „Was denn, Hokage-sama?“, fragt Ibiki unverändert freundlich. „Falls du irgendwelche Probleme haben solltest, kannst du mit mir reden. Oder mit deinem Sensei, wenn dir das lieber ist.“ „Danke, Hokage-sama. Aber ich wüsste nicht, worüber ich mich beklagen sollte.“ Das weiß er tatsächlich nicht. Im Moment ist Vater ja auf seiner Mission. „Von beklagen hatte ich gar nicht gesprochen.“ Der Hokage lächelt traurig. „Ich kann mich darauf verlassen, dass du dir Hilfe holst, wenn du sie brauchst. Nicht wahr, Ibiki?“ Einen Moment lang will Ibiki fragen, was mit Ima geschehen soll, wenn er sich Hilfe holt. Selbstverständlich tut er es nicht. „Sie können sich darauf verlassen, Hokage-sama.“ Als Ibiki am folgenden Mittag in die Straße zum Haus der Yamanakas einbiegt, kommt Ima ihm entgegen gerannt. „Und? Und?“ „Was und?“, fragt Ibiki scheinheilig. „Hast du es geschafft?“ „Was geschafft?“ „Weißt du doch!“, ruft sie ungeduldig und zerrt an seinem Arm. Er muss lachen. „Klar habe ich es geschafft. Schau.“ Er greift in seine Schultasche und zieht behutsam das dunkelblaue Stirnband hervor. Die Metallplakette darauf glänzt in der Sonne, blank, ohne einen einzigen Kratzer. Ehrfürchtig streckt Ima die Hand danach aus. „Darf ich es mal anprobieren?“ „Nein, darfst du nicht“, neckt er sie. „Ibiki!“ „Erst, wenn du selber Genin bist.“ „Du bist gemein!“ Ibiki klopft ihr auf die Schulter. „Drinnen, in Ordnung? Du darfst nicht öffentlich mit diesem Stirnband herumlaufen, wenn du kein Shinobi bist. Das ist Amtsanmaßung, hat Sensei gesagt. Aber drinnen darfst du es anprobieren, wenn du willst.“ „Ja!“ Ima greift nach seiner Hand. „Und jetzt gehen wir, Ibiki! Wir müssen Inoichi erzählen, dass du es geschafft hast!“ Er nickt, steckt die Frucht seiner Anstrengungen vorsichtig wieder ein und folgt ihr zum Haus der Yamanakas. „Und warum trägst du das Stirnband nicht?“, fragt Inoichi grinsend. „Probier es doch wenigstens an. Wenn es dir zu lang ist, können wir es kürzen.“ „Ich will nicht, dass es verkratzt“, gibt Ibiki zu. „Warum denn nicht?“ Inoichi deutet auf seine eigene Metallplakette, die trüb geworden ist, voller Scharten und Kratzer. „Warum ist deins so kaputt, Inoichi?“, fragt Ima bewundernd. „Es sind Zeichen dafür, wie viele Kämpfe ich schon überlebt habe. Blanke Stirnbänder haben doch nur die Grünschnäbel von der Akademie.“ Er knufft Ibiki in die Seite, und Ibiki knufft zurück. „Heute Abend musst du es jedenfalls anziehen“, fährt Inoichi fort. „Wir grillen im Garten und feiern ein bisschen.“ „Wir feiern?“, fragt Ima begeistert. „Wegen Ibiki?“ „Mehrere Kinder von Freunden haben heute die Prüfung bestanden. Und Ibiki wird natürlich auch gebührend gefeiert.“ „Kommen Fubuki und Kozue auch?“ „Natürlich kommen sie.“ „Ja!“ „Und dafür musst du es tragen“, fügt Inoichi hinzu und sieht Ibiki ernst an. „Also gut, überredet“, sagt Ibiki und muss grinsen. Es wird ein wunderschönes Fest. Der eher kleine Garten der Yamanakas ist vollgestopft mit Klappstühlen und Tischen. Die Erwachsenen sitzen zusammen, essen, lachen und unterhalten sich. Ihr Nachwuchs rennt überall herum, und nur anhand der Stirnbänder kann man unterscheiden, wer noch ein Kind und wer schon ein Shinobi ist. Es gibt ein großes Hallo, als der Akimichi-Clan etwas verspätet auftaucht, und ein noch größeres, als Chouza den gesamten Rest des Grillfleisches verputzt. Es wird spät. Der Mond geht auf, die kleineren Kinder schlafen auf dem Schoß ihrer Eltern ein. Ima und Ibiki sitzen auf einer Bank unter einem dichten Gebüsch. Sie hat den Kopf an seine Schulter gelehnt und döst, und er beobachtet das bunte Treiben, satt und zufrieden. Jemand erzählt einen Witz. Die Erwachsenen lachen laut, und Ima schreckt auf. „Alles in Ordnung“, murmelt Ibiki. „Schlaf weiter.“ „Ich hab nicht geschlafen.“ Ima gähnt, setzt sich auf und betrachtet bewundernd Ibikis Stirnband, sicher zum zwanzigsten Mal an diesem Abend. Er sollte sich die Haare schneiden, denkt er. So, wie sie jetzt sind, verdecken sie das Konoha-Abzeichen beinahe. „Jetzt bist du Genin. Und kriegst einen eigenen Sensei und ein Team und alles.“ „Ja.“ „Das ist so aufregend!“ Er nickt. „Nur schade, dass Vater nicht da ist, um mit zu feiern“, sagt Ima nachdenklich. „Aber dann sagen wir ihm eben, dass du Genin bist, wenn er in zwei Wochen wiederkommt.“ Ibiki verkneift sich die Bemerkung, dass er es nicht schade findet. Von Ima und Inoichi und den zahllosen Mitgliedern, Freunden und Bekannten des Yamanaka-Clans beglückwünscht zu werden, ist ihm viel lieber. Er ist froh, dass sie feiern und Menschen lachen und er Vater mal vergessen kann. „Und dass Mutter nicht da ist“, fügt Ima hinzu. „Das ist auch schade.“ Da wiederum muss Ibiki ihr zustimmen, aber auch das sagt er nicht. „Bestimmt sieht sie zu“, erwidert er stattdessen und legt den Arm um Ima. „Und sie ist glücklich.“ Kapitel 6: Contenance --------------------- Die Teameinteilungen finden eine Woche später statt. Zu dritt sitzen sie in einem Klassenzimmer an der Akademie und warten auf ihren Sensei. „Wir sind jetzt also Team sechs?“, fragt Aya. „Ich mag diese Zahl nicht einmal!“ Sie lacht, und Ibiki stellt fest, dass sie dabei Grübchen bekommt. Es passt gut zu ihrem rundlichen, fast pausbäckigen Gesicht. Ihre Haare und die großen Augen sind pechschwarz. „Du bist von den Uchihas, oder?“, fragt er. „Ja“, antwortet sie. „Und aus welchem Clan kommst du?“ „Aus keinem.“ „Na ja“, sagt sie und lacht erneut. „Kannst du ja nichts für.“ „Ein bisschen eingebildet bist du ja schon“, sagt Tokara, der auf der Kante seines Tisches sitzt. „Bin ich gar nicht!“ „Arroganz ist eine uralte Familienkrankheit der Uchihas, Tokara“, weist Ibiki ihn zurecht. „Das ist erblich bedingt, da kann man nichts machen.“ „Es ist keine Familienkrankheit!“ Aya schüttelt die Faust in seine Richtung. „Ihr werdet ja sehen, wenn ich erst mal mein Sharingan habe ...“ „Vielleicht kriegst du es ja gar nicht“, stichelt Tokara. „Das kriegen nicht alle Uchihas.“ „Aber die meisten!“ „Kann man damit Genjutsus durchschauen?“, fragt Ibiki. Aya sieht ihn verblüfft an. „Ich weiß nicht. Wer kann denn schon Genjutsus?“ „Ich, zum Beispiel.“ „Glaub ich dir nicht.“ „Ist wirklich wahr!“ „Ist es wirklich“, bestätigt Tokara. „Zeig“, sagt Aya herausfordernd. Ibiki hebt die Hände und versucht, sich zu konzentrieren (was ihm unter ihren pechschwarzen Augen irgendwie schwerfällt), als die Tür sich öffnet. „Team sechs?“ Sie drehen sich um und mustern die junge Frau, die etwas zerzaust in der Tür zum Klassenzimmer aufgetaucht ist. „Ja“, antwortet Tokara. „Ein Glück! Ihr müsst mich entschuldigen, ich habe den Raum nicht gleich gefunden. Ich bin euer neuer Sensei. Natsuki ist mein Name.“ Sie lächelt, und ihr Lächeln ist eine Spur zu freundlich für einen Sensei, denkt Ibiki. Andererseits ist das nicht weiter schlimm. Es gibt schließlich schon jemanden, der ständig der Meinung ist, Ibiki wäre nicht stark genug. „Ich heiße Uchiha Aya!“, ruft Aya und lächelt sie strahlend an. „Ah, ich dachte mir gleich, dass du das bist. Schön, dich kennen zu lernen, Aya. Wer von euch Jungs ist Tokara, und wer ist Ibiki?“ „Ich bin Tokara“, murmelt Tokara, der gegenüber Erwachsenen plötzlich schüchtern wird, wie es so seine Art ist. „Sehr gut. Und du bist ...“ Aya schreit auf und deutet zum Fenster. „Was ist das?“ Verwirrt sehen alle in die entsprechende Richtung. Durch das Fenster sieht man die Dächer Konohas, die von der untergehenden Sonne in blutrotes Licht getaucht werden. „Wieso geht die Sonne unter? Es ist gerade erst Mittag!“ „Es sieht aus, als hätten wir mit Ibiki einen Genjutsu-Experten in unserem Team.“ Natsuki sieht ihn an und lächelt. „Nur ein kleiner Trick, Sensei“, erwidert Ibiki bescheiden. „Der Sonnenuntergang ist ein Genjutsu?“, fragt Aya verwirrt. „Das komplette Fenster ist eines“, korrigiert Natsuki. „Und die Illusion wäre überzeugender, wenn man nicht durch das echte Fenster gleich daneben den blauen Himmel sehen könnte.“ Aya, Tokara und Ibiki starren das zweite Fenster an, und dann müssen alle vier lachen. Nach fünf Tagen mit seinem neuen Team und drei Nächten, in denen er von Ayas dunklen Augen geträumt hat, entscheidet Ibiki beim Aufwachen völlig gefasst, dass er verliebt ist. Eines Tages wird er Aya fragen, ob sie mit ihm ausgehen will. Wenn der richtige Moment gekommen ist. „Ibiki?“ Aus seinen Gedanken gerissen setzt er sich auf. Ima kniet neben dem Bett, schon angezogen. Noch immer übernachten die beiden im Haus der Yamanakas. „Habe ich verschlafen?“, fragt Ibiki erschrocken und sieht auf die Uhr. „Nein, du hast doch heute kein Training.“ Imas Augen leuchten. „Aber Vater ist wieder da!“ Ibiki blinzelt sie an. „Das ist doch toll, oder?“, fragt Ima und zieht an seiner Decke. „Komm! Du musst ihm zeigen, dass du Genin bist!“ „Ja“, murmelt Ibiki und greift nach seinem Stirnband neben dem Kopfkissen. „Ich komme schon.“ Vater ist recht kurz angebunden, aber alle sehen es ihm nach. Sicher ist er noch gestresst nach seiner Mission. „Du bist jetzt also Genin“, sagt er zu Ibiki, als sie auf dem Heimweg sind. „Ja.“ Vater nickt und sagt nichts dazu. „Ibiki hat ein eigenes Team“, erklärt Ima eifrig. „Und einen Sensei. In zwei Tagen gehen sie auf ihre erste Mission!“ „Was für eine Mission?“ „Das hat Natsuki-sensei noch nicht genau gesagt“, erklärt Ibiki. „Nichts Gefährliches, meinte sie. Routine.“ „Konoha befindet sich im Krieg“, erwidert Vater, ohne ihn anzusehen. „Da gibt es keine Routine.“ Ibiki sieht auf den Boden. „Heißt das, dass es gefährlich ist?“, fragt Ima besorgt und greift nach Vaters Hand. Vater zögert kurz. „Ich bin mir sicher, dass Ibiki auf sich aufpasst. Mach dir keine Sorgen, Prinzessin.“ Aber er sieht Ibiki nicht an, und Ibiki weiß, dass er es nur sagt, weil Ima da ist. Sie gehen früh ins Bett, um Rücksicht auf Vater zu nehmen, der sich ausruhen muss. Ima schläft schnell ein, aber Ibiki kommt nicht zur Ruhe. Nach einer ganzen Stunde, in der er im Dunkeln gelegen und gegrübelt hat, steht er wieder auf. Es überrascht ihn kaum, als er sieht, dass in Vaters Zimmer noch Licht brennt. Er sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, hat seine Kunais und Shuriken um sich herum ausgebreitet und reinigt sie. „Du hast das ernst gemeint mit dem Krieg“, sagt Ibiki. „Oder?“ Vater zuckt zusammen und sieht auf. „Du solltest im Bett sein.“ „Konnte nicht schlafen.“ Ibiki kommt näher, setzt sich Vater gegenüber und betrachtet seine Hände, starke Hände mit langen Fingern, die die kleinen Klingen polieren. Eine Weile lang sagt niemand etwas. „Sie werden mich auch in den Krieg schicken“, sagt Ibiki. „Oder, Vater?“ „Nicht bei der ersten Mission“, antwortet Vater geistesabwesend. „So weit ist es noch nicht gekommen.“ „Aber irgendwann. Und eher früher als später.“ Vater antwortet nicht. „Stimmt doch“, sagt Ibiki. „Warum fragst du so etwas, Ibiki?“ „Weil ich die Wahrheit wissen will. Ich mag die Wahrheit.“ Langsam lässt Vater sein Kunai sinken und mustert Ibiki von oben bis unten. „Du bist zu klein“, sagt er. „Das weiß ich.“ „Ja, sie werden dich in den Krieg schicken, dich mickriges Ding. Du wirst Kanonenfutter sein, nichts weiter. Wenn du Pech hast, stirbst du in den ersten zwei Monaten. Wenn du noch mehr Pech hast, überlebst du. Du wirst Dinge sehen, die dich in den Wahnsinn treiben werden. Ich habe genug Genin gesehen, denen das passiert ist, glaub mir.“ Ibikis Unterlippe zittert, und er beißt darauf, um sich zu beruhigen. „Danke für deine aufmunternden Worte, Vater.“ Vater gibt ihm eine schallende Ohrfeige, packt seinen Kragen und zieht ihn näher zu sich heran. „Spar dir deinen Sarkasmus, Ibiki. Ich kann das auf den Tod nicht ausstehen.“ Ibiki weicht seinem Blick aus, was nicht ganz einfach ist, wenn Vaters Gesicht so nahe vor seinem ist. „Ich riskiere nicht mein Leben in diesem Krieg, um dann nach Hause zu kommen und mich von meinem Sohn verarschen zu lassen“, bringt Vater zwischen den Zähnen hervor. „Ich bin dein Vater, und du hast mich zu respektieren. Ist das klar?“ „Natsuki-sensei sagt, Respekt verlangt man nicht“, antwortet Ibiki leise. „Respekt verdient man sich.“ Er wird herum geworfen und schafft es im letzten Moment, sich den Aufschrei zu verbeißen. Vater packt seinen Arm und verdreht ihn auf dem Rücken. Es tut weh. „Dafür entschuldigst du dich. Sofort.“ Ibiki sieht absolut keinen Anlass, sich für die Wahrheit zu entschuldigen, also schweigt er. Vater zieht seinen Arm ein Stück weiter nach oben, und es tut so weh, dass Ibiki glaubt, gleich reißt irgendetwas. Er kneift die Augen zu und denkt daran, dass Ima nebenan schläft. Nicht Ima wecken. Keinen Laut. Ruckartig lässt Vater ihn los. Ibiki bleibt auf dem Boden liegen und weiß nicht, ob er sich bewegen darf, ob es klug ist, etwas zu sagen. „Es tut mir leid, Ibiki“, flüstert Vater. „Es tut mir so leid.“ Langsam stemmt Ibiki sich vom Boden hoch, der verdrehte Arm zittert. Vater kniet hinter ihm, sehr blass und schwer atmend. „Du musst mir glauben, dass ich das hier nicht tue, weil ich dich hasse. Im Gegenteil. Ich ... mache mir nur solche Sorgen um dich. Verstehst du?“ Ibiki will sagen, dass Vater ihm hätte beibringen können, sich zu verteidigen, anstatt seine Genjutsus und ihn von vornherein als Enttäuschung abzuschreiben. Aber er reibt seinen Arm und sagt nichts. „Wenn deine Mutter doch noch hier wäre! Sie würde dir dasselbe sagen wie ich, dass sie sich Sorgen um dich macht. Aber sie ist nicht hier. Ich habe Rumi verloren, und dich auch noch zu verlieren, würde ich nicht ertragen. Du musst mir glauben, dass ich nicht will, dass du so jung stirbst. Aber ...“ Aber es wird trotzdem passieren, beendet Ibiki in Gedanken den Satz. Vater greift nach Ibikis Hand. „Wenn du nicht wiederkommst“, sagt er leise, „werde ich dich nie vergessen. Und ich passe gut auf Ima auf. Mach dir keine Sorgen.“ „Ich komme aber zurück, Vater“, erwidert Ibiki ernst. Vater öffnet den Mund, will irgendetwas sagen, schüttelt aber nur den Kopf. „Geh ins Bett“, sagt er, ohne Ibiki anzusehen. Und Ibiki schwört sich, dass er seine erste Mission überleben wird, und auch alle danach. Allein, um Vater zu beweisen, dass er es kann. Kapitel 7: Jugend ----------------- Natsuki hat ihren Einsatz beim Training gelobt und sie für heute verabschiedet, aber sie sind zusammen geblieben, Ibiki, Aya und Tokara. Nebeneinander schlendern sie über eine Hauptstraße Konohas und reden. „Ich habe dich voll erwischt, oder, Aya?“ „Noch, Tokara! Aber warte, wenn ich erst mal mein Sharingan habe ...“ „Oh, hör auf damit. Du bist so eingebildet, weißt du das? Doofe Uchihas mit ihrem doofen Sharingan.“ „Jetzt hör sich einer das an!“ Aya muss lachen. „Dass du so eine große Klappe haben kannst, Tokara. Aber sobald Erwachsene in der Nähe sind, bist du so klein mit Hut.“ Tokara wird rot. „Stimmt ja gar nicht.“ „Ich finde dich lustig.“ „Bin ich auch lustig?“, fragt Ibiki ernst. „Nein“, erwidert Aya schlicht. „Aber dafür kannst du Genjutsus.“ „Wow. Danke.“ Diesmal muss Tokara lachen, und Aya stößt ihm den Ellbogen in die Seite. „Jetzt lach den armen Ibiki nicht aus!“ „Das macht dem doch nichts.“ „Sag das nicht! Tief drinnen ist er bestimmt ein ganz empfindlicher, zart besaiteter Junge, der ...“ Tokara lacht noch lauter. „Hört auf damit, alle beide“, sagt Ibiki streng. „Aya, deine Menschenkenntnis ist zum Heulen. Ich bin nicht zart besaitet.“ „Das sagst du“, erwidert sie frech. Ihre schwarzen Augen funkeln, und Ibiki muss sich beherrschen, um sie nicht anzustarren. Er will fragen, ob sie mit ihm ausgehen will, vielleicht ein Eis essen. Aber das kann er nicht, wenn Tokara daneben steht. Ein andermal. „Hey, Ibiki!“ Er dreht den Kopf und sieht ein anderes Dreiergrüppchen auf sie zukommen. Einer der drei Jungen ist Gai, der ein paar Schritte rennt und vor ihnen zum Stehen kommt. „Tokara, du bist ja auch da! Und das ist ...?“ „Uchiha Aya“, sagt Aya strahlend. „Uchiha“, äfft Tokara sie nach, und sie stößt ihn erneut in die Seite. „Schön, dich kennen zu lernen!“, sagt Gai und grinst sie breit an. „Ihr seid also ein Team?“ „Ja“, antwortet Ibiki. „Team sechs.“ Gai nickt und deutet auf die beiden Jungen, die näher gekommen sind. „Das hier sind meine Teamkollegen. Ebisu und Genma. Der mit dem ... Dings im Mund ist Genma.“ „Hey“, sagt Ebisu. „Das ist ein Senbon, Gai“, sagt Genma und grinst. „Wann wirst du es dir merken?“ Die beiden scheinen ein oder zwei Jahre älter zu sein als Gai, der wegen seines Talents schon früh die Akademie verlassen hat. Das hätte er Vater nie erzählen dürfen, schießt es Ibiki durch den Kopf. Er war nur enttäuscht. „Noch mehr junge Shinobi also!“ Gai wirkt richtig begeistert. „Wir haben schon länger beschlossen, dass wir ein bisschen zusammenhalten müssen – die Älteren nehmen uns einfach nicht für voll.“ „Arschlöcher“, ergänzt Genma. „Du kannst ruhig Jounin sein, solange du jünger bist als vierzehn, werden die Erwachsenen dich trotzdem wie ein Kind behandeln.“ „Nächsten Freitag treffen wir uns mit ein paar Leuten, ab vier auf meinem Dach. Habt ihr auch Lust, zu kommen?“ „Klar!“, sagt Aya sofort. „Wer ist denn da?“, fragt Ibiki. „Oh, ich weiß nicht, wer kommt. Aber ich habe praktisch unsere ganze ehemalige Klasse eingeladen.“ Gai grinst ihn an. „Die Jugend eben!“ Ibiki muss lachen. „Das kann ich mir nicht entgehen lassen.“ Gai wohnt mit seinen Eltern in einem Randviertel Konohas, im fünften Stock. Durch das Fenster seines kleinen, mit Trainingsgeräten vollgestopften Zimmers kann man auf ein flaches Dach klettern. Es ist mit rötlichen Ziegeln gedeckt, die teilweise schon locker sind. „Wenn ihr sie lostretet, kein Problem“, erklärt Gai zur Begrüßung. „Papa sagt, wenn ein paar Löcher im Dach sind, kann er unseren Vermieter endlich überreden, es neu decken zu lassen.“ „Dein Papa hat schon tolle Ideen“, spottet Tokara. Wie üblich bemerkt Gai nicht, dass das abfällig gemeint war, oder ignoriert es zumindest. „Ja, er ist große Klasse! Setzt euch, ihr drei. Wollt ihr was trinken?“ Ibiki, Aya und Tokara lassen sich von ihm Plastikbecher in die Hand drücken, und Gai klettert durch das Fenster wieder nach drinnen, um Limonade zu holen. Auf dem Dach haben sich etwa fünfzehn junge Shinobi eingefunden, größtenteils aus Ibikis alter Klasse, aber einige unbekannte Gesichter sind auch dabei. Er bemerkt Asuma, der sich mit einem dunkelhaarigen Mädchen unterhält, und schlägt ihm auf die Schulter. „Asuma.“ „Ibiki! Du bist auch hier?“ Asuma dreht sich um, sieht die anderen beiden und grinst. „Setzt euch doch. Da passiert schon nichts.“ Tokara stößt die Ziegel prüfend mit der Fußspitze an, während Aya sich nicht mit so etwas aufhält und sich einfach fallen lässt. Ibiki nimmt neben ihr Platz und sieht sich um. Einen Schritt weiter hocken Ebisu, Genma und ein paar andere in einem Kreis und spielen Karten. Hinter ihnen breitet sich Konoha aus, in Braun und Ocker und allem dazwischen, hier und da eine grüne Baumkrone, ein wehendes Fähnchen, ein Fenster, in dem sich die Sonne bricht. „Interessanter Ort, um sich zu treffen“, bemerkt Ibiki. „Hübsche Aussicht.“ „Ganz schön hoch ist das hier“, murmelt Tokara und betrachtet eine alte Frau, die auf einem Balkon auf der anderen Straßenseite Wäsche aufhängt und beim Anblick der Kinder die Nase rümpft. „Und die Leute starren uns an.“ „Lass sie doch starren“, erwidert Asuma großspurig. „Wir sind die Zukunft Konohas, also sollen die sich nicht so anstellen! Was ist los, Kurenai? Musst du schon los?“ Das Mädchen neben ihm nickt und steht auf. „Mein Vater will, dass ich zum Abendessen zu Hause bin.“ „Der würde dich am liebsten an den Herd ketten, oder? Will er nun, dass du Kunoichi oder Hausfrau wirst?“ „Er meint es nur gut, Asuma“, weist sie ihn zurecht. „Ja, ich weiß, ich weiß.“ Er seufzt. „Dann sehen wir uns morgen.“ „Eine Freundin von dir?“, fragt Aya munter, während Kurenai sich auf den Weg zum Fenster macht und dort Gai begegnet, der sie überschwänglich verabschiedet. „Eine Teamkollegin“, antwortet Asuma etwas zu beiläufig. Er bemerkt Ibikis Grinsen und stößt ihm den Ellbogen in die Seite. „Jaha! Mehr ist sie wirklich nicht!“ „Ist ja gut“, sagt Ibiki und deutet hinüber zu den anderen. „Kennst du alle hier?“ „So ungefähr. Ebisu und Genma sind in Gais Team ...“ „Die wurden mir schon vorgestellt, ja.“ „Der mit der Brille ist Aoba“, fährt Asuma fort. „Der ist der Älteste hier, glaub ich. Zwölf oder dreizehn. Taucht aber eigentlich nicht oft auf. Das da ist Kakashi, kennst du den? Ist auch nicht so wichtig. Dann der Junge von den Uchihas, dessen Namen ich ständig vergesse ... und das Mädel aus ihrem Team, das ...“ „Eure Limonade!“, ruft Gai und drückt Tokara die Flasche in die Hand. „Ist noch kalt.“ „Dass deine Eltern sich nicht langsam beschweren, dass wir euch alles wegtrinken“, sagt Asuma grinsend. „Ach was, die freuen sich, wenn so viele junge Leute im Haus sind!“ „Und wer ist das?“, fragt Ibiki und deutet auf einen kleinen Jungen, der etwas abseits sitzt. Er ist mit Abstand der Jüngste der Anwesenden, höchstens sechs Jahre alt. Das Kinn hat er auf die Knie gelegt, seine großen, braunen Augen beobachten die Kartenspieler. Sein Gesicht ist so ernst, als würde er selbst spielen. Wann immer jemand gewinnt, zuckt ein Lächeln über sein Gesicht. „Den kenne ich nicht“, antwortet Asuma achselzuckend. „Wer?“, fragt Gai. „Der Kleine da. Hat jemand seinen kleinen Bruder mitgebracht?“ „Ach, der.“ Gai lacht auf, ohne den Blick von Ayas Becher zu lösen, den er gerade füllt. „Nein, Eule ist ein Freund von einem Freund. Und er ist selbst schon Genin.“ „In dem Alter?“, fragt Tokara und mustert das Stirnband des Jungen. „Muss ja mächtig talentiert sein.“ „Ja, muss wohl.“ „Warum nennst du ihn Eule?“, fragt Aya lachend. „Alle nennen ihn so“, erwidert Gai achselzuckend. „Guck dir seine Augen an.“ Große, runde Eulenaugen, denkt Ibiki und muss grinsen. Im nächsten Moment richten die Augen sich forschend in ihre Richtung, und er beherrscht sich. Der Junge hat etwas an sich, was ihm einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Als hätten diese Eulenaugen schon Dinge gesehen, die Ibiki sich nicht einmal vorstellen kann. „Wie heißt er denn wirklich?“ „Keine Ahnung“, sagt Gai überrascht. „Du weißt nicht, wie er heißt?“ „Doch. Er heißt Eule.“ Ibiki knufft ihn tadelnd auf den Arm, und Gai lacht. „Was denn? Frag du ihn doch, wie er wirklich heißt, wenn es dich so interessiert. Aber ich warne dich, er ist nicht sehr gesprächig.“ Noch immer lässt der Junge Ibiki nicht aus den Augen, und er nickt. „Vielleicht tue ich genau das.“ Er steht auf, und Eule wendet den Blick ab, weil in diesem Moment Genma mit einem triumphierenden Aufschrei die Karten hinwirft. Die anderen tun es ihm so schnell wie möglich nach, und einige Karten flattern bedenklich nah an den Rand des Daches. Niemanden interessiert es, bis auf Eule, der sie gedankenverloren betrachtet. Behutsam tritt Ibiki näher und bleibt neben ihm stehen. „Hey.“ Der Junge blinzelt zu ihm auf und zieht die Nase hoch. „Ich kann mich doch hier hin setzen, oder?“ „Klar. Ist ja nicht mein Dach.“ Ibiki grinst und setzt sich. „Wie heißt du?“ „Kannst mich Eule nennen.“ „Das war nicht die Frage. Ich wollte wissen, wie du heißt.“ Befremdet sieht der Junge ihn an. „Du kannst mich Eule nennen“, wiederholt er, und Ibiki erkennt, dass er auf diese Weise nicht weiterkommt. Einen Moment lang sitzen sie nebeneinander und sehen zu, wie Ebisu die Karten neu mischt. „Ich habe gehört, du bist schon Genin“, versucht Ibiki es ein zweites Mal. „Stimmt aber nicht.“ „Nicht?“ „Seit letzter Woche bin ich Chuunin“, erklärt Eule. Ibiki starrt ihn an. „Jetzt echt?“ „Ja.“ Noch so ein Wunderkind, von dem er Vater besser nicht erzählt. Der Junge zieht erneut die Nase hoch. „Wie alt bist du?“ „Sechs Jahre acht Monate.“ Wenn Eule spricht, sieht man, dass ihm vorne die Milchzähne fehlen. Er lispelt ein wenig. Chuunin sind befugt, eine Mission zu leiten, Befehle zu erteilen. Die Vorstellung ist völlig absurd. „Das muss anstrengend sein. Chuunin sein, meine ich.“ „Geht so.“ „Was macht man da so den ganzen Tag?“ Eule zuckt die Achseln. „Alles Mögliche.“ „Zum Beispiel?“ Er legt den Kopf schief und sieht Ibiki nachdenklich an. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“ „Was?“ „Deine Lieblingsfarbe.“ „Ist das ein Themenwechsel?“ „Ja“, sagt Eule ernst, und Ibiki gibt sich geschlagen. „Schwarz. Deine?“ „Grün. Und Weiß.