Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- Französische Nordküste (824 v. Chr.): Schwer atmend sank er auf die Knie. Ein kalter Wind blies ihm vom Meer entgegen, fast so scharf und schneidend wie ein Messer. Ein schwerer Sturm schien sich anzubahnen und bereits auf den direkten Weg zum Festland zu sein. Nichts und niemand würde ihn dabei von seinem Vorhaben abbringen können. Erbarmungslos würde er über das Land fegen und sich nicht darum kümmern, ob er den Tagesablauf der Menschen völlig durcheinanderbrachte. Er war bloß der Wille der Natur. Neyo sah hinaus aufs Meer. Die Sonne war bereits vor einiger Zeit untergegangen, dennoch sorgte der noch ungewöhnlich helle Vollmond für eine ausgezeichnete Sicht. Erst wenn der Sturm und die Wolken näher rückten, würde die Dunkelheit alles überziehen und Neyo das letzte bisschen Licht rauben, dass ihm vielleicht noch blieb. Das letzte Licht, das er jemals im Leben sehen würde. Er schluckte schwer, während seine Hand wie von selbst zur Wunde an seinem Bauch wanderte. Er spürte das warme Blut, fühlte die Energie, die in Strömen aus seinem Körper floss. Nach und nach verließen ihn seine Kräfte.  Er wusste gar nicht mehr, wie er es überhaupt bis an den Strand geschafft hatte. Er erinnerte sich nur noch an den Schmerz, die Pein und an den Wunsch, an jenen Ort zurückzukehren, wo damals alles angefangen hatte. Wo sein Leben begonnen hatte und damit gleichzeitig sein Tod. Seine Beine mussten ihn irgendwie von selbst an den Strand gebracht haben. Schritt für Schritt hatte er sich vorwärtsgekämpft, stets mit der nahenden Bewusstlosigkeit ringend. Einige Male war es sogar kurz schwarz um ihn herum geworden, doch der Drang, den Sand zwischen seinen nackten Zehen zu spüren und wenigstens noch einmal die Salzluft zu riechen, hatte ihn weiter angetrieben. Sich gegen das Sterben auflehnend war er seinen Weg gegangen. Und nun waren seine letzten Reserven aufgebraucht. Er wollte weinen, wollte schreien, wollte seiner Qual einfach nur freien Lauf lassen, aber selbst dafür reichte seine Kraft nicht mehr aus. So kniete er nun an jenem Strand, den er sosehr liebte, färbte den Sand rot von seinem Blut und wartete auf das Ende. Auch wenn er ganz sicher nicht bereit war, zu sterben. Er war jung, er war lebenslustig und mehr als überzeugt gewesen, dass ihm noch viele Sommer bevorstanden. Er hatte Pläne gemacht, hatte sich ein kleines Haus vorgestellt, erfüllt mit ansteckenden und unschuldigen Kinderlachen. Erfüllt von Glück und Harmonie. Er als stolzer Vater und sie als Mutter seiner Kinder. Er hatte es sich von ganzen Herzen ersehnt, auch wenn ihm im Grunde vorherein klar gewesen war, dass es niemals soweit kommen würde. Zumindest war das Glück nie für lange an seiner Seite gewesen. Nur stets eine gewisse Weile, sodass er schon anfing, sich in Sicherheit zu wiegen, um dann letztlich noch erbarmungsloser zuzuschlagen. Um ihn brutal den Boden unter den Füßen wegzuziehen und ihn in ein tiefes Loch stürzen zu lassen. Nie war es ihm hold gewesen. Nie. Auch als er die Gestalt bemerkte, die sich neben ihm aus den Schatten schälte, war ihm sofort bewusst, dass es nicht etwa die Göttin des Glücks war, die ihm Gnade zuteilwerden ließ. Mancher hätte es vielleicht so gesehen, hätte gejubelt und gesungen, doch Neyo wandte bloß seinen Blick ab und hoffte, dass der Tod nicht zu lange auf sich warten lassen würde. „Du bist nicht erfreut, mich zu sehen.“ Der Mann hockte sich neben Neyo und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ganz selbstverständlich, als würde es sich bei ihnen um langjährige und innige Freunde handeln. Dabei hatte Neyo diesen mysteriösen Mann erst vor wenigen Wochen kennengelernt. „Du weißt, warum ich hier bin, nicht wahr?“ Er sprach leise und sanft, fast schon behutsam, als hätte er Angst, Neyo in irgendeiner Weise zu verschrecken. Dieser wiederum bemühte sich, den Neuankömmling zu ignorieren und nicht weiter auf ihn einzugehen. Ein Unterfangen, das schwierig und sogar letzten Endes völlig unmöglich war. Denn Neyo schaffte es einfach nicht, sich diesem Mann zu entziehen. Seine Aura schien derart stark, dass es einem jedes Mal aufs Neue die Sprache verschlug. Dass es einem gleichzeitig heiß und kalt wurde. Neyo hatte versucht, sich zu entziehen, hatte versucht, diesen Mann – dieses Wesen! – nicht näher an sich heranzulassen, doch es war vergebens gewesen. Als hätte eine übermenschliche Macht von ihm Besitz ergriffen. Er war das gewaltige, lodernde Feuer und Neyo die dumme, kleine Motte, die nicht wusste, wie ihr geschah. Man spürte die Macht dieses Mannes in jeder einzelnen Faser des Körpers. Als würde sie durch die Luft strömen und jede Person befallen, der sie habhaft wurde. Wie eine schreckliche Krankheit. Eine schreckliche und gleichzeitig wunderbare Krankheit. Denn aus irgendeinem Grund verspürte Neyo trotz alledem weder Sorge noch Angst. Er wünschte sich zwar aus tiefstem Herzen, dies zu empfinden, um nicht als unnormal zu gelten, doch es gelang ihm nicht. Er konnte diesem Wesen in die blutroten Augen schauen und die Gier dahinter sehen und dennoch war da keinerlei Furcht.  Nicht mal ein kleines bisschen. Und gerade dieser Umstand beunruhigte Neyo mehr als alles andere. „Bitte … geh“, flehte er. Die letzten Minuten seines Lebens wollte er nicht mit dieser Kreatur verbringen. Er brauchte nur den Mond und das Meer. Alles andere war unwichtig. „Du stirbst“, sagte der andere in einem vollkommen ruhigen Tonfall. „Du stirbst, weil du dich von niederen Menschen hast übertrumpfen lassen.“ Neyo schnaubte. „Ich sterbe …“, begann er, mühevoll nach Atem ringend, „weil ich … dumm war. Dumm und töricht.“ „Du bist vieles, Neyo, aber ganz gewiss nicht dumm.“ Der Mann strich ihm leicht über den Kopf, was einen eiskalten Schauer durchs Neyos Körper jagte und seinen Schmerz noch zusätzlich verstärkte. Qualvoll stöhnte er auf. „Lass mich dir helfen“, forderte das Wesen ihn auf. „Geh einfach … Asrim“, nannte er es bei dem Namen, den es ihm bei ihrer ersten Begegnung anvertraut hatte. Damals, bloß vor wenigen Wochen. Es kam Neyo jedoch wie eine Ewigkeit vor. „Ich kann dich nicht einfach zurücklassen“, erwiderte Asrim geduldig. „Sie haben dir Leid und Kummer gebracht und ich möchte, dass du die Gelegenheit erhältst, dich an ihnen zu rächen.“ „Rächen?“ Neyo schüttelte nur den Kopf. Was für eine unsinnige Vorstellung! „Ich soll mich Magiern gegenüberstellen? Ich?“ Er lachte auf, nur um es im nächsten Moment bitter zu bereuen. Scharf sog er die Luft ein, während er seine Hand fest auf die Wunde presste und sich unwillkürlich fragte, wie viel Blut wohl noch aus seinen Adern fließen musste, ehe sein Körper vollends versagte.  Zumindest konnte nicht mehr viel übrig sein. „Lass mich … einfach nur in Frieden … sterben“, meinte Neyo schwach. Sein Kopf sackte nach unten, sein ganzer Leib erschlaffte immer mehr. Einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, sich auszustrecken und hinzulegen, doch Asrims Anwesenheit hielt ihn zurück. Schon schlimm genug, dass er auf dem Boden kauerte. Da wollte er sich nicht noch auf eine niedrigere Stufe begeben. „Du willst ihre Taten also ungesühnt lassen?“, hakte Asrim nach. „Du lässt zu, dass sie dich einfach so töten?“ Neyo schloss kurz die Augen, während er mühevoll versuchte, die Stimme dieses Wesens auszublenden. Aber seine Worte rasten durch seinen Kopf, wollten ihn einfach nicht in Ruhe lassen. So verrückt und wahnsinnig sie auch sein mochten. Er sollte sich gegen das Schicksal stellen? Gegen den Weg, den die allmächtigen Magier für ihn bestimmt hatten? „Ich weiß, dass du denkst, du wärst nichts wert“, meinte Asrim. „Dass es das gute Recht dieser hohen Herrschaften war, mit deinem Leben zu verfahren, wie es ihnen gefällt. Dass du sowieso nichts dagegen tun kannst.