Am Tag ist es leicht von Niekas ================================================================================ Kapitel 19: Lachen ------------------ „Guten Morgen, Vater.“ Vater hebt den Blick von seiner Zeitung. „Guten Morgen, Ibiki. Ich habe euch zwei gestern vermisst. Habt ihr uns etwa nicht gefunden? Wir haben immer noch an der Bar gesessen, wo wir uns verabschiedet hatten.“ „Ima wollte nach Hause“, erklärt Ibiki und setzt sich an den Frühstückstisch. „Es ging ihr nicht gut.“ „Nicht gut? Warum nicht?“ „Kopfschmerzen.“ Vater sieht ihn an, als warte er auf eine nähere Erklärung, aber Ibiki wird ihm sicher nichts von dem Alkohol sagen. „Wie schade. Ihr habt das Feuerwerk verpasst. Es war wirklich einmalig.“ „Um Feuerwerke zu sehen, haben wir bestimmt noch genug Gelegenheiten“, erwidert Ibiki, ohne ihn anzusehen. Damit ist das Thema erledigt. Ima verschläft das Frühstück, und sie schleichen an der Tür zu ihrem Zimmer vorbei, um sie nicht zu wecken. Erst zum Mittagessen taucht sie auf, still und mit kleinen Augen. Dieses Benehmen sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, aber weder Vater noch Ibiki verlieren ein Wort darüber. Zum Mittagessen gibt es Reis mit Gemüse, nichts Aufwendiges, aber es sind Bohnen dabei. Ima liebt Bohnen, und Ibiki ist sicher, dass das sie ein wenig aufmuntern wird. Zu dritt setzen sie sich um den Tisch, ohne viele Worte zu verlieren. Sie beginnen zu essen, aber Ima sitzt nur da, die Hände im Schoß. Nach ein paar Minuten spricht Ibiki sie an. „Was ist los? Ist dir nicht gut?“ „Ich esse das nicht“, sagt Ima, den Blick ausdruckslos nach vorne gerichtet. Vater runzelt die Stirn, kaut und schluckt. „Was hast du gesagt?“ „Du hast es schon verstanden.“ Sehr langsam lässt Vater seine Stäbchen sinken. „Du isst, was auf den Tisch kommt, Ima.“ „Du hast mir nichts zu befehlen“, erwidert Ima und reckt das Kinn. „Oh doch, das habe ich. Du bist meine Tochter.“ „Na und?“ Vater knirscht mit den Zähnen, aber während Ibiki instinktiv in Deckung geht, scheint es Ima völlig egal zu sein. Sie sieht weiter nach vorn, durch das Fenster nach draußen in den blauen Himmel. „Du hast mir nichts zu befehlen. Ich bin im Krieg gewesen. Ich habe Menschen getötet. Ich habe einem Mann die Kehle aufgeschlitzt, dass sein Kopf fast ab war. Glaubst du, ich hätte Angst vor dir?“ Vater starrt sie an. „Ima“, sagt Ibiki leise. „Halt den Mund und iss.“ Sie dreht ihm den Kopf zu, und in ihren sonst so sanften Augen blitzt der blanke Hohn. „Von dir lasse ich mir erst recht nichts sagen!“ „Sei still!“, herrscht er sie an und schlägt auf den Tisch. „Du hast genug geschlafen, es ist Frieden, und jetzt kannst du anfangen, wieder normal zu sein! Je früher, desto besser!“ „Wie macht man das?“, fragt Ima herausfordernd. „Normal sein?“ Die Frage bringt Ibiki aus der Fassung. „Na ... normal sein! Morgens aufstehen und dein Essen essen und deinen Job machen, und abends wieder ins Bett gehen! Normal eben!“ „Das habe ich im Krieg auch gemacht. Aufstehen und ins Bett gehen.“ „Wir sind aber nicht mehr im verdammten Krieg, Ima! Hör auf, davon zu reden, wie du ihm die Kehle aufgeschlitzt hast! Vergiss es und sei normal!“ „Vergessen?“, kreischt sie. „Ich soll es vergessen?“ „Ima!“, ruft Vater dazwischen. „Beruhige dich!“ „Als der Krieg angefangen hat, war ich acht! Acht! Ich kann mich kaum noch an eine Zeit erinnern, wo Frieden war! Ich weiß nicht, wie Frieden geht! Und da bist du und, und siehst mich an mit dieser Narbe im Gesicht, von damals, und ... und ... glaubst du, ich kann es vergessen? Du kannst es doch selbst nicht vergessen, Ibiki! Du bist so ein Idiot!“ Sie greift nach ihrem Teller und wirft ihn Ibiki ins Gesicht. Reflexartig hebt er die Arme, um zumindest den Teller selbst abzuwehren, aber der Reis landet auf seiner Brust und rutscht ihm in den Kragen. Ima springt auf und rennt hinaus. „Ima!