“ Sie nicken einander zu und versinken in Schweigen. Kapitel 8: Gewalt ----------------- Vater muss ihn für einen Versager halten, denkt Ibiki – immerhin hat er es in zwei Jahren als Genin nicht geschafft, sich wie vorgesehen umbringen zu lassen. „Das war hervorragende Arbeit“, sagt Natsuki und lächelt in die Runde. „Dein Genjutsu hat uns allen den Hals gerettet, Ibiki. Sowohl Ausführung als auch Timing waren perfekt.“ Ibiki lächelt. „Du hast dich gut geschlagen, Tokara. Achte nur in Zukunft noch mehr auf deine Rückendeckung, das ist sehr wichtig.“ „Ja, Sensei.“ „Und unsere Aya hat mich am meisten überrascht.“ Natsuki legt ihr die Hand auf die Schulter und lacht. „Ich habe genau gesehen, wie deine Augen rot aufgeblitzt haben.“ „Sie meinen, ich habe mein Sharingan geweckt?“, fragt Aya verblüfft. „Ich habe gar nichts gemerkt!“ „Geweckt vielleicht noch nicht, zumindest nicht vollständig. Aber du bist auf einem sehr guten Weg.“ Aya strahlt über das ganze Gesicht. „Ich habe es geschafft! Das muss ich Papa erzählen!“ „Ja, das musst du“, bestätigt Natsuki. „Ich kann dir nämlich nicht beibringen, damit umzugehen.“ „Ich habe es geschafft!“, jubelt Aya und fällt Ibiki, der zufällig neben ihr steht, um den Hals. Ibiki reißt die Augen auf und legt zaghaft die Arme um sie. Seine Wangen brennen, als wäre er rot geworden. Er sieht, wie Tokara grinst und Natsuki sich höflich abwendet, und er ist so aufgeregt. Er will Aya fragen, ob sie mit ihm ausgehen will, aber er traut sich einfach nicht. Nächstes Mal wird er sie fragen, nimmt er sich vor. Solange er am Leben ist, gibt es immer ein nächstes Mal. Ibiki schließt die Wohnungstür auf und wirft seine Tasche in die Ecke. „Bin wieder da!“ Er hört einen freudigen Aufschrei, und Ima kommt aus ihrem Zimmer gerannt. „Ibiki! Vater, Ibiki ist wieder da!“ Sie fällt ihm um den Hals. Vater tritt aus der Tür zur Küche, und Ibiki und er tauschen einen kurzen Blick. Deine Enttäuschung von Sohn hat schon wieder eine Mission überlebt, sagt Ibikis Blick, und Vater wendet sich ab. Wie jedes Mal. „Ich freue mich so, dass du wieder da bist!“ Ima lässt Ibiki los, kann aber nicht stillstehen. „Du bleibst doch jetzt eine Weile, oder?“ „Leider nicht. Ich muss bald wieder los, in drei Tagen schon. Natsuki-sensei hat gesagt, diesmal geht es in Feindesland.“ Ima blinzelt. „Was heißt das genau?“ „Das weiß ich nicht.“ „Aber du bist doch bald wieder da, oder? In zwei Wochen ist meine Abschlussprüfung an der Akademie! Wenn ich Genin bin, müssen wir das doch feiern!“ Ibiki wirft einen flüchtigen Blick auf Vater und bemerkt, dass diesen der Gedanke, dass Ima bald Genin wird, nicht zu beunruhigen scheint. Sie ist ein fleißiges Mädchen, in Taijutsu ist sie unter den Klassenbesten. In Vaters Augen ist sie keine Versagerin, um die man sich sorgen muss. „Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme“, sagt Ibiki und streicht Ima über den Kopf. „Die Mission könnte länger dauern.“ „Wenn du nicht da bist und mir Glück wünschst, schaffe ich es vielleicht nicht!“ „Natürlich schaffst du das. Du bist gut.“ Ibiki verschweigt ihr den zweiten Grund, aus dem sie die Prüfung bestehen wird. Der Krieg hält seit zwei Jahren an und die Menschenverluste sind enorm, auch wenn die Öffentlichkeit keine genauen Zahlen erfährt. Jedenfalls ist Konoha eifrig dabei, die älteren Akademieschüler schnellstmöglich zu Genin hochzuziehen, und Ima ist mit ihren zehn Jahren auf jeden Fall betroffen. „Ich gebe mein Bestes“, sagt Ima und schiebt die Unterlippe vor. „Aber du kommst ganz schnell wieder, oder?“ „Natürlich“, verspricht Ibiki. „So schnell ich kann.“ Er hat noch nie versprochen, zurück zu kommen, fällt ihm auf. Hoffentlich bringt es kein Unglück. Am alten Felsen südlich von hier stehen zwanzig Shinobi Konohas, darunter sieben Jounin. Sie werden nach Norden vorrücken und den dortigen Stützpunkt Iwas von der Versorgung abschneiden. Mehr Informationen hat Natsuki ihnen zu der Mission nicht gegeben, aber sie sind Genin, die einfachen Fußsoldaten, und mehr Informationen brauchen sie nicht. Ibiki hat sich ihre Worte trotzdem gemerkt, er weiß einfach gerne Bescheid. Später werden sie als Verstärkung zu den anderen stoßen, aber zunächst einmal ist es ihre Aufgabe, die Umgebung auszukundschaften. „Wenn ich zurück bin“, erzählt Aya, „bringt Papa mir bei, wie das geht mit dem Sharingan. Wie meinem Bruder!“ „Das ist wunderbar, Aya“, erwidert Natsuki ruhig. „Aber achte jetzt auf den Weg. Wir sind im Reich der Erde, überall könnten Iwa-Nins sein. Konzentriert euch. Wenn euch irgendetwas auffällt, sagt sofort Bescheid.“ „Ja, Sensei.“ Sie springen weiter durch die Bäume, in großen Sätzen, den Wind in den Haaren. Es ist ein schöner Tag, der Waldboden ist fleckig mit Sonnenlicht und grünen Schatten. Ibiki betrachtet Aya und beschließt, sie definitiv nach einem Date zu fragen, wenn diese Mission vorbei ist. Er kann sie ja ganz unverfänglich zu einem Eis einladen. Um ihr Sharingan zu feiern oder so. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagt Natsuki plötzlich. Ibiki sieht sie erschrocken an. Sie klingt angespannt, was sonst gar nicht ihre Art ist. „Was denn, Natsuki-sensei?“, fragt Tokara ängstlich. Sie hebt die Hand, und alle halten an. Einen Moment lang lauscht Natsuki in den Wald, dann flucht sie leise. „Ihr zieht euch zurück, sofort. Flieht in verschiedene Richtungen.“ „Aber ...“, beginnt Aya. „Sofort!“, herrscht Natsuki sie an, und im nächsten Moment bricht die Hölle los. Kunais zischen von allen Seiten auf sie zu. Ibiki wirft den Kopf herum, um die Angreifer zu erspähen, aber eine Rauchbombe explodiert zwischen ihnen. Er hört das Husten der anderen und Natsukis alarmierte Stimme. „Teilt euch auf! Bleibt nicht zusammen! Flieht!“ Seinem ersten Impuls folgend lässt Ibiki sich zu Boden fallen, landet glücklich auf einer dicken Schicht Moos und sieht sich um. Der Rauch sinkt rasch nach unten, aber noch kann er klar sehen. Überall zwischen den Bäumen erkennt er die Schatten feindlicher Shinobi. Wie viele davon wohl Doppelgänger sind? Er hat keine Zeit, zu überlegen. Ein ganzer Schwarm von Kunais und Shuriken fliegt auf ihn zu. Hastig macht er einen Satz zur Seite, die meisten der Waffen verfehlen, aber einer der messerscharfen Sterne schneidet ihm die rechte Wange auf. Er bemerkt den Luftzug, fühlt aber keinen Schmerz, er hat Wichtigeres im Kopf. Flieht! war Natsuki-senseis einziger Befehl. Er weiß nicht, wohin, aber alles ist jetzt besser, als zu zögern. Oder? Mittlerweile hat sich der Rauch auf dem Waldboden gelagert, man kann kaum noch zwei Schritte weit sehen. Ibiki hastet geradeaus, aber urplötzlich taucht ein Iwa-Nin vor ihm auf, ein zweiter kommt von rechts. Der Größe nach sind sie älter als Ibiki, sechzehn oder siebzehn vielleicht. Beide haben die Gesichter in dunklen Schals versteckt, wilde Entschlossenheit in den Augen, Kunais in den Händen. Anstatt von den Bäumen aus auf die Flüchtenden zu zielen, begeben sie sich in Gefahr, indem sie herunter kommen. Sie wollen ihn lebend, schießt es Ibiki durch den Kopf. Ihm bleibt keine Zeit für eine Strategie. Er reißt ein Kunai aus seiner Tasche und schafft es, den einen Gegner an der Schulter zu verletzen, als der nach ihm greifen will. Im nächsten Moment bekommt er einen Schlag in den Nacken, der seinen gesamten Körper kurz taub werden lässt. Er sackt zu Boden, aber der zweite Angreifer reißt ihn gleich wieder hoch, die Fingernägel in Ibikis Handgelenk gegraben, die Faust um seine Haare geballt. „Ich habe ihn!“ „Geht doch. Wo sind die anderen?“ Eine Stimme ruft etwas, und ein heftiger Windstoß treibt den Rauch beiseite. Ibiki sträubt sich gegen den Griff des Iwa-Nins, der ihm kommentarlos den Arm verdreht. Er spürt warmes Blut aus dem Schnitt an seiner Wange laufen. Einige Schritte entfernt stehen drei weitere feindliche Shinobi, und Ibiki wird eiskalt, als er sieht, dass einer von ihnen Aya festhält. Ihre Augen sind halb geschlossen, Blut ist ihr aus dem Mund gelaufen. Von Natsuki und Tokara ist keine Spur zu sehen. „Na also. Zwei kleine Konoha-Nins, die uns sagen können, was sie hier gesucht haben.“ Ibiki presst die Lippen aufeinander, und einer der Männer deutet es korrekt als Trotzreaktion. Ein verächtliches Lächeln zieht über sein Gesicht. „Sei lieber nicht so frech zu den netten Onkels, Kleiner. Sie könnten es dir übel nehmen.“ „Ihr seid Kinder“, zischt derjenige, der Ibiki festhält, ihm ins Ohr. „Wir haben unsere Leute, die euch beide schneller ausquetschen werden, als du gucken kannst.“ Er bäumt sich auf, machtlos, aber noch nicht bereit, aufzugeben. Der zweite Shinobi schlägt ihm in den Magen, und er kann ein Stöhnen nicht unterdrücken. Aya hört es und hebt mühsam den Kopf. In ihren Augen steht Angst, aber sie versucht ein Lächeln mit blutigen Lippen. Ich bin noch da, und du bist noch da. Wir beide stehen das durch. „Nein“, sagt ein Shinobi neben ihr, der offenbar der Anführer ist und ein Schwert in der Hand hält. „Um ein Geheimnis zu verraten, braucht es nur einen kleinen Konoha-Nin.“ Er greift in Ayas Haare, schlägt ihr den Kopf ab und schleudert ihn Ibiki vor die Füße, so schnell, dass Ibiki nicht einmal wegsehen kann. Ayas Augen starren ihn an, Fassungslosigkeit ist darin eingefroren. Ibiki hört jemanden schreien, vielleicht sich selbst, und jemand zieht ihm einen Sack über den Kopf. Kapitel 9: Durst ---------------- Aus der Dunkelheit kommen die Ratten, eine formlose Masse sich windender Fellbündel und nackter Schwänze. Panisch will er sie vertreiben, aber er kann sich nicht rühren. Sie nagen Löcher in seine Kleider, stürzen sich auf seine ungeschützte Haut und vergraben die kleinen Zähne in seinem Fleisch. Seine Schreie hallen von den Wänden wider. In seinen seltenen klaren Momenten kann er keine Bissspuren feststellen, auch wenn er die Zähne immer noch spürt. Er weiß, dass alles ein Genjutsu ist, dass er nicht wirklich bei lebendigem Leibe aufgefressen wird. Aber er weiß auch, dass die Ratten wiederkommen werden. Die Biester, die ihn in kleine Stücke nagen, mögen eine Illusion sein. Der Schmerz ist echt. Am alten Felsen nördlich von hier stehen zwanzig Shinobi Konohas, darunter siebzehn Jounin. Sie werden nach Norden vorrücken und den dortigen Stützpunkt Iwas von der Versorgung abschneiden. Er hat die Informationen, die die Iwa-Nins haben wollen. Wissen sie das, oder ahnen sie es nur? Wissen ist alles, worum es hier geht. Er liegt auf dem Rücken in der Dunkelheit und horcht atemlos auf die Ratten. Ihm ist kalt, er hat Hunger und Durst. Vor allem Durst. Die Informationen, die sein Leben gefährden, die das Leben vieler anderer gefährden werden, wenn er sie preisgibt, schwirren unaufhörlich durch seinen Kopf. Am alten Stein südlich von hier stehen siebenundzwanzig Shinobi Konohas, darunter sieben Jounin. Sie werden nach Osten vorrücken und den dortigen Stützpunkt Iwas von der Versorgung abschneiden. Falls sie ihn überhaupt mit Nahrung und Trinkwasser versorgen, bekommt er es nicht mit. Sie können nicht riskieren, dass er ihnen wegstirbt, aber er weiß nicht, wie lange er schon hier ist. Vielleicht ist noch kein Tag vergangen, vielleicht auch schon Wochen. Manchmal schafft er es, zur Wand zu kriechen und ein bisschen Feuchtigkeit abzulecken. Es stillt den Durst nie, aber es hält ihn für ein paar Stunden davon ab, ihn wahnsinnig zu machen. An irgendeinem Berg nördlich von hier stehen siebenhundert Shinobi Konohas, darunter sieben Jounin. Sie werden nach Süden vorrücken und eine Stadt dort von der Versorgung abschneiden. „Warum machst du es dir so schwer?“ Mutter kniet neben ihm und beugt sich über ihn. Ihre Haare sind offen, ellbogenlang und dunkelbraun, sie kitzeln seine Hand. Mutter lächelt, aber in ihren Augen steht tiefe Sorge. „Erspar dir das, mein Junge. Sag diesen bösen, bösen Leuten einfach, was sie wissen wollen, und sie werden aufhören, dir wehzutun. Du quälst dich doch nur selbst.“ Sie streichelt seine unverletzte Wange, und ihm schießen die Tränen in die Augen. Er erträgt es nicht, es ist zu schön. Er will tun, was sie sagt, aber etwas irritiert ihn. Mutter ist tot. Vielleicht ist sie nur ein Genjutsu. Aber wie kann das sein? Die Iwa-Nins haben keine Ahnung, wie Mutter aussieht. Genügt es schon, dass er es weiß? „Mein armer, lieber Junge.“ Sie beugt sich über ihn, ihre Haare duften, genau wie früher. Er spürt, wie ihre warmen Lippen seine Stirn berühren, und er beißt sich auf die Zunge, so fest er kann. Wenn nichts anderes funktioniert, hat Natsuki-sensei gesagt, kann ein Schmerzimpuls ein Genjutsu zerstören. Es tut weh, seine Sicht flackert, und dann ist die Wärme des Kusses von seiner Stirn verschwunden. Mutter wird nie wiederkommen. Sie ist tot. „Wie schade. Deine sanfte Tour hat anscheinend nicht funktioniert.“ In den Bergen südlich von hier stehen sieben Shinobi Konohas, darunter zwanzig Jounin. Sie werden nach Westen vorrücken und die dortigen Trinkwasservorräte vergiften. Er hat Durst, er kann nicht mehr denken. Er kann schon kaum noch schreien, weil er so heiser ist. Sein Körper ist vor Schmerzen entkräftet, aber nicht verletzt bis auf den tiefen Schnitt, der seine rechte Wange durchtrennt hat und bis in den Mundraum reicht. Wenn er zu schwach ist, um zur Wand zu kommen, saugt er Blut aus dem Schnitt. Es tut weh, aber er kann nicht damit aufhören. Irgendwo nördlich von hier stehen zweitausend Shinobi Konohas, darunter elf Jounin. Sie werden nach Osten gehen und dort irgendetwas sabotieren. Glaube ich. Er weiß nichts mehr, er kann nicht mehr denken, er hat seinen eigenen Namen vergessen. Irgendwo raschelt es, sicher die Ratten. Panisch versucht er, sich aufzusetzen, aber wie immer kann er sich nicht rühren. Am liebsten würde er heulen. Irgendwo südlich von hier, oder nördlich, ich weiß es nicht mehr, stehen Shinobi Konohas. Ich weiß nicht, wie viele, viele wahrscheinlich. Und Jounin sind dabei. Sie werden nach Westen gehen, oder nach Osten, irgendwo hin jedenfalls, und da werden sie irgendetwas tun. Etwas Böses. Ich weiß nicht, was. Ich weiß nicht, was sie tun werden. ICH WEISS ES DOCH NICHT! Es ist hell, er versteht nicht, wo das Licht herkommt. Aber bei Licht ist es einfacher, nicht zu weinen. „Ihr wollt mir nicht erzählen, dass ihr immer noch nichts aus dem Jungen herausbekommen habt!“ „Doch, aber ... nicht die Wahrheit, glauben wir.“ „Er erzählt alles Mögliche, aber immer etwas anderes. Wir wissen mittlerweile nicht mehr, was wir glauben sollen.“ „Vielleicht macht der kleine Bastard das sogar mit Absicht.“ „Unsinn! Er kommt aus Konoha, das sind alles Waschlappen. He, Junge. Junge!“ Jemand zieht ihn am Kragen hoch, sein Hinterkopf schlägt auf den Boden. „Sieh mich an. Sieh mich an, verdammt nochmal. Du wirst mir nichts als die Wahrheit sagen, oder ich werde ungemütlich.“ Das Gesicht des Mannes verschwimmt vor seinen Augen. „Fangen wir mit einer einfachen Frage an. Wie heißt du?“ Er antwortet nicht. Etwas Warmes läuft aus seinem Mundwinkel. „Hast du die Frage nicht verstanden?“ Ich weiß nicht. „Wie heißt du, verdammt nochmal?“ Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr, mein Kopf gehört mir nicht mehr, ich kann nicht mehr denken. Um Gnade winseln könnte ich vielleicht noch, aber Vater sagt, so etwas tut ein Shinobi nicht. „Das bringt doch überhaupt nichts. Frag ihn lieber sofort nach dem, was wichtig ist.“ Irgendwo in der Nähe gibt es Shinobi Konohas, und die planen irgendetwas, was euch nicht gefallen wird. Mehr weiß ich nicht. „Das erklärt alles.“ „Was meinen Sie, Sensei?“ „An dem Verlauf des Angriffs war von Anfang an etwas seltsam. Die Iwa-Nins scheinen sich auf einen Überfall vorbereitet zu haben, sind aber offenbar von völlig falschen Angaben ausgegangen. Die falsche Richtung des Angriffs, die falsche Truppenstärke ... Weißt du nicht mehr, wie ich gesagt habe, jemand müsste sie mit Fehlinformationen gefüttert haben?“ „Und Sie meinen, das war dieser Junge?“ „Wahrscheinlich.“ „Hoffen wir, dass er diese Kühnheit nicht mit dem Leben bezahlt.“ „Wenn er draufgeht, beantrage ich, dass der Hokage ihm posthum einen Orden verleiht.“ Flatternd öffnet er die Augen und sieht zwei Männer, die sich über ihn beugen. Sein erster Impuls ist es, die Augen wieder zu schließen. Dann erkennt er das Konoha-Abzeichen auf ihren Stirnbändern. „Hallo, Junge. Kannst du uns hören? Du bist jetzt in Sicherheit. Wir haben dieses Versteck ausgehoben und alle Iwa-Nins getötet. Du brauchst keine Angst zu haben. Wie heißt du?“ Er holt tief Luft, aber er kann nichts sagen. Er kennt die Antwort nicht „Vielleicht versteht er Sie nicht, Sensei.“ „Vielleicht ist er auch nur zu schwach zum Sprechen.“ Einen Moment lang herrscht Stille, und er versucht, sich zu erinnern. Er weiß nicht, wie er heißt. „Er erinnert mich an jemanden.“ „Ach ja?“ „Er sieht aus wie Morino-san in jünger. Hat er einen Sohn?“ Bei diesem Namen rührt sich irgendetwas in seiner Erinnerung. Morino. „Morino Ibiki“, sagt er heiser. „Ibiki, natürlich!“ Der Mann über ihm lächelt, er hat die blicklos weißen Augen der Hyuugas. „Na, dann wollen wir dich mal hier raus schaffen, was, Ibiki? Wir bringen dich nach Konoha, und dann wird alles gut. Du wirst sehen.“ Er legt einen Arm um Ibikis Schultern und richtet ihn auf. Anscheinend hat er vor, ihn auf den Rücken zu nehmen, aber Ibiki schüttelt den Kopf. „Nein. Ich kann allein laufen.“ „Das ist nicht dein Ernst!“, sagt ein Junge mit Brandnarben im Gesicht, der einen Schritt hinter dem Mann steht. „Schön, vielleicht bist du nicht verletzt, aber in deinem Zustand ...“ Er ignoriert ihn, klammert sich am Arm des Mannes fest und kommt mühsam auf die Beine. Sie schmerzen, weil er sie so lange nicht mehr benutzt hat, aber er steht und findet sein Gleichgewicht. Nur ein wenig schwindelig ist ihm noch. „Ich kann allein laufen“, wiederholt er, noch immer lächerlich heiser, aber umso überzeugter. Der Junge lacht ungläubig. „Lass ihn, Raidou“, sagt der Hyuuga gelassen. „Er ist eben ganz der Vater.“ Ibiki hatte vergessen, wie hell und warm die Sonne ist, aber anders als den Verlust seines Namens bemerkt er es erst, als er wieder draußen ist. Er lässt den Arm des Hyuugas los, reckt das Gesicht ins Licht und atmet tief ein. „Ibiki!“ Jemand stürzt auf ihn zu und wirft die Arme um ihn. Ibiki verliert das Gleichgewicht, und der Hyuuga schafft es nicht mehr, ihn vor einem Sturz zu bewahren. „Vorsichtig, Tokara! Der arme Junge ist doch völlig geschwächt.“ „Wie geht es dir?“, sprudelt es aus Tokara hervor, der auf Ibiki gelandet ist und sich auf die Arme aufstützt. „Ich bin so froh, dich zu sehen! Ich habe unseren Leuten gesagt, dass sie euch vielleicht gefangen genommen haben. Beinahe hätten sie mich auch gekriegt, aber ...“ Ibiki hört ihn kaum. Er liegt auf dem Rücken und sieht hinauf in den Himmel. Blätter und Bäume und Wolken. „Natsuki-sensei ist tot. Diese Schweine haben sie an einem Baum aufgehängt, und ... und ... ekelhaft. Fast hätten sie mich auch gekriegt. Aber du bist am Leben! Es geht dir gut, oder? Wo ist Aya?“ Unglaublich, dass die Sonne so hell ist. „Ibiki?“, fragt Tokara verunsichert. „Wo ist Aya?“ Er kann nicht antworten, sieht Tokara nur an und schüttelt den Kopf. Tokara beißt sich auf die Lippe, und ihm schießen die Tränen in die Augen. „Aber ... du bist am Leben. Das ist toll! Ich ... bin wirklich froh darüber!“ Die Tränen laufen über sein Gesicht, während er es sagt, und Ibiki sieht an ihm vorbei in den Himmel. Er weint nicht. Kapitel 10: Held ---------------- „Bei der Mission sind nur zwei unserer Shinobi gefallen ...“ Der Hyuuga, der sich auf dem Rückweg als Hideaki vorgestellt hat, zählt Natsuki und Aya nicht mit. Er erwähnt auch den Chuunin nicht, der bei dem Angriff so schwer an der Wirbelsäule verletzt wurde, dass er vermutlich nie wieder wird laufen können. „... wir haben dreiundzwanzig Iwa-Nins getötet, darunter mindestens vier Jounin, einen ihrer Stützpunkte gesprengt und einen zweiten niedergebrannt.“ „Das war hervorragende Arbeit“, sagt der Hokage und wirft einen fragenden Blick auf Ibiki. Hideaki bemerkt es und legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Und das haben wir hauptsächlich Ibiki hier zu verdanken.“ „Wie das?“, fragt der Hokage und ermuntert ihn mit einem Lächeln, zu sprechen. Ibiki macht sich so gerade wie möglich, obwohl ihm schwindelig ist. Das Schwindelgefühl hat er seit seiner Befreiung, es geht einfach nicht weg. „Mein Team und ich wurden als Späher vorausgeschickt, sind aber in einen Hinterhalt geraten. Tokara konnte entkommen, Natsuki-sensei und Aya haben sie getötet. Die Iwa-Nins haben mich gefangen genommen und verhört. Aber wie es aussieht, habe ich die Pläne Konohas, von denen ich wusste, so durcheinander gebracht, dass die Informationen ihnen eher geschadet als genutzt haben.“ Der Hokage zieht die Augenbrauen hoch. „Das heißt ihm Klartext, dass Ibiki nicht nur mehrere Tage Folter ausgehalten hat, sondern seine Gefangenensituation sogar zu unserem Vorteil machen konnte, indem er den Feind mit Fehlinformationen versorgt hat.“ Hideaki klopft Ibiki noch einmal auf die Schulter. „Ich kenne Chuunin, die in seiner Situation keinen so kühlen Kopf bewahrt hätten!“ „Ich habe nur versucht, am Leben zu bleiben, Hokage-sama“, sagt Ibiki und wünscht, der Schnitt in seiner Wange würde beim Sprechen nicht so brennen. „Und das mit den Fehlinformationen war keine Absicht. Kein Plan dahinter. Ich war einfach ... ziemlich verwirrt.“ „Ob du einen Plan hattest oder nicht, gehandelt hast du genau richtig.“ Der Hokage lächelt, und Ibiki schließt kurz die Augen. Alles schwankt um ihn herum, ihm wird übel. „Darf ich ganz offen sprechen, Hokage-sama?“ „Natürlich.“ „Ich bin kein Kriegsheld, und ich will nicht, dass Sie oder irgendwer sonst mich zu einem machen. Ich wünschte, dieser ganze Albtraum wäre nie passiert. Mein Sensei ist tot. Meine Teamkameradin wurde vor meinen Augen geköpft, bevor ich sie nach einem verdammten Date fragen konnte. Ich war nicht rechtzeitig zu Hause, um die bestandene Geninprüfung meiner kleinen Schwester zu feiern. Ich bin todmüde, und im Moment will ich einfach nur ins Bett.“ Das Lächeln des Hokage bekommt einen traurigen Zug. Er steht auf, kommt um seinen Schreibtisch herum und greift nach Ibikis Schultern. „Konoha braucht Kriegshelden, Ibiki. Anders ist die Moral in diesen schwierigen Zeiten nicht aufrecht zu erhalten.“ „Wollen Sie mir erzählen, dass Sie die Menschen belügen, weil sie belogen werden wollen?“, fragt Ibiki schroff. „Ich will nicht belogen werden. Und ich glaube nicht an Helden.“ „Woran du glaubst, ist deine Sache“, erwidert der Hokage sanft. „Du hast eine sehr schwere Zeit hinter dir, Ibiki. Du solltest jetzt nach Hause gehen und dich ausruhen. Konoha wird dir keine Missionen mehr auftragen, bis du dich vollständig erholt hast.“ Einen Moment lang will Ibiki diesen freundlichen, alten Mann wegstoßen und ihn anschreien, ob er ernsthaft glaubt, dass man sich davon erholt, das Wasser von den Wänden geleckt zu haben und von Ratten gefressen worden zu sein und gesehen zu haben, wie sie Aya den Kopf abgeschlagen haben, Aya mit den dunklen Augen und den Lachgrübchen. Stattdessen beißt er sich auf die Lippe, tritt einen Schritt zurück und verbeugt sich tief. „Ich danke Ihnen, Hokage-sama.“ Draußen ist es schon dunkel, kurz nach zehn, Konoha liegt fast menschenleer da. Die kalte Luft tut Ibiki gut, vertreibt sein Schwindelgefühl aber nicht. Die Dunkelheit bedrückt ihn, bei Tag ist es leichter, nicht zu weinen. Als er die Wohnungstür öffnet, kommt Vater ihm entgegen und bleibt einen Schritt vor ihm unschlüssig stehen. „Ich habe von Raidou gehört, was dir passiert ist. Was machst du nur immer für Sachen?“ „Ich bin müde, Vater“, sagt Ibiki und glaubt, wenn dieser Mann nur noch ein Wort sagt, muss er ihn schlagen. Irgendetwas glänzt in Vaters Augen. „Du hättest tot sein können.“ „Der Gedanke ist mir auch gekommen“, antwortet Ibiki, ohne ihn anzusehen. Vater kommt noch einen Schritt näher, hebt die Arme, zögert. Er wird Ibiki nicht in den Arm nehmen, das hat er seit Ewigkeiten nicht mehr getan. „Gut, dass du lebst.“ Er drückt kurz Ibikis Schulter, dreht sich um und geht in Richtung seines Schlafzimmers davon. Langsam schließt Ibiki die Wohnungstür hinter sich, lässt sich auf der Stufe im Eingangsbereich nieder und zieht sich die Schuhe aus. Die Müdigkeit steckt in jedem seiner Knochen. Der Schnitt an seiner Wange, den sie auf dem Heimweg notdürftig versorgt haben, schmerzt mittlerweile nicht mehr, kribbelt aber unangenehm. Es wird eine Narbe geben, eine ziemlich hässliche vermutlich, und es ist ihm egal. Er ist so furchtbar müde. „Ibiki?