“ Neyo betrachtete den blutgetränkten Sand. Von seiner Perspektive aus war die Entscheidung der Magier relativ endgültig gewesen. „Du weißt, dass ich dir helfen kann“, sagte Asrim. Seine Stimme derart lockend und verführerisch, dass sich Neyo mit seinen Fingernägeln selbst in das Fleisch seiner Handinnenfläche schnitt, um einen einigermaßen klaren Kopf behalten zu können. „Ich vermag dir ein neues Leben zu schenken.“ „Ein untotes Leben!“, erwiderte Neyo zischend. „Dein Herz wird weiter schlagen, deine Lunge wird weiterhin Luft in sich aufnehmen.“ Asrim lächelte leicht. „Du wirst lebendiger sein als so manches Wesen auf dieser Erde. Man wird dich beneiden und lieben und fürchten.“ Neyo hatte das Gefühl, als würde er geschlagen. Er wehrte sich vehement, mit der letzten Energie, die ihm zur Verfügung stand, doch die Worte waren einfach viel zu betörend und einladend, um sie ohne weiteres abzutun. Um sie einfach zu ignorieren. „Du wirst ein König sein“, versprach Asrim. „Ein Gott.“ Neyo schüttelte den Kopf, wollte all das nicht hören. Der Tod war das einzige, was ihm geblieben war. „Du willst deine Mörder also davonkommen lassen?“, hakte die Kreatur nach. „Hast du denn schon vergessen, was sie dir angetan haben? Was sie ihr angetan haben?“ Neyo erzitterte am ganzen Körper. Allein ihre Erwähnung war wie ein furchtbarer Stich ins Herz.  „Es war … ein Unfall“, brachte er mühsam hervor. „Das versuchst du dir einzureden“, erwiderte Asrim. „Aber wir beide wissen, dass es nicht stimmt, nicht wahr? Tief in deinem Herzen ist dir klar, dass er sie tot sehen wollte. Er konnte mit ihrer Wahl nicht leben.“ Er konnte nicht damit leben, dass sie mich gewählt hat, schoss es Neyo durch den Kopf. Heiße Tränen bahnten sich ihren Weg, während er an ihre letzten Atemzüge dachte. Wie sie sterbend in seinen Armen gelegen, ihn schwach angelächelt und ihm versichert hatte, dass alles wieder gut werden würde. Aber nichts war wieder gut geworden. Ihr Tod hatte alles nur noch viel schlimmer werden lassen. „Willst du sie nicht rächen?“ Asrim hatte sich zu ihm hinunter gebeugt und flüsterte ihm verlockend ins Ohr. „Willst du nicht seinen Schreien lauschen? Ihren Schreien? Möchtest du nicht hören, wie sie jammern und um Gnade betteln? Wie sie erbärmlich um ihr Leben flehen?“ Neyo wollte den Kopf schütteln, wollte all das nicht wahrhaben, doch eine innere Sperre hinderte ihn daran. Stattdessen sah er ihr Gesicht vor sich, ihr blasses Gesicht, das von Schmerz und Tod gezeichnet gewesen war. Wie sie angestrengt versucht hatte, ihre Augen offenzuhalten, und es letzten Endes einfach nicht geschafft hatte. Sie war gestorben. Und das nur, weil ihre Familie geglaubt hatte, über ihr Leben bestimmen zu können. „Schließ dich mir an“, wisperte Asrim. „Werde einer von uns.“ Einen Moment zögerte Neyo. Er spürte den kalten Wind, schmeckte das Salz auf seiner Zunge und fragte sich, ob alles anders werden würde, wenn er Asrims Worten Folge leistete. Würde sich der Sand dann noch so kalt und kratzig anfühlen? Wäre die Brise immer noch derart frisch, dass sich automatisch eine Gänsehaut bildete? Oder würde sich einfach alles radikal verändern? „Dein Weg ist vorherbestimmt“, entgegnete die Kreatur mit dem Anflug eines Lächelns. „Ich habe die Zukunft in meinen Träumen gesehen. Du wirst unter vielen Namen bekannt sein, doch du selbst wirst dich Alec nennen. Die Mächtigsten und Einflussreichsten der Welt werden dich fürchten und allein bei deiner Erwähnung erzittern.“ „Alec?“ „Ich weiß, ein sonderbarer Name“, musste auch Asrim zugeben. „Aber in tausenden von Jahren ist er absolut gewöhnlich.“ In tausenden von Jahren? Neyo fiel es schon schwer, an die nächsten paar Minuten zu denken. Jahrtausende vermochte er sich somit erst recht nicht vorzustellen. Ebenso erschien Asrims Prophezeiung mehr als unglaubwürdig und dennoch konnte sich Neyo nicht dazu zwingen, spöttisch aufzulachen oder sich zumindest selbst davon zu überzeugen, dass Asrim ihn bloß anlog, um seinen Willen durchzusetzen. Stattdessen dachte er an all die Magier, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte, und die bisweilen erstaunliche und atemberaubende Fähigkeiten an den Tag gelegt hatten. War es demnach weit hergeholt, wenn es tatsächlich jemanden gab, der in die Zukunft zu sehen in der Lage war? Wenn man bedachte, mit welch animalischer Leichtigkeit sich dieses Wesen fortbewegte und alles und jeden, dem es begegnete, in Angst und Schrecken versetzte – selbst die mächtigsten Magier des Landes –, dann war ein kleiner Blick in die Zukunft fast schon unspektakulär.  „Räche dich!“, drängte Asrim, während seine dämonenhaften Augen noch heller aufleuchteten als der Vollmond. Und obwohl dieser Anblick Neyo eigentlich das Fürchten hätte lehren sollen, verspürte er keine Angst. Bloß eine seltsame Verbundenheit zu diesem Wesen. Und ehe er überhaupt wusste, was er tat, nickte er. Kapitel 2: Der Unbekannte ------------------------- London, England (2012):     Das Wetter in London hatte sich in den letzten Wochen deutlich verschlechtert. Neben dem ständig andauernden Regen war nun auch eine klirrende Kälte hinzugekommen, die sich bis tief in die Knochen durchzufressen schien. An jeder Straßenecke begegneten einem zitternde Obdachlose und Bettler, die sich in tonnenschwere Decken eingewickelt hatten und lautstark mit den Zähnen klapperten. Es war unübersehbar, dass der Winter nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würde. Immerhin war bereits Oktober, in den meisten Geschäften wurden schon seit geraumer Zeit Weihnachtsartikel angeboten. Eve schritt langsam durch die dunklen Gassen Londons. Die finsteren Häuserfassaden ragten weit in den Himmel hinauf und wirkten beinahe, als würden sie von oben herab prüfend zu ihr hinunter starren und sie keinen Moment aus den Augen lassen. Große, steinerne Wächter, die seit jeher die Stadt und ihre Bewohner beschützten. Kein Wind, kein Sturm und erst recht kein Regen waren in der Lage, sie in die Knie zu zwingen. Es mochte noch so viel Nass vom Himmel fallen, an ihrer Standhaftigkeit würde es nicht das Geringste ändern. Eine Unerschütterlichkeit, die Eve überaus beneidete. Sie war nie empfindlich gewesen, hatte sich schon in frühster Kindheit im Gegensatz zu ihren Altersgenossen nur ausgesprochen selten über irgendwelche Widrigkeiten – ob nun wetterbedingte oder auch anderweitige – beklagt, doch fünf Stunden im Dauerregen waren selbst für eine Frau ihres Kalibers etwas, das man nicht für immer würde ertragen können. Ihre Schmerzgrenze war zwar noch nicht vollkommen erreicht, aber bereits in solche Nähe gerückt, dass Eve inzwischen fast ununterbrochen von trockener Kleidung und ihrem warmen Bett fantasierte. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war schon seit Stunden derart durchnässt, als wäre sie soeben frisch aus der Dusche gestiegen, und ihr Mantel hatte sich mit Wasser vollgesogen, sodass er gleich mehrere Kilo schwerer erschien. Bereits seit Sonnenuntergang war sie nun unterwegs, mehr als genug Zeit, dass der Regen ohne Probleme in die Stoffbahnen ihrer Garderobe vorzudringen vermocht hatte. Wie ein begossener Pudel schlürfte sie durch die Straßen und fror sich fast zu Tode. Missmutig dachte sie daran, dass sie am nächsten Tag sicherlich mit einem schlimmen Schnupfen aufwachen würde. Eve seufzte schwer, als ihr wieder gewahr wurde, was für ein klägliches Bild sie wohl abgab. Eigentlich war sie eine Kämpferin, eine Kriegerin, eine Überlebenskünstlerin, doch im Moment wirkte sie eher wie ein verlorenes Mädchen, das völlig vom Kurs abgekommen war und absolut keine Ahnung mehr hatte, wo es sich eigentlich befand. Allein und verlassen, schutzlos den Elementen ausgeliefert. Unwillkürlich ließ sie ihren Blick über die dunklen Häuserfassaden schweifen. Nur ab und zu entdeckte sie ein erleuchtetes Fenster, der Rest lag in tiefster Finsternis. Alle schlummerten sie friedlich in ihren Betten, genossen ihren heiligen Schlaf und wussten rein gar nichts über die Geschehnisse hier unten auf der Straße. Ihnen war nicht klar, dass eine Frau, die nur im ersten Moment gewöhnlich und harmlos erschien, ganz einsam durch den Regen lief. Ebenso war ihnen nicht bewusst, was sich für Kreaturen sonst noch auf den Beinen befanden und unbemerkt durch die Stadt zogen. Wesen, die so menschlich und ungefährlich aussahen und dabei gleichzeitig doch so tödlich waren wie eine aggressive Giftschlange. Sie waren überall. Die wenigsten wussten es und noch weniger wagten es überhaupt, sich mit diesen Geschöpfen anzulegen, doch ab und zu gab es einige Verrückte, die dieses hohe Risiko auf sich nahmen. Und Eve war seit jeher stolz darauf, sich zu dieser Gruppe zählen zu können. Und mochte es auch kitschig klingen, ihre Arbeit als Berufung zu sehen, so war es doch genau das, was sie dabei empfand. Jeden Tag, jede Stunde, jede noch so kurze Minute. Selbst in diesem Moment – nass, bibbernd und hungrig – überwog immer noch das Gefühl des Gebrauchtwerdens. Sie war zwar gereizt, genervt und überaus versessen darauf, irgendjemanden so schnell wie möglich den Hals umdrehen zu können, aber dennoch gab es kaum einen Ort, an dem sie lieber gewesen wäre. Ihre Existenz hatte einen Sinn, einen übergeordneten Zweck, sodass ihr selbst im Augenblick ihres Todes ein Lächeln auf den Lippen liegen würde. Plötzlich riss sie das knackende Rauschen des Walkie-Talkies aus ihren Gedanken. „Er kommt direkt in deine Richtung, Hamilton“, meldete sich dort eine besorgt klingende Stimme, die Eve trotz der schlechten Verbindung als Richard wieder erkannte. „Du musst aufpassen.“ Eves Mundwinkel zogen sich bei diesen Worten automatisch nach oben. „Das werde ich, keine Sorge“, versprach sie. In Gedanken malte sie sich bereits aus, wie sie allein diese tagelange Jagd zu einem glorreichen Ende bringen würde. Sie würde die Heldin des Tages sein, gefeiert und hochgelobt von ihren Kollegen, die ebenso wie sie seit Ewigkeiten knöcheltief in Pfützen standen und sich nach etwas Trockenheit sehnten. „Warte, bis Verstärkung anrückt!“, brachte sie Richards scharfer Befehlston sofort wieder in die Realität zurück. Er war zwar noch weit davon entfernt, sich als Anführer zu bezeichnen, doch in der Rangordnung stand er eindeutig über Eve. „Alleine schaffst du es nicht.“ Eves Lächeln erlosch sofort. Richard hielt durchaus große Stücke auf sie und hatte sie schon bei zahlreichen Gelegenheiten als mitunter Beste ihres Faches tituliert, aber trotzdem sah er es nicht gerne, wenn sich seine Leute ganz allein in den Kampf stürzten. Eine Einstellung, die Eve zwar beileibe verstehen konnte, die ihr jedoch im Moment irgendwie den Spaß versaute. „Du bist ein Spielverderber, weißt du das eigentlich, Davis?“, beklagte sie sich seufzend. Halb rechnete sie daraufhin mit einem langen und breiten Vortrag, dass es sich bei ihrem Job gewiss nicht um irgendeine Art von Vergnügen handelte, doch erstaunlicherweise wusste er sich diesmal zu beherrschen und sagte stattdessen bloß sachlich: „Als Team sind wir nun einmal stärker. Also halt dich zurück, wenn du nicht tot in der Gosse enden willst.“ „Eigentlich ist das genau die Art von Tod, die ich mir eines Tages wünsche“, erklärte Eve grinsend. Am anderen Ende hörte sie ihn darauf lautstark über ihre Disziplinlosigkeit fluchen. Hätte er neben ihr gestanden, so war sie überzeugt, hätte er sie in diesem Moment am Kragen gepackt und ordentlich durchgeschüttelt. „Wir sind in ein paar Minuten da“, presste er schließlich hervor. Ihm war absolut klar, dass in solch einer Situation nicht mit Eve zu verhandeln war. „Tu bitte nichts Dummes.“ Eve brummte übellaunig vor sich hin, während sie das Walkie-Talkie wieder an ihrem Gürtel befestigte. Tu bitte nichts Dummes ... Richard hatte in dieser Hinsicht noch nie viel Vertrauen in sie gehabt. Er hielt sie für ein voreiliges, wagemutiges, dummes Ding. Unrecht hatte er damit allerdings nicht. Sie war in der Tat die Art Mensch, die eine Sache beim Schopfe packte, ohne groß darüber nachzudenken. Pläneschmieden lag ihr nicht im Blut und Geduld hatte sie sowieso so gut wie keine. Schon allein deswegen wollte sie diesen Vampir endlich schnappen, der sie bereits seit zwei vollen Tagen an der Nase herumführte und durch halb London hetzte. Eve hatte es satt, zu warten. Sie wollte endlich jemanden töten! Ganz egal, wen. Ihr Wunsch erfüllte sich bereits nach wenigen Augenblicken. Zunächst hörte sie nur das Scharren von Schuhen, schließlich nahm sie am Ende der Gasse eine verschwommene Gestalt wahr, die sich in ihre Richtung bewegte. Der Mann warf immer wieder verstohlene Blicke über seine Schulter, schien beunruhigt und ängstlich. Aus diesem Grund bemerkte er Eve auch erst, als sie direkt vor ihm stand. „Hallo, mein Freund“, sagte sie breit grinsend. Im dämmrigen Licht waren zwar nur wenige Einzelheiten zu erkennen, doch der Vampir war deutlich überrascht von ihrem unvermuteten Auftauchen. Er wich einen Schritt zurück und musterte sie argwöhnisch. Auch Eve begutachtete ihr Opfer. Sein teurer Anwaltsanzug war dreckig und zerschlissen, nichts ließ mehr darauf schließen, dass er einst ein berühmter und steinreicher Verteidiger vor dem Hohen Gericht gewesen war, der vor allen Dingen wegen seiner Redegewandtheit bekannt gewesen war. Sean Walker war sein Name gewesen, ein durchtriebener Geschäftsmann mit zwei Kindern, einer hübschen Frau und einer noch hübscheren Geliebten. Im Grunde ein Durchschnittstyp, auch wenn er sich selbst immer für etwas Besonderes gehalten hatte. Nun war er jedoch wirklich außergewöhnlich. Vor zwei Tagen war er einem Vampir über dem Weg gelaufen und damit war sein Schicksal besiegelt gewesen. Er war in einen Untoten verwandelt worden, vollkommen unvorbereitet. Ihm war wahrscheinlich selbst nicht ganz bewusst gewesen, was eigentlich genau mit ihm geschehen war. Sein Schöpfer jedoch hatte keine Zeit gehabt, Walker alles zu erklären, denn nur wenige Minuten nach der Transformation hatten Eves Leute ihn erwischt und vor den Augen seines neuen Geschöpfes umgebracht. Walker war daraufhin in Panik geflüchtet und hatte sich so gut versteckt, wie es ihm möglich gewesen war. Nun jedoch war er endlich entdeckt. Und Eve war entschlossen, ihn nicht wieder entkommen zu lassen. „Was – was wollt ihr überhaupt von mir?“ Walkers Stimme zitterte. Der Ärmste hatte keinerlei Ahnung, was eigentlich gespielt wurde. Wahrscheinlich glaubte er, von irgendwelchen nachtragenden Halsabschneidern, die er irgendwann in seinem Leben mal betrogen hatte, verfolgt zu werden. „Wer seid ihr?“ „Wir?“ Eve legte ihren Kopf schief und setzte ein süffisantes Lächeln auf. „Wir sind nur Dämonenjäger, sonst nichts.“ Wäre er noch ein Mensch gewesen, hätte er bestimmt laut aufgelacht. Nun jedoch, als Vampir, sagte ihm irgendeine tiefere Stimme, dass die Frau vor ihm ihn nicht anlog, sondern ganz knallhart die Wahrheit aussprach. Und diese schreckliche, beängstigende Tatsache verwirrte ihn letztendlich nur noch mehr. „Und ... was wollt ihr von mir?“, fragte er. „Du bist ein Vampir!“, meinte Eve. „Eine Gefahr für die Menschen. Du musst aus dem Weg geräumt werden.