“, ruft Vater noch einmal und sinkt dann in sich zusammen wie ein alter Mann. „Ima. Bleib hier.“ Er sieht Ibiki Hilfe suchend an, aber Ibiki starrt ins Leere. Mechanisch schüttelt er den Reis aus seinem T-shirt, auf den Tisch und den Boden. Der Teller ist seinem Schoß gelandet. „Ich wische das auf. Ist schon okay.“ „Was war das?“, fragt Vater mit einer Angst, die Ibiki völlig neu ist. In seiner Gegenwart hat Vater noch nie Angst gezeigt. Ibiki nimmt es zur Kenntnis, beantwortet die Frage nicht und steht auf, um den Handfeger zu holen. Vater beendet sein Essen und flieht, anders kann man seinen überstürzten Aufbruch zu einer angeblichen Dienstbesprechung nicht nennen. Während Ibiki den Reis aufwischt, überlegt er, wieso Vater nicht geblieben ist, um seine Prinzessin zur Vernunft zu bringen. Vermutlich ist er überfordert, sobald Ima nicht mehr der pflegeleichte Sonnenschein von früher ist. Aber ist sie das etwa nicht mehr? Sie wird es wieder werden, da ist Ibiki sich sicher. Etwas so Gutes, Starkes wie Ima geht nicht einfach kaputt. Nachdem er die Küche vom größten Chaos befreit hat, schleicht er sich zu Imas Zimmertür und lauscht. Zu seiner Bestürzung hört er ein leises Schluchzen von drinnen. „Ima?“ Er will die Tür öffnen, aber sie wird von innen zugehalten. „Komm nicht rein“, erklingt Imas zittrige Stimme. „Ich will nicht, dass du mich siehst.“ „Aber warum denn nicht?“ „Ich bin hässlich, wenn ich weine.“ „Das ist mir egal.“ „Mir aber nicht. Geh weg.“ „Warum weinst du, kleine Schwester?“ „Nenn mich nicht so!“, ruft Ima und schluchzt auf. „Wie denn?“ Sie versucht, zu antworten, aber vor Weinen bringt sie kein Wort mehr hervor. Gut, dass es Tag ist, sonst müsste Ibiki vielleicht mit ihr weinen. So hockt er sich nur vor die Tür und legt eine Hand darauf, als könnte Ima es fühlen. „Soll ich dich nicht kleine Schwester nennen?“, fragt er leise. „Aber das bist du, Ima. Und ich bin dein Bruder.“ „Ich ... hätte ...“, würgt sie hervor. „Es tut mir ... leid, dass ich dich beworfen habe. Und dass ich dich einen Idiot genannt habe. Und ... alles.“ „Ist schon in Ordnung.“ „Warum? Warum ist es in Ordnung? Du bist so lieb zu mir, Ibiki, und ich ... ich ...“ Sie heult auf. „Du machst eine schwere Zeit durch“, murmelt Ibiki. „Ich kenne das. Aber es wird besser werden, Ima. Mit der Zeit wird sich alles wieder einrenken. Du wirst von allein merken, wie man normal ist. Du wirst es lernen.“ „Bist du ... sicher?“ „Ganz sicher. Ich habe es auch gelernt, weißt du nicht mehr? Nachdem das mit der Narbe passiert ist. Man lernt es.“ Sie schnieft und sagt nichts. „Machst du die Tür auf?“, fragt Ibiki. „Warum?“ „Weil ich dir etwas zeigen möchte.“ „Du willst mich zum Lachen bringen“, sagt Ima mit belegter Stimme. „Mit deinen Genjutsus. Aber ich will nicht lachen. Nicht jetzt.“ Er kann sie nicht sehen, aber er weiß ziemlich genau, wo sie ist. Behutsam schließt er ein paar Siegel mit den Händen. „Ima. Schau mal.“ „Lass das“, murmelt sie, schweigt kurz und seufzt dann. „Ein Schmetterling, Ibiki?“ „Für dich.“ „Er ist riesig. Und seine Flügel schillern ... rot und blau. Meine Lieblingsfarben.“ „Ich weiß.“ Er hört sie lachen, ein sehr schwaches Lachen gegen ihren Willen, aber immerhin eines. „Du kannst so schöne Illusionen machen, Ibiki. Vögel und Schmetterlinge und Farben.“ „Für dich doch immer.“ „Dabei bist du kein kleiner Junge mehr. Als ob es keine nützlicheren Methoden gäbe, Genjutsus einzusetzen.“ „Nützlicher, als dich zum Lachen zu bringen? Was könnte denn noch nützlicher sein?“ Sie lacht, als sei das ein Scherz gewesen, dabei war es Ibikis voller Ernst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)