“ Schritte von nackten Füßen erklingen hinter ihm, und im nächsten Moment schlingen sich zwei dünne, warme Arme um ihn. „Da bist du ja wieder! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ „Ima“, sagt Ibiki. „Vater hat gesagt, dir wäre etwas Schlimmes passiert. Sie hätten dich gefangen genommen oder so.“ „Ich lebe ja noch.“ Er befreit sich aus ihrem Griff und dreht sich zu ihr um. Ima kniet hinter ihm, im Schlafanzug, das Konoha-Stirnband um den Hals. Einen Moment lang blitzt Ayas Gesicht vor Ibiki auf, der erschrocken geöffnete Mund, die leeren Augen, das Blut. Er ringt nach Luft, aber einen Wimpernschlag später ist das Trugbild verschwunden, und zurück bleibt Ima. „Ich habe gehofft, du würdest früher kommen“, sagt sie, will offenbar vorwurfsvoll klingen, kann aber nicht, weil ihre Lippen so zittern. „Vater und ich haben gefeiert, dass ich Genin bin. Du warst nicht da.“ Erneut wirft sie die Arme um ihn, und er erwidert die Umarmung. „Ich bin wieder zu Hause, kleine Schwester“, sagt er leise und streicht über ihren Rücken. „Und ich bleibe auch eine Weile.“ Sie beginnt, zu weinen. Er spürt die warmen Tränen an seinem Hals und bemerkt erleichtert, dass sein Schwindelgefühl verschwunden ist. Am nächsten Morgen beim Frühstück ist alles wie immer. Ima sitzt in ihrem Schlafanzug mit den kleinen Schafen am Tisch und schlürft ihren Tee. Vater liest die Zeitung und sagt kein Wort. Das Fenster steht offen, draußen scheint die Sonne, die Vögel singen. Die friedliche Normalität macht Ibiki wahnsinnig. „Ich muss weg“, sagt er, kaum dass er seine Müslischüssel geleert hat. „Wohin?“, fragt Ima sofort. „Raus.“ Langsam hebt Vater den Blick von der Zeitung. „Du bleibst hier.“ „Nur ein bisschen frische Luft schnappen“, sagt Ibiki und weiß, wenn er hier herausgeht, kommt er vor Einbruch der Dunkelheit nicht zurück. „Du musst dich wieder einleben. Bleib hier und hilf Ima dabei, ihre Papiere für die Genin-Beförderung auszufüllen. Ich muss zu einer Besprechung, aber zum Essen bin ich wieder da.“ Ibiki will ihm sagen, dass er sich nicht einleben wird, indem Vater ihn in diesem Leben einsperrt, das vorher so normal war und das sich nicht verändert hat, obwohl Ibiki jetzt ein völlig anderer ist. Er muss hier raus, sonst wird er ersticken, erdrückt werden, den Verstand verlieren. Er will aufspringen und schreien, aber ihm gegenüber sitzt Ima, noch im Schlafanzug. „Wie du meinst, Vater“, sagt Ibiki. Gegen halb eins sitzen Ima und er auf dem Sofa und betrachten die Uhr an der Wand. Der Tisch ist von Papier bedeckt, sie haben alle Formalitäten für die Genin-Beförderung erledigt. Vater muss nur noch diesen einen Wisch unterschreiben, auf dem steht, dass er Konoha von jeder Verantwortung entbindet, sollte Ima sterben oder irreparabel verletzt werden. Ima hat schon unterschrieben, aber sie ist erst zehn, und bei Minderjährigen braucht es auch die Unterschrift der Eltern. „Ibiki?“, fragt sie leise. „Hmm“, macht er und betrachtet einen Baum draußen vor dem Fenster. „Was ist dir passiert?“ Langsam wendet er sich ihr zu. Tränen stehen in ihren Augen. „Hat Vater es dir nicht erzählt?“ „Er hat gesagt, du wurdest von den Bösen gefangen gehalten. Wenn unsere Leute dich nicht gerettet hätten, wärst du tot gewesen.“ Ibiki schweigt. „War es schlimm?“, fragt Ima halb erstickt. „Schon. Aber ich wollte am Leben bleiben.“ „Hattest du Heimweh?“ Er muss kurz nachdenken. „Nein. Ich habe nicht an zu Hause gedacht, oder an euch. Ich wollte nur leben.“ „Du hast nicht an uns gedacht?“ Imas Stimme ist schrill, und Ibiki legt ihr den Arm um die Schultern. „Ich war verwirrt, Ima. Du weißt ja nicht, wie es ist ...“ Er bricht ab. „Wie was ist?“ „Das brauchst du nicht zu wissen. Es wird dir nicht passieren, kleine Schwester.“ „Warum nicht? Dir ist es auch passiert!“ Ibiki schweigt. „Und du bist anders geworden“, sagt Ima und zieht die Nase hoch. „Das in deinem Gesicht ... das wird eine Narbe, oder?“ „Wahrscheinlich.“ „Ausgerechnet im Gesicht!“ „Aber ich bin immer noch derselbe, Ima“, sagt Ibiki fest und behauptet genau das Gegenteil von dem, was er denkt. „Ich habe mich nicht verändert, innen drin. Du bist immer noch meine Schwester und ich dein Bruder. Du bist ein liebes, fröhliches Mädchen, ein Sonnenschein, und ich ... bin Ibiki. Egal, was passiert, und egal, was sie uns antun – wir bleiben, wie wir sind.“ „Für immer?“, fragt Ima zaghaft und wischt sich mit dem Ärmel über die Nase. „Für immer“, bestätigt Ibiki. „Und egal, wie lange du weg bist, ich werde zu Hause sein und auf dich warten.“ Sie lacht zittrig, und Ibiki kann sie nicht länger ansehen. Er lügt ihr ins Gesicht, seiner lieben, kleinen Schwester. Er hat sich verändert, vermutlich wird er nie wieder der Alte sein. Aber dass sie sich nicht verändern wird, stimmt doch. Sie wird der Sonnenschein bleiben. Sonnenschein macht es einfach, nicht zu weinen. Im Flur geht die Tür auf, und Vaters Stimme erklingt. „Da bin ich wieder! Was haltet ihr davon, wenn wir essen gehen?“ Kapitel 11: Vorbild ------------------- Ibiki bemerkt, dass vereinzelte Shinobi ihm hinterher sehen und tuscheln, als würden sie ihn erkennen. Es ist ihm unangenehm, aber niemand spricht ihn jemals auf die Geschichte mit den Fehlinformationen an, und so ist es ihm recht. Die Erwachsenen wahren die Diskretion. Einmal ist er auf dem Rückweg vom Einkaufen, als ein paar Akademieschüler vor ihm stehen. „Ist er das?“ „Ist er, oder?“ „Frag ihn mal.“ „Trau mich nicht. Frag du.“ „Bist du Ibiki?“ „Ja“, antwortet Ibiki. „Warum?“ „Ich hab doch gesagt, er ist es!“ „Sensei hat uns von dir erzählt.“ „Warum denn das?“, fragt Ibiki, und anscheinend klang die Frage so gereizt, wie er sich fühlt. Die Kleinen sehen ihn mit großen Augen an, dreckig und rotznasig, teilweise mit fehlenden Milchzähnen. Seit dem Beginn des Krieges ist die Alters-Obergrenze für Akademieschüler rapide gesunken. Früher war es normal, mit zwölf zum Genin zu werden. Heute wird ein Zehnjähriger, der immer noch auf die Akademie geht, schief angesehen. „Weil du ein Held bist.“ „Bist du.“ „Hat Sensei gesagt.“ Ibiki verzieht die Lippen. „Ich bin kein Held. Ich wollte nur am Leben bleiben.“ Offenbar missdeuten die Kleinen seine Ehrlichkeit als gespielte Bescheidenheit, aber so oder so sind sie mehr als zufrieden mit der Reaktion. „Wir können uns ein Beispiel an dir nehmen, sagt Sensei.“ „Viel Glück weiterhin!“ „Ja, viel Glück!“ „Wir werden auch Shinobi, wenn wir groß sind.“ „Ich will so werden wie du“, sagt ein kleiner Junge mit einer waagerechten Narbe über dem Nasenrücken. „Willst du das?“, fragt Ibiki trocken. „Wie heißt du?“ „Umino Iruka.“ „Werde nicht wie ich, bleib lieber du selbst. Hauptsache, du wirst ein guter Shinobi.“ Er dreht sich um und geht, ohne sich zu den Kindern umzusehen. „Das werde ich!“, ruft Iruka ihm nach. Sobald er abends das Licht ausmacht, kommen die Ratten, strömen über seine Bettdecke und beginnen, ihm das Fleisch von Armen und Beinen zu nagen. Gut, dass er schon lange kein Zimmer mehr mit Ima teilt. So bekommt sie nicht mit, wie oft er das Licht wieder anknipst oder um sich schlägt. Nach wenigen Tagen entwickelt er die Strategie, sich einige von Vaters Büchern zu leihen und zu lesen, bis ihm die Augen zufallen. Da er noch immer keine Missionen bekommt, kann er morgens lange schlafen, und als kleiner Nebeneffekt lernt er jede Menge über Kampftaktiken und Belagerungen und Gift. Meistens sinkt er gegen drei Uhr nachts in den Schlaf. Pünktlich um halb fünf schreckt er wieder auf, weil er einen Albtraum von Ayas Kopf hatte. Unter den jungen Genin und Chuunin ist die Helden-Geschichte nie ein Thema. Ibiki wird bestenfalls mit seinen neuen Fans aufgezogen, aber nach ein paar Tagen hört selbst das auf, zusammen mit der Bewunderung der Akademieschüler. Einmal bittet Genma Ibiki, weiterzusagen, dass sie sich auf Gais Dach treffen, um irgendeine Beförderung zu feiern. „Aber keine falschen Informationen verbreiten“, fügt er hinzu und grinst. „Keine Sorge“, erwidert Ibiki. „Einmal reicht.“ Vielleicht klang er etwas zu verkrampft, denn Genmas Grinsen verblasst. Er wirkt, als täte es ihm leid, aber er erspart ihnen beiden die Peinlichkeit, sich zu entschuldigen. Stattdessen wechselt er das Thema und vergisst die Sache, und so ist es Ibiki am liebsten. Es ist fast zwölf Uhr, als Vater die Haustür aufschließt. Ima schläft längst, aber Ibiki wollte sich gerade ein Glas Wasser aus der Küche holen. Danach wird er weiterlesen. „Du bist spät.“ Vater wirft die Tür hinter sich zu, den Kopf gesenkt. Er stinkt nach Alkohol. Ibiki rümpft die Nase. „Wenn du nicht leise bist, weckst du Ima.“ „Das ist mein Haus!“, faucht Vater. „Ich lasse mir doch von dir nicht vorschreiben, wie ich mich zu benehmen habe!“ Er streift seine Jacke ab und wirft sie ungeschickt über die Garderobe. „Wo warst du so lange?“ „Haben den Tod einer Kollegin begossen.“ „Macht es die Trauer leichter, wenn man sich besäuft?“ „Nennst du deinen Vater einen Säufer?“ „Nein, Vater. Ich habe dich nur um eine Lebensweisheit gebeten – als Sohn.“ Misstrauisch dreht Vater sich um. „Du bist ein Kind. Wofür brauchst du schon Lebensweisheiten?“ Ibiki bemerkt, dass sein Schwindelgefühl zurückkommt. „Bei der letzten Mission haben sie Aya geköpft. Vor meinen Augen.“ Vater knurrt irgendetwas. „Ich habe es gesehen. Ihr Kopf lag vor meinen Füßen. Und dabei habe ich ...“ Er zögert kurz. „Was?“ „Ich habe sie geliebt.“ „Du bist ein Kind“, grunzt Vater. „Das war keine Liebe, sondern jugendliche Schwärmerei. So etwas geht vorbei.“ Ayas Lächeln blitzt kurz vor ihm auf, und Ibiki schießen die Tränen in die Augen. „Du bist ein Arschloch, Vater.“ Wütend holt Vater zum Schlag aus, und ohne auch nur nachzudenken, hebt Ibiki den Arm und fängt seine Hand in der Luft ab. Der Ruck geht durch seinen ganzen Körper, aber er bleibt stehen. Vater keucht auf, weniger vor Schmerz als vor Überraschung. „Was machst du da?“ Ibiki starrt seine Hand an, die Vaters Handgelenk umklammert. Er ist ein Shinobi, und wenn ihn jemand angreift, verteidigt er sich. Aber doch nicht zu Hause. „Glaubst du, du wärst neuerdings ein Held? Ein paar Kollegen sind offenbar der Auffassung, du wärst einer. Aber seien wir ehrlich: Du hattest einfach Glück ... oder Pech, wie man es nimmt. Du hast nur mangels Alternativen die Folter ertragen, mit Willensstärke hatte das nichts zu tun. Ich weiß, dass du seitdem jede Nacht Albträume hast.“ Es ist nicht normal, dass er grundlos gemein ist, denkt Ibiki. Vater hat sich verändert. Langsam wird der Tränenschleier vor seinen Augen so dicht, dass er nichts mehr sieht. Vaters Arm windet sich aus seinem Griff, und aus dem Nichts trifft ihn ein Schlag in den Magen. Er sackt zusammen, presst die Lippen aufeinander und lauscht. Aus Imas Zimmer erklingt kein Laut, und das ist das Wichtigste. „Da draußen kannst du ein Held sein, so viel du willst“, zischt Vater ihm zu. „Zu Hause bist du nur mein Sohn. Hast du das verstanden?“ Er hat sich verändert, denkt Ibiki. Und nickt. Sie sitzen auf dem Dach von Gais Haus, betrachten die Sterne und reden. „Die letzte Mission war furchtbar“, stöhnt Asuma und greift nach seinem Nacken. „Wir waren in einer Gegend von Iwa, wo es wirklich nur Felsen gab. Es war unmöglich, in dem Zelt zu schlafen. Mein Rücken tut immer noch weh.“ „Frag mich mal“, erwidert Ibiki grinsend. „Einmal waren wir drei Wochen lang in der Wildnis unterwegs, und kurz nach dem Aufbruch ist uns aufgefallen, dass wir durch eine Verwechslung nur Mais als Proviant eingepackt hatten. Weit und breit keine Menschenseele, geschweige denn eine Nahrungsquelle. Wir haben uns drei Wochen lang von Mais ernährt! Ich kann das Zeug immer noch nicht sehen!“ Sie lachen, Gai so sehr, dass er sich flach auf die Ziegel legen muss, um nicht vom Dach zu fallen. Es tut gut, zu lachen. „Na ja“, sagt dieses stille Mädchen, das sie Rin nennen, und lächelt Ibiki zu. „Es gibt Schlimmeres.“ „Klar gibt es das“, erwidert er und kratzt unwillkürlich die Narbe auf seiner Wange. Eine kurze, unangenehme Stille tritt ein. „Bei unserer letzten Mission“, sagt Obito und stößt Rin in die Seite, „da haben wir auch was Verrücktes erlebt. Weißt du noch?“ „Oh, ja!“ Sie lacht, hebt den Blick aber nicht von ihren Fingern. „Wir haben die Evakuierung eines kleinen Dorfes östlich von hier gesichert. Und plötzlich humpelt dieser alte Mann auf uns zu und fragt, was wir da tun, und Minato-sensei sagt ganz höflich ...“ Ibiki betrachtet ebenfalls ihre Finger. Er weiß, dass sie ein Händchen für medizinische Jutsus hat. Sicher hat sie schon Leben gerettet, und ebenso sicher hat sie schon getötet. Niemand von den noch nicht fünfzehnjährigen Shinobi, die hier auf Gais Dach sitzen, ist unversehrt. Es macht die Seele kaputt, wenn man Gewalt ausübt, davon ist Ibiki überzeugt. Jede Art von Schmerz ist ein zweischneidiges Schwert. Prüfend sieht er sich um und stellt fest, dass niemand der anderen auffällige Narben mit sich herumträgt. Er ist der Einzige, mit diesem hässlichen, wulstig verheilten Schnitt auf seiner Wange. Er weiß, dass er die anderen nervös macht. Sie sind alle verletzt, aber sie verstecken es. Er könnte es auch verstecken, eine Maske tragen oder so. Aber er hat keine Lust dazu. „Ibiki?“ Gai stößt ihm den Ellbogen in die Seite. „Alles klar bei dir?“ „Klar“, erwidert Ibiki und weiß, dass die Narbe sein Grinsen leicht verzerrt. Er hat die Wahrheit eben gern. Wenn jemand damit nicht klarkommt, ist das nicht Ibikis Problem. Kapitel 12: Ratten ------------------ Drei Monate vergehen, und Ibiki bekommt seinen Schlafrhythmus langsam wieder in den Griff. Grund dafür ist ein unerwarteter Glücksfall: Er hat einen Weg gefunden, die Ratten zu vertreiben, die ihn jede Nacht heimsuchen. Vielleicht stimmt es wirklich, was einige sagen. Was einen nicht umbringt, macht einen stärker. „Hast du immer noch keine Missionen?“, fragt Asuma bei einem ihrer Abende auf Gais Dach. Es hat sich eingebürgert, dass sie sich jeden zweiten Freitag dort treffen, und Ibiki ist das sehr recht. Er merkt daran, dass Zeit vergeht. „Nein. Aber ich trainiere eifrig, und ich habe mich längst erholt. Ich werde wohl demnächst zu Hokage-sama gehen und ihm sagen, dass ich wieder einsatzfähig bin.“ „Ach, wirst du das“, sagt Asuma grinsend, und Ibiki fällt jetzt erst wieder ein, dass er der Sohn des Hokage ist. Man verliert es schnell aus den Augen, weil der Hokage schon so alt ist, und weil Asuma seine Herkunft nicht an die große Glocke hängt. „Morgen ist Samstag, da habe ich frei. Wie wär's mit einem Trainingskampf, Ibiki? Wenn du dich gut schlägst, werde ich meinem Vater ausrichten, dass du als Shinobi wieder zu gebrauchen bist.“ „Meine Karriere ist nicht von deiner Gnade abhängig, damit das klar ist“, sagt Ibiki schmunzelnd. „Aber von mir aus gern. Endlich mal wieder ein richtiger Kampf ... klingt gut.“ „Das ist eine hervorragende Idee!“, mischt Gai sich ein, dessen Augen leuchten. „Ich bin der Schiedsrichter! Wir treffen uns morgen Vormittag um elf auf Trainingsplatz fünf, am Waldrand. Ich warte! Wer bis Viertel nach elf nicht da ist, hat automatisch verloren!“ „Es sollte eigentlich ein kleiner Kampf werden, Gai“, sagt Asuma und verdreht die Augen. „Zwischen Ibiki und mir.“ „Aber ihr braucht einen Schiedsrichter!“, protestiert Gai. Ibiki hört der sich anschließenden Streiterei nicht zu, er ist in Gedanken längst woanders. Morgen wird er die Gelegenheit haben, seine neue Technik auszuprobieren. Hoffentlich wird es klappen. „Es soll richtig heiß werden heute!“, verkündet Ima am nächsten Tag beim Frühstück und schaufelt Zucker auf ihre Cornflakes. „Ich gehe schwimmen, mit Kozue und noch ein paar anderen. Willst du auch mitkommen, Ibiki?“ „Tut mir leid, ich kann nicht“, erwidert Ibiki. „Habe einen Trainingskampf.“ Vater sieht von seiner Zeitung auf. „Ach ja? Wieso denn das?“ „Asuma hat es vorgeschlagen. Ich dachte, ich könnte wieder ein bisschen Übung kriegen. Wir hören auch auf, bevor wir uns gegenseitig umbringen.“ „Wie beruhigend“, sagt Vater trocken. Ima lacht nervös. „Na, dann ... vielleicht ein andermal.“ „Willst du mitkommen und zusehen?“, bietet Ibiki an. „Ach ... nein.“ Sie senkt den Blick, und ihm fällt auf, dass sie ihn nie hat kämpfen sehen. Sie kennt ihn als ihren großen Bruder, als den Clown, der Genjutsus für sie macht. Aber nicht als Kämpfer. Der Trainingsplatz ist eine kleine Waldlichtung mit sonnenverbranntem Rasen und drei alten Holzpfählen, die nebeneinander in den Boden gerammt sind. Gai und Asuma sind schon da, als Ibiki eintrifft. „Ich habe beschlossen, heute nachsichtig mit dir zu sein“, begrüßt Asuma ihn großspurig. „Immerhin bin ich schon Chuunin.“ „Ja, seit ganzen vier Tagen“, erwidert Ibiki grinsend. „Also bilde dir nichts darauf ein.“ Zu seiner Überraschung haben sich im Schatten des Waldrandes ein paar Zuschauer eingefunden, die offenbar gestern auf dem Dach von dem Kampf erfahren haben. Ebisu und Genma sind da und dieses Mädchen, mit dem Asuma neulich schon geredet hat. Kurenai, überlegt Ibiki und sieht unwillkürlich nach, ob sie schwarze Augen hat. Hat sie nicht. „Was macht denn das ganze Volk hier?“, fragt er Asuma. „Die dachten, der Kampf könnte lustig werden.“ „Also!“, ruft Gai und hebt die Arme. „Ich bin der Schiedsrichter! Erste Regel. Das hier ist ein Trainingskampf, also keine lebensgefährlichen Techniken.“ „Fast alle Techniken sind irgendwie lebensgefährlich“, wendet Asuma ein. „Aber ... nichts allzu Gefährliches. Zweitens. Wenn ich sage, dass der Kampf vorbei ist, ist er vorbei.“ „Drittens, alle tun, was du sagst“, fährt Ibiki ungerührt fort. „Viertens“, sagt Asuma, „der Verlierer gibt einen aus.“ „Der Schiedsrichter macht die Regeln, nicht ihr!“ Gai schüttelt tadelnd den Kopf. „Es ist mir ein Rätsel, wie du mit deiner Disziplin die Chuunin-Prüfung bestehen konntest, Asuma.“ „Also, legen wir langsam los?“, fragt Asuma, ohne auf ihn einzugehen. „Ja doch, ja doch. Ach ja, ihr müsst euch an das Protokoll halten! Einander ansehen und das Zeichen mit den zwei Fingern, ihr wisst schon. Los!“ „Ist ja gut.“ Sie stellen sich voreinander auf und sehen einander in die Augen. Beide haben die Hand in derselben Pose erhoben, zwei Finger nach oben ausgestreckt als Zeichen der Herausforderung. Asuma sieht nicht aus, als würde er sich um seinen Sieg ernsthaft Sorgen machen. Seine Selbstüberschätzung könnte ihm zum Verhängnis werden. Realistisch betrachtet, denkt Ibiki, ist sie sogar seine einzige Chance, Asuma zu schlagen. „Seid ihr bereit?“ „Ja.“ „Ich auch.“ „Also gut!“ Gai streckt den Arm zwischen ihnen aus und holt tief Luft. „Der Kampf beginnt ... jetzt!“ Er hat den Arm kaum gehoben, als sie auseinander schnellen wie zwei Pfeile von der Sehne. Ibiki zieht sich in den Schatten des Waldes zurück, während Asuma zehn Schritte weiter stehen bleibt, eine seiner Klingen in der Hand. Kein normales Kunai, sondern eine Art Schlagring mit verlängerter Schneide an einer Seite. Sieht genauso fies aus, wie es ist. Er kommt ihm besser nicht zu nahe, denkt Ibiki und beginnt, seine Siegel zu schließen. „Komm schon raus, Ibiki! Wir wollen kämpfen, nicht stundenlang umeinander herumschleichen!“ Asuma legt die Stirn in Falten und überlegt offensichtlich, ob er Ibiki folgen soll oder ob er damit in eine Falle läuft. Gai beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung. „Sag nicht, du hast kalte Füße bekommen! Wo steckt du?“ Im nächsten Moment schnappt Asuma nach Luft und senkt langsam den Blick. Ratten strömen aus allen Richtungen auf ihn zu, der Boden um ihn herum ist von ihnen bedeckt. Er hebt die gezackte Klinge in seiner Hand, weiß aber offensichtlich nicht, wo er anfangen soll. Die Ratten ziehen einen engen Kreis um ihn, aber wenn Ibiki will, kann er dafür sorgen, dass die Tiere Asuma auffressen. Es hat eine Weile gedauert, bis ihm der beste Weg eingefallen ist, seine Angst zu beherrschen: Indem er sie zu seiner eigenen Waffe macht. „Ach du liebe Güte“, knurrt Asuma. Lautlos pirscht Ibiki sich durch die Bäume an ihn heran, so nah es geht. Etwa zwei Meter von ihm entfernt muss er die Deckung der Blätter aufgeben. Er holt noch einmal tief Luft, umklammert sein Kunai und lässt sich hinter Asumas Rücken aus dem Baum fallen. Asuma hört das Rascheln der Zweige und fährt im letzten Moment herum. Er blockt Ibikis Kunai mit der Klinge ab, die Zähne zusammen gebissen. Ibiki verliert die Konzentration, das Genjutsu löst sich in Wohlgefallen auf. Asuma stößt ihn weg, und Ibiki bemerkt schmerzhaft, dass er ein paar Zentimeter kleiner und ein paar Kilo leichter ist. Mühsam findet er sein Gleichgewicht wieder und bringt sich mit zwei Sätzen rückwärts außer Reichweite. „Das war ein Genjutsu?“, fragt Asuma und grinst. „Gar nicht schlecht ... für einen Genin.“ Ibiki spart sich einen geistreichen Konter. Das Genjutsu war fehlerfrei, aber er konnte es nicht lange genug aufrecht erhalten, und ein zweites Mal wird Asuma nicht auf den Trick hereinfallen. Eine neue Strategie muss her. Noch bekommt er keine Zeit, darüber nachzudenken, weil mehrere Kunais auf ihn zu zischen. Sie sind nicht gezielt genug, um ernsthaft gefährlich zu werden, aber sie reichen, um ihn zu beschäftigen. Er muss ausweichen, bleibt mit dem Fuß in einem Loch im Rasen hängen und stürzt auf den Rücken. Fluchend rappelt er sich auf, und als er wieder auf den Füßen steht, ist Asuma verschwunden. Misstrauisch runzelt Ibiki die Stirn. Mit Tricks und Täuschungen zu kämpfen ist seine Aufgabe, doch nicht die von Asuma, der am liebsten geradeheraus vorgeht und in diesem Kampf ohnehin der Überlegene ist. Warum hat er sich zurückgezogen, und vor allem, wo ist er? Er sieht nur den Wald und den Himmel und Gai, der einige Schritte Abstand hält. Von Asuma keine Spur. Er muss irgendetwas planen, und er könnte jederzeit auftauchen, aus jeder Richtung, theoretisch sogar von unten. Wenn Ibiki eines hasst, dann ist es, nicht zu wissen, was vorgeht. Er sieht sich um, Schweiß im Nacken, ein Kunai umklammert. In irgendeinem Baum, hinter einem Felsen, irgendwo muss er doch sein! Die Sekunden verrinnen, und wie immer, wenn er nervös ist, tastet seine Zunge nach der Narbe an der Innenseite seiner rechten Wange. Sie ist nicht da. Innerhalb eines Wimpernschlags ist Ibiki klar, was das bedeutet. Die Narbe muss da sein, aber er spürt sie nicht. Mit seinen fünf Sinnen kann also irgendetwas nicht stimmen, und dafür gibt es nur einen naheliegenden Grund. „Kai!“ Er lässt das Kunai fallen und klatscht die Hände zusammen für das Siegel, das sein Chakra für einen kurzen Moment zum Stillstand bringt. Seine Sicht flackert, und dann ist da Asuma, ohne jede Deckung, zwei Schritte vor ihm. Anstatt seinem ersten Impuls nachzugeben und zurückzuweichen, zieht Ibiki ein neues Kunai hervor und springt geradewegs auf ihn los. Asuma reißt erschrocken die Augen auf. „Scheiße!“ Sie stoßen zusammen und stürzen zu Boden, Ibiki obenauf. Bevor er einen klaren Gedanken fassen kann, spürt er etwas Kaltes an seiner Kehle. „Rühr dich nicht“, sagt Asuma, der auf dem Rücken liegt, eine seiner Klingen in der Hand. „Du dich auch nicht“, erwidert Ibiki. Die Spitze seines Kunais zeigt geradewegs auf Asumas Halsschlagader. Asuma blinzelt verwirrt, wird sich der Situation bewusst und muss lachen. „Nicht schlecht. Wirklich.“ „Ich denke, der Kampf ist entschieden!“, ruft Gai, der näher getreten ist. „Und zwar steht es unentschieden!“ „In dem Fall ist der Kampf doch nicht entschieden, Gai“, tadelt Ibiki ihn. „Achte ein bisschen auf deine Ausdrucksweise.“ Gai verschränkt die Arme. „Vielleicht erkläre ich Ibiki doch zum Verlierer, wegen Klugscheißerei gegenüber dem Schiedsrichter.“ „Unsinn“, sagt Asuma, drückt Ibikis Arm mit dem Kunai weg und setzt sich auf. „Unentschieden klingt gut.“ „Obwohl ich Genin bin?“, fragt Ibiki grinsend. Asuma macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin ja kein Unmensch. Aber eigentlich schade, dass die letzte Aktion nicht geklappt hat.“ „Du wolltest mich mit meinen eigenen Waffen schlagen – ich muss zugeben, das hat Stil.“ „Ganz genau. Unter ein Genjutsu setzen, und dann ganz cool hingehen und bang, zuschlagen. Licht aus. Gute Nacht.“ „Beinahe hätte es geklappt.