“ Walker schluckte und wich noch ein Stück mehr vor ihr zurück. Auch wenn sein Schöpfer keine Zeit gehabt hatte, ihn über seine neue Natur aufzuklären, so sollte er es dennoch inzwischen begriffen haben. Das Verlangen nach Blut musste dermaßen stark in ihm sein, dass man es sich nicht mal vorstellen konnte. Seit seiner Verwandlung hatte er nichts mehr getrunken, die Dämonenjäger hatten es immer wieder verhindern können. Tag und Nacht hatten sie ihn durch die Stadt gejagt und ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Dies hatte deutliche Spuren hinterlassen. Seine Wangen waren eingefallen und tiefe Augenringe durchzogen sein Gesicht. Er wirkte gehetzt und abgekämpft. Er war offenbar am Ende seiner Kräfte. Ältere Vampire brauchten nur zwei- bis dreimal im Monat Blut, doch die ganz frischen benötigten fast täglich eine ordentliche Portion, um sich und ihre Körper auf die neue Lebenssituation einzustellen. Ein paar Wochen oder oftmals auch Monate mussten sie Nacht für Nacht auf Jagd gehen, um ihren Durst zu stillen. Erst nach dieser Zeitspanne wurde es allmählich weniger. Und Walker hatte seit seiner Verwandlung nichts mehr zu sich genommen. Man hatte ihm keine Chance gegeben, sich an hilflosen Passanten zu vergreifen. Soweit Eve wusste, hatte der arme Kerl sich nicht mal an einer Ratte gütlich tun können. Er war ausgehungert, müde und kraftlos. Aber Eve gab sich keinen Illusionen hin, Walker war immer noch ein ernst zu nehmender Gegner. Vampire waren stets für eine Überraschung gut und gerade diejenigen, die in die Enge getrieben wurden, konnten zu wahren Bestien mutieren. Eve holte ihre 45er langsam aus ihrer Jackentasche hervor. Sie wollte Walker nicht durch unnötig hastige Bewegungen erschrecken oder gar reizen. Im Moment war der ehemalige Anwalt immer noch verwirrt und orientierungslos und Eve wollte diesen Zustand auf keinen Fall ändern. „Ich ... ich ...“ Walker schien zu ahnen, was sein Gegenüber vorhatte. Seine unnatürlich leuchtenden Augen richteten sich auf die Waffe in Eves Hand. „Ich ... ich habe niemanden etwas getan. Das schwöre ich.“ „Das wissen wir.“ Eve nickte bestätigend. „Aber du hast dich nur zurückgehalten, weil wir dir keine andere Wahl gelassen haben. Wären wir nicht gewesen, hättest du schon mehrere Unschuldige auf dem Gewissen. Ist es nicht so, Mr. Walker?“ Der Vampir schluckte, er fühlte sich offenbar ertappt. „Aber ... ihr könnt mich doch nicht für etwas verurteilen, was ich nicht begangen habe“, versuchte er es weiter. Nun kam der Anwalt in ihm zum Vorschein, mit allen Mitteln wollte er seine Haut retten. Doch Eve war nicht gewillt, sich auf dieses Spielchen einzulassen. „Du bist ein Dämon und musst deswegen sterben. So einfach ist das.“ Walker hob eine Augenbraue. „Das ist aber eine äußerst einseitige Sichtweise. Gut und böse – solch kindische Moralvorstellungen sind doch nur was für Amerikaner, aber nicht für eine Engländerin wie dich.“ Eve verstärkte den Griff um ihre Waffe und versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken. Im Grunde war Walker bloß ein weiteres Opfer der Dunkelheit und konnte nichts für seinen jetzigen Zustand, doch die Tage im Regen und der Kälte hatten Eves Toleranzgrenze ordentlich schrumpfen lassen. „Ehrlich gesagt ist es mir scheißegal, was so ein Untoter von mir hält. Du bist schon vor zwei Tagen gestorben, mein Freund, und deine Meinung ist heute keinen Pfifferling mehr wert. Du bist nur noch eine wandelnde Leiche, nichts weiter.“ Trotz seiner Unsicherheit und Verwirrung stieg nun auch langsam Wut in Walker hoch, dies konnte Eve ganz deutlich sehen. Seine Augen funkelten und er ballte die Hände zu Fäusten. Offenbar rang er um Selbstbeherrschung. Und Eve konnte sich ein triumphierendes Grinsen trotz alledem nicht verkneifen. Auch wenn sie andauernd Richards warnende Stimme im Hinterkopf hörte, sich unter allen Umständen zurückzuhalten. Wie aufs Stichwort rauschte das Walkie-Talkie kurz, einzelne verzerrte Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr. Offenbar war die Verstärkung bereits im Anmarsch und würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auch Walker schien dies nun klar zu werden. Er wirkte wieder ein wenig verunsichert, sein Blick ruhte auf der Waffe in Eves Hand. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er seine Chancen ausrechnete und die Möglichkeiten abwog, die ihm noch blieben. Wie ein professioneller Anwalt analysierte er die Situation. Doch Eve entging nicht, dass neben all dieser überaus menschlichen Berechnung auch etwas anderes von ihm Besitz ergriffen hatte. Reine Gier schien es ihm schwer zu machen, einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste das Blut, das durch ihre Adern floss, geradezu ohrenbetäubend laut hören. Und Eve war überzeugt, dass es Walker über kurz oder lang das letzte bisschen Verstand kosten und er sich wie ein wildes Tier auf sie stürzen würde. Denn all seine rationale Logik würde gegen die niederen Instinkte nicht bestehen können. „Ich weiß, was dir durch den Kopf geht.“ Eve setzte ein kaltes Lächeln auf. „Dieser quälende Durst muss doch unerträglich für dich sein. Warum kommst du nicht und kostest von mir?“ Eve war klar, dass Richard ihr dafür den Kopf abgerissen hätte, wäre er anwesend gewesen. Ihre Risikobereitschaft hatte ihn schon des Öfteren nahe an einen Herzinfarkt gebracht. Walker schien ihr Angebot auch ziemlich aus der Bahn zu werfen. All die Zeit über hatte er es mühevoll geschafft, den hungrigen Vampir irgendwie zu unterdrücken, doch nach und nach bröckelte die Fassade. Eve konnte ihm ansehen, dass der Mensch in ihm auf der Stelle verschwinden wollte. Doch die Bestie hatte Durst und war drauf und dran, die Kontrolle zu übernehmen. Eve konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ihr war es lieber, einen mordlüsternen Untoten umzubringen, als einen orientierungslosen Anwalt, der nicht wusste, was mit ihm geschah. Vampire, die sich menschlich gaben oder es vielleicht sogar noch waren, hatte Eve noch nie besonders gerne getötet. Immer wieder hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, auch wenn ihr bewusst gewesen war, dass dies im Grunde lächerlich war. Vampir blieb Vampir ... dennoch zog sie es vor, in Notwehr zu handeln, als jemanden einfach so umzubringen. „Also was ist nun?“, fragte Eve erwartungsvoll. „Willst du mich hier noch länger warten lassen? Ich weiß ganz genau, dass du dich nach meinem Blut sehnst. Warum also zögerst du?“ Walker knurrte leise. Seine glühenden Augen ruhten auf ihrem Hals. Es war offensichtlich, schon sehr bald würde er die Beherrschung verlieren und jede Vorsicht fallen lassen. Eve umklammerte fest den Griff ihrer Waffe. Sie war auf alle Eventualitäten vorbereitet. „Ist das Wetter nicht viel zu unangenehm, um sich hier draußen aufzuhalten? Ihr holt euch ja noch einen bösen Schnupfen.“ Eve zuckte erschrocken zusammen und auch Walker war nicht minder erstaunt. Sie beide waren dermaßen aufeinander fixiert gewesen, dass sie das Näherkommen dieser dritten Person gar nicht bemerkt hatten. Ein junger Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht, auf seinen Lippen lag ein breites Lächeln. Amüsiert blickte er von einem zum anderen, und obwohl er Eves Waffe sicherlich registriert hatte, ließ er sich nichts anmerken. Eve runzelte verwundert die Stirn und wusste darauf im ersten Moment nichts zu sagen. Vollkommen überrumpelt musterte sie diesen seltsamen Kerl, der sich zu nachtschlafender Zeit bei strömenden Regen in einer dunklen Gasse aufhielt und tatsächlich die Dreistigkeit besaß, den Kampf zwischen einem Jäger und einem Vampir zu unterbrechen. Nicht nur dieses fast irre Grinsen ließ Eve bei ihrer näheren Begutachtung erschauern, auch die Tatsache, dass er trotz des Regens nicht nass zu werden schien, machte sie misstrauisch. Er stand dort, ohne Regenschirm, und wirkte vollkommen trocken. Seine dunklen Haare waren wild und zerzaust und auch seine Kleidung machte nicht den Anschein, als hätte sie sich mit Feuchtigkeit voll gesogen. Offenbar handelte es sich bei ihm um einen Magier oder zumindest um jemanden, der es verstand, sich mittels Magie den lästigen Regen vom Hals zu halten. Bereits seit Jahren hatte Eve mit dieser besonderen Sorte Menschen zu tun und sie hatte dabei schon allerlei erstaunliche und oftmals gleichzeitig furchteinflößende Dinge gesehen. Mit einem leichten Unbehagen erinnerte sie sich daran, wie einst ein Magierlehrling die Küche ihres Hauptquartiers in die Luft gesprengt hatte, weil er Kaffee hatte zaubern wollen. Bei diesem Kerl jedoch schien der Umgang mit Magie ein bisschen besser zu funktionieren als bei ihrem stümperhaften Lehrling, der im Übrigen bei dieser Aktion einen Finger und einen großen Teil seines Selbstwertgefühls eingebüßt hatte. „Wer sind Sie?“ Eve gab sich keine Mühe, den Ärger in ihrer Stimme zu verbergen. Das Letzte, was sie brauchte, waren Augenzeugen oder potenzielle Geiseln für den überaus durstigen Vampir. „Ich habe viele Namen“, meinte der Fremde. „Aber du kannst mich gerne Seth nennen.“ „Wie der ägyptische Gott?“, hakte Walker nach und schien dabei vollkommen zu vergessen, in was für einer Situation er sich eigentlich befand. Seth schenkte dem Vampir ein geheimnisvolles Lächeln. „Ganz genau.“ Eve knirschte ungeduldig mit den Zähnen. Ihr gefiel die neue Situation ganz und gar nicht. Es war niemals gut, wenn sich unbeteiligte Personen, ob nun Magier oder nicht, in Jäger-Angelegenheiten einmischten. „Ist ja wunderbar“, meinte sie bissig. „Sagen Sie Ihrer Mutter einen schönen Gruß, sie hat echt ein Händchen für hübsche Namen. Aber trotzdem sollten Sie jetzt lieber verschwinden. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.“ Eve konnte nicht riskieren, dass diesem Typen irgendetwas zustieß. Dämonenjäger waren stets darauf bedacht, unschuldige Zivilisten aus ihren Kämpfen herauszuhalten. Außerdem musste sie sich eingestehen, dass ihr der Kerl nicht ganz geheuer war. Irgendwas war falsch an ihm. „Ich kann leider nicht verschwinden“, entgegnete Seth, immer noch mit diesem Grinsen im Gesicht. Eve hob eine Augenbraue. „Und warum nicht?“ Allmählich verlor sie ihre Geduld. Am liebsten hätte sie diesen vermeintlichen Gott einfach bewusstlos geschlagen und in die nächste Gosse geworfen, damit sie sich wieder ungestört mit Walker beschäftigen konnte. „Man hat mich geweckt, um die Teufelsbrut auszulöschen.“ Eve blickte verwundert drein und auch Walker machte einen ziemlich verdutzten Eindruck. Sie beide wechselten einen ratlosen Blick und vergaßen für einen Moment völlig, dass sie eigentlich auf verschiedenen Seiten standen. „Sie sind … sehr seltsam“, stellte Eve schließlich unumwunden fest. „Vielen Dank“, meinte Seth. Offenbar schien er diese Bemerkung tatsächlich für ein Kompliment zu halten. „Du bist wirklich zu gütig, Eve Hamilton.“ Die Dämonenjägerin zuckte zusammen, fassungslos starrte sie den regenabweisenden Zauberer an. Woher zum Teufel kannte der Kerl ihren Namen? „Du brauchst nicht so erschrocken dreinzuschauen“, fuhr Seth fort. „Ich habe schon lange darauf gewartet, dich einmal persönlich zu treffen.“ Eve wusste nicht, was sie darauf hätte sagen können. Ihr wurde bloß bewusst, dass dieser Typ wohl beileibe nicht so ein unschuldiger Passant war, wie es den Anschein machte. Dieser Kerl wusste ganz genau, woran er war. Vielleicht hatte er sogar in einer dunklen Ecke gewartet, bis Mensch und Vampir aufeinander getroffen waren. Eve spürte, wie sämtliche Alarmglocken in ihrem Inneren gleichzeitig zu schellen begannen. Ein Fremder, der sich mitten in der Nacht im strömenden Regen versteckt hielt und ihren Namen kannte? Das war mehr als sonderbar und verdächtig. Und darüber hinaus überaus beunruhigend. Ohne großartig darüber nachzudenken, brachte sie demonstrativ ihre 45er in sein Blickfeld und setzte eine harte Miene auf. „Wer auch immer Sie sind, verschwinden Sie endlich!“, zischte sie ungehalten. „Ich habe gerade wirklich keine Zeit, mich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich muss einen Job zu Ende bringen.“ Seth legte seinen Kopf schief. „Ich auch.“ Und mit diesen Worten trat er unvermittelt zu Walker. Der Vampir war dermaßen verwirrt, dass er einen Schritt zurückstolperte und Seth verwundert musterte. Doch der Fremde grinste nur unentwegt und legte Walker eine Hand auf die Schulter. „Tut mir leid, Kleiner“, sagte Seth gespielt mitleidig. „Dein unsterbliches Leben ist nun vorbei.“ Walker setzte eine ratlose Miene auf. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er mit der Situation heillos überfordert war. Erst war er unverhofft in einen Vampir verwandelt worden, dann hatte man ihn tagelang gejagt und nun tauchte auch noch dieser seltsame Mann auf, der von Teufelsbruten und Schicksalsbegegnungen redete. Wahrscheinlich stand Walker kurz vor einem Nervenzusammenbruch und Eve ertappte sich dabei, wie sie dem Vampir einen leicht mitleidigen Blick zuwarf. Doch schnell setzte sie wieder einen harten Gesichtsausdruck auf und betete zu Gott, dass niemand ihren schwachen Moment bemerkt hatte. Und wie es aussah, schien ihr Wunsch auch in Erfüllung zu gehen. Keiner der beiden Herren hatte ein Auge für die Jägerin, sie starrten sich bloß gegenseitig an. Seth wirkte immer noch übertrieben selbstbewusst, während Walker zunehmend nervöser zu werden schien. Obwohl er ein Vampir war und sich eigentlich seinem Vorteil gegenüber einem Menschen hätte bewusst sein sollen, ließ er sich dennoch von Seth einschüchtern. Offenbar schienen seine Instinkte ihn vor dem Kerl zu warnen. Und das auch zu Recht, wie sich im nächsten Augenblick herausstellte. Walker verzog plötzlich schmerzerfüllt das Gesicht, als würde er qualvoll gepeinigt. Er riss entsetzt die Augen auf und keuchte schwer, während er mühevoll versuchte, Seth irgendwie zu entkommen. Walker griff nach dem Arm des vermeintlichen Magiers und wollte ihn wegstoßen, doch unvermittelt schrie er auf und zog seine Hand blitzschnell zurück. Die Handinnenflächen waren bis auf die Knochen verbrannt, wie Eve geschockt erkannte. Die Jägerin schnappte nach Luft und starrte voller Schrecken auf die Szenerie, die sich ihr nun bot. Walker hatte keinerlei Chance. Indem er Seth an sich hatte herantreten lassen, war sein Schicksal besiegelt worden. Er stieß einen letzten markerschütternden Schrei aus, bevor es endgültig mit ihm zu Ende ging. Seine angsterfüllten Augen brannten sich in Eves Netzhaut. Wie es nun genau geschah, konnte Eve beim besten Willen nicht feststellen. Sie sah bloß fassungslos dabei zu, wie ein Vampir im strömenden Regen plötzlich in Flammen aufging. Sein Körper wurde vom Feuer umschlossen und vollständig verschluckt, während Seth einige Schritte zurücktrat und stolz sein Werk betrachtete. Die Flammen züngelten wie mordlüsterne Raubtiere, als sie Walkers fleischliche Hülle auffraßen. Die Schreie des Vampirs wurden von dem roten Tod erstickt. Als das Feuer im nächsten Moment erlosch, war Walker verschwunden. Von ihm war nicht mehr übrig geblieben als ein kleiner Haufen Asche, der sich in den tiefen Pfützen auflöste und verlor. Innerhalb eines Atemzuges hatte Seth es geschafft, einen Vampir umzubringen. Und das offenbar ohne große Kraftanstrengung. Eve starrte den Mann mit dem wirren Haar entgeistert an. Für einen kurzen Moment war sie sogar felsenfest davon überzeugt, dass das alles bloß ein Albtraum war. Schließlich konnte es nicht wahr sein! Es war für einen einzelnen Mann schlichtweg unmöglich, ein Vampir mit Magie zu töten. Selbst einen jungen und geschwächten, so wie Walker es gewesen war. Man konnte ihnen vielleicht schaden, aber umbringen konnte man sie gewiss nicht. Und dennoch war es geschehen. Genau vor ihren Augen. „Beeindruckt?“ Seth musterte sie erwartungsvoll, auf seinem jungenhaften Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Seine grünen Augen funkelten belustigt, als würde er das alles nur für ein vergnügliches Spiel halten. Eve wich einige Schritte zurück und landete prompt in einer tiefen Pfütze. Sie spürte, wie das kalte Wasser sich einen Weg durch ihre Schuhe bahnte und ihre Socken ertränkte, doch das kümmerte sie im Augenblick herzlich wenig. „Du ... du hast ...