“ „Woran hast du es gemerkt?“, fragt Gai interessiert. „Ich meine, Asuma ist bestimmt kein Genjutsu-Experte, aber ...“ Asuma lacht schallend auf. „Sagt der, der das einfachste Ninjutsu nicht hinbekommt! Aber die Frage ist berechtigt, Ibiki. Woran hast du es gemerkt?“ Ibiki tastet mit der Zunge nach der Narbe und lächelt. „Sag ich nicht. Ist mein Geheimnis.“ „Spielverderber“, sagt Asuma vorwurfsvoll. „Jedenfalls ist der Kampf beendet!“, verkündet Gai munter. „Gebt euch die Hand zum Zeichen der Harmonie!“ „Muss das sein?“ „Ja! Das hat Tradition!“ „Also gut.“ Sie haken die Finger ineinander, Asuma grinst, und Ibiki erwidert es. Ein paar der ungebetenen Zuschauer klatschen Beifall. „Übrigens schade, dass es unentschieden ausgegangen ist“, fällt Ibiki plötzlich ein. „Der Verlierer hätte einen ausgeben müssen.“ „Halb so schlimm“, sagt Asuma achselzuckend. „Dann gibt eben der Schiedsrichter einen aus.“ Kapitel 13: Verachtung ---------------------- Für einen Mann, der als Jounin und ANBU den Respekt seiner Kollegen und des Hokage genießt, und der abends nach Hause geht und seinen Sohn verprügelt, hat Ibiki nur Verachtung übrig. Dass Vater dieser Mann ist und er der Sohn, ändert überhaupt nichts. Manchmal fragt er sich, ob er Angst vor ihm hat, aber er ist sich nicht sicher. Verachtung, stellt er fest. Und er schleicht sich in Vaters Schlafzimmer und bereitet eine Überraschung vor. Vater kommt am Abend von einer Dienstbesprechung nach Hause, umarmt und küsst Ima, streicht Ibiki über den Kopf. Er geht in sein Zimmer, um seine Sachen wegzubringen. Während Ima durch die Küche hüpft, Vaters Lieblingstasse heraussucht und den Tee vorbereitet, wartet Ibiki auf die Explosion, sobald Vater die Schrift an der Wand bemerkt. Verachtung steht dort, riesengroß, über die gesamte Breite der Wand. Ob er es wagen würde, Ibiki vor Imas Augen auszuschimpfen, vielleicht Schlimmeres? Ima ist die kleine Prinzessin, aber Vater muss schon verdammt wütend sein. „Der Tee ist bald fertig!“, ruft Ima, sobald sie die Schritte auf dem Flur hören. Vater kommt herein, bleibt an der Tür stehen und sieht Ibiki an. Ihre Blicke treffen sich kurz, und noch immer wartet Ibiki auf die Explosion. Dann wendet Vater den Blick hastig wieder ab und setzt ein Lächeln auf, als Ima ihn anstrahlt. „Setz dich hin, Vater! Ich bring dir deinen Tee!" „Meine Prinzessin“, seufzt Vater, und Ibiki weiß, dass es daran liegt. Wenn Vater und er sich überhaupt in irgendetwas einig sind, dann darin, dass Ima nichts von ihren Konflikten erfahren darf. Ima ist in letzter Zeit oft so aufgekratzt, dass sie abends nicht ins Bett will. Sie redet und kichert und hat die tollsten Einfälle, aber vom einen auf den anderen Moment schläft sie ein, oft auf Vaters Schoß, wie heute. Behutsam schlingt er die Arme um sie und hebt sie hoch. „Ich bringe sie ins Bett. Bleib noch kurz sitzen, Ibiki. Ich habe mit dir zu reden.“ Ibiki nickt, und Vater verlässt den Raum. Er könnte weglaufen. Er könnte aus dem Küchenfenster aufs Dach klettern, an der Regenrinne herunter und auf die Straße, das hat er schon unzählige Male getan. Aber er bleibt sitzen, legt die Hände in den Schoß und wartet. Vater kommt wieder herein und lehnt die Tür hinter sich an. Er sieht müde aus, wie Ibiki auffällt. Er trägt einen schlichten, schwarzen Pullover, die Dreiviertelärmel lassen ein gutes Stück seiner kräftigen Arme frei. Blasse Narben zeichnen sich auf der Haut ab, nicht entstellend, nicht einmal besonders auffällig, aber vorhanden. Vaters Gesicht ist blass, seine Haare wirr, auf seiner Oberlippe liegt der Schatten eines Bartes. Er sieht wirklich müde aus. „Ich habe gesehen, was du an meine Wand geschrieben hast.“ Ibiki antwortet nicht. Vater kommt zum Tisch, setzt sich Ibiki gegenüber und sieht ihn an. „Warum hast du das getan?“ Ibiki zuckt die Achseln und sieht in eine andere Richtung. „Du musst doch wissen, warum.“ „Weil es die Wahrheit ist.“ Vater schließt die Augen und seufzt tief. „Ich werde morgen Farbe besorgen, und wir werden die Wand neu streichen. Zusammen. Wie findest du das?“ Ibiki verzieht die Lippen. „Das ist keine gute Idee, Vater.“ „Warum nicht?“ „Lass uns zusammen hingehen.“ Vater runzelt die Stirn. „Was führst du im Schilde, Ibiki?“ Wortlos steht Ibiki auf und geht hinaus, über den Flur in Vaters Schlafzimmer. Die Schrift ist trotz der Dämmerung gut zu erkennen, pechschwarze, in Tropfen heruntergelaufene Farbe auf der hellen Tapete. Verachtung. „Das wird da nicht stehen bleiben“, sagt Vater streng, der hinter ihn getreten ist. „Es ist die Wahrheit“, erwidert Ibiki trocken. „Ich mag die Wahrheit.“ „Es wird trotzdem nicht da stehen bleiben.“ „Natürlich wird es das nicht, Vater.“ Vater sieht ihn stirnrunzelnd an. „Du hast gesagt, du willst es nicht überstreichen.“ „Das wird auch nicht nötig sein.“ Einige Sekunden lang sehen sie stumm die Schrift an. Dann stöhnt Vater plötzlich auf, als sei ihm ein Gedanke gekommen. Er hebt eine Hand, Zeigefinger und Mittelfinger ausgestreckt. „Kai.“ Das Genjutsu löst sich auf, und die Schrift an der Wand verschwindet spurlos. Ibiki versucht, sein Grinsen zu unterdrücken und unbeeindruckt auszusehen. „Nur ein verdammtes Genjutsu.“ „Ja, Vater.“ „Ich hatte dir gesagt, du sollst mit diesen kindischen Spielereien aufhören“, sagt Vater, und Ibiki hört an seiner Stimme, dass er seine Wut nur mühsam beherrscht. „Du hattest mir auch gesagt, wenn ich dich mit einem Genjutsu täuschen wollte, brauchte ich mindestens fünf Jahre Übung – aber so lange würde ich nicht leben. Das ist jetzt viereinhalb Jahre her, und ich fühle mich durchaus lebendig.“ Er kann dem Schlag nicht mehr ausweichen. Die Faust trifft ihn mitten ins Gesicht, und Ibiki taumelt rückwärts gegen die Wand. Er schafft es gerade noch, sich abzustützen, um nicht zu fallen. Wenn er einmal am Boden liegt, wird er nicht mehr hochkommen. „Was bildest du dir eigentlich ein?“, brüllt Vater ihn an. „Fühlst du dich jetzt toll, weil du mir einen so kindischen Streich gespielt hast? Du glaubst doch nicht, dass dir das im Kampf helfen wird!“ „Ich habe es geschafft, einen von Konohas besten Jounin mit einem Genjutsu zu täuschen“, antwortet Ibiki und presst die Hand auf seine Nase. „Ja, allerdings. Ich fühle mich ziemlich toll deswegen.“ Das Blut beginnt träge von seiner Hand zu tropfen. Vater starrt ihn an, die Fäuste geballt, seine Kiefer malen aufeinander. „Und was hast du mit diesem Geniestreich bezweckt, oh großer Morino Ibiki?“, spuckt er aus. Vielleicht könnte Ibiki die Situation mit den richtigen Worten entschärfen, aber das war nie Sinn der Sache. Er hat die Schnauze voll. „Es war eine Botschaft. Dass du sie offenbar nicht deuten kannst, zeigt schon, warum ich sie dir schicken musste. Ich verachte dich, Vater. Nach außen spielst du allen den perfekten Shinobi vor, und dann gehst du nach Hause und verprügelst deinen Sohn. Okay, das ist seit Jahren so. Bisher hast du mich meistens geschlagen, wenn ich dich provoziert habe und du nicht wie ein Erwachsener mit der Situation umgehen konntest. Das allein ist schon erbärmlich genug. Aber in letzter Zeit schaffst du es, noch erbärmlicher zu sein, indem du selbst es provozierst. Mittlerweile scheint es dir sogar egal zu sein, was die Leute denken. Ich versuche ja wirklich, die Fassade aufrecht zu erhalten, aber wie bitte soll ich eine blutige Nase noch verstecken? Ich hasse dich wegen alledem nicht. Ich verachte dich nur.“ Er sieht Vater an und wartet darauf, dass er wieder auf ihn los geht, aber nichts passiert. Vaters Fäuste zittern immer heftiger. Sehr langsam steigen ihm Tränen in die Augen. „Es tut mir leid, Ibiki.“ Ibiki runzelt irritiert die Stirn. Das Blut trieft zwischen seinen Fingern hindurch. „Es ist doch nur, weil ...“, beginnt Vater verzweifelt. „... weil ich nicht abschalten kann. Versteh doch, Ibiki. Ich muss Geld verdienen, um euch beide durchzubringen ... uns drei, meine ich. Und dazu töte ich Menschen. Ich kämpfe, ich befolge Befehle und teile welche aus, manchmal tagelang. Und dann komme ich nach Hause und ... und ... Wenn du darauf programmiert bist, alle Auseinandersetzungen mit Gewalt zu lösen, kannst du das nicht so plötzlich abschalten. Verstehst du das nicht?“ Fassungslos sieht Ibiki diesen Mann an, diesen dummen, lächerlichen Mann, der sein Vater ist. „Ich will das nicht, Ibiki. Mir ist die Hand ausgerutscht. Ich weiß nicht, wieso ich ... wieso ich in letzter Zeit ein paar Mal auf dich losgegangen bin. Ich wollte das nicht. Ich will nur, dass ... dass ... Vielleicht ist es sogar die Schuld, weißt du? Ich habe Kinder getötet. Jungen und Mädchen, die jünger waren als du. Vielleicht ist es Buße. Vielleicht muss ich einfach ... jemanden verletzen, den ich liebe. Verstehst du?“ „Jemanden, den du liebst?“, wiederholt Ibiki. „Was habe ich dann damit zu tun?“ „Ich liebe dich, Ibiki. Du bist mein Sohn. Wenn ich dich je verletzt habe, habe ich es aus Sorge um dich getan. Das musst du verstehen. Du bist doch so ein kluger Junge.“ Langsam wischt Ibiki sich das Blut vom Kinn. „Du verstehst mich“, flüstert Vater, noch immer mit Tränen in den Augen. „Oder?“ „Nein, Vater“, antwortet Ibiki knapp. „Du redest gequirlte Scheiße.“ Er geht an ihm vorbei und verlässt das Zimmer, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Vater ruft ihm nicht nach. Kapitel 14: Meute ----------------- „Wir müssen uns aufteilen“, sagt Shikaku ernst und sieht sich um. Er ist mit Abstand der Älteste der Gruppe, der einzige Jounin. „Ich brauche Aoba bei mir. Hayate kommt auch mit uns. Ihr werdet allein gehen. Ibiki, Tokara und Mizuki.“ Er überlegt kurz. „Ibiki ist euer Anführer. Solange ich nichts anderes sage, hört ihr auf ihn.“ „Verstanden“, erwidern sie einstimmig, und Ibiki kann nur daran denken, dass Mizuki fünf Monate älter ist als er und fünf Monate verdammt viel ausmachen, wenn man erst dreizehn ist und ungeduldig auf die Pubertät wartet. Trotzdem macht Shikaku ihn zum Anführer. Unwillkürlich muss er lächeln. „Der Abtrünnige muss sich irgendwo hier herum treiben, er kann den Wald noch nicht verlassen haben. Ihr drei werdet ausschwärmen und Alarm schlagen, sobald ihr ihn seht. Benutzt Täuschungsmanöver und Doppelgänger, begebt euch nicht in Gefahr. Versucht nicht, ihn selbst zu stellen. Er ist vermutlich allein, aber wir müssen ihn kriegen, bevor er Kontakt zum Feind aufnimmt.“ „Alles klar.“ „Zwanzig Minuten südlich von hier gibt es eine Schlucht, die der einzige Weg ist, diesen Wald zu verlassen. Aoba, Hayate und ich werden ihm dort eine Falle stellen.“ „Wir sind die Jäger“, erläutert Aoba. „Ihr seid die Hundemeute, die den Fuchs aus seinem Bau treibt.“ „Besten Dank auch“, sagt Tokara. „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren“, knurrt Shikaku und wirft den beiden einen tadelnden Blick zu. „Gehen wir. Wir jagen ihn so lange, bis wir ihn haben.“ „Verstanden.“ Er dreht sich um, und Aoba und Hayate folgen ihm durch die Bäume. Ibiki sieht Mizuki und Tokara an und nickt. „Also los. Wer irgendeine Spur von ihm sieht, sagt sofort Bescheid.“ „Alles klar.“ Sie wenden sich in die andere Richtung und machen sich auf den Weg, immer in den Baumwipfeln, von Ast zu Ast. Eigentlich wäre es praktisch gewesen, Hayate dabei zu haben, überlegt Ibiki. Der Junge hätte einen guten Lockvogel abgegeben. Er ist zwar erst neun, aber unglaublich schnell und talentierter mit dem Katana, als man ihm ansieht. Aber auch mit Mizuki und Tokara wird es schon irgendwie klappen. „Seid vorsichtig“, zischt er den beiden zu. „Wir müssen unauffällig sein.“ „Ich denke, wir sind die Hundemeute“, sagt Mizuki. „Bringt doch nichts, wenn er uns gar nicht bemerkt.“ „Aber er sollte nicht sofort darauf kommen, dass wir ihn nur aus seinem Versteck treiben wollen.“ „Wie gefährlich ist er eigentlich?“, fragt Tokara und versucht, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. „Er ist nur Chuunin“, sagt Mizuki mit einem beruhigenden Lächeln in seine Richtung. „Er war verdorben genug, um zum Verräter zu werden, und falsch genug, dass niemand es gemerkt hat, bis es zu spät war“, entgegnet Ibiki düster. „Wir dürfen ihn nicht unterschätzen.“ Er betrachtet die Sonne und den vereinzelten Mooswuchs an den Baumstämmen. Sie bewegen sich nach Nordwesten fort. „Hast du irgendeinen Plan, Ibiki?“, fragt Tokara. „Oder suchen wir einfach wild drauflos?“ „Shikaku hat gesagt, diese Schlucht liegt im Süden. Wir gehen also zum anderen Ende des Waldes und suchen es ab. Danach bilden wir eine Art Menschenkette, wie bei einer Treibjagd.“ „Menschenkette mit drei Leuten.“ „Spar dir deine Sprüche, Mizuki.“ „War doch nur eine Feststellung.“ „Und deine Unschuldsmiene zieht bei mir auch nicht, also lass es.“ „Also, bilden wir jetzt eine Menschenkette mit drei Leuten?“, fragt Tokara, mittlerweile vollauf verwirrt. „Ja doch. Mit genug Doppelgängern werden wir das schon ...“ Ibiki bricht ab und hält auf dem nächsten dicken Ast an. Die anderen beiden landen neben ihm. „Was ist denn?“ „Wir haben ihn“, flüstert Ibiki und deutet nach rechts. „Da.“ Durch die dichten Blätter ist der Waldboden kaum zu erkennen, aber man kann einen blonden Haarschopf erahnen, dann den Rest des Körpers. Die blau-grüne Uniform der Chuunin tarnt den Abtrünnigen erstaunlich gut. Offenbar legt er gerade eine Pause ein. „Ibiki. Was machen wir jetzt?“, zischt Mizuki. „Du hältst dich zurück und gibst uns Rückendeckung, für alle Fälle. Tokara, du kommst mit mir.“ „Was machen wir?“ Ibiki grinst ihn an. „Das, was Shikaku gesagt hat: Alarm schlagen.“ Ohne weitere Worte macht er einen Satz auf den nächsten Ast und hebt die Stimme. „Er ist hier! Wir haben ihn!“ „Wir haben ihn!“, stimmt Tokara ein und folgt Ibiki. Der Abtrünnige wirft erschrocken den Kopf herum, auf die Entfernung ist sein Fluch nicht zu verstehen. Er reckt den Hals und sucht die Bäume nach weiteren Verfolgern ab. Als er nur die halbwüchsigen Jungen bemerkt, entscheidet er sich dafür, sie vor seiner Flucht zum Schweigen zu bringen. Er schleudert einen Schwarm Kunais in Ibikis Richtung, schließt blitzschnell einige Siegel und zielt mit einem Wasserjutsu auf Tokara, der bereits auf dem Waldboden gelandet ist und hastig hinter einem Baumstamm Deckung sucht. „Bringt ihn nicht um!“, brüllt Ibiki, weicht ohne Schwierigkeiten den schlecht gezielten Kunais aus und wirft einen Blick zurück zu Mizuki, der mit fliegenden Fingern seine Shuriken hervorgezogen hat. „Ziel auf seine Beine, Mizuki! Bringt ihn nicht um!“ Er springt von seinem Ast, landet einige Meter weiter unten auf dem Waldboden, rollt sich ab und rennt weiter. Tokara war geistesgegenwärtig genug, sich einige Doppelgänger zu schaffen, die in verschiedene Richtungen flüchten. Der Abtrünnige greift sie erneut mit einem gezielten Wasserstrahl an. Zwei lösen sich in Staub auf, nur der echte Tokara stolpert und fährt herum, Todesangst auf dem Gesicht. Er hat Kunais in beiden Händen. „Bringt ihn nicht um!“ Im Rennen versucht Ibiki fieberhaft, die nötige Konzentration für ein Genjutsu aufzubringen. Ein paar von Mizukis Shuriken zischen haarscharf an ihm vorbei, und der Abtrünnige dreht sich um. Er blockt eines mit einem Kunai ab und weicht den restlichen aus. Durch seine Beine hindurch sieht Ibiki, wie Tokara sich rückwärts kriechend in Sicherheit bringt. Er ist zu langsam. Plötzlich zuckt der Mann zusammen und hebt den Kopf zum Himmel. Die Verstärkung ist da, zumindest ist es das, was Ibikis Genjutsu ihn glauben lässt. Er ist offensichtlich überfordert von dem Anblick der Jounin, die plötzlich überall in den Bäumen aufgetaucht sind. Ibiki ist noch mehrere Schritte von ihm entfernt und damit beschäftigt, die Illusion aufrecht zu halten. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis der Abtrünnige alles durchschaut. Vielleicht zehn Sekunden, vielleicht zwei. „Erledigt ihn! Schnell!“ Tokara rappelt sich auf, und Mizuki wirft mehrere Shuriken. Die meisten ritzen nur die Kleider des Mannes, aber einer trifft ihn hinten am Fußknöchel. Es gibt einen vernehmlichen Knall, als wäre die Achillessehne durch. Das Bein des Mannes gibt unter ihm nach, mit einem Aufschrei sackt er zu Boden. Tokara ist im nächsten Moment über ihm und drückt ihm ein Kunai an die Kehle. „Beweg dich nicht“, faucht er, schwer atmend, Haare und Kleider triefend vor Wasser. Der Mann erstarrt, aber Ibiki tritt von hinten an ihm heran und gibt ihm einen Schlag in den Nacken, nur zur Sicherheit. Der Kopf des Abtrünnigen sinkt herab. Tokara sieht Ibiki an und grinst nervös. „War es das?“ „Haben wir ihn?“, erklingt Mizukis Stimme hinter Ibiki. „Oh ja. Gute Arbeit, Männer.“ Er greift in seine Tasche, findet nach einigem Suchen ein Seil und beginnt, den Mann zu fesseln. Tokara lässt sich gegen einen Baum sinken und versucht, wieder zu Atem zu kommen. Ibiki mustert ihn prüfend und sieht sich dann zu Mizuki um, der näher gekommen ist und Shuriken aus dem Gras aufsammelt. „Mizuki? Sieh zu, dass du Shikaku und die anderen auftreibst. Wir bleiben hier und bewachen den Mann. Transportieren können wir ihn ja schlecht.“ „Wird gemacht“, sagt Mizuki, dreht sich um und verschwindet durch die Bäume. Ibiki hat den Abtrünnigen mittlerweile zu seiner Zufriedenheit verschnürt und richtet sich wieder auf. Tokara sitzt auf einer Baumwurzel und wringt seinen Pullover aus, ohne Ibiki aus den Augen zu lassen. Sein Blick ist noch immer verstört. „Warum durften wir ihn nicht umbringen? Er wollte uns alle töten, und deine einzige Sorge war, dass er am Leben bleibt!“ „Ein Toter kann nicht mehr reden, Tokara“, erwidert Ibiki schlicht. „Informationen können unzählige Leben gefährden oder retten. Er hier ist ein Verräter. Sie werden in Konoha ein Interesse daran haben, ihn ordentlich auszuquetschen, bevor er den Löffel abgibt.“ Er stößt den gefesselten Mann mit dem Fuß an. Tokaras Blick wandert langsam zwischen ihm und Ibiki hin und her. Er wirkt verängstigt, beinahe widerwillig respektvoll. Falls es ihm vorher noch ein Rätsel war, hat er jetzt begriffen, wieso Shikaku Ibiki zum Anführer gemacht hat. Der Mann gibt ein leises Stöhnen von sich, und Tokara fährt zusammen. „Keine Sorge“, sagt Ibiki gelassen. „Ich habe ihn gefesselt, und mit dem verletzten Bein kommt er sowieso nicht weit.“ Er beugt sich hinunter zu besagter Verletzung, löst die Bandagen am Knöchel des Mannes und benutzt sie, um einen provisorischen Druckverband anzulegen. Es wird schon reichen, damit er nicht verblutet, bevor Shikaku und die anderen kommen. Danach steigt er über den Mann hinweg, der nur langsam wieder zu sich kommt, und setzt sich neben Tokara auf die Wurzel. Tokara betrachtet den Abtrünnigen mit großen Augen. „Ich frage mich, wieso er das gemacht hat.“ Der Mann gibt ein heiseres Lachen von sich. „Was meinst du, Junge?“ Tokara zuckt erneut zusammen und wirft Ibiki einen nervösen Blick zu, wie ein Kind, das sich bei Mama die Erlaubnis holen muss, um mit Fremden zu reden. Ibiki hebt eine Augenbraue und sagt nichts. „Ich ... ich meine ... Verräter sind der unterste Bodensatz. Eine größere Schande gibt es gar nicht!“ „Schlimmer als Vatermörder und Kinderschänder“, ergänzt Ibiki trocken. Tokara nickt und starrt den Mann an, der seinen Blick unter halb geschlossenen Lidern erwidert und schwer atmet. „Willst du es wirklich wissen, Junge?“ „Ja“, antwortet Tokara, ein Zittern in der Stimme, das vielleicht Angst ist, vielleicht auch Entrüstung. „Ich hatte drei kleine Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Sie waren hoch talentiert. Meine älteste Tochter ist bei einem Trainingsunfall gestorben, die anderen beiden im Krieg. Keines meiner Kinder ist älter geworden als elf. An dem Tag, an dem meine jüngste Tochter beerdigt wurde, hat meine Frau sich mit Gift das Leben genommen.“ Tokara sieht ihn mit großen Augen an. „Was ist dabei, Konoha den Rücken zu kehren?“, flüstert der Mann. „Konoha reißt Eltern ihre Kinder weg, macht sie zu Soldaten und schert sich nicht darum, ob sie ihr Leben lassen. Es ist unmenschlich. Widernatürlich.“ „Erzählen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß“, erwidert Ibiki unbeeindruckt. Tokara blinzelt verstört. „Und deswegen wollen Sie überlaufen? Nach Iwa? Nach Suna? Glauben Sie denn, dort behandeln sie ihre Shinobi besser?“ Wut blitzt in den Augen des Abtrünnigen auf. „Du kannst das nicht verstehen. Du bist ein Kind.“ „Oh, jetzt kommen Sie mir nicht auf die Tour! Sie wissen so gut wie ich, dass in Konoha höchstens ein Fünfjähriger noch ein Kind ist. Ich bin dreizehn. Ich bin kein Kind.“ Dem Mann fehlen die Worte. „Sie sind erbärmlich“, sagt Ibiki, spuckt auf den Boden und wendet sich ab. „Das Leben eines Shinobi ist immer grausam, völlig egal, in welchem Dorf. Wir sind in Konoha geboren, also können wir genauso gut dort bleiben. Warum braucht Mizuki denn so lange?“ Stille tritt ein. Der Mann ist offensichtlich nicht bereit, mehr zu sagen. Tokara weicht seinem Blick aus, strubbelt sich durch die nassen Haare und niest einige Male. Ibiki langweilt sich. Wenn er sich langweilt, setzt er normalerweise irgendjemanden unter ein Genjutsu. Diesmal sind da nur Tokara, der für heute wirklich genug durchgemacht hat, und der Gefangene. Wie seine Kinder wohl aussahen? Ob eines der Mädchen Lachgrübchen hatte wie Aya? Ibiki hat keine Ahnung, aber genügt es nicht völlig, wenn der Mann selbst weiß, wie sie aussahen? Die Iwa-Nins kannten Ibikis Mutter schließlich auch nicht, und trotzdem haben sie ein Genjutsu angewandt, in dem sie vorkam. Ein Versuch kostet nichts, denkt Ibiki und schließt ein Siegel. Kapitel 15: Verrohung --------------------- Es dauert fast eine Stunde, bis Shikaku auftaucht, Aoba, Mizuki und Hayate im Schlepptau. Er springt von einem Baum und nickt Tokara und Ibiki zu. „Ich habe schon gehört, dass ihr den Abtrünnigen überwältigen konntet. Gute Arbeit.“ Dann sieht er den Gefangenen auf dem Boden, und sein Gesicht verdüstert sich schlagartig. „Raus mit der Sprache. Was habt ihr mit ihm angestellt?“ Der Mann wimmert und rollt sich zu einer Kugel zusammen. „Mir war langweilig“, erwidert Ibiki arglos. „Also habe ich ein paar Genjutsus an ihm ausprobiert. Und übrigens, ich habe ein komplettes Geständnis von ihm. Tokara hat mitgeschrieben.“ „Die Sache war seine Idee!“, sagt Tokara sofort und zeigt auf Ibiki. „Natürlich war es meine Idee. Ich bestehe darauf.“ Fassungslos sieht Shikaku zwischen dem Gefangenen und Ibiki hin und her. Er runzelt die Stirn und nickt einige Male. „Ihr bleibt hier und macht euch bereit zur Abreise. Ibiki, wir müssen uns unterhalten. Dort drüben.“ Ibiki zuckt die Achseln und folgt Shikaku einige Schritte weiter weg. Die anderen sehen ihm hinterher und tuscheln, aber er achtet nicht auf sie. „Was hast du mit ihm gemacht?“, fragt Shikaku wütend, sobald sie außer Hörweite sind. „Ihn unter ein Genjutsu gesetzt und seine drei Kinder vor seinen Augen geköpft.“ Einen Moment lang fehlen Shikaku die Worte. „Ah. Und wie nennst du das? Erweiterte Verhörtechniken?“ „Ich würde es Folter nennen. Ich halte nichts von Euphemismen.“ „Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da sagst, Ibiki? Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“ „Ich sagte doch, mir war langweilig“, erwidert Ibiki. „Und ich wollte die Wahrheit herausfinden. Mehr nicht.“ „Mehr nicht? Ich weiß nicht, ob ich diese Aktion lobend erwähnen oder dir deswegen eine Abmahnung erteilen lassen soll!“ „Abmahnung? Wofür? Dass ich der Wahrheit auf ihrem Weg geholfen habe?“ „Der Befehl für dein Team und dich lautete nur, den Mann aus seinem Versteck zu treiben und Alarm zu schlagen. Ihn gefangen zu nehmen war nicht eure Aufgabe. Ja, ich sehe ein, dass das zu eurer eigenen Sicherheit notwendig war. Ich bestreite auch nicht, dass ein Verbrecher wie er nicht viel Fingerspitzengefühl verdient. Aber all das gibt dir nicht das Recht, ihn zu foltern!“ „Ich dachte, so würde man mit Abtrünnigen umgehen, besonders in Kriegszeiten.“ „Es gibt dir nicht das Recht, Morino Ibiki!“, brüllt Shikaku ihn an. „Du bist ein einfacher Genin, du bist dreizehn Jahre alt! Gefangene auseinander zu nehmen ist verdammt nochmal nicht deine Aufgabe, dafür haben wir in Konoha Spezialisten! Dass du dir so etwas überhaupt ausdenken konntest, schockiert mich schon!“ „Ich habe so etwas am eigenen Leib erfahren“, erwidert Ibiki und versteht selbst nicht, wieso er so ruhig bleibt. Er fühlt sich, als würde er schweben, als könnte ihm nichts und niemand etwas anhaben. Vielleicht ist es das Gefühl, Macht zu besitzen. Shikaku sieht ihn an und atmet tief durch. „Was passiert ist, ist passiert. Ich werde dich jedenfalls nie wieder mit Gefangenen allein lassen.“ „Schade. Dabei war es diesmal ziemlich effektiv.“ „Strapaziere meine Geduld nicht überflüssig!“ Shikaku schließt die Augen und massiert sich die Schläfen. „Wenn ich nicht deinem Vater diese Blamage ersparen wollte, würde ich dem Hokage raten, dich bis auf Weiteres zu suspendieren.“ „Zu suspendieren? Mit welcher Begründung?“ „Psychische Instabilität und eindeutig sadistische Neigungen.“ Ibiki muss lachen. Shikaku starrt ihn an, aber er kann nicht damit aufhören. Es amüsiert ihn so. „In einer Welt, in der zehnjährige Kinder zum Kriegsdienst eingezogen werden, soll psychische Instabilität ein Grund sein, jemanden zu suspendieren? Hast du diesen Gedanken zu Ende gedacht, Shikaku?“ Shikaku verengt die Augen. „Du kannst dich bei deinem Vater bedanken, dass ich diese Angelegenheit nicht weiter verfolgen werde. Wenn du dich beruhigt hast, kannst du wieder zu uns stoßen. In einer Stunde brechen wir nach Konoha auf.“ Er wendet sich ab und geht, und Ibiki gluckst weiter in sich hinein. Psychische Instabilität. Es ist einfach zu komisch. „... ekelhaft“, sagt Tokara gerade, als Ibiki zurückkommt. „Was?“ Er bemerkt Ibiki und wird blass. „Ach, gar nichts.“ Hayate und Mizuki starren Ibiki an. Aoba spricht einige Schritte weiter mit Shikaku, sie sehen nicht herüber. Tokara hat seinen durchnässten Pullover ausgezogen und sich in Aobas grüne Weste eingewickelt. Er fröstelt immer noch. „Hast du wirklich ein Genjutsu bei ihm angewandt?“, fragt Hayate. Ibiki weiß nicht recht, ob das in seiner Stimme Ehrfurcht oder Entrüstung ist. Vielleicht eine Mischung aus beidem. „Ja.“ „Was für eins?“ „Das kann ich dir nicht sagen“, erwidert Ibiki streng. „Warum nicht?“ „Weil du Albträume bekommen würdest, und ich habe keine Lust, das deiner Mama zu erklären.“ „Sehr witzig“, murrt Hayate und runzelt die Stirn. „Nur, weil ich erst neun bin.“ „Allerdings, genau deswegen. Zerbrich du dir also nicht deinen kleinen Kopf darüber. Tokara, du hörst auf zu heulen. Und Mizuki hält die Klappe.“ „Ich habe nicht einmal etwas gesagt!“, protestiert Mizuki. „Doch, jetzt gerade, und schon war es zu viel. Hättest du doch auf mich gehört.“ „Manchmal bist du ein richtiges Arschloch, weißt du das?“ „Ich analysiere nur ein bisschen“, erwidert Ibiki achselzuckend. „Wenn ihr nicht wollt, dass ich mit euren Schwächen herumspiele, versteckt sie besser“ „Was für Schwächen?“ „Jeder Mensch hat Schwächen. Bei diesem Abtrünnigen waren es seine Kinder ...“ „Jetzt bilde dir nichts darauf ein, dass du das herausgefunden hast“, murmelt Tokara. „Auf das mit den Kindern wäre sogar ich gekommen.“ „Tokara, du bist verwirrt. Nicht jetzt, sondern ständig. Und zu leichtgläubig auch, insbesondere Hochrangigen gegenüber. Hayate hat ständig den Drang, zu beweisen, dass er nicht schwächer ist als wir, weil er kleiner ist. Besten Dank, Hayate, die Botschaft ist angekommen. Und Mizuki spricht mit gespaltener Zunge. Was das zu bedeuten hat, weiß ich auch nicht, aber es macht mich aggressiv.“ Hayate verzieht den Mund. „Ich weiß nicht, ob das gerade intelligent oder einfach nur unhöflich war“, brummt Tokara. „Ich sage immer noch, er ist ein Arschloch“, beharrt Mizuki. „Vielleicht ist es alles gleichzeitig“, erwidert Ibiki bescheiden. Er sitzt auf dem Dach vor dem Küchenfenster, baumelt mit den Beinen und betrachtet die in Fels gemeißelten Köpfe der Hokage, die über das Dorf wachen. Im Mondlicht sind sie gut zu erkennen. Es kommt Ibiki vor, als würde der dritte Hokage ihn direkt ansehen, als könnte er dem Blick dieser leeren, steinernen Augen nicht entkommen. Er hat dem alten Mann versprochen, sich Hilfe zu holen, wenn er sie braucht. Schon damals hat er gewusst, dass es nie dazu kommen wird. Er braucht keine Hilfe, nicht einmal, wenn Shikaku irgendetwas von psychischer Instabilität erzählt. Ibiki kommt zurecht. Es ist alles in Ordnung. „Ibiki?“ Er dreht sich um. Ima späht aus dem Küchenfenster, die Augen klein vor Müdigkeit. „Was machst du da draußen?“ „Konnte nicht schlafen.“ Sie klettert neben ihn, setzt sich auf die Ziegel und zieht das Nachthemd über ihre Füße. „Und du, Ima?“ „Ich auch nicht“, murmelt sie und betrachtet die Hokageköpfe. Ob sie den Blick des Dritten genauso bemerkt wie Ibiki? „Ich muss dich was fragen“, sagt Ima langsam. „Was denn?“ „Du darfst aber nicht sagen, dass ich irgendwie krank bin oder so.“ „Wieso sollte ich?“ „Ich habe ... habe mich nämlich gefragt, ob ...“ Sie holt tief Luft. „Hast du auch manchmal Spaß dabei?“ „Wobei?“ „Beim ... Kämpfen.“ Ibiki zuckt die Achseln. „Ich denke schon. Es ist gut, stark zu sein.“ „Ja“, murmelt sie und wendet ruckartig den Blick vom Hokagefelsen ab, als würde sie sich schämen. „Aber ich meine ... ich meine eigentlich ... was anderes.“ „Du kannst mir alles erzählen, Ima“, sagt Ibiki und tastet nach ihrer Hand. „Das weißt du, oder?“ Sie nickt langsam. „Bei unserer letzten Mission ist mir was ... Seltsames passiert. Es war eine Aufklärungsmission, weißt du, reine Routine. Wir haben ein Waldstück zugewiesen bekommen und sollten nachsehen, ob es dort Fallen gibt. Explodierende Siegel. Solche Dinge.“ Ibikis Miene verdüstert sich. Es sollte ihn nicht schockieren, dass sie die unerfahrenen Kinder bevorzugt auf solche Missionen schicken. Minensuchermissionen. Kanonenfuttermissionen. Objektiv betrachtet ist es logisch, dass Konoha keinen seiner kostbaren Jounin für einen solchen Einsatz opfern will. Ganz persönlich macht es ihn trotzdem wütend, dass seine kleine Schwester durch einen einzigen falschen Schritt hätte zerfetzt werden können. „Da war ein Shinobi. Aus Iwa, hat Sensei später gesagt. Er ist ganz plötzlich aufgetaucht, direkt vor Homare und mir. Sensei und Shunsuke waren ein Stück weiter weg. Wir waren völlig starr vor Schreck, und Sensei hat geschrien.“ Ima holt Luft, und ihre Stimme rutscht etwas tiefer. „Tötet ihn! Schlitzt ihm die Kehle auf! Tötet ihn schon!“ Ibiki sieht sie von der Seite her an und stellt fest, dass sie zehn Jahre alt ist. Nächste Woche wird sie elf. „Der Iwa-Nin wollte irgendwelche Siegel machen, aber Homare hat sich an seinen Arm geklammert. Und ich habe ein Kunai genommen, bin auf ihn drauf gesprungen und habe auf seinen Hals eingestochen. Immer auf den Hals. Er ist hingefallen, aber ich war auf ihm drauf, und ich habe zugestochen. Ich wusste ja nicht, ob er schon tot war. Ich musste sicher gehen.“ „Du musstest dein eigenes Leben schützen“, sagt Ibiki ruhig. „Jeder hätte das gemacht.“ „Ich hatte die Hände voller Blut. Es war alles voll, alles rot. Sensei hat mich weggezogen, seine Hände waren auch voller Blut. Und er hat Homare und Shunsuke gesagt, sie sollen den Mann anfassen. Seinen Hals. Und wir hatten alle die Hände rot, mit Blut. Und Sensei hat gesagt, wir sollten es nicht abwaschen.“ Ibiki hebt ihre Hand hoch und betrachtet sie eingehend. „Nichts mehr zu sehen.“ „Ich hab es abgewaschen, als ich zu Hause war. Es hat geklebt. Es war hart geworden. Das war ekelhaft.“ Ima starrt auf die Dachziegel vor ihren Füßen, dann gibt sie sich einen Ruck und dreht den Kopf. Sie sucht Ibikis Blick mit einer Nervosität, die er an ihr nicht kennt. Sie ist seine Schwester. Ihm gegenüber war sie noch nie nervös. „Ibiki? Das ist noch nicht alles.“ „Was denn noch?“ „Ich glaube ... es hat mir Spaß gemacht.“ Eindeutig sadistische Neigungen, hallt Shikakus Stimme in Ibikis Kopf wieder. „Du hast doch gesagt, du fandest es ekelhaft.“ „Ja, aber erst nachher! Als ich auf ihm drauf war mit dem Kunai, da war es okay. Es hat mir Spaß gemacht, glaube ich. Es war richtig. Und später habe ich das Blut gesehen, und ich habe verstanden, was ich getan hatte. Dann fand ich es ekelhaft. Also ... mich selbst.“ „Das musst du nicht“, sagt Ibiki ernst. „Sicher warst du einfach etwas verwirrt in dem Moment. Du musstest dein Leben retten, da kann man schon einmal etwas tun oder fühlen, was man sonst nicht tun würde. Aber es wird nicht wieder vorkommen, hörst du, Ima? Du bist in Ordnung. Es wird alles gut.“ „In drei Tagen muss ich auf meine nächste Mission“, murmelt Ima. „Wird es dann wiederkommen, Ibiki? Ich will das nicht.“ „Es wird nicht wiederkommen. Weißt du nicht mehr, was ich dir damals gesagt habe, nachdem ich diese Narbe bekommen habe und du dir solche Sorgen um mich gemacht hast? Ich habe gesagt, dass wir beide uns trotzdem nicht verändert haben. Innen drin bist du ein guter Mensch, Ima, und das kann dir niemand nehmen. Krieg führen und kämpfen macht seltsame Dinge mit einem, aber das ist nicht von Dauer. Irgendwann wird wieder Frieden sein, und dann musst du nicht mehr auf Missionen, wo du Leute umbringen musst. Dann kriegst du richtige Genin-Missionen. Nicht so brutales Zeug.“ Ibiki kommt es vor, als würde er mit sich selbst reden. „Versprochen?“, fragt Ima leise. „Dass der Krieg irgendwann vorbei ist?“ „Versprochen“, sagt er und legt die Arme um sie. Ima lehnt den Kopf an seine Brust, und plötzlich schluchzt sie auf und krallt die Hände hinten in sein Hemd. Ihre Tränen durchnässen seine Kleider. „Weine nur, kleine Schwester“, flüstert er. „Es wird alles wieder gut.“ Kapitel 16: Risiko ------------------ Ibiki kommt es vor, als würden die anderen Gäste auf Gais Dach immer jünger werden – aber wahrscheinlich wird eher er älter. Seit neustem haben sie Anko dabei, die zarte zehn Jahre alt ist, worauf aber weder ihr Verhalten noch ihre Kleidung hinweisen. Der Krieg produziert eine ganze Generation frühreifer, verkorkster Kinder, aber kaum eines trägt es so nach außen wie Anko. Keines der Mädchen würde sich als ihre Freundin bezeichnen, sie gilt als sadistisch veranlagt, hochgradig seltsam. Keiner der Jungen hat noch nicht mit ihr geflirtet, ob aus eigenem Antrieb oder nicht. „Ibiki!“ Sie setzt sich einfach neben ihn, aufdringlich nah. Ihr Rock endet entschieden zu weit oberhalb der Knie, ihr Oberteil ist vorn geknotet und erweckt den Anschein eines Busens, der nicht da ist. In ihren Augen schimmert das orange Licht, das aus Gais Zimmerfenster fällt. Die Sonne ist schon untergegangen. „Du sitzt immer so allein da.“ „Tue ich das?“, fragt er. „Die anderen sagen, du bist ein ganz harter Hund“, schnurrt sie. „Ich stehe auf so was.“ Er lacht mit einer Mischung aus Spott und Bestürzung. „Du redest wie eine langjährige Dirne, Mädchen!“ „Hast du mich gerade eine Nutte genannt?“, fragt Anko und stemmt die Arme in die Hüften. „Ich habe gesagt, du redest wie eine“, stellt Ibiki klar. „Weil es so ist. Und ganz ehrlich – die Jungs, mit denen du noch nicht zumindest rumgeknutscht hast, kann ich an einer Hand abzählen.“ „Du gehörst jedenfalls auch dazu.“ Sie grinst ihn an, und er mustert sie von oben herab, die Haare zu einem wirren Zopf hochgesteckt, die Schneidezähne deutlich größer als die restlichen. Sie ist ein Kind. Er betrachtet ihre Augen und stellt nebenbei fest, dass sie hübsch sind. Aber er sucht immer noch nach Ayas pechschwarzen Augen, und die von Anko sind heller, undefinierbar zwischen blau, grau und lila. „Kein Interesse“, sagt er und wendet sich ab. „Warum nicht?“ Sie piekt ihm mit dem Zeigefinger in die Seite. „Du bist so ein Brummelsack, Ibiki. Du solltest mal ein bisschen lockerer werden.“ Er schweigt beharrlich. Anko überlegt kurz und schlägt dann einen leidenden Tonfall an. „Die Nächte sind ganz schön kalt geworden. Ich friere.“ „Dann zieh dich beim nächsten Mal nicht so knapp an“, sagt er ungnädig. „Nimmst du mich in den Arm? Komm schon. Du bist bestimmt wärmer.“ Ibiki seufzt tief, streift seine Jacke ab und legt sie Anko um die Schultern. Den Reißverschluss zieht er bis unter ihr Kinn hoch, sodass man das Oberteil mit dem Knoten nicht mehr sieht. „Wenn dir kalt ist, geh nach Hause. Die Jacke kannst du mir ein andermal zurückgeben.“ Anko kichert. „Ich weiß nicht, ob du ein Gentleman bist oder einfach ziemlich verklemmt.“ „Verklemmt?“ Er legt ihr die Hand auf die Schulter und sieht ihr in die Augen. „Du bist zehn Jahre alt. Du könntest mit deinem Flirten und deinem zuckersüßen Getue die völlig falschen Männer anlocken. Ich mache mir Sorgen um dich, Mädchen.“ „Das ist süß“, sagt sie und kichert erneut. „Du bist süß.“ „Bin ich nicht“, knurrt er und rutscht von ihr weg. „Geh jetzt nach Hause.“ In seinem Kopf kann er noch Ayas Lachen hören. „Das hier ist kein Kriegseinsatz“, betont Genma zum ungefähr fünften Mal. „Es ist eine ganz normale Mission von einem privaten Auftraggeber. So etwas muss schließlich auch erledigt werden.“ „Ein ganz normaler Auftragsmord“, ergänzt Ebisu, und Genma stößt ihm den Ellbogen in die Seite. „Ich bin der Anführer. Ich rede. Klar?“ „Ist ja gut.“ Sie sitzen unter einem Baum, in einem kleinen Kreis um die Karte geschart, die Genma auf dem Moos ausgebreitet hat. Gai und Ebisu hocken rechts und links von ihm und studieren die Umrisse des Feuerreichs, die auf dem Pergament zu sehen sind. Die gestrichelten Frontlinien wurden mehrfach korrigiert, wie Ibiki auffällt. Tokara nimmt die Zähne zur Hilfe, um eine Bandage um seinen rechten Arm zu wickeln. Hayate sitzt rechts neben Ibiki, das Schwert andächtig auf dem Schoß, und hängt an Genmas Lippen. „Also, wir befinden uns gerade hier.“ Genma legt den Zeigefinger auf irgendeine Stelle im Wald. „Und hier ist das Anwesen, auf dessen Besitzer wir es abgesehen haben. Gleich vorweg, unser Auftraggeber will keinen Beweis dafür, dass wir diejenigen waren, die ihn umgebracht haben.“ „Endlich mal einer, der fraglos bezahlt, sobald der Kerl tot ist“, sagt Gai. Ebisu stößt Genma an. „Erinnerst du dich noch an den betrogenen Ehemann, der verlangt hat, wir sollten ihm die abgeschnittenen Ohren seiner Frau bringen?“ „Erinnere mich nicht daran!“, stöhnt Gai. „Das war entwürdigend!“ „Fragt sich, für wen es entwürdigender war“, sagt Ibiki. „Ruhe jetzt!“ Genma sieht streng in die Runde. „Ich bin der Älteste, ich bin der Anführer, und ich habe euch sehr wichtige Dinge zu sagen. Hört besser zu, wenn ihr am Leben bleiben wollt.“ Sie verstummen und sehen wieder auf die Karte. „Also. Wie ihr seht, liegt das Anwesen im Reich des Feuers, aber da ist eine Sache, die wir beachten müssen. Die Frontlinie wurde vor ein paar Tagen erneut begradigt.“ „Das heißt, Konoha wurde geschlagen und musste sich zurückziehen“, übersetzt Ibiki für Tokara, der ziemlich verunsichert wirkt. Genma wirft ihnen einen tadelnden Blick zu. „Jedenfalls ist unser Ziel dadurch recht nah an die Front gerückt. Wir müssen damit rechnen, dass die Wachen auf dem Anwesen verstärkt wurden und alles auf einen Überfall vorbereitet ist. Ich sage es euch gleich, Männer: Diese Mission wird uns alles abverlangen.“ Ibiki nickt Tokara zu. „Wir sind so gut wie tot.“ „Jetzt halt endlich den Mund!“, herrscht Ebisu ihn an und deutet mit einem anklagenden Zeigefinger auf ihn. „Du untergräbst unsere Moral, Morino Ibiki! Das ist ...“ „Ich bin der Anführer!“, unterbricht Genma ihn. „Es ist mein Privileg, Ibiki zusammen zu scheißen, also versau mir das nicht!“ „Es war nicht meine Absicht, irgendeine Moral zu untergraben“, stellt Ibiki klar. „Ich habe nur etwas gegen Euphemismen.“ „Gegen was?“, fragt Hayate. „Ausdrücke, die etwas schöner darstellen, als es ist.“ „Wie du willst“, sagt Genma trocken. „Ich erwarte absoluten Gehorsam von jedem von euch. In den nächsten Tagen ist der Waldboden unser Bett, gegessen wird kalt, und den ersten, der nach seiner Mami heult, hänge ich kopfüber an den nächsten Baum. Jetzt zufrieden, Ibiki?“ Ibiki grinst ihn an. „Sehr.“ „Wie lange brauchen wir wohl bis zu dem Anwesen, Genma?“, mischt Gai sich ein. „Keine vier Wegstunden. Wir haben auch eine Karte ... hier.“ Behutsam nimmt Genma das Pergament, schält mit dem Daumennagel eine Ecke ab und zieht es auseinander, sodass zwei dünne Blätter entstehen. Auf dem unteren ist der Grundriss eines Gebäudes zu erkennen. Ebisu pfeift durch die Zähne. „Also, hier ist der Haupteingang“, erklärt Genma, während sie erneut die Köpfe zusammenstecken. „Und das ist das Schlafzimmer des Zielobjekts, im oberen Stockwerk gelegen. Wir werden in der Nacht zuschlagen.“ „Sicher, dass er auch dort schläft?“, fragt Gai. „Wäre nicht der Erste, der einen Doppelgänger engagiert.“ „Er dürfte nicht damit rechnen, dass jemand ihn ermorden will, aber natürlich müssen wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Im Zweifel erkennen wir ihn an seinem Siegelring, den würde er niemals aus der Hand geben. Das Zeichen darauf ist sein Wappen, dasselbe wie in der Ecke der Karte. Da.“ „Vielleicht hat er den auch fälschen lassen“, gibt Tokara zu bedenken. „Falls er einen Doppelgänger hat.“ „Wer wäre denn so blöd, seinen eigenen Siegelring zu fälschen?“, erwidert Ebisu ungeduldig. „Das ist, als würde eine Bank Münzpressen verteilen!“ Sie müssen lachen. „Halten wir fest, wir achten alle auf den Ring“, fasst Genma zusammen. „Wir teilen uns auf. Eine Gruppe kommt von Westen und versucht, direkt in das Schlafzimmer einzusteigen. Die andere von Süden, das ist ein etwas weiterer Weg, aber dort rechnen sie vermutlich nicht mit einem Angriff. Achtet auf die Wachen! Selbst wenn er nicht mit einem Mord rechnet, wie gesagt, die Front ist nicht weit weg. Sie werden aufmerksam sein.“ Genma macht eine kurze Pause und sieht ihnen der Reihe nach ins Gesicht, bedächtig auf seinem Senbon kauend. „Hat noch irgendwer eine Frage?“ Hayate hebt den Zeigefinger wie ein Akademieschüler. „Was ist, Hayate?“ „Wissen wir irgendetwas über die Wachen? Wie viele es sind, wo sie stehen, wie sie bewaffnet sind?“ „Nein“, antwortet Genma. Hayate blinzelt ihn an, wartet auf mehr und senkt den Blick, als nicht mehr kommt. „Oh. Na dann.“ „Wir können nur sehr wachsam sein“, fährt Genma fort. „Eine kleine Bitte in eigener Sache: Mir wäre es am liebsten, wenn keiner von euch draufgeht.“ „Weil sich das auf Genmas Lebenslauf nicht gut machen würde“, erklärt Ebisu. „Dann warten wir noch ab“, sagt Ibiki. „Sammeln wir Informationen darüber, wie es in diesem Gebäude genau aussieht.“ „Wenn wir das tun, riskieren wir, dass sie uns entdecken. Sie könnten uns eine Falle stellen und uns alle töten, oder wir müssten die Mission aufgeben, weil sie aussichtslos geworden ist.“ „Aber ...“, beginnt Ibiki und verstummt. „Es ist ein Risiko, praktisch unvorbereitet dort hinein zu platzen“, sagt Genma ernst. „Das bestreite ich nicht. Aber herum zu schleichen und den Angriff nicht zu wagen, wäre ein viel größeres Risiko. Und deswegen werden wir ersteres eingehen.“ Ibiki seufzt. „Ich erkenne an, wenn jemand klüger ist als ich ... auch wenn es schwerfällt. Ich werde alles tun, was du sagst, Genma.“ Genma hebt amüsiert eine Augenbraue. „Natürlich tust du, was ich sage. Stand das je zur Debatte?“ „Ihr redet viel übers Aufbrechen, aber ihr tut nichts!“ Gai springt auf und streckt sich. „Gehen wir?“ Kapitel 17: Ratlosigkeit ------------------------ „Sicher, dass du ihn umgebracht hast?“, fragt Ebisu zum fünften Mal. Genma verdreht ungeduldig die Augen. „Ja doch. Ich hab ihm die Kehle durchgeschnitten, das überleben die wenigsten Leute. Der Mann war tot.“ „Alles klar. Wollte es nur wissen.“ „Und nein, wir müssen nicht noch einmal zurück, um sicher zu gehen.“ „Ich wollte es ja nur wissen, okay? Diese normalen Missionen bin ich nicht mehr gewohnt.“ „Jetzt denk nicht mehr dran“, sagt Gai und klopft ihm auf die Schulter. „Wir sind fertig. Morgen um diese Zeit sind wir längst wieder in Konoha.“ Ebisu nickt, hebt einen kleinen Tannenzapfen auf und wirft ihn in das Lagerfeuer, das in der Mitte ihres Kreises prasselt. Zwei Nächte zuvor haben sie die Mission erledigt, und jetzt sind sie wieder auf dem Heimweg. Alles ist so glatt gegangen, dass Genma behauptet, er hätte sich gelangweilt. „Diese Nächte mag ich am liebsten“, murmelt Tokara und sieht mit glasigen Augen in die Flammen. „Es ist so still. Und der Himmel ist ... riesig.“ „So groß ist er immer“, sagt Ibiki. „Schon, aber ... du weißt, was ich meine.“ Ein kalter Windstoß bringt das Feuer zum Flackern, und sie rücken fröstelnd etwas näher zusammen. „Ich hoffe immer noch, das mit dem Feuer ist nicht zu unsicher“, sagt Ebisu und schiebt mit dem Mittelfinger seine Brille nach oben. „Ist es nicht“, erwidert Genma. „Wir sind nahe an Konoha.“ „Und außerdem“, fügt Gai hinzu, „beruhigen sich die Verhältnisse schon wieder.“ „Echt?“, fragt Tokara. „Ja.“ „Meine Mutter sagt, es wurden schon vor Wochen Unterhändler nach Iwa geschickt“, sagt Genma. „Und meine hat erzählt, ihre Köpfe wären schon wieder zurückgekommen“, knurrt Ebisu. „Jetzt mal nicht alles so schwarz.“ „Mach ich nicht. Ich sag es, wie es ist.“ „Ich habe nichts gehört“, sagt Ibiki. „Ich auch nicht.“ „Ist ja im Endeffekt auch egal“, sagt Genma. „Wir sind nur das Fußvolk. Wir machen so lange Krieg, bis der Hokage sagt, dass wir aufhören sollen. Mehr brauchen wir nicht zu verstehen.“ „Ich verstehe gerne Dinge“, entgegnet Ibiki ernst. „Ich finde, wenn man täglich sein Leben riskiert, hat man das Recht, den Grund dafür zu kennen.“ Genma grinst ihn an, einen Grashalm zwischen den Zähnen. „Mit der Einstellung hättest du Seefahrer oder Bergmann werden können, aber nicht Shinobi.“ „Nicht so laut“, murmelt Tokara und nickt zu Hayate hinüber. „Der Kleine ist eingeschlafen.“ Alle sehen Hayate an, der sich mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt hat, fest in seine Decke eingewickelt. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken. „Ist ja auch längst Schlafenszeit für kleine Jungs.“ „Wie niedlich.“ „Jetzt verarscht ihn nicht immer, weil er so jung ist“, tadelt Genma. „Nehmt euch lieber ein Beispiel an ihm. In seinem Alter war ich nicht so ein Wunderkind.“ „Du bist immer noch kein Wunderkind, Genma“, stichelt Ebisu. „Man tut, was man kann, okay?“ Gai wirft einen Stock ins Feuer und grinst in die Runde. „Ich freue mich riesig darauf, morgen wieder nach Konoha zu kommen. Was macht ihr als Erstes?“ „Ich werde ein Bad nehmen“, seufzt Tokara. „Wieder warm und sauber sein, das wird schön.“ „Ich will was Anständiges essen“, sagt Ebisu. „Zum Beispiel?“ „Krabben.“ Genma nickt. „Find ich gut. Lass uns zusammen essen gehen, wenn wir wieder da sind.“ „Damit du mir alles wegfrisst?“ „Tu ich ja gar nicht.“ „Tust du wohl.“ „Und was wirst du als Erstes tun, Ibiki?“ „Dasselbe wie immer. Mich von meiner Schwester umarmen lassen und mir das Gefühl abholen, dass jemand mich vermisst hat.“ „Ist ein gutes Gefühl“, stimmt Gai ihm zu. „Das Beste“, sagt Genma. „Ich weiß nicht.“ Ebisu zuckt die Achseln. „Es gibt anderes.“ „Zum Beispiel?“ „Och ... weiß nicht.“ „Jetzt sag auch.“ „Hat bestimmt was mit Mädchen zu tun.“ Sie lachen. „Hat es nicht“, sagt Ebisu missmutig und errötet. „Und er da freut sich sicher auf sein Bett“, sagt Genma und deutet auf den schlafenden Hayate. „Bestimmt.“ Alle hängen ihren Gedanken nach, bis Ebisu aufsteht und sich streckt. „Ich gehe schlafen. Wer ist mit der ersten Nachtwache dran?“ „Ich“, sagt Tokara. „Das ist die letzte Nacht, in der wir in Schichten schlafen müssen“, seufzt Gai mit einem Blick auf Hayate. „Nicht nur der Kleine freut sich auf sein Bett.“ „Genma!“, ruft Ebisu und starrt in seinen Rucksack. „Was?“, fragt Genma scheinheilig. „Hast du Tausendfüßler in meinen Schlafsack getan?“ „Was für Tausendfüßler?“ „Verarsch mich nicht!“, faucht Ebisu, zieht den zerknüllten Schlafsack hervor und versucht, die kleinen Krabbeltiere heraus zu schütteln. Die anderen lachen. „Unser Genma ist biologisch nicht so bewandert“, sagt Gai. „Erklär ihm erst einmal, was ein Tausendfüßler ist.“ „Wenn er es nicht war, war es Ibiki!“ „Ich bitte dich“, sagt Ibiki süffisant. „Warum sollte ich mir die Mühe machen, die Viecher einzeln einzusammeln? Ich hätte ein Genjutsu benutzt. Und ich hätte mutierte Riesenskorpione genommen.“ Ebisu knurrt irgendetwas und schnippt einen Tausendfüßler auf Genma, der hastig versucht, ihn aus seinen Haaren zu schütteln. Sie müssen noch mehr lachen. „Das ist nicht witzig“, sagt Genma streng, kann sein Grinsen aber kaum unterdrücken. „Seid nicht so laut, ihr weckt den Kleinen. Im Übrigen sollten wir alle langsam schlafen gehen. Tokara, du weckst mich um eins, wie immer. Morgen geht es auf nach Konoha.