“ Sie fand keine Worte, immer noch total überrumpelt von dem plötzlichen Tod des Vampirs. „Du wolltest ihn doch sowieso töten, nicht wahr?“ Seth zuckte mit den Schultern. „Ich bin dir nur etwas zur Hand gegangen.“ Eve versuchte, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Sie konnte sich einfach nicht helfen, dieser Typ war über alle Maßen unheimlich. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihr auf und ließ sich auch nicht wieder vertreiben. „Bist du ... vielleicht ein Jäger?“, fragte Eve zaghaft nach. Seth lachte auf. „Das könnte man so ausdrücken“, meinte er amüsiert. „Wie bereits gesagt, man hat mich geweckt, um diese Teufelsbrut auszuschalten.“ Eve hatte diese Aussage gewiss nicht vergessen. Weder sie noch Walker hatten es verstanden. „Was willst du eigentlich?“ Sie umklammerte fast schon krampfhaft den Griff ihrer Waffe und versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen. Normalerweise war die Nähe ihrer 45er tröstend für sie, aber diesmal funktionierte es nicht so recht. „Ich will vieles, und doch kann ich nicht alles bekommen“, meinte er. Obwohl er dabei grinste, wirkten seine Augen irgendwie traurig. Melancholisch. „Der Sinn meines Lebens ist es, diese untoten Bastarde von Antlitz der Welt endgültig zu löschen. Und schon sehr bald werden die Ältesten hier sein und ihr wahres Wunder erleben.“ „Die Ältesten?“ „Asrim und die Sieben“, erklärte Seth völlig gelassen. „Glaub mir, schon bald werden sie London aufmischen. Und das nur, um mich zu finden.“ Er lachte humorlos. „Und dann werde ich sie umbringen. Einen nach dem anderen.“ Eve schluckte. Seine Stimme klang plötzlich so kalt und unmenschlich, dass ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. Allein die Erwähnung von Asrim und den Sieben hatte ausgereicht, um in Seth äußerst negative Gefühle zu wecken. In seinen Augen lag ein Glanz, der Eve entfernt an hasserfüllte Blicke vieler Vampire erinnerte, bei deren Ende sie anwesend gewesen war. „Weißt du, mein Schatz, ich würde dir wirklich gern noch mehr erzählen, aber ich fürchte, wir kriegen Besuch“, meinte Seth. In der Ferne hörte man eilige Schritte, die sich schnell näherten. Offenbar war das die Verstärkung, auf die Eve bereits gewartet hatte. Ihr Blick fiel unweigerlich auf die nasse Asche, die am Boden lag. Nun würde es ihnen nicht mehr vergönnt sein, Walker nach dieser langen Jagd endgültig zu erledigen. „Aber wir werden uns wieder sehen, Eve Hamilton“, sagte Seth mit einem Lächeln. „Denn du bist mein Schicksal.“ Bevor Eve nachhaken konnte, was er überhaupt damit meinte, war er auch schon von der Finsternis der Nacht verschluckt worden. Eve war zu einer Salzsäule erstarrt, mehrere Minuten rührte sie sich nicht. Fassungslos starrte sie in die Richtung, in die Seth verschwunden war, während ihre Kameraden kurz darauf am Ort des Geschehens ankamen und sich verwundert umschauten. Einige schwärmten aus, offenbar in der Annahme, Walker wäre erneut entkommen. Aber diesmal hatte er sich nicht herauswinden können. Er war endgültig tot. Und obwohl dies Eve eigentlich hätte heiter stimmen müssen, war es wie ein Schlag in die Magengrube. Es war nicht der Vampir selbst, dem sie nachtrauerte, es war vielmehr die Art, wie er gestorben war. Es hatte ihr einen Schock versetzt, so ungern sie es auch zugab. Sie hatte schon viele seltsame Dinge gesehen, aber Walkers Tod war das merkwürdigste und mysteriöseste gewesen, was ihr je untergekommen war. Eigentlich hätte es nicht sein dürfen ... und dennoch war es geschehen. Die Grenzen des Möglichen waren erneut gesprengt worden. „Eve? Was ist los?“ Richards Stimme drang erst nach einer Weile zu ihr durch. Sie zwang sich, ihn anzuschauen. Seine blauen Augen musterten sie besorgt. „Was ist mit Walker? Hat er dir was angetan?“ Eve schüttelte ihren Kopf und war erstaunt, wie schwer dieser auf einmal schien. „Nein“, widersprach. „Er ist tot.“ „Du hast ihn erledigt?“, fragte er überrascht. Er schien nicht so recht zu wissen, ob er stolz oder eher wütend sein sollte. Auch einige Männer im Hintergrund, die ihre Aussage gehört hatten, wechselten erstaunte Blicke. „Ich war das nicht“, entgegnete Eve. „Und wer dann?“ Eve antwortete nicht. Sie wusste es ja selbst nicht. Sie konnte bloß raten und Mutmaßungen anstellen, aber zu einem konkreten Ergebnis würde sie allein niemals kommen. „Ich muss dringend mit dem Chef reden“, meinte sie stattdessen. „Ich glaube, wir haben ein großes Problem.“ Kapitel 3: Großstädte --------------------- Irgendwo in der Ferne hörte Eve eine Kirchenglocke schlagen. Es war fünf Uhr in der Früh und die meisten Londoner schliefen noch in ihren wohlig weichen Betten. Eve jedoch hatte sich diesen Luxus nicht leisten können. Nass bis auf die Knochen war sie direkt nach der Begegnung zum Hauptquartier geeilt. Sie hatte sich nicht mal Zeit genommen, sich der feuchten Kleidung zu entledigen und sich umzuziehen. Inzwischen bereute sie ihre überstürzte Tat. Der nasse Stoff klebte an ihrer Haut und kühlte ihren Körper ungemein schnell aus. Anfangs hatte sie unkontrolliert gezittert und sich selbst für ihre Unbedachtsamkeit verflucht. Erst als Richard ihr einen heißen Kaffee gebracht und ihr eine wärmende Wolldecke um die Schultern gelegt hatte, ging es wieder etwas besser. „Du solltest raus aus den nassen Klamotten“, meinte er streng. Eve kicherte daraufhin nur. „Du bist wirklich unglaublich romantisch, mein Freund.“ „Und du bist viel zu leichtsinnig“, knurrte Richard. „Wieso warst du überhaupt alleine unterwegs? Ich hatte dich doch einer Einheit zugeteilt.“ Eve setzte eine missmutige Miene auf. „Du hast mich zusammen mit Simmons und Leland in ein Team gesteckt und allen Ernstes gedacht, ich würde mir das so einfach bieten lassen?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Die beiden sind doch absolut geistesgestört. Die haben immer so ein Funkeln in den Augen, als würden sie am liebsten alles umbringen, was ihnen in den Weg kommt. Ich kann sowieso nicht verstehen, warum man diesen Kerlen überhaupt Waffen in die Hand drückt. Das ist sowohl für ihre Feinde als auch für ihre Verbündeten lebensgefährlich.“ Richard grummelte wieder vor sich her, entgegnete jedoch nichts. Eve kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er ihr insgeheim Recht gab. Sie genehmigte sich ein kleines triumphierendes Lächeln, welches ihr Gegenüber mit einer säuerlichen Miene quittierte. Eve nippte an ihrem Kaffee und schaute sich in dem riesigen Zimmer um, welches sie selbst nach all den Jahren immer wieder in Ehrfurcht versetzen konnte. Als sie zum ersten Mal diese gigantische Bibliothek gesehen hatte, hatte sie erstaunt nach Luft geschnappt und einige unflätige Worte ausgestoßen, dermaßen überwältigt war sie gewesen. Und dieses Gefühl hatte sich selbst nach all der Zeit nicht verflüchtigt. Allein schon das Anwesen, das die Dämonenjäger als ihr Hauptquartier bezeichnen durften, war atemberaubend. Eine imposante Villa am Stadtrand, die gut und gerne über zweihundert Jahre auf dem Buckel hatte. Zwar hatte sie durch den Zweiten Weltkrieg einige Schäden erlitten, diese waren jedoch inzwischen vollständig repariert und auch so gut wie gar nicht mehr sichtbar. Zumindest hatte Eve die ausgebesserten Stellen erst bemerkt, als man sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Seit dem Abschluss der Bauarbeiten Ende des 18. Jahrhunderts diente dieses Anwesen den Dämonenjägern als Versteck und Unterkunft. Für die Wissenschaftler, Kämpfer und Spitzel war es ein Ort der Zusammenkunft und der Sicherheit. Kein Vampir hatte es bis jetzt gewagt, sich der Villa auch nur ansatzweise zu nähern. Überall waren Fallen verborgen, die für einen Untoten nicht unbedingt förderlich gewesen