“ Sie kramen ihre Decken aus den Rucksäcken und machen es sich nahe dem Feuer bequem, soweit das auf dem Waldboden eben möglich ist. Ibiki liegt noch eine ganze Weile wach und betrachtet Tokaras dunkle Silhouette gegen den Sternenhimmel. Morgen um diese Zeit wird er zurück in Konoha sein. Er will Ima wiedersehen, aber gleichzeitig hat er Angst davor, dass sie sich verändert hat. Jedes Mal, wenn er von einer Mission zurückkommt, hatte er das Gefühl, dass ein bisschen mehr von ihrer Persönlichkeit weggebrochen ist. Er weiß nicht, was er dagegen tun soll. Man kann nur hoffen, dass bald Frieden ist, denkt Ibiki und schließt die Augen. Dann wird sicher alles gut. Am nächsten Morgen ist Hayate der Munterste von ihnen und deswegen derjenige, der das Tempo angibt. „Jetzt kommt schon! Wir wollen doch alle nach Hause.“ „Der Junge ist so ein Energiebündel“, stöhnt Tokara. „Die Kraft der Jugend!“, sagt Gai enthusiastisch und ballt die Faust. „Weiter so, Hayate!“ „Allerdings, die Jugend.“ „Damals, als ich noch jung war ...“ „Jetzt spiel hier nicht den alten Mann, Genma.“ „Ich bin alt.“ Sie folgen einem Waldweg, der sich zwischen den Bäumen hindurch windet, Hayate immer ein paar Schritte voraus. Sich durch die Bäume fortzubewegen ist schneller und unauffälliger, verbraucht aber auch viel Energie. Und so nahe an Konoha müssen sie keine Angst mehr haben, mit feindlichen Shinobi konfrontiert zu werden. Theoretisch wissen sie, dass sie in Sicherheit sind. Ibiki beobachtet die anderen unauffällig und stellt fest, dass sich trotzdem niemand dementsprechend benimmt. Gais Augen halten keine Sekunde lang still, huschen hin und her, als würde er auf jedem Ast einen feindlichen Shinobi erwarten. Genma lässt das Senbon, das sein Markenzeichen ist, zwischen den Lippen auf und ab wippen. Tokara zuckt bei jedem Blätterrascheln, jedem Vogelruf zusammen. „Es ist schwer, nach Hause zu kommen.“ Ibiki bemerkt erst, dass er es laut gesagt hat, als die anderen ihn fragend ansehen. „Was meinst du?“, fragt Ebisu. „Die Eingewöhnung. Der Alltag zu Hause.“ „Stimmt“, sagt Genma. „Dauert immer ein paar Tage, bis sich alles wieder eingependelt hat.“ „Immer, wenn ich nach Hause komme“, berichtet Ebisu, „sitze ich am ersten Abend mit meiner Familie beim Abendessen und frage, wer die Nachtwache übernimmt. Jedes Mal. Und dann lachen immer alle.“ Sie lachen ebenfalls, aber es klingt eher mitfühlend als spöttisch. „Ist mir auch schon so ähnlich passiert“, gesteht Tokara. „Ich wache manchmal nachts auf und erschrecke mich halb zu Tode, weil niemand Wache hält.“ „Komisch“, sagt Gai und zuckt die Achseln. „Das Problem habe ich nie. Wenn ich zu Hause bin, bin ich zu Hause.“ „Du denkst eben nur nach vorn“, spottet Genma. „Dafür erkennst du deine eigene Mutter nicht wieder, sobald du ein paar Wochen aus Konoha weg warst.“ Erneut müssen sie lachen, während Gai protestiert. „Gar nicht wahr! Ich erkenne doch meine Mutter!“ „Aber deine Nachbarin nicht.“ „Na ja, stimmt, aber mit der rede ich auch kaum ...“ „Sie hat ständig auf dich aufgepasst, als du klein warst!“ „Das ist ewig her, okay?“ „Du hast der alten Dame fast das Herz gebrochen, als du ...“ „He! Hört mal!“ Hayates Ruf lässt alle verstummen und nach vorn sehen. Der Wald hat sich mittlerweile gelichtet, sie müssen schon sehr nah an Konoha sein. Ohne, dass sie es gemerkt haben, ist Hayate ihnen weit voraus gelaufen. Etwa dreißig Meter entfernt auf dem Weg stehen zwei Shinobi Konohas in blau-grünen Uniformen, die Arme verschränkt, entspannt. Selbst auf die Entfernung glaubt Ibiki, sie lachen zu sehen. Hayate kommt zu ihnen zurück gerannt, so schnell, dass das etwas zu große Katana auf seinem schmalen Rücken unkontrolliert hin und her schwingt. „Was ist denn passiert?“, ruft Genma ihm entgegen. „Es ist Frieden!“ „Was hat er gesagt?“, fragt Tokara verwirrt. Hayate kommt näher, bleibt vor ihnen stehen und stützt außer Atem die Hände auf den knochigen Knien ab. „Die beiden Chuunin da haben gesagt, dass Iwa, Konoha und Suna einen Friedensvertrag unterschrieben haben. Heute morgen erst!“ „Ein Friedensvertrag?“, fragt Genma stirnrunzelnd. „Bist du sicher?“ „Natürlich bin ich sicher! Und mit den anderen Dörfern ist sowieso Waffenstillstand, und ...“ Hayate schnappt nach Luft, das Gesicht gerötet. „Und es gibt ein Fest! In zwei Wochen wahrscheinlich. Der Hokage hat gesagt, es gibt ein Feuerwerk und ... und ...“ Er findet keine Worte mehr und lächelt stattdessen in die Runde, strahlend und überglücklich. „Ach du meine Güte“, ist alles, was Genma einfällt. Unschlüssig sehen sie einander an, ein Grüppchen bewaffneter Kinder. Als der Krieg ausgebrochen ist, war keiner von ihnen älter als zwölf, Hayate war erst sechs. Sie können sich kaum noch daran erinnern, wie Frieden ist. Alle spüren die Ratlosigkeit der anderen. „Aber ein Fest“, sagt Ebisu und sieht fragend in die Runde, „das klingt jedenfalls gut.“ In Ibikis Kopf drehen sich die Gedanken im Kreis, aber alle kreisen um eine Tatsache: Wenn irgendetwas Ima helfen kann, dann ist es Frieden. Kapitel 18: Frieden ------------------- Das Friedensfest ist in vollem Gange. Überall sind bunte Buden aufgebaut, Lampions leuchten in den Bäumen. Ein Feuerschlucker jongliert mit brennenden Fackeln, und obwohl die Einwohner Konohas nach dem vergangenen Krieg nichts mehr für solche Spielereien übrig haben sollten, wird dem Mann bereitwillig applaudiert. Vater wird bald von ein paar Jounin angesprochen, die an einer Bar etwas trinken, darunter Inoichi, Shikaku und Chouza. „Ich bleibe hier, falls ihr mich sucht. Wenn das Feuerwerk anfängt, seid ihr bitte wieder da, ja?“ „Okay!“, ruft Ima und greift nach Ibikis Hand. „Komm, wir gehen!“ Ihre Augen leuchten vor Freude, genau wie früher. In den letzten zwei Jahren hat Ibiki seine Schwester nur in Kampfausrüstung gesehen. Mit dem leichten Yukata, den Sandalen und den rosa Seidenblumen im Haar wirkt sie wie ein anderes Mädchen, ein jüngeres, fröhlicheres, unschuldiges. Der Yukata hat Blumenmotive an Saum und Ärmeln, sie hat ihn selbst ausgesucht, Vater hat ihn ihr für das Fest geschenkt. Er hat auch Ibiki neu eingekleidet, aber Ibiki hat seine Freude nur gespielt und dafür gesorgt, dass Vater es gemerkt hat. „Woran denkst du?“ Er schreckt auf, blickt in Imas lachendes Gesicht und muss ebenfalls lachen. Um sie herum sind überall Menschen, eine Flötenmelodie erklingt aus einiger Entfernung, jemand singt. Es ist ein lauer Abend. Zur Feier des Tages haben sie das Hokagedenkmal angestrahlt, und jetzt leuchten die Köpfe über die Menge hinweg. Der unebene Stein wirft scharfe Schatten auf ihre Gesichter. In all dem Gedränge kommen ihnen Fubuki und Kozue entgegen, und Ima begrüßt die beiden stürmisch. „Seid ihr schon lange hier?“ „Seit heute Mittag.“ „Wir wollen da hinten hin, wo man Fische fangen kann!“ „Ich gehe mit!“, ruft Ima und sieht Ibiki an. „Du auch?“ „Nein danke“, erwidert er und lächelt. „Amüsiert ihr euch mal schön. Wir sehen uns beim Feuerwerk.“ „Na gut, wenn du meinst.“ „Komm schon, Ima!“, ruft Kozue. „Ich komme ja!“, schreit Ima, rennt ihnen hinterher und verliert beinahe ihre Sandalen. Ibiki sieht ihnen nach und fragt sich, wieso der Anblick ihn so berührt, einfach nur drei Mädchen, die kichern und ihren Spaß haben. Dann fällt ihm auf, dass keine der drei älter ist als zwölf, und dass alle drei vor ein paar Wochen noch auf Schlachtfeldern um ihr Leben gekämpft haben. Er hat schon lange keine Kinder mehr gesehen, die Kinder sein durften. Vielleicht ist es mit zwölf noch nicht zu spät dafür, denkt er lächelnd und wendet sich ab. Er fühlt sich wie ein alter Mann. „Hey, Ibiki!“ Asumas dröhnende Stimme erklingt rechts von ihm, im Gegensatz zu Ibiki hat er seinen Stimmbruch schon hinter sich. Er und mehrere alte Bekannte von Gais Dach sitzen unter einem Baum, wo drei Bänke in einem Dreieck aufgestellt sind. Sie essen Frittiertes aus Pappschalen, trinken und lachen. „Guten Abend“, sagt Ibiki grinsend, tritt zu ihnen und quetscht sich neben Gai. „Wie läuft es hier?“ „Großartig!“, sagt Gai und klopft ihn überschwänglich auf die Schulter. „Hier, willst du? Ich hatte schon zu viele von denen.“ Er drückt Ibiki irgendwelche Klöße in einer Serviette in die Hand. Ibiki nimmt dankend an, schiebt sich einen in den Mund und lässt den Blick schweifen. „Asuma hat schon ordentlich einen im Tee, wie ich sehe.“ „Nichts als Ärger macht ihr!“, beschwert sich Genma. „Ich hatte gesagt, keiner bringt Alkohol mit. Ihr vertragt doch alle nichts, und dann ist die Party so schnell vorbei.“ „Keiner hat dich gebeten, die Mama zu spielen, Genma!“, ruft einer der beiden verstrubbelten Jungen, die es nur im Doppelpack gibt und von denen Ibiki sich nie merken kann, welcher Izumo und welcher Kotetsu ist. „Nur, weil du mit deinen sechzehn Jahren der Älteste bist, musst du noch lange nicht auf uns aufpassen!“ Genma gibt beiden einen Klaps auf den Hinterkopf und kümmert sich nicht weiter um sie. „Ebisu. Lass mich auch nochmal beißen.“ „Du frisst mir alles weg!“ „Komm schon. Unter Kollegen.“ „Ibiki!“, sagt Gai und boxt ihm auf den Arm. „Darf ich dir meinen ewigen Rivalen Kakashi vorstellen?“ Er deutet auf einen schläfrig wirkenden Jungen, der nickt und sich zum Gruß mit zwei Fingern an die Stirn tippt. „Das mit den Rivalen war Gais Idee“, erklärt er, leicht gedämpft durch die Maske vor seinem Gesicht. Sein Stirnband ist schräg herunter gerutscht und verdeckt das linke Auge. „Und das hier ist Morino Ibiki. Ein ehemaliger Klassenkamerad.“ „Du bist also Sharingan Kakashi“, sagt Ibiki. „Das Genie.“ Kakashi hebt die Augenbraue über seinem einen sichtbaren Auge. „Du hast von mir gehört?“ „Mein Vater erzählt öfters von dir.“ Ibiki grinst ihn an. „Er hätte wohl lieber einen Sohn wie dich an meiner Stelle.“ Kakashi schweigt einen Moment lang. „Und ich hätte lieber einen Vater wie deinen“, sagt er dann langsam, „als gar keinen.“ „Das glaube ich nicht“, erwidert Ibiki unverändert freundlich. Offenbar bemerkt Gai, dass irgendwann jemand etwas Falsches gesagt haben muss, denn er wechselt schnell das Thema. „Kommst du gleich mit, Ibiki? Wir werden uns in einer halben Stunde auf den Weg machen und uns schon einmal einen strategisch günstigen Standort sichern. Du weißt schon, damit wir das Feuerwerk später gut sehen können!“ „Nein, danke“, erwidert Ibiki. „Ich habe jemand anderem versprochen, dass wir es uns zusammen ansehen.“ „Jemand anderem?“, mischt Asuma sich ein und grinst Ibiki breit an. „Weiblichen Geschlechts?“ „Allerdings.“ „Bist ja ein richtiger Schwerenöter, Ibiki!“, ruft Mizuki. „Tja, Mizuki, Ladys stehen auf die bösen Jungs.“ „Jetzt spann uns nicht auf die Folter!“, sagt Gai gespannt. „Wer ist es?“ „Meine kleine Schwester.“ „Schlitzohr“, sagt Asuma und boxt ihm auf den Arm. Gai und Kakashi fangen an zu lachen. Niemand verliert mehr ein Wort mehr über die Vater-Angelegenheit, und Ibiki ist es recht so. Eine Stunde vor dem angekündigten Beginn des Feuerwerks brechen sie auf, und Ibiki verabschiedet sich von den anderen. Noch immer ist das Fest in vollem Gange, überall drängen sich Leute. Selbst die kleinen Kinder sind bisher nicht müde geworden und rennen mit ihren neuen Spielzeugen auf der Straße herum. Besonders beliebt sind Luftballons und bunte Windrädchen, und der Anblick macht Ibiki sentimental. Im ersten Moment erklärt er es damit, dass es bis vor kurzem nur Kriegsspielzeug für die Kinder gab. Dann muss er an das Windrädchen denken, das Vater vor langer Zeit für Ima gekauft hat. Sein Angebot, Ibiki auch irgendetwas zu kaufen, hat Ibiki bis heute nicht in Anspruch genommen. Die Bar, vor der sie sich treffen wollen, liegt am Ende der Hauptstraße. Es ist nicht weit, aber mit all den Menschen kommt man kaum vorwärts. Ibiki hat keine Eile, schlängelt sich ruhig durch die Menge und lässt den Blick schweifen. Ein Mädchen fällt ihm auf, das zusammengekauert auf der Treppe vor einem Hauseingang sitzt. Es trägt den gleichen Yukata wie Ima. Moment. „Ima?“ Das Mädchen reagiert nicht. Es hat die Sandalen neben sich abgestellt und den Kopf in den Händen vergraben. Ihre Schultern zittern vor Schluchzen, aber in dem allgemeinen Durcheinander beachtet sie niemand. „Ima!“, ruft Ibiki lauter und drängt sich zu ihr durch. „Was hast du denn?“ Erst, als sie den Blick hebt, ist er sich ganz sicher, dass sie es ist. Ihre Frisur ist aufgelöst, die Seidenblumen darin zerrupft. Dunkle Haarsträhnen hängen ihr ins Gesicht, über die verweinten Augen. „Ibiki. Ich habe alles kaputt gemacht.“ „Was denn?“ „Alles!“, heult sie, beugt sich vor und legt die Stirn auf die verschränkten Arme. Besorgt setzt Ibiki sich neben sie. „Was ist passiert, Ima?“ Sie schnieft mehrmals, richtet sich auf und deutet auf ihren Yukata. „Siehst du das nicht?“ „Was?“ „Ich hab ihn dreckig gemacht! Jetzt kann ich ihn nie wieder anziehen!“ Erst jetzt bemerkt Ibiki die bräunlichen Flecken an ihrem Ausschnitt. Anscheinend ist ihr das Essen auf dem Weg zum Mund herunter gefallen. Er muss lachen. „Aber das kann man doch waschen, Ima.“ „Er war so schön, und ich hab ihn kaputt gemacht!“, jammert Ima. „Er war so schön!“ Ibiki steht auf. „Komm, wir gehen zu Vater. Es wird alles gut, Ima. Wir wollen doch das Feuerwerk sehen, oder?“ „Ich kann nicht laufen. Die Sandalen drücken.“ Er hebt die Sandalen auf. „Dann trage ich dich, kleine Schwester. Komm.“ Unsicher sieht sie ihn an. „Auf dem Arm?“ „Auf dem Rücken“, erklärt er und geht vor ihr in die Hocke. „Steig auf.“ Gegen ihren Willen muss sie kichern. Schwankend kommt sie auf die Beine und schlingt die Arme von hinten um Ibikis Hals, dünne, weiche Arme in den weiten Ärmeln des Yukata. Ibiki steht auf und macht sich langsam auf den Weg, während Ima an seinem Ohr schnieft. „Bin ich nicht zu schwer?“ „Leicht wie eine Feder bist du“, lügt er und fragt sich, wann er endlich den Wachstumsschub bekommt, der ihm wie jedem pubertierenden Jungen von Natur aus zusteht. Ima lacht nicht, legt das Kinn auf seine Schulter und betrachtet mit trüben Augen den Boden. „Das wird wieder, Ima“, sagt Ibiki beruhigend. „Du bist nur ein bisschen müde, heute war ein aufregender Tag. Morgen ist alles wieder gut.“ „Ich will nach Hause.“ „Kommst du ja, nach dem Feuerwerk.“ „Ich will das Feuerwerk nicht sehen. Mein Kopf tut weh.“ Der Geruch von Alkohol steigt Ibiki in die Nase, und er runzelt die Stirn. „Hast du getrunken, Ima?“, fragt er streng. „Aber nicht so viel wie Fubuki“, erwidert sie trotzig. „Dafür bist du viel zu jung!“ „Fubuki und Kozue auch.“ „Und wo sind die beiden?“ „Nach Hause gegangen. Fubuki war schlecht.“ Fassungslos schüttelt Ibiki den Kopf. „Welcher Mensch dreht drei jungen Mädchen wie euch denn Alkohol an, verdammt?“ „Sie haben gesehen, dass wir Kunoichis sind. Da haben sie gedacht, es gelten andere Regeln.“ „Immer noch kein Grund“, knurrt Ibiki und drängt sich durch die immer dichter werdende Menschenmenge. „Ich hab Kopfschmerzen“, jammert Ima. „Geschieht dir recht.“ „Ich will nach Hause, Ibiki.“ „Vater wartet auf uns.“ „Soll er doch warten“, sagt Ima beleidigt und stößt mit dem Kopf gegen seine Schulter. Ibiki zögert und bleibt stehen, mitten auf der Straße. „Also gut. Wenn du nach Hause möchtest, gehen wir. Er wird es schon verstehen.“ „Echt?“ „Klar.“ „Du bist mein liebster Bruder, Ibiki.“ Ima drückt ihm einen ungeschickten Kuss auf die Wange, direkt auf die Narbe. „Das weißt du doch, oder?“ Er muss lächeln. „Ich bin vor allem dein einziger Bruder, Schwesterherz.“ „Aber trotzdem mein allerliebster“, sagt sie ernst. Dann fängt sie wieder an zu weinen. „Du bist unerträglich, wenn du betrunken bist“, brummt Ibiki und zieht ihre hochgerutschten Ärmel wieder zurecht, damit sie nicht friert. Den ganzen Heimweg über schluchzt Ima in sich hinein, und er denkt darüber nach, dass sie trotz allem eben noch ein Kind ist. In einem Krieg gekämpft zu haben, bedeutet nicht, erwachsen zu sein. Vielleicht brauchen sie und alle anderen ein bisschen Zeit, um sich wieder an diesen Gedanken zu gewöhnen. Ein paar Kinder laufen lachend an ihm vorbei. Sie tragen Windrädchen statt Spielzeugwaffen. Als das Feuerwerk losgeht, ist Ima längst eingeschlafen. Ibiki sitzt neben ihrem Bett und sollte selbst schlafen gehen, aber er ist zu müde, um aufzustehen. Von weit weg hört er das Knallen der Raketen, manchmal ein zufriedenes Raunen der Menge. Die Vorhänge sind fast geschlossen, nur ein Streifen auf der Tapete flackert in gelb, rot und grün. Vater sieht sich das Feuerwerk an, denkt Ibiki, und Inoichi und Gai und all die anderen. Sie haben sicher großen Spaß. Träge dreht er den Kopf und betrachtet Imas schlafendes Gesicht. Er bereut nichts. Kapitel 19: Lachen ------------------ „Guten Morgen, Vater.“ Vater hebt den Blick von seiner Zeitung. „Guten Morgen, Ibiki. Ich habe euch zwei gestern vermisst. Habt ihr uns etwa nicht gefunden? Wir haben immer noch an der Bar gesessen, wo wir uns verabschiedet hatten.“ „Ima wollte nach Hause“, erklärt Ibiki und setzt sich an den Frühstückstisch. „Es ging ihr nicht gut.“ „Nicht gut? Warum nicht?“ „Kopfschmerzen.“ Vater sieht ihn an, als warte er auf eine nähere Erklärung, aber Ibiki wird ihm sicher nichts von dem Alkohol sagen. „Wie schade. Ihr habt das Feuerwerk verpasst. Es war wirklich einmalig.“ „Um Feuerwerke zu sehen, haben wir bestimmt noch genug Gelegenheiten“, erwidert Ibiki, ohne ihn anzusehen. Damit ist das Thema erledigt. Ima verschläft das Frühstück, und sie schleichen an der Tür zu ihrem Zimmer vorbei, um sie nicht zu wecken. Erst zum Mittagessen taucht sie auf, still und mit kleinen Augen. Dieses Benehmen sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, aber weder Vater noch Ibiki verlieren ein Wort darüber. Zum Mittagessen gibt es Reis mit Gemüse, nichts Aufwendiges, aber es sind Bohnen dabei. Ima liebt Bohnen, und Ibiki ist sicher, dass das sie ein wenig aufmuntern wird. Zu dritt setzen sie sich um den Tisch, ohne viele Worte zu verlieren. Sie beginnen zu essen, aber Ima sitzt nur da, die Hände im Schoß. Nach ein paar Minuten spricht Ibiki sie an. „Was ist los? Ist dir nicht gut?“ „Ich esse das nicht“, sagt Ima, den Blick ausdruckslos nach vorne gerichtet. Vater runzelt die Stirn, kaut und schluckt. „Was hast du gesagt?“ „Du hast es schon verstanden.“ Sehr langsam lässt Vater seine Stäbchen sinken. „Du isst, was auf den Tisch kommt, Ima.“ „Du hast mir nichts zu befehlen“, erwidert Ima und reckt das Kinn. „Oh doch, das habe ich. Du bist meine Tochter.“ „Na und?“ Vater knirscht mit den Zähnen, aber während Ibiki instinktiv in Deckung geht, scheint es Ima völlig egal zu sein. Sie sieht weiter nach vorn, durch das Fenster nach draußen in den blauen Himmel. „Du hast mir nichts zu befehlen. Ich bin im Krieg gewesen. Ich habe Menschen getötet. Ich habe einem Mann die Kehle aufgeschlitzt, dass sein Kopf fast ab war. Glaubst du, ich hätte Angst vor dir?“ Vater starrt sie an. „Ima“, sagt Ibiki leise. „Halt den Mund und iss.“ Sie dreht ihm den Kopf zu, und in ihren sonst so sanften Augen blitzt der blanke Hohn. „Von dir lasse ich mir erst recht nichts sagen!“ „Sei still!“, herrscht er sie an und schlägt auf den Tisch. „Du hast genug geschlafen, es ist Frieden, und jetzt kannst du anfangen, wieder normal zu sein! Je früher, desto besser!“ „Wie macht man das?“, fragt Ima herausfordernd. „Normal sein?“ Die Frage bringt Ibiki aus der Fassung. „Na ... normal sein! Morgens aufstehen und dein Essen essen und deinen Job machen, und abends wieder ins Bett gehen! Normal eben!“ „Das habe ich im Krieg auch gemacht. Aufstehen und ins Bett gehen.“ „Wir sind aber nicht mehr im verdammten Krieg, Ima! Hör auf, davon zu reden, wie du ihm die Kehle aufgeschlitzt hast! Vergiss es und sei normal!“ „Vergessen?“, kreischt sie. „Ich soll es vergessen?“ „Ima!“, ruft Vater dazwischen. „Beruhige dich!“ „Als der Krieg angefangen hat, war ich acht! Acht! Ich kann mich kaum noch an eine Zeit erinnern, wo Frieden war! Ich weiß nicht, wie Frieden geht! Und da bist du und, und siehst mich an mit dieser Narbe im Gesicht, von damals, und ... und ... glaubst du, ich kann es vergessen? Du kannst es doch selbst nicht vergessen, Ibiki! Du bist so ein Idiot!“ Sie greift nach ihrem Teller und wirft ihn Ibiki ins Gesicht. Reflexartig hebt er die Arme, um zumindest den Teller selbst abzuwehren, aber der Reis landet auf seiner Brust und rutscht ihm in den Kragen. Ima springt auf und rennt hinaus. „Ima!“, ruft Vater noch einmal und sinkt dann in sich zusammen wie ein alter Mann. „Ima. Bleib hier.“ Er sieht Ibiki Hilfe suchend an, aber Ibiki starrt ins Leere. Mechanisch schüttelt er den Reis aus seinem T-shirt, auf den Tisch und den Boden. Der Teller ist seinem Schoß gelandet. „Ich wische das auf. Ist schon okay.“ „Was war das?“, fragt Vater mit einer Angst, die Ibiki völlig neu ist. In seiner Gegenwart hat Vater noch nie Angst gezeigt. Ibiki nimmt es zur Kenntnis, beantwortet die Frage nicht und steht auf, um den Handfeger zu holen. Vater beendet sein Essen und flieht, anders kann man seinen überstürzten Aufbruch zu einer angeblichen Dienstbesprechung nicht nennen. Während Ibiki den Reis aufwischt, überlegt er, wieso Vater nicht geblieben ist, um seine Prinzessin zur Vernunft zu bringen. Vermutlich ist er überfordert, sobald Ima nicht mehr der pflegeleichte Sonnenschein von früher ist. Aber ist sie das etwa nicht mehr? Sie wird es wieder werden, da ist Ibiki sich sicher. Etwas so Gutes, Starkes wie Ima geht nicht einfach kaputt. Nachdem er die Küche vom größten Chaos befreit hat, schleicht er sich zu Imas Zimmertür und lauscht. Zu seiner Bestürzung hört er ein leises Schluchzen von drinnen. „Ima?“ Er will die Tür öffnen, aber sie wird von innen zugehalten. „Komm nicht rein“, erklingt Imas zittrige Stimme. „Ich will nicht, dass du mich siehst.“ „Aber warum denn nicht?“ „Ich bin hässlich, wenn ich weine.“ „Das ist mir egal.“ „Mir aber nicht. Geh weg.“ „Warum weinst du, kleine Schwester?“ „Nenn mich nicht so!“, ruft Ima und schluchzt auf. „Wie denn?“ Sie versucht, zu antworten, aber vor Weinen bringt sie kein Wort mehr hervor. Gut, dass es Tag ist, sonst müsste Ibiki vielleicht mit ihr weinen. So hockt er sich nur vor die Tür und legt eine Hand darauf, als könnte Ima es fühlen. „Soll ich dich nicht kleine Schwester nennen?“, fragt er leise. „Aber das bist du, Ima. Und ich bin dein Bruder.“ „Ich ... hätte ...“, würgt sie hervor. „Es tut mir ... leid, dass ich dich beworfen habe. Und dass ich dich einen Idiot genannt habe. Und ... alles.“ „Ist schon in Ordnung.“ „Warum? Warum ist es in Ordnung? Du bist so lieb zu mir, Ibiki, und ich ... ich ...“ Sie heult auf. „Du machst eine schwere Zeit durch“, murmelt Ibiki. „Ich kenne das. Aber es wird besser werden, Ima. Mit der Zeit wird sich alles wieder einrenken. Du wirst von allein merken, wie man normal ist. Du wirst es lernen.“ „Bist du ... sicher?“ „Ganz sicher. Ich habe es auch gelernt, weißt du nicht mehr? Nachdem das mit der Narbe passiert ist. Man lernt es.“ Sie schnieft und sagt nichts. „Machst du die Tür auf?“, fragt Ibiki. „Warum?“ „Weil ich dir etwas zeigen möchte.“ „Du willst mich zum Lachen bringen“, sagt Ima mit belegter Stimme. „Mit deinen Genjutsus. Aber ich will nicht lachen. Nicht jetzt.“ Er kann sie nicht sehen, aber er weiß ziemlich genau, wo sie ist. Behutsam schließt er ein paar Siegel mit den Händen. „Ima. Schau mal.“ „Lass das“, murmelt sie, schweigt kurz und seufzt dann. „Ein Schmetterling, Ibiki?“ „Für dich.“ „Er ist riesig. Und seine Flügel schillern ... rot und blau. Meine Lieblingsfarben.“ „Ich weiß.“ Er hört sie lachen, ein sehr schwaches Lachen gegen ihren Willen, aber immerhin eines. „Du kannst so schöne Illusionen machen, Ibiki. Vögel und Schmetterlinge und Farben.“ „Für dich doch immer.“ „Dabei bist du kein kleiner Junge mehr. Als ob es keine nützlicheren Methoden gäbe, Genjutsus einzusetzen.“ „Nützlicher, als dich zum Lachen zu bringen? Was könnte denn noch nützlicher sein?“ Sie lacht, als sei das ein Scherz gewesen, dabei war es Ibikis voller Ernst. Kapitel 20: Würde ----------------- „Mir ist langweilig“, stöhnt Tokara. „Sag mir was, was ich noch nicht weiß“, erwidert Ibiki. „Kommt, Leute!“ Gai springt aus dem Gras auf. „Laufen wir ein paar Runden um den Platz, um uns fit zu halten!“ „Wozu denn das? Es ist Frieden. Übersetzt bedeutet das Langeweile.“ „Ein Shinobi muss sich in jeder politischen Situation fit halten!“ Niemand achtet auf ihn, die anderen jungen Genin und Chuunin bleiben im Gras liegen. Über ihnen ist der Himmel blau, kleine weiße Wolken ziehen vorbei. Der Herbst lässt sich noch Zeit, und der Spätsommer ist wunderschön. „Ihr seid hoffnungslose Fälle.