wären. Auch rankten sich um das Anwesen zahlreiche Mythen und Legenden, die selbst der gemeinen Bevölkerung Angst einjagten. Ob nun Mensch oder Vampir, man mied die Villa, so gut man konnte. Eve schaute sich ehrfurchtsvoll in der großen Bibliothek um. Bücher aus der ganzen Welt und aus den verschiedensten Zeitaltern waren hier zu finden, selbst antiquierte Stücke, die als verschollen oder vernichtet galten. Sogar einige Schriftrollen aus der berühmten Bibliothek von Alexandria befanden sich in dieser vielfältigen Sammlung, hatte Eve sich sagen lassen. Jedes Mal, wenn sie diesen riesigen Raum betrat, fühlte sie sich ganz klein und nichtig. So war es auch diesmal. Sie hockte auf ihrem weichen Polstersessel und kam sich vor, als würden all die Folianten und Bücher sie von oben herab mustern. Manchmal hatte Eve sogar das Gefühl, leise Stimmen zu hören, obwohl niemand in der Nähe war. Als würden diese alten Dokumente ihr etwas zuflüstern. Eve hatte schon mehr als einmal geglaubt, dass sie an diesem Ort verrückt werden würde, würde sie zu lange dort verweilen. „Ah, Ms. Hamilton“, drang plötzlich die sanfte Stimme von Liam McCoy an ihr Ohr. Der schon etwas ältere Mann kam aus einem Hinterzimmer hervor und lächelte die beiden Gäste an. „Wie schön, zu sehen, dass es Ihnen gut geht.“ Liam war die Art von Mann, die sich jeder gern als Großvater wünschte. Er ging stark auf die sechzig zu, war stämmig und durch sein langes Leben als Dämonenjäger auch muskulös und noch relativ gut in Form. Einzig sein linkes Bein machte ihm Probleme. Bei einem Kampf mit einem überaus gereizten Vampir war es schwer verletzt worden, eine Zeit lang hatten die Ärzte sogar erwogen, es zu amputieren. Schließlich jedoch hatte es sich doch noch zum Guten gewandt, Liam hatte sein Bein behalten können. Allerdings war er nun auf die Hilfe eines Gehstocks angewiesen und dies würde wahrscheinlich bis an sein Lebensende so bleiben. Liam hatte es mit Humor genommen. Immer wieder hatte er betont, dass er weitaus mehr hätte verlieren können. Somit hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden und den aktiven Dienst an den Nagel gehängt. Viele der Jäger hatten diesen Schritt sehr begrüßt, denn die meisten von ihnen hatten es nie gern gesehen, dass ihr Chef sich regelmäßig in Gefahr begab. „Sie sind ja völlig durchnässt“, stellte Liam verwundert fest. „Hat es etwa geregnet?“ Ja, bereits seit zwei Tagen, dachte Eve, doch sie verkniff sich jeglichen bösen Kommentar. Im Grunde fand sie ihren Chef sogar sehr amüsant. Manchmal war er derart verschroben und schusselig, dass man nur darüber lachen konnte. Liam war dazu imstande, sich dermaßen in seine Arbeit zu vertiefen, dass er alles um sich herum vergaß. Selbst die Geburt seines Sohnes Daniel hätte er beinahe verpasst gehabt, weil er sich irgendwo in seinen Büchern und Zetteln verloren hatte. Daniel, inzwischen Anfang dreißig und ebenfalls aktiver Dämonenjäger, hatte davon nie etwas erfahren und das würde wahrscheinlich auch so schnell nicht passieren. „Sie sollten die nasse Kleidung ausziehen“, meinte Liam, als er sich ächzend auf einen protzigen Ledersessel setzte. „Sonst erkälten Sie sich noch oder kriegen gar eine Lungenentzündung.“ „Das hab ich ihr auch gesagt“, meldete sich Richard. Eve warf ihm daraufhin einen vernichtenden Blick zu. „Ich weiß, meine Herren, ich weiß“, sagte sie zähneknirschend. „Aber wir haben dringendere Probleme.“ „Dieser merkwürdige Unbekannte.“ Liam nickte. Man hatte ihn bereits über alles informiert und so, wie Eve ihn kannte, hatte er sicherlich schon einige Bücher durch gewälzt, um wenigstens ein paar Antworten auf ihre zahlreiche Fragen zu erhalten. „Ein wirkliches Mysterium.“ „Wir haben bei anderen Jägerstützpunkten nachgefragt“, berichtete Richard. „Manchester, Glasgow, sogar Dublin. Nirgends ist dort ein Mann namens Seth bekannt.“ „Ich glaube nicht, dass er wirklich so heißt“, meinte Eve nachdenklich. „Er sagte mir, er hätte viele Namen.“ Liam nickte, während er sich grübelnd über den Kinnbart strich. „Das dachte ich mir schon“, murmelte er. „Und selbst wenn es sein richtiger Name wäre, würde uns das nicht viel weiter helfen. Unter der Bezeichnung 'Seth' findet man nur Informationen zu dem ägyptischen Gott ... und zu irgendwelchen Hollywood-Schauspielern, die wie Milchbübchen aussehen.“ Richard seufzte und fuhr sich durch das dunkle Haar. Dieser Geste bediente er sich immer, wenn er nicht weiter wusste oder nervös war. „Also sind wir genauso schlau wie zuvor“, stellte er fest. „Er scheint  zumindest ein Gönner oder wenigstens kein Feind der Dämonenjäger zu sein. Immerhin hat er Walker vernichtet und Eve somit das Leben gerettet.“ Die Besagte kam nicht umhin, ihrem Freund einen Tritt vors Schienbein zu verpassen. Auch ohne Seths Unterstützung wäre es ihr sehr wohl gelungen, den ausgehungerten und kraftlosen Vampir zu vernichten, doch Richard traute ihr wie üblich viel zu wenig zu. Liam bemerkte ihren kleinen Disput nicht. Gedankenverloren starrte er vor sich hin und erst nach einer Weile wandte er seine grauen Augen Eve zu. „Ms. Hamilton“, sagte er mit ungewöhnlich ernster Stimme. „Was sagen Sie dazu? Ist dieser Seth unser Freund?“ Eve konnte Liams durchdringenden Blick nur schwer ertragen, sodass sie zur Seite sah und sich die Worte ihres Chefs durch den Kopf gehen ließ. Sie rief sich Seths Bild erneut vor Augen und versuchte, sich zu erinnern, wie sie sich in seiner Nähe gefühlt hatte. Sie sah wieder dieses wirre Haar, das den Anschein erweckt hatte, als hätte er kurz zuvor in eine Steckdose gepackt oder wäre gar vom Blitz getroffen worden. Auch dieses breite Grinsen in seinem schon fast jungenhaft zu nennenden Gesicht hatte seltsam auf Eve gewirkt, beinahe schon ein wenig wahnsinnig. Und seine Augen, deren Farbe Eve aufgrund der spärlichen Beleuchtung nicht hatte erkennen können, hatten in einem merkwürdigen Glanz geschimmert. Ebenso entsann sich die junge Frau daran, wie Walker auf den Unbekannten reagiert hatte. Der Untote war verwirrt gewesen, was man unter Umständen auf seine missliche Lage hätte zurückführen können. Doch Eve war der festen Überzeugung, dass es Seth selbst gewesen war, der ihn eingeschüchtert hatte. Womöglich hatte der Vampir sogar Angst gehabt. Angst vor jemanden, der geheimnisvoller nicht hätte sein können. Und sie selbst? Eve konnte nicht genau bestimmen, wie sie sich in Seths Gegenwart eigentlich gefühlt hatte. Ihre Emotionen waren wie in einem Strudel gefangen gewesen, alles war herum gewirbelt. Sie hatte alles Mögliche unternommen, um sich von diesem Kerl nicht entmutigen zu lassen, aber wirklich gelungen war es ihr nicht. „Ms. Hamilton?“ Liams Stimme riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Er erwartete offenbar eine Antwort von ihr. „Ich denke nicht, dass er unser Freund ist“, erwiderte Eve schließlich. „Ich weiß auch nicht, woher diese Erkenntnis kommt, aber er war einfach ... falsch.“ Ihr fiel einfach keine bessere Erklärung ein. Seth hatte ihr kein Haar gekrümmt, sie im Grunde sogar beschützt, dennoch glaubte Eve nicht, dass er auf ihrer Seite stand. Er hatte etwas an sich gehabt, was nicht besonders menschlich gewirkt hatte. „Das hatte ich mir bereits gedacht“, meinte Liam nickend. „Dieser Seth könnte wahrscheinlich für die ganzen Brände in der letzten Zeit verantwortlich sein.“ Eve schaute alarmiert auf, auch Richard neben ihr zuckte zusammen. Schon seit mehreren Wochen hatte es vermehrt kleinere und größere Brände in London gegeben, die schweren Schaden angerichtet hatten. Und bis jetzt tappte die Polizei völlig im Dunkeln. Dass es keine zufälligen Feuer, sondern mutwillige Zerstörung war, hatte man inzwischen herausgefunden, doch von den Drahtziehern fehlte immer noch die geringste Spur. Deswegen hatten sich die Behörden auch an die Jäger gewandt. Viele glaubten, dass die Brände und ganz besonders der oder die Brandstifter keinen natürlichen Ursprung hatten. „Also Seth soll dafür verantwortlich sein?