“ Theatralisch seufzend sieht Gai hinüber zum Trainingsplatz. „Nehmt euch lieber ein Beispiel an Hayate! Der ist unermüdlich dabei, sich zu verbessern.“ „Ausgerechnet“, brummt Asuma. „Sollte sich besser ein wenig zurücknehmen, wenn ich mir seinen Gesundheitszustand so ansehe.“ „Er passt schon auf sich auf“, erwidert Genma, der träge auf einem Grashalm kaut. „Der Junge ist ein Wunder, ich sag es dir.“ Ibiki blinzelt und folgt mit den Augen einem Schmetterling, der näher flattert und sich gleich neben ihm im Gras niederlässt. Langsam hebt er die Hand, wartet auf den richtigen Moment und lässt sie auf das Tier heruntersausen. Er spürt die dünnen, staubigen Flügel unter seinen Fingern. „Was machst du da?“, fragt Mizuki, ohne hinzusehen. Ibiki antwortet nicht, hebt die Hand und betrachtet den zerquetschten Schmetterling. Seine Beine zucken noch. „Warum hast du das gemacht?“ Er hebt den Kopf. Hayate steht vor ihm, das Katana in den Händen, die Stirn gerunzelt. „Weil ich kann“, erwidert Ibiki, setzt sich auf und zieht ein Kunai aus der Tasche. „Und was soll das jetzt werden?“ „Experimente.“ Er betrachtet die zuckenden Beine des Schmetterlings und lässt die Klinge über seinem Leib schweben. „Lass das!“, sagt Hayate laut. „Sofort!“ „Misch dich nicht in meine Angelegenheiten, Kurzer.“ „Ich meine es ernst! Lass ihn in Ruhe!“ „Warum?“, fragt Ibiki und hat wieder dieses Gefühl, als würde er schweben. „Das ist genau wie damals, bei der Mission mit dem Abtrünnigen. Da bist du auch schon ausgetickt.“ Mizuki und Tokara tauschen stumm einen Blick und sehen wieder weg. „Shikaku war stinksauer danach. Du bist ein Sadist, hat er gesagt, und eigentlich kann man solche Leute als Shinobi gar nicht gebrauchen. Weil die ihre Triebe nicht unter Kontrolle haben. Und weil die nie wissen, wann genug ist.“ „Ich habe mich voll und ganz unter Kontrolle“, sagt Ibiki ernst und köpft den Schmetterling. Hayates Augen blitzen. Er holt mit dem Schwert aus, und Ibiki springt auf, das Kunai weiterhin in der Hand. Er blockt Hayates Schlag ab und schleudert in derselben Bewegung ein zweites Kunai in seine Richtung. Hayate muss ausweichen, verliert das Gleichgewicht und fällt zu Boden. Im letzten Moment kann Ibiki den Fuß wegziehen, bevor die Klinge des Schwertes sich in den Rasen gräbt. „Was macht ihr denn?“ „Ihr habt da scharfe Waffen, verdammt!“ „Aufhören! Sofort!“ Jemand packt Ibiki am Arm, reißt ihn herum und hält seine Handgelenke fest. Er sieht direkt in Genmas wütendes Gesicht. „Ihr seid Shinobi, verdammt nochmal! Eure Fähigkeiten sind nicht dazu da, um euch zu prügeln! Schämt ihr euch nicht?“ „Entschuldigung“, murmelt Hayate und rappelt sich auf. Ibiki erwidert Genmas Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich warte noch auf deine Entschuldigung, Ibiki“, knurrt Genma und stößt ihn weg. „Du bist vierzehn. Du solltest dich schämen, dich mit einem Neunjährigen anzulegen.“ „Ich bin schon zehn“, nuschelt Hayate. „Wenn jemand mich mit einer Waffe angreift, verteidige ich mich“, erwidert Ibiki, der vor Entrüstung über Genmas Eingreifen am ganzen Körper zittert. „Und dabei ist es mir scheißegal, ob der andere alt oder jung ist oder nur ein Bein hat.“ Ungeduldig verdreht Genma die Augen. „Bei Hokages Bart, du hättest Hayate umbringen können. Er ist doch noch ein Kind.“ „Im Krieg gibt es keine Kinder.“ „Jetzt komm mir nicht auf die Tour, Morino Ibiki. Der Krieg ist vorbei, du bist am Leben, und du hast nicht mehr zurückbehalten als eine Narbe. Andere sind draufgegangen. Du bist noch fein raus, also hör gefälligst auf zu heulen. Selbstmitleid passt nicht zu dir.“ „Lass mich in Ruhe!“, blafft Ibiki ihn an. „Was gibt dir das Recht, dich in meine Angelegenheiten einzumischen?“ Genma wird nicht laut, aber seine Ruhe wirkt zunehmend erzwungen. „Wenn ich einen anderen Konoha-Shinobi in Lebensgefahr sehe, greife ich ein. Das gibt mir das Recht.“ „Leute!“, ruft Gai, der näher gekommen ist und verstört zwischen ihnen hin und her sieht. „Könntet ihr die Sache hier beenden, bevor ihr euch zerfleischt? Bitte?“ Ibiki atmet schwer. Genma reißt sich das Kopftuch herunter, fährt sich durch die Haare und sieht konsequent in eine andere Richtung. „Tut mir leid!“, spuckt Ibiki in Hayates Richtung. „Schon okay“, murmelt Hayate eingeschüchtert und hustet. Es ist längst dunkel, als Ibiki lautlos durch das Küchenfenster hereinklettert. Er streift die Sandalen ab, setzt behutsam die Füße auf den Boden und schließt das Fenster hinter sich. Erst dann bemerkt er den dunklen Umriss des Mannes am Tisch. „Wo warst du so lange?“, fragt Vater. „Unterwegs.“ „Und wo? Wir haben uns Sorgen gemacht.“ „Ich war eben draußen“, erwidert Ibiki genervt. „Dafür bin ich ja wohl alt genug.“ „Nicht in diesem Ton, Ibiki.“ Vater steht auf. „Warum warst du so lange weg?“ „Weil ich mich herumgetrieben habe.“ „Warum, Ibiki? Ich merke es, wenn du mir etwas verheimlichst.“ „Habe mich mit einem anderen Jungen geprügelt.“ „Geprügelt?“ „Er hatte ein Katana. Ich hatte ein Kunai.“ Vater holt aus und scheuert ihm eine. Ibiki findet, das Klatschen ist viel zu laut in der stillen, dunklen Wohnung. Ima schläft nebenan. „Du hast ihn mit einer Waffe angegriffen?“ „Ich habe mich verteidigt.“ „Du bist ein Shinobi, kein Straßenräuber! Du sollst deine Fähigkeiten im Kampf einsetzen, nicht bei einer dummen Prügelei zwischen Schuljungen!“ Ibiki starrt an ihm vorbei und zuckt die Achseln. Seine Wange brennt. „Wie alt war der andere Junge?“ „Neun.“ Die nächste Ohrfeige wirft seinen Kopf auf die andere Seite. „Konoha hat dich nicht ausgebildet, damit du herumläufst und Jüngere schikanierst! Schämst du dich eigentlich nicht?“ „Ich habe mich verteidigt“, sagt Ibiki leise. Ima schläft. „Du wirst zu diesem Jungen gehen und dich bei ihm entschuldigen. Und du wirst mir hoch und heilig versprechen, dass du in Zukunft deine Stellung als Shinobi mit mehr Würde repräsentieren wirst! Hast du das verstanden?“ Ein Geräusch erklingt aus dem Nebenzimmer, und Ibiki merkt auf. „Ob du verstanden hast!“, herrscht Vater ihn an, aber Ibiki sagt nichts, sieht beharrlich an ihm vorbei. Die Stille zieht sich in die Länge, und als Ibiki gerade glaubt, Vater wird gleich wieder zuschlagen, hört er Ima aufschreien. „Was ist los?“, fragt Vater erschrocken und sieht sich um. Ehe er reagieren kann, ist Ibiki unter seinem schon erhobenen Arm hindurch getaucht und aus der Küche gerannt. Er öffnet die Tür zu Imas Zimmer, schlägt mit der Faust auf den Lichtschalter und stürzt zum Bett hinüber. „Ima? Was ist denn los? Ima!“ Sie sitzt kerzengerade im Bett, die Hände in die Bettdecke gekrallt, und schreit. Ihre Augen sind geschlossen, weshalb Ibiki sich nicht sicher ist, ob sie noch schläft. „Ima! Wach auf! Es ist alles gut, Ima. Es ist alles ...“ Er bricht in einem Schrei ab, als sie nach seinem Kragen greift und ihn mit einer unerwarteten Kraft auf die Decke zerrt. Ihre kleinen Hände tasten nach seiner Kehle, und er versucht erschrocken, ihre Handgelenke zu fassen zu bekommen. „Ima! Ich bin es doch, Ibiki! Wach auf!“ „Tötet ihn!“, kreischt Ima. „Schlitzt ihm die Kehle auf!“ Sie hebt die rechte Hand, und mit einem Kunai, das gar nicht da ist, stößt sie zu, wieder und wieder. Ibiki ist so durcheinander, dass er sich erst nach ein paar Sekunden aus ihrem Griff winden kann. „Ima“, keucht er, kniet sich auf die Decke und umklammert mit beiden Händen ihre schmalen Schultern. „Wach auf. Ich bin es, Ibiki. Wach auf!“ Sie schreit ihm ins Gesicht, reißt die Augen auf und erstarrt. Ihre Hand mit dem nicht vorhandenen Kunai fällt mit einem dumpfen Laut auf die Bettdecke. „Ibiki?“ „Es ist alles wieder gut, Ima“, sagt Ibiki und versucht, ruhig zu klingen, obwohl er am ganzen Körper zittert. „Du hattest nur einen Albtraum.“ Imas Gesicht verzerrt sich. Sie schlingt die Arme um Ibiki und vergräbt das Gesicht an seinem Hals. „Ich habe ihn getötet, Ibiki. Ich habe ihm die Kehle aufgeschlitzt.“ „Das weiß ich doch, Ima“, sagt Ibiki leise und streicht ihr über den Rücken. „Denk nicht mehr daran.“ „Da war so viel Blut. So viel Blut. Aber ich habe immer noch weiter auf ihn eingestochen, weil ich doch nicht sicher sein konnte, dass er tot war. Und eigentlich war es mir auch egal. Ich habe es gemacht, weil ich konnte, weil Sensei es gesagt hatte, und weil ich es tun wollte. Es war richtig, und ich wollte es, und ich habe es genossen.“ Sie schluchzt auf, und Ibiki will irgendetwas sagen, weiß aber nicht, was. Vorsichtig setzt er sich hin, während Ima sich an ihn klammert, und zieht die Decke über sie beide. „Ich bin hier, kleine Schwester. Es wird alles wieder gut.“ In der Tür steht Vater und sieht ihnen zu. Er sagt kein Wort. Nachdem er gemerkt hat, dass keines seiner beiden Kinder bereit ist, ihn eines Blickes zu würdigen, wendet er sich ab. Kurz darauf hört Ibiki, wie sich seine Schlafzimmertür leise öffnet und wieder schließt. Kapitel 21: Blumen ------------------ Am nächsten Morgen wacht Ibiki von Geschrei auf. Es dauert eine Weile, bis er realisiert hat, dass etwas nicht stimmt, aber dann ist er auf einen Schlag hellwach. „... keine große Sache, oder?“ „Ich will aber nicht!“ „Warum nicht, Ima? Nenn mir einen Grund!“ „Weil ich nicht will!“ Hastig steht Ibiki auf und öffnet die Tür zum Flur. Vater und Ima stehen dort und schreien einander an, er noch im Schlafanzug, sie schon in ihrer Shinobi-Kleidung, die Tasche mit den Waffen am Oberschenkel. „Ich will dich nur zum Abschied in den Arm nehmen, ist das zu viel verlangt?“ „Und ich habe gesagt, ich will nicht! Ist das zu viel verlangt?“ „Du könntest sterben, Ima!“ „Weil sich nichts geändert hat, nicht wahr? Dass Frieden ist, ändert nichts! Für Shinobi gibt es keinen Frieden!“ „Wann bist du so geworden? So zynisch und verbittert und ... und ... Ich erkenne dich nicht wieder, Ima!“ „Ich mich auch nicht, Vater. Aber eins weiß ich. Wenn bei den Kindern was schief läuft, sind meistens die Eltern dran schuld.“ „Du willst mir die Schuld an allem geben? Der Krieg war es doch, den du nicht verkraftet hast!“ „Und wer hat mich in den Krieg geschickt, Vater? Wer hat mich nie auch nur gefragt, ob ich eine Kunoichi werden will?“ „Du wolltest es doch!“ „Weil alle kleinen Mädchen das wollten, und weil du mir nie gesagt hast, dass es eine andere Möglichkeit gäbe!“, schreit Ima, das Gesicht gerötet vor Wut, aber ohne Tränen. „Du bist an allem Schuld, ob dir das gefällt oder nicht!“ „Du bist nicht länger meine Tochter.“ Vater ist sehr blass und deutet mit einem zitternden Finger auf sie. „Meine kleine Ima ist gestorben.“ „Vater!“, ruft Ibiki. „Was erwartest du denn?“, kreischt Ima. „Dass du ein sechsjähriges Mädchen zum Krieger ausbildest, es mit zehn losschickst, um Menschen zu töten, und mit zwölf immer noch ein Kind hast? Ich bin kein Kind mehr! Wenn ich es mir recht überlege, bin ich nie eins gewesen! Ich bin nicht deine Tochter! Und ich bin nicht deine kleine Ima!“ Mit einem hysterischen Lachen dreht sie sich um und rennt hinaus. „Ima!“ Vater stürzt ihr nach, bleibt aber in der Tür stehen. „Bleib hier!“ „Kann nicht!“, brüllt Ima, schon unten im Hausflur. „Muss auf eine Mission!“ „Ich verbiete dir, auf diese Mission zu gehen! Du wirst hier bleiben, bis du dich wieder unter Kontrolle hast!“ „Ich habe mich unter Kontrolle, Vater – nur du nicht! Außerdem bin ich nicht mehr deine Tochter, sondern Konohas Soldatin. Und wenn Konoha sagt, dass ich auf eine Mission muss, dann ist es völlig egal, was du davon hältst!“ „Ima! Komm sofort zurück!“ Die Tür fällt unten ins Schloss. Einen Moment lang bleibt Vater stehen, schwer atmend. Dann dreht er sich langsam zu Ibiki um. „Ich wollte sie nur umarmen, zum Abschied. Das haben wir immer so gemacht. Was hat sie denn plötzlich?“ In seinen Augen glänzen Tränen, aber Ibiki hat kein Bedürfnis, ihn zu trösten. „Mich hast du seit Jahren nicht mehr umarmt“, sagt er stattdessen. „Vielleicht hat Ima einfach den Gefallen daran verloren.“ Ibiki ist rastlos, er muss ein Stück laufen. Auf seinem Weg durch Konoha steigt ihm plötzlich der Geruch von frisch geschnittenen Pflanzen in die Nase, und er dreht den Kopf und sieht Yamanakas Blumenladen. Gedankenverloren bleibt er stehen und betrachtet das große Gebäude, in dem er einen nicht unbedeutenden Teil seiner Kindheit verbracht hat. Wann hat Vater eigentlich aufgehört, Ima und ihn bei Yamanakas abzugeben, wenn er auf Missionen musste? Durch die mit aufgemalten Blumen verzierten Schaufensterscheiben kann er eine Gestalt hinter dem Verkaufstisch sehen. Als sie den Kopf hebt, stellt er verblüfft fest, dass es Inoichi ist. Er scheint Ibiki ebenfalls zu erkennen, denn er hebt die Hand und winkt. Ibiki zögert noch einmal, gibt sich dann einen Ruck und drückt die gläserne Tür auf. Er hat Angst, die heile Welt seiner Kindheit zu zerstören, wenn er jetzt wieder dorthin zurückkehrt. Andererseits, was soll schon passieren? „Ibiki!“, ruft Inoichi, kommt auf ihn zu und strubbelt ihm durch die Haare, wie er es früher immer getan hat. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen!“ „Vor ein paar Wochen erst“, widerspricht Ibiki. „Bei dem Fest.“ „Ja, schon, aber da hatten wir nicht einmal Zeit, ein paar Worte zu wechseln. Irre ich mich, oder bist du groß geworden?“ Verblüfft sieht Ibiki an sich herunter. „Ich weiß nicht. Habe mich in letzter Zeit nicht gemessen.“ „Oh doch, einen richtigen Schuss hast du gemacht. Du wirst noch ein echter Riese, wenn du erwachsen bist. Denk an meine Worte!“ „Schön wär's.“ Ibiki seufzt tief. „Und wie geht es dir so, Inoichi?“ „Oh, bestens!“ „Ich habe gehört, du bist verheiratet.“ „Ja. Und wir erwarten unser erstes Kind.“ Ibiki muss lächeln. „Das freut mich für euch.“ Inoichi lacht etwas verlegen. „Ich weiß nur nicht, ob ich schon bereit dafür bin.“ „Du wirst ein großartiger Vater sein. Ima und ich haben dich als Kinder schon geliebt. Mach dir keine Sorgen.“ „Wenn du das sagst.“ Ibiki nickt und betrachtet einen Strauß Blumen in einer großen Vase. Er hat keine Ahnung, was für Blumen es sind, aber sie haben jeweils fünf Blütenblätter und sind rot oder blau. Imas Lieblingsfarben. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Ibiki?“, fragt Inoichi ernst. „Ima ist gerade weg“, platzt es aus Ibiki heraus. „Sie hat sich mit Vater gestritten. Sie ist anders geworden als früher, und ich weiß nicht, was ich tun soll.“ „Anders?“ „Wegen dem Krieg. Sie redet ständig davon, wie sie einen Mann getötet hat, dass sie überall Blut hatte und so.“ Inoichi verzieht mitfühlend das Gesicht. „Es wird sie verstört haben. Sie ist erst zwölf.“ „Ich weiß.“ „Sie wird sich sicher erholen. Vielleicht sollte sie sich ablenken. In zwei Wochen hat meine Mutter runden Geburtstag, wir feiern hier bei uns. Habt ihr nicht Lust, zu kommen, Ima und du? Fubuki und Kozue werden auch da sein.“ „Feiert ihr im Garten?“ „Ja, wir grillen. Genau wie damals, als du Genin geworden bist.“ Inoichi lächelt. „Es wird dir sicher gefallen, und Ima auch. Kommt doch einfach vorbei! Mutter wird sich freuen.“ „Mal sehen, ob Ima bis dahin wieder da ist. Noch ist sie auf einer Mission.“ „Ach so.“ Inoichi seufzt leise. „So viel zum Thema Ablenkung, was?“ „Aber bestimmt hast du Recht damit, dass das am besten für sie wäre“, sagt Ibiki ernst. „Ich werde ihr vorschlagen, die Missionen eine Weile lang sein zu lassen. Und wenn es sich irgendwie einrichten lässt, werden wir beide kommen.“ „Das ist ein Wort.“ Inoichi klopft ihm auf die Schulter und lächelt. „Es wird schon alles wieder gut, Ibiki. Die Zeit heilt alle Wunden.“ Bevor Ibiki sich daran hindern kann, wandern seine Finger zu der Narbe auf seiner Wange. Inoichi bemerkt die Geste und schüttelt störrisch den Kopf. „Fast alle. Und Ima kommt sicher wieder in Ordnung. Ein so zuversichtliches Mädchen wie sie kann auch ein solches Trauma nicht dauerhaft aus der Bahn werfen.“ „Danke, Inoichi“, sagt Ibiki leise. Kapitel 22: Offenbarung ----------------------- In den nächsten Tagen herrscht Funkstille zwischen Vater und ihm. Vater hat auffallend viele „Dienstbesprechungen“, und Ibiki fragt nie nach, obwohl er ihm kein Wort glaubt. Etwa eine Woche später ist er abends allein zu Hause, als es an der Tür klingelt. Nichts Böses ahnend öffnet er und schnappt im nächsten Moment nach Luft. „Ima!“ Sie kauerte auf der Fußmatte und hebt langsam den Kopf, als er vor ihr in die Hocke geht. Den rechten Arm hat sie an sich gepresst, der Verband darum ist schon völlig mit Blut durchtränkt. Teilweise sieht es noch frisch aus. „Was um Hokages Willen machst du hier?“ „Wir sind fertig. Mit der Mission.“ „Ja, das dachte ich mir gleich, aber was machst du hier? Du bist verletzt! Du musst ins Krankenhaus!“ „Da will ich nicht hin“, erwidert Ima trotzig. „Da wird gestorben.“ „Wenn wir die Blutung nicht bald stoppen, verblutest du, Ima! Du brauchst sofort einen Arzt!“ Er will sie vom Boden hochziehen, aber sie streckt den gesunden Arm aus und krallt die Hand in seinen Pullover. Ihr Gesicht ist blass, Tränen stehen in ihren Augen. „Bitte schick mich nicht weg, Ibiki. Ich will nicht ins Krankenhaus. Ich habe euch so vermisst.“ Ihre Stimme klingt erstickt. Ibiki ringt mit sich. „Also schön. Komm mit ins Badezimmer, ich versuche, die Blutung zu stoppen. Aber wenn ich das nicht sehr bald schaffe, gehen wir beide ins Krankenhaus. In Ordnung?“ Sie zögert. „Ich bleibe die ganze Zeit bei dir. Egal, was passiert.“ Er hält ihr die Hand hin, und sie ergreift sie mit der gesunden linken. Ihre Finger sind eiskalt und zittern, aber sie lächelt. „Ich vertraue dir, Ibiki.“ „Das solltest du auch“, erwidert er schroff. „Ich bin dein großer Bruder. Und jetzt komm.“ Zu Ibikis eigener Überraschung schafft er es, die Blutung zu stoppen. Die Wunde wurde offenbar von einer großen Waffe verursacht, er fragt nicht nach. Trotz des tiefen Schnitts beschwert Ima sich mit keiner Silbe über Schmerzen. Nachdem Ibiki den Verband angelegt hat, trottet sie in ihr Zimmer, legt sich auf ihr Bett und sieht an die Decke. „Wo ist Vater?“ „Er kommt bald nach Hause.“ „Ich habe euch vermisst“, murmelt Ima. „Vater und dich. Es tut mir leid, was ich gesagt habe, als ich gegangen bin. Wenn ich nicht wiedergekommen wäre ...“ Sie verstummt. „Jetzt bist du ja wieder da“, sagt Ibiki. „Aber diesmal war es knapp.“ „Grübele nicht darüber, Ima. Versuch lieber, zu schlafen. Wenn du möchtest, kann ich dich wecken, wenn Vater nach Hause kommt.“ „Mach das“, flüstert Ima und schließt die Augen. „Ich bin so müde.“ Er zieht die Decke über sie und betrachtet sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Nach der mehrtägigen Mission sind ihre Haare wirr und strähnig, ihr Gesicht ist blass, die Haut spannt sich über ihre Wangenknochen. Sie sollte dringend mehr essen, denkt Ibiki. Und mehr in die Sonne gehen, damit sie Farbe bekommt. Und mehr lächeln sollte sie. Es ist Frieden, ruft er sich in Erinnerung. Es ist genau die richtige Zeit zum lächeln. Alles wird wieder gut. „Ima ist wieder da“, sagt Ibiki, als Vater gegen halb neun die Tür öffnet, eine Papiertüte mit irgendwelchem Fertigessen in der Hand. „Schon?“ „Ja.“ Vater zögert kurz. „Wie geht es ihr?“ „Sie schläft. Aber sie hat gesagt, sie möchte geweckt werden, wenn du wiederkommst. Sie hat dich vermisst.“ Er nickt und hält Ibiki die Tüte hin. „Bringst du das kurz in die Küche? Zur Not ist bestimmt auch genug für Ima da, wenn sie Hunger hat ...“ „Mache ich. Sie ist in ihrem Zimmer.“ Ibiki nimmt die Tüte entgegen und geht in die Küche. Er lässt sich Zeit damit, die Pappschachteln auszupacken und auf dem Tisch aufzureihen. So leise wie möglich schiebt er die Papiertüte in den Müll, seine Ohren lauschen auf jedes Geräusch aus Imas Zimmer. Er zuckt zusammen, als er sie aufschreien hört. „Ima!“, erklingt Vaters alarmierte Stimme. „Was hast du denn?“ Ibiki rennt in Imas Zimmer. Sie sitzt aufrecht auf dem Bett, so weit wie möglich vor Vater zurückgewichen, und starrt ihn an, als sei er ein giftiges Tier. „Ist ja gut, Ima“, sagt Vater, der Ibiki den Rücken zudreht. „Beruhige dich und ...“ „Du fasst mich nicht an!“, kreischt sie. „Spielst hier den liebenden Vater! Du hast mich immer verhätschelt, mir Geschenke gemacht, und ich habe es zugelassen. Meinst du, ich wüsste nicht, dass du gleichzeitig Ibiki wie Dreck behandelst? Meinst du, ich hätte nicht jedes Mal wach gelegen und gelauscht, wenn du ihn verprügelt hast? Ich wusste, dass deine Liebe zu mir nur deine Schuldgefühle waren, die du Ibiki gegenüber nicht zeigen konntest. Ich wusste es die ganze Zeit, und ich habe dich gehasst! Ich hasse dich immer noch! Du bist nicht mein Vater! Ich wünschte, du wärst tot!“ Bei ihren Worten ist Vater immer blasser geworden. Seine Lippen beben. „Ima“, sagt Ibiki entschieden. „Es reicht.“ „Du hasst ihn doch auch! Sag ihm, dass du es tust!“ Ibiki tritt näher ans Bett und greift nach ihren dünnen Oberarmen. „Ich sagte, es reicht, Ima. Komm runter. Du hattest einen Albtraum, du bist völlig durcheinander. Schlaf eine Nacht darüber.“ Noch während er spricht, steht Vater auf und verlässt den Raum. „Du hasst ihn doch auch“, fragt Ima trotzig. „Oder?“ „Er ist unser Vater.“ „Na und?“ „Er verdient das Geld, um uns zu ernähren“, sagt Ibiki pragmatisch. „Wir werden bei ihm bleiben, bis wir erwachsen sind.“ „Wir sind erwachsen“, erwidert Ima störrisch. „Wir haben beide schon getötet.“ Er muss lächeln. „Das ist es nicht, was es ausmacht, erwachsen zu sein.“ „Was dann? Einen Meter neunzig groß zu sein und grundlos seinen Sohn zu schlagen?“ Ibiki beißt sich auf die Lippe. „Ja“, sagt Ima. „Ich habe es die ganze Zeit über gewusst.“ „Ich wollte nicht, dass du es erfährst“, murmelt er. „Ich weiß. Deswegen habe ich dir nie gesagt, dass ich es wusste.“ „Du hast mich angelogen.“ „Du mich auch, Ibiki.“ Sie sehen einander an, und Ibiki muss einige Male tief durchatmen. „Und dabei hast du gesagt, du hättest Vater so vermisst.“ „Habe ich ja auch ... solange er weit genug weg war. Aber jetzt, da ich ihn gesehen habe, ist mir wieder eingefallen, dass ich ihn eigentlich hasse.“ Ima hält kurz inne. „Ist das verrückt?“ „Die meisten Dinge sind aus der Ferne betrachtet hübscher als von Nahem.“ Wieder schweigen sie einander an. „Was sollen wir jetzt tun, Ima?“ „Du bist der große Bruder, und du fragst mich?“ „Ja.“ Ima zieht die Schultern hoch. „Keine Ahnung“, erwidert sie gleichgültig. „Vielleicht weitermachen wie bisher. Vielleicht zur Polizei gehen und Vater wegen häuslicher Gewalt anzeigen. Macht doch sowieso keinen Unterschied.“ „Es macht keinen Unterschied?“, fragt Ibiki aufgebracht. „Warum sagst du so etwas, Ima? Früher wärst du nicht so lethargisch gewesen!“ „Ich habe gemerkt, dass irgendwie alles sinnlos ist“, murmelt Ima. „Kennst du das nicht auch? Solange man um sein Leben kämpft, ist man lebendig, und das ist gut. Aber wenn man nach Hause kommt, ist alles so steif und alt und langweilig.“ „Das ist Unsinn“, sagt er schroff. „Ist es nicht. Du denkst genau wie ich, Ibiki. Du bist kein guter Lügner.“ Er spürt, wie er rot wird. Es war gelogen, und er hätte nie gedacht, dass Ima ihn so durchschaut. „Also schön. Ich kenne dieses Gefühl. Alles wirkt langweilig, zu Hause. Aber es ist ein Trugschluss, weißt du? Im Kampf musst du schlitzen und stechen und Kehlen aufreißen, um zu überleben. Du redest dir ein, genau das wäre dein Leben, genau das würde dich glücklich machen, und am Ende macht es dich glücklich. Aber es ist nur ein Schutzmechanismus, um nicht durchzudrehen. Letztendlich ist es eine Lüge.“ „Dich macht es auch glücklich.“ „Du weißt gar nicht, wie sehr. Aber es ist und bleibt eine Lüge, Ima.“ „Und was macht mich in Wahrheit glücklich?“ „Na ... das Leben. Sonne und Vögel und Regen. Lachende Menschen. Gutes Essen. Solche Dinge machen glücklich.“ Imas Blick ist leer. „Wer sagt mir, dass nicht dieses Leben die Lüge ist?“ „Das ist Unsinn, Ima.“ „Wieso Unsinn? Du kannst Vögel und Sonne machen, und lachende Menschen. Alles mit Genjutsus. Sind das etwa keine Lügen, Ibiki?“ Er knirscht mit den Zähnen, aber ihm fällt nichts mehr zu sagen ein. „Du bist nicht mehr du selbst!“, spuckt er irgendwann aus. „Nein“, antwortet sie teilnahmslos. „Ich bin nicht mehr ich selbst.“ Dann fängt sie an zu weinen, nicht lauthals, sondern leise in sich hinein. Es ist der Laut von purer Hoffnungslosigkeit, und Ibiki bricht es fast das Herz. Zaghaft streckt er den Arm nach ihr aus. „Nicht weinen, Ima. Es wird alles gut.“ Müde hebt sie den Kopf und sieht ihn an, Tränen in den Augen. „Es wird niemals alles gut, Ibiki.“ Kapitel 23: Schlaf ------------------ Die Nacht wird sehr lang. Als Ibiki zum dritten Mal von Imas Weinen aufwacht, ist es kurz nach fünf Uhr morgens. Seufzend beschließt er, dass er jetzt auch wach bleiben kann, und geht hinüber in ihr Zimmer. Zum ersten Mal war Vater schneller als er. Er kniet bereits neben ihrem Bett und hält ihre Hand. „Ist ja gut, Ima.“ „Du sollst mich nicht anfassen“, jammert sie und weicht vor ihm zurück. „Geh weg. Ich will dich nicht sehen.“ Vaters Gesicht ist wie eingefroren. „Du wirst wieder in Ordnung kommen, Ima.“ „Werde ich nicht.“ „Meine Güte, Mädchen, reiß dich zusammen! Du bist eine Kunoichi!“ „Du weißt ja gar nicht, was das heißt. Kunoichi. Zwölf Jahre alt und kaputt zu sein, das bedeutet es.“ „Das stimmt nicht, Ima. Du bist nicht kaputt.“ Sie fängt an zu lachen, freudlos, schrill, hysterisch. „Sei still“, flüstert Vater. „Ima. Bitte sei still.“ Sie achtet gar nicht auf ihn, sitzt auf dem Bett und lacht und lacht, bis sie zu wimmern beginnt. „Es tut so weh.“ „Was denn? Dein Arm?“ „Ja.“ Vater betrachtet den Verband, den Ibiki angelegt hat. Es ist noch kein Blut hindurch gedrungen. „Das wird schon wieder, Ima.“ „Er tut weh“, beklagt sich Ima. „Mach ihn weg.“ „Den Schmerz?“ „Den Arm.“ „Rede keinen Unsinn. Ich werde dir ein Schmerzmittel geben, und dann ...“ „Mach den Arm weg“, wiederholt Ima. „Es ist der rechte, ich bin Rechtshänderin. Wenn du ihn wegmachst, kann ich keine Kunoichi mehr sein. Das wird gut.“ Vater drückt ihr die Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber?“ „Nein. Ich spinne nicht, ich meine das ernst. Du kannst ein Kunai holen, und Ibiki kann helfen. Wir schneiden den Arm ab. Ibiki kann die Blutung stoppen, das kann er gut.“ An Vater vorbei sieht sie Ibiki an und nickt, als hätten sie beide die Sache längst abgesprochen. Ibiki tritt zwei Schritte weiter in ihr Zimmer hinein. „Nun hör auf, solchen Unsinn zu erzählen, Ima. Du musst schlafen.“ „Ich kann nicht schlafen! Es tut so weh!“ „Ich hole dir ein Schmerzmittel“, sagt Vater langsam und steht auf. „Pass kurz auf sie auf, Ibiki.“ „Ich will kein Schmerzmittel“, jammert Ima, während er den Raum verlässt. „Sag ihm das, Ibiki. Ich will ...“ „Du bist wahnsinnig“, unterbricht er sie und kniet sich neben das Bett. „Sei still und nimm seine Medizin. Danach kannst du schlafen.“ „Aber irgendwann werde ich wieder wach, und dann habe ich immer noch zwei Arme, und ich muss immer noch Kunoichi sein!“ „Du könntest damit aufhören“, sagt Ibiki. „Könnte ich nicht.“ „Ich weiß auch nicht, wie es funktionieren soll, aber irgendwie muss es gehen. Wir regeln das. Wir sagen dem Hokage, dass du das nicht mehr schaffst.“ „Aber der Hokage wird sagen, dass ich völlig gesund bin! Ich habe zwei Arme und zwei Beine ...“ „Vom Kopf her schaffst du es nicht mehr, Ima.“ „Das weiß ich. Aber das sieht man ja von außen nicht. Und deswegen sage ich, wir schneiden den Arm ab.“ „Wir schneiden dir nicht den Arm ab, Ima!“, sagt Ibiki schroff, greift nach ihren Schultern und wartet, bis sie ihm in die Augen sieht. „Hast du verstanden? Wir tun es nicht.“ „Wir tun es nicht“, äfft sie ihn nach und zieht eine Grimasse. „Und das ist kein Zeitpunkt, um albern zu werden.“ Er will sagen, Du hast dich verändert, aber er weiß, dass das sie nur zum Weinen bringen wird. Und alles ist ihm lieber, als wenn sie weint. Alles? „Da bin ich wieder.“ Vater kommt herein, ein Glas Wasser in der einen Hand, eine kleine Kapsel in der anderen. Er kniet sich neben das Bett und hält Ima die Kapsel hin. „Nimm das, Prinzessin. Zerbeißen und runterschlucken.“ „Ich will nicht“, murmelt Ima, schlingt die Arme um Ibiki und wühlt das Gesicht gegen seinen Hals. Er streicht ihr über den Rücken und schließt einen Moment lang die Augen. Nach der unruhigen Nacht ist er todmüde, und in ihren dünnen Armen fühlt er sich immer so wohl. „Es ist besser für dich“, sagt Vater streng. „Das ist es wirklich“, stimmt Ibiki ihm zu und löst sich behutsam aus Imas Griff. „Nimm es. Dann kannst du schlafen.“ Sie blinzelt, nimmt mit spitzen Fingern die Kapsel von Vaters Handfläche und betrachtet sie. „Dann kann ich schlafen?“ „Und dann wird alles gut“, sagt Vater. „Ganz genau.“ Sie schüttelt den Kopf. „Nichts wird gut“, flüstert sie und schiebt die Kapsel in den Mund. Sie beißt darauf und schluckt, ohne mit der Wimper zu zucken. „Leg dich hin“, sagt Vater, drückt sie behutsam in das Kissen und deckt sie zu. „Wir warten noch kurz, bis du eingeschlafen bist.“ Ibiki greift nach Imas kalter rechter Hand. Schlafen klingt wie eine gute Idee. Imas Augen sind geschlossen, ihr Atem geht flach. „Wirkt es so schnell?“, fragt Ibiki leise. „Sehr schnell. Sie wird keine Schmerzen haben.“ Irgendetwas irritiert Ibiki, aber er kann nicht sagen, was. Imas Hand unter seiner bebt leicht, ihre Finger ballen sich zur Faust. Sie holt einmal tief und rasselnd Atem, und ihre Augen öffnen sich flatternd. „Ima? Ist alles in Ordnung?“ Sie reagiert nicht, sondern sieht an die Decke. Besorgt greift Ibiki nach ihrer Schulter. „Was ist denn, Ima? Hast du Schmerzen?“ „Lass sie, Ibiki“, sagt Vater leise. „Es ist vorbei.“ Seine Stimme zittert, und Ibiki wird eiskalt. Er weiß, was passiert ist, aber er weigert sich, es zu begreifen. Sehr langsam tastet er nach Imas Hals und sucht den Puls. Er findet ihn nicht. „Ima. Wach auf. So fest kannst du nicht schlafen, von jetzt auf gleich. Komm schon.“ Ihre braunen Augen sehen an die Decke. Sie hat gerade noch mit ihm gesprochen, hat ihn umarmt. So schnell kann sie nicht schlafen. „Es ist besser so, Ibiki.“ Vaters Hand legt sich auf seine Schulter. „Glaub mir.“ Ibiki dreht den Kopf. „Du hast ...“, beginnt er, aber er kann es nicht aussprechen. „Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie sie sich gequält hat. Ein so liebes Mädchen wie sie hatte im Krieg einfach nichts verloren. Sie wäre nie wieder die Alte geworden.“ „Das weißt du nicht. Vielleicht ... mit der Zeit ...“ „Sie hätte sich nicht erholt, und das weißt du, Ibiki.“ Er starrt Vater an und sieht die Tränen, die über sein Gesicht gelaufen sind. Warum sind sie ihm vorher nicht aufgefallen? „Es ist besser so.“ Vater streckt die Hand aus und drückt Ima die Augen zu. „Wirklich.“ „Ich sage es allen“, flüstert Ibiki. „Ich sage ihnen, dass du sie umgebracht hast.“ „Der verfluchte Krieg hat sie umgebracht. In den Wahnsinn getrieben hat er sie.“ „Du hast sie in den Wahnsinn getrieben!“, brüllt Ibiki ihn an und ballt die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel in seine Haut graben. „Sie wusste, wie du mich behandelt hast! Du hast sie geliebt, und sie hat dich gehasst! Wenn wenigstens du ihr etwas Geborgenheit gegeben hättest, dann hätte der Krieg ihr nicht so viel antun können!“ Er weiß nicht einmal, ob das stimmt. Aber er will, dass es stimmt. „Ima ist tot“, sagt Vater nur. „Und es ist besser so.“ Ibiki reißt sich von Imas Anblick los und steht auf. „Morgen gehe ich zur Polizei und sage ihnen, dass du sie ermordet hast.“ „Das macht sie nicht wieder lebendig.“ „Ich will, dass sie dich drankriegen. Das ist alles.“ „Ich werde erklären, dass es ein Versehen war. Dass ich das Schmerzmittel gesucht und versehentlich nach dem Gift gegriffen habe. Wem werden Sie glauben?“ Ibiki antwortet nicht, dreht sich abrupt um und verlässt den Raum. Er geht hinüber in sein eigenes Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Am liebsten will er schreien und heulen und irgendetwas kaputt machen, aber er bemerkt, dass es nicht geht. Er hat sich geschworen, um Imas Willen keinen Laut von sich zu geben, und es ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er gar nicht mehr anders kann. Alles für Ima. Müde setzt er sich ans Fenster und starrt hinaus, wo über den Dächern Konohas langsam die Sonne aufgeht. Ein paar Tränen laufen über sein Gesicht. Sie sind kein Teil von ihm, Ibiki. Sie interessieren ihn nicht weiter. Kapitel 24: Macht ----------------- Als Ibiki erwacht, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Erschrocken hebt er den Kopf und reibt sich die Wange, die er gegen den Fensterrahmen gelehnt hat. So ungemütlich hat er schon lange nicht mehr geschlafen. Ima ist tot. Er weiß nicht, was er bei diesem Gedanken fühlt. Langsam hebt er die Hand und tastet nach seinem Gesicht. Die Tränen sind getrocknet, die Haut fühlt sich gespannt an. Die Narbe auf seiner Wange schmerzt dumpf, aber nicht so stark, dass er es nicht ignorieren könnte. Er steht vom Fenster auf, streift wie ein Schlafwandler ein paar herumliegende Kleider über und verlässt das Zimmer. Vater findet er in der Küche, mit hängenden Schultern in seine Teetasse starrend. Die Uhr an der Wand zeigt halb elf am Vormittag. Eigentlich will Ibiki gleich wieder gehen, aber Vater hebt den Kopf und sieht ihn. „Ibiki“, murmelt er. „Ich wollte dich nicht wecken.“ „Wo ist Ima?“, fragt Ibiki. „Sie haben sie schon abgeholt. Die Beisetzung ist in drei Tagen.“ Ibiki will sagen, dass Vater nicht daran teilnehmen wird, weil sie ihn dann schon verhaftet haben. Er tut es nicht und weiß nicht einmal, warum. Angst hat er keine vor Vater, in diesem niedergeschlagenen Zustand erst recht nicht. Vielleicht sieht er einfach keinen Grund dafür. Wortlos geht er in den Flur, zieht Jacke und Schuhe an und verlässt das Haus. Das Polizeirevier liegt in dem Viertel Konohas, in dem die Uchihas wohnen. Auch der Mann, der ihm gegenüber hinter seinem Schreibtisch sitzt, trägt das Uchiha-Wappen auf seinen Kleidern. Er mustert Ibiki aus pechschwarzen Augen. Ayas Augen, denkt Ibiki und versucht, nicht an sie zu denken. Hier geht es um das zweite Mädchen, das er hat sterben sehen. „Du bist also Morino Ibiki“, sagt der Mann langsam. „Ich kenne deinen Vater.“ „Es geht um meinen Vater.“ Der Uchiha hebt besorgt die Augenbrauen. „Ach ja? Was ist denn passiert?“ Ibiki holt tief Luft, aber eigentlich gibt es gar nicht viel zu sagen. „Er hat meine Schwester ermordet.“ Der Mann starrt ihn fassungslos an. „Seine Tochter. Morino Ima. Er hat sie vergiftet.“ „Langsam, Ibiki. Lass uns die Geschichte von Anfang an aufrollen, in Ordnung?“ Der Uchiha schlägt einen der Ordner auf seinem Tisch auf, sieht hinein und schließt ihn wieder. Er vermeidet Blickkontakt mit Ibiki. „Dein Vater hat uns heute morgen benachrichtigt, er habe seine Tochter tot in ihrem Bett gefunden. Eine erste Untersuchung hat ergeben, dass sie ein schnell wirkendes Gift zu sich genommen hatte, das die Atemwege lähmt. Ihr Vater hat erklärt, sie sei verletzt von einer Mission zurückgekehrt, und er habe ihr ein Schmerzmittel geben wollen. Anscheinend hat er versehentlich zu den falschen Tabletten gegriffen.“ Ibiki starrt den Mann an und lauert darauf, dass er den Kopf hebt. „Ein furchtbarer Unfall“, murmelt der Uchiha. „Aber es passiert leider öfter, als man meinen sollte. Vor allem Shinobi, die nur gelegentlich mit Gift arbeiten, bewahren es meistens bei den Medikamenten auf.“ „Es war kein Unfall. Er hat es mit Absicht getan.“ Endlich hebt der Uchiha den Kopf und runzelt die Stirn. „Warum sollte er so etwas tun?“ „Weil er geglaubt hat, es wäre besser für sie. Sie war traumatisiert nach dem Krieg, hatte Albträume. Er hat geglaubt, er würde ihr den Gnadenstoß geben.“ „Ihre Albträume hat er auch erwähnt. Er meinte, er wäre deswegen selbst nervlich angeschlagen gewesen, sonst wäre ihm der Fehler mit dem Gift nie passiert. Er macht sich bittere Vorwürfe deswegen ...“ Ibiki schlägt auf den Tisch. „Das ist nicht wahr! Er hat sie mit Absicht getötet, ich weiß es! Er hat es mir gegenüber zugegeben!“ „Dir gegenüber?“, fragt der Uchiha mit einem leisen Seufzen. „Gibt es weitere Zeugen dafür?“ „Er ist verdammt nochmal einer der besten Shinobi, die Konoha hat! Als ob er einen so dummen Fehler begehen würde, aus Versehen ...“ „Ganz richtig“, unterbricht der Uchiha ihn ruhig. „Er ist einer der besten Shinobi Konohas. Ich habe oft mit ihm oder unter ihm gearbeitet, und ich kann nicht zählen, wie oft er mir und anderen Kameraden das Leben gerettet hat. Er ist ein fähiger Shinobi, ein hervorragender Anführer, und abgesehen davon auch ein guter Freund.“ „Dass er seine Tochter ermordet hat, ändert in Ihren Augen nichts daran?“ „Er hat sie nicht ermordet, Ibiki. Es war ein Unfall. Ich weiß, dass der Tod am schwersten hinzunehmen ist, wenn er sinnlos scheint, aber ...“ „Und Sie unterstellen mir, dass ich verzweifelt einen Grund suche und mir deswegen Lügen ausdenke.“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Aber gemeint“, erwidert Ibiki und bemerkt, dass seine Lippen zittern vor Wut. „Ich war sieben, als meine Mutter gestorben ist. Ich bin nicht so dumm, für etwas völlig Sinnloses wie den Tod einen Grund zu suchen. Ich bin hier, um meinen Vater wegen Mordes anzuzeigen, weil ich weiß, dass er es getan hat. Er hat es zugegeben! Ich weiß, dass er sie getötet hat!“ Der Uchiha hebt beschwichtigend die Hand. „Etwas leiser bitte, Ibiki.“ „Warum? Er ist ein Mörder, das kann hören, wer will!“ „Du bist verstört – das ist kein Verbrechen. Aber Rufmord ist eines.“ Ibiki verschlägt es die Sprache vor Entrüstung, und offenbar missdeutet der Uchiha es als Scham. Er seufzt und versucht ein aufmunterndes Lächeln. „Es tut mir sehr leid, dass deine Schwester tot ist. Du brauchst Zeit, um dich damit abzufinden. Geh nach Hause, schlaf einige Male darüber und erhole dich. Es erleichtert die Trauer nicht, wenn du die Schuld bei deinem Vater suchst. Ihr beide solltet lieber miteinander reden und einander Halt geben.“ Langsam steht Ibiki auf. „Wahrscheinlich haben Sie recht“, sagt er, obwohl er es nicht meint. Ima hat immer gesagt, er ist ein schlechter Lügner. „Du bist ein vernünftiger Junge, Ibiki. Das freut mich.“ Ibiki antwortet nicht, schiebt den Besucherstuhl wieder an den Schreibtisch und verbeugt sich kurz vor dem Uchiha. „Wenn es geht ... bitte sagen Sie meinem Vater nicht, dass ich hier war.“ „Natürlich nicht“, erwidert der Mann mit einem mitfühlenden Lächeln. „Verlass dich auf mich.“ Die Sonne steht im Zenit, als Ibiki nach Hause läuft. Noch ist es Tag, und am Tag ist es leicht, nicht zu weinen. Aber irgendwann wird die Nacht kommen, und Ibiki graut es davor. Am Straßenrand sitzt ein kleiner Hund, struppig, mit zerfetzten Ohren und einem lahmen Hinterbein. Ibiki bleibt stehen und sieht ihn an. Der Hund winselt und kommt hoppelnd näher, mit dem dürren Schwanz wedelnd. Schwerfällig geht Ibiki in die Hocke. „Na, du.“ Der Hund schnuppert an seiner ausgestreckten Hand und leckt darüber. Jämmerliches, hässliches Ding, stellt Ibiki beiläufig fest. Noch immer knabbert er an dem himmelschreienden Unrecht, dass niemand ihm die Sache mit Vater und dem Mord glaubt. Eigentlich hätte Ibiki es wissen müssen. Er ist nur ein kleiner Genin. Vater ist bei der ANBU, er hat einflussreiche Freunde. Selbst wenn es zu einer Anklage kommen würde, würden sie Vater nicht verurteilen. Konoha kann auf einen Jounin seines Kalibers nicht verzichten, nur weil er einen Menschen getötet hat. Was für ein lächerliches Verbrechen. „Es gibt keine Gerechtigkeit“, erklärt Ibiki dem Hund, gibt ihm einen Klaps auf den Kopf und schließt die Hand um seine Schnauze. Der Hund jault überrascht und versucht, sich loszureißen, aber Ibiki hält ihn fest. „Wahrheit gibt es, denke ich. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen. Aber Gerechtigkeit gibt es nicht.“ Der Hund winselt und kratzt hilflos mit den Krallen über den Boden, und es amüsiert Ibiki. Es gibt ihm dieses befriedigende Gefühl von Macht, diese große, warme Ruhe, die seinen Körper durchströmt. Als würde er schweben. „Alles, worum es geht, ist Macht. Glaubst du nicht auch, Kleiner?“ An diesem Mittag unter der prallen Sonne schwört Ibiki sich, dass er später zur ANBU gehen wird. Er wird sich eine Stellung erarbeiten, in der er unverzichtbar sein wird, und niemand wird es je wieder wagen, sein Wort anzuzweifeln. Er wird dafür sorgen, dass der Name Morino Ibiki von Freund und Feind gefürchtet wird. Ibiki will Macht. Wer Macht hat, ist unverletzlich und kann tun, was er will. Und ist das nicht Glück? „Ibiki?“ Er dreht den Kopf. Gai steht zwei Schritte weiter auf der Straße und starrt den winselnden Hund an. „Was machst du da?“ „Ich? Gar nichts.“ Er lässt den Hund los, der zurück zuckt und hastig um die nächste Häuserecke davon humpelt. Gai wirkt verstört, reißt sich dann aber zusammen. „Ich habe gerade das mit deiner Schwester gehört. Tut mir furchtbar leid.“ „Sie ist jetzt an einem besseren Ort“, erwidert Ibiki ruhig, ohne eine Sekunde daran zu denken, den Mord zu erwähnen. Er richtet sich auf, und Gai kommt näher und drückt seine Schulter. Er presst die Lippen aufeinander, Tränen in den Augen. Dabei ist es doch am Tag so leicht, nicht zu weinen. „Sei stark, Ibiki. Ihr zuliebe.“ „Das werde ich.“ Gai macht sich ja keine Vorstellung, wie Ibiki das wird. Als er nach Hause kommt, sitzt Vater auf dem Sofa im Wohnzimmer und betrachtet Imas Bild an der Wand. Er rührt sich nicht. „Ich bin wieder da“, sagt Ibiki und bleibt in der Tür stehen. Vater hebt den Kopf, und Ibiki sieht, dass seine Augen verweint sind. Auf dem Tisch steht eine halb leere Flasche Alkohol. „Ibiki.“ Er streckt den Arm aus. „Komm her.“ Ibiki tritt ein paar Schritte näher, aber eine Handbreit, bevor Vater ihn erreichen könnte, bleibt er stehen. „Mein Sohn“, murmelt Vater. „Mein einziger.“ „Ich werde ausziehen“, sagt Ibiki. Vater runzelt die Stirn und blinzelt verständnislos. „Ich werde bald zum Chuunin befördert, und dann bin ich praktisch erwachsen. Danach siehst du mich nie wieder.“ „Das ist nicht ...“, beginnt Vater. „Ich wollte nur, dass du es weißt“, unterbricht Ibiki ihn, dreht sich auf dem Absatz um und schließt die Tür hinter sich. Epilog: Epilog -------------- In dieser Zeit ist es nichts Besonderes, mit neunzehn Jahren Jounin zu sein. Mit neunzehn Jahren als Leibwächter des Hokage dienen zu dürfen, ist dagegen durchaus eine Leistung. Raidou wird sich dessen bewusst, als er die neugierigen Blicke der neuen Chuunin bemerkt. Sie sind ein Grüppchen Jungen und Mädchen zwischen zwölf und sechzehn Jahren, die die Prüfung vor ein paar Tagen bestanden haben. Sie sehen sich um und tuscheln, alles hier ist neu für sie. Vermutlich wurden sie noch nicht oft in das Büro des Hokage zitiert. „Ich möchte euch gratulieren“, sagt der Hokage lächelnd, und sofort wenden sich alle Blicke dem alten Mann hinter seinem Schreibtisch zu. „Konoha kann sich glücklich schätzen, sich auf so vielversprechende junge Shinobi verlassen zu können. Euer Einsatz während der Prüfung war bewundernswert. Ich danke euch allen dafür.“ „Wir danken Ihnen, Hokage-sama“, antworten sie im Chor. Raidou sieht in ihre leuchtenden Augen und fragt sich, ob er auch so begeistert war, als sie ihn zum Chuunin befördert haben. Nein, eher nicht. Bei ihm ist es sehr plötzlich passiert, eine Woche nach dem Ausbruch des letzten Krieges. Er hatte lange das Gefühl, dass die Beförderung nicht seine eigene Leistung war, und das hat ihn gestört. Mittlerweile ist der Krieg seit fast einem Jahr vorbei, der Hokage hat ihn zu seinem Leibwächter ernannt, und sein Ego ist beruhigt. „Ihr könnt jetzt nach Hause gehen“, fährt der Hokage fort. „Die Prüfung war eine anstrengende Zeit. Erholt euch ein wenig davon. In drei Wochen werdet ihr eure ersten Missionen als Chuunin übernehmen.“ „Ja, Hokage-sama.“ Der Hokage lächelt und deutet auf einen Jungen, der am Rand der Gruppe steht. „Ibiki? Mit dir möchte ich ganz kurz sprechen.“ „Ja, Hokage-sama“, antwortet Ibiki, und Raidou runzelt die Stirn. Er kennt ihn irgendwo her. Ein auffallend großer Junge mit einer tiefen Stimme und ernsten, dunklen Augen. „Euch anderen wünsche ich viel Erfolg auf eurem Weg als Shinobi. Ihr dürft gehen.“ „Danke, Hokage-sama.“ Sie gehen, bis auf Ibiki, der stehen bleibt und flüchtig über eine Narbe auf seiner rechten Wange streicht. Es trifft Raidou wie ein Schlag. Morino Ibiki, der kleine Genin, den sie in dem Versteck der Iwa-Nins gefunden haben. Wenn die Narbe nicht wäre, könnte er diesen Ibiki nicht mit dem schmalen Jungen von damals in Verbindung bringen. Er ist ganz schön groß geworden, denkt Raidou belustigt. Umso besser für ihn. Die Tür schließt sich hinter den anderen Chuunin. Ibiki tritt etwas näher an den Schreibtisch des Hokage und spricht, bevor der alte Mann etwas sagen kann. „Er ist tot, oder?“ Raidou sieht den Hokage an, der Ibiki einige Sekunden lang stumm mustert. „Dein Vater ist vor drei Tagen während einer Mission gefallen. Seine Kameraden sind heute morgen zurückgekehrt und haben die Nachricht von seinem Tod überbracht.“ Ibiki schweigt kurz, als würde er auf irgendetwas warten. Dann verneigt er sich. „Es tut mir leid, zu hören, dass Sie einen Shinobi seines Ranges verloren haben.“ „Es tut mir leid für dich“, entgegnet der Hokage leicht irritiert. „Konoha hat viele Shinobi. Du hattest nur einen Vater.“ „Er war nicht mein Vater“, erklärt Ibiki knapp. „Er war bestenfalls mein Erzeuger. Einen Vater habe ich schon lange nicht mehr.“ Raidou schluckt und muss an die Worte von Hideaki denken. Er ist eben ganz der Vater. „Du bist verbittert, Ibiki“, sagt der Hokage langsam. „Und ich würde mir Sorgen um dich machen, wenn ich nicht wüsste, dass das bei dir nicht nötig ist. Du wirst deinen Weg finden. Da bin ich mir ganz sicher.“ Zum ersten Mal lächelt Ibiki. „Ihr Vertrauen ehrt mich, Hokage-sama.“ Der Hokage erwidert das Lächeln. „Noch einmal herzlichen Glückwunsch zu deiner bestandenen Chuuninprüfung. Du wirst deinem neuen Rang sicher gerecht werden.“ „Genau das habe ich vor.“ „Sag mir, Ibiki, was ist auf lange Sicht dein Ziel? Weißt du das?“ „Ja, Hokage-sama.“ Ibiki richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Er ist noch kein Mann, denkt Raidou, aber ein Kind ist er erst recht nicht mehr mit den breiten Schultern und dem kantigen Gesicht, das so sehr an das seines Vaters erinnert. Wo ist der kleine Junge von damals geblieben? „Ich plane nicht, der nächste Hokage zu werden, falls Sie das erwartet haben. Das hören Sie vermutlich ständig von übereifrigen Genin, die keine Ahnung von der Welt haben und trotzdem meinen, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen.“ Der Hokage muss lachen. „Aber ich werde dafür sorgen, dass jeder meinen Namen kennt“, fährt Ibiki ernst fort. „Ich bin bereit, Risiken einzugehen und Schmerzen auszuhalten und grausam zu sein, solange es Konoha dient. Es ist mir egal, ob die Leute mich hassen oder fürchten oder als notwendiges Übel sehen, solange sie nur meinen Namen kennen. Ich schwöre Ihnen hier und jetzt, Hokage-sama – in zehn Jahre werden Sie und jeder in Konoha sagen: Wir haben Morino Ibiki auf unserer Seite, und das ist ganz bestimmt besser, als ihn zum Feind zu haben.“ „Ich werde es mir merken“, sagt der Hokage mit einem Lächeln. „Und ich freue mich darauf. Du kannst jetzt gehen.“ „Danke, Hokage-sama.“ Ibiki wendet sich zur Tür, aber als er nach der Klinke greift, kann Raidou nicht mehr an sich halten. „Entschuldige bitte ... Ibiki?“ Der Junge hält inne und dreht sich langsam um. Raidou weiß, dass er erst fünfzehn ist, aber er hat eine Ausstrahlung, bei der ihm Angst und Bange wird. Etwas Kaltes, Ungnädiges. „Ja?“ „Es tut mir leid, wenn die Frage dumm ist“, sprudelt es aus Raidou hervor. „Aber du ähnelst deinem ... deinem Vater so sehr. Du kommst hierher und bekommst die Nachricht von seinem Tod, und du verziehst keine Miene! Und dann damals, als wir dich vor diesen Iwa-Nins befreit haben ... Du warst ausgehungert, halb verdurstet und mehrere Tage lang gefoltert worden, und du warst zwölf Jahre alt. Du hast darauf bestanden, selbst zu laufen. Du hast keine Träne vergossen. Und jetzt kaum zu reagieren, als ... als ...“ Der Hokage sieht sich fragend zu Raidou um. Ibiki hebt eine Augenbraue. „Und?“ Die Frage wirkt selbst auf Raidou lächerlich, aber er hat schon zu viel gesagt, um sie jetzt nicht zu stellen. „Weinst du eigentlich nie?“ Langsam wendet der Hokage sich wieder Ibiki zu, der einen Moment lang überlegt. Er sieht durch das breite Fenster hinter dem Schreibtisch hinaus, blinzelt in die Sonne und hält sein Gesicht ins Licht. Die Narbe auf seiner Wange verrutscht, als er lächelt. „Nicht am Tag.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)