“, fragte Eve nach. Diese Theorie ergab durchaus Sinn, immerhin hatte er sein Geschick mit Feuer direkt vor ihren Augen bewiesen. „Aber warum?“ „Er hat Ihnen doch gesagt, dass er geweckt worden sei, um die Teufelsbrut zu töten, nicht wahr?“ Liam war wie üblich bestens informiert. „Wir wissen zwar nicht, was genau das heißen soll, aber anscheinend konzentriert er sich auf Vampire. Das würde auch erklären, wieso er diesen Walker getötet, aber Ihnen nichts angetan hat.“ Richard hob seine Augenbrauen. „Aber das wäre doch von Vorteil für uns, oder etwa nicht?“ Liam seufzte schwer. „Auf den ersten Blick mag das durchaus so aussehen. Schon seit einiger Zeit bemerken wir, dass ungewöhnlich viele Vampire London verlassen. Und wir haben über unsere Kontakte zur Unterwelt erfahren, dass viele Untote verschwunden sind. Tot, vermutlich. Seit diese Brände ausgebrochen sind, sind die Vampire im Aufruhr.“ Eve nickte. Dieses Phänomen war ihr auch schon aufgefallen. In letzter Zeit schien die ganze Stadt angespannt zu sein. Auch Walkers Schöpfer – ein schon älterer Vampir, der den Dämonenjägern des Öfteren entkommen war – hatten sie überraschen können. Es war Eve erschienen, als wäre er von etwas anderem abgelenkt gewesen. Nervös und unruhig hatte er gewirkt, er hatte seine Umgebung kaum mehr wahrgenommen. Womöglich hatte er sogar deshalb Walker erschaffen – um sich weiteren Schutz an die Seite zu stellen. „Die Vampire haben Angst“, murmelte Eve. Irgendwie versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, sodass sie die warme Decke noch enger um sich schlang. „Die mächtigen Untoten scheinen sich tatsächlich zu fürchten“, bestätigte Liam. „Vor uns Jägern hatten sie nie wirklich Respekt, selbst als unsere Waffen mit der Zeit immer moderner und effizienter wurden, haben sie uns noch ausgelacht.“ Er schwieg kurz und starrte vor sich hin. „Welche Macht muss da also am Werke sein, dass diese Geschöpfe es mit der Angst zu tun bekommen?“ Eve schüttelte den Kopf. Sie wollte lieber gar nicht darüber nachdenken. Sie sehnte sich nur nach einem bequemen Bett und ein paar Stunden traumlosen Schlaf. „Aber ist dieser Seth nun böse oder nicht?“, wollte Richard wissen. Liam lachte leise. „Die Welt ist grau, mein Freund, nicht schwarz-weiß. Dieser Seth scheint tatsächlich Vampire zu jagen, wenn man den Berichten glauben mag ... allerdings nimmt er dabei wenig Rücksicht auf andere. Die Brände haben schon vielen Menschen das Leben gekostet. Es stört ihn offenbar wenig, ob er bei seinen Aktionen auch noch ein paar Unschuldige tötet oder nicht.“ Ihr Chef setzte eine harte Miene auf. „Und solch ein Treiben dürfen wir nicht dulden. Er kann so viele Vampire umbringen, wie er will, aber sobald er sich an einem Menschen vergreift, ist er auch unser Feind.“ Eve rieb sich die Schläfen. Ihr Kopf dröhnte. Zu gerne hätte sie die vorangegangenen Ereignisse einfach vergessen, doch unglücklicherweise war dies nicht möglich. „Aber wer oder was ist dieser Seth nun?“, fragte Richard. „Wirklich ein Magier?“ „Er hat den Regen mit einem Zauber von sich fern gehalten“, erklärte Eve. „Und er hat Feuer aus dem Nichts geschaffen. Aber genau da liegt das Problem.“ Liam nickte verstehend. „Es bedarf großer Macht, einen Vampir mit einem magischen Feuer zu töten.“ Genau das war es, was Eve so unendlich viel Kopfzerbrechen bereitete. Untote waren gegenüber Magie zwar nicht immun, aber sie wiesen eine größere Standhaftigkeit auf. Im Gegensatz zu Menschen und auch vielen anderen übernatürlichen Geschöpfen benötigte man sehr viel Energie, um einen Vampir alleine mit Magie schwer zu verletzen oder gar zu töten. Bei solch einem Vorhaben schlossen sich meist mehrere Magier zusammen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Doch Seth war vollkommen alleine gewesen. Und es schien ihm nicht mal ansatzweise ermüdet zu haben. Als wäre es bloß eine nichtige Kleinigkeit gewesen. „Ich habe noch niemals gehört, dass ein einzelner Magier so etwas zustande bringt“, meinte Liam kopfschüttelnd. „Es kann natürlich sein, dass sich in unseren Archiven irgendwas dazu findet, aber ...“ Er seufzte auf. „Mir persönlich ist so etwas noch niemals zuvor untergekommen. Und ich habe schon eine Menge erlebt.“ Mit einem Mal wirkte der alte Mann mit den sonst so munteren Augen sehr müde. Er schien regelrecht in seinem großen Sessel zu versinken, während er seinen Gedanken nachhing und versuchte, dem Ganzen irgendwie einen Sinn zu entlocken. Und Eve hasste sich selbst dafür, dass das nicht das Ende der Hiobsbotschaften war. „Außerdem hat Seth noch Asrim und die Sieben erwähnt.“ Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie sich daran erinnerte. „Er meinte, sie wären auf den Weg hierher.“ Richard sog zischend die Luft ein. „Hierher? Nach London?“ Liam seufzte daraufhin schwer und rieb sich die Schläfen. „Das wäre wirklich nicht gut.“ Er schwieg einen Moment, ehe er fast schon geistesabwesend hinzufügte: „Gar nicht gut.“ Eine Aussage, der Eve unter keinen Umständen widersprochen hätte. Dämonenjäger stellten sich unentwegt Vampiren und anderen Geschöpfen der Nacht in den Weg und bekämpften sie verbissen. Es war ihr Ziel, ihre Lebensaufgabe und nicht auch selten ihr Tod. Dennoch trugen die meisten dieses Kreuz bis ans Ende und scheuten sich vor keiner Konfrontation. Selbst wenn die Chancen denkbar schlecht standen. Doch die Sieben gehörten einer Kategorie weit jenseits ihrer Vorstellungen an.  Sie waren Legenden und Mysterien. Märchen, die man seinen Kindern vor dem Zubettgehen erzählte, obwohl sie eigentlich viel zu schrecklich und grausam waren, als dass man danach noch hätte schlafen können. Sie waren Geschichten, geflüsterte Worte in dunklen Gassen, Erinnerungen und Gedanken. Und gleichzeitig entsetzlich real, sodass die Möglichkeit, dass einer von ihnen im nächsten Augenblick aus den Schatten hervortrat und unschuldige Seelen in die Hölle entführte, bei weitem nicht so unwahrscheinlich war, wie man sich das vielleicht erträumen wollte. Man fürchtete sie. Und nicht nur die Menschen, sondern auch die Vampire selbst. Die Sieben waren wie unberechenbare Könige, die Gnade oder den Tod bringen konnten. Je nachdem, wie ihnen der Sinn danach stand.  Schon am Anfang ihrer Ausbildung wurde den Jägern aufs schärfste eingebläut, dass diese berüchtigten sieben Vampire zu den gefährlichsten der Welt gehörten und dass man sich unter keinen Umständen mit ihnen anlegen sollte. Wenn es um diesen Clan ging, war Flucht die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Und Asrim war ihr aller Vater, ihr Schöpfer, ihr Gott. Er hatte die sieben großen Vampirfürsten Sharif, Alec, Oscar, Yasmine, Annis, Elias und Necroma vor Tausenden von Jahren erschaffen und ihnen somit eine Macht gegeben, die man sich nicht vorstellen konnte. Asrims Blut, so hieß es, wirkte wie ein Zauberelixier für denjenigen, den er für auserwählt erachtete. So zumindest wurde es sich erzählt. Man hatte jedoch schon immer bezweifelt, dass sie vollkommen unbesiegbar wären. Es hatte in der Vergangenheit bereits einige Versuche gegeben, diese besagte Sippe auszulöschen, und auch wenn keiner davon von Erfolg gekrönt gewesen war, so hatten doch einzelne Begebenheiten gezeigt, dass sie keine übermenschlichen Götter waren. Man konnte sie schwächen, man konnte sie aus dem Konzept bringen und sicherlich konnte man sie auch töten. Bisher waren jedoch nur sehr wenige erpicht darauf gewesen, es wirklich zu versuchen. Und Eve wollte sich sicher nicht dazu zählen. Sie mochte niemals vor einem Kampf davonlaufen, gelegentlich suchte sie ihn sogar wider besserem Wissens, aber als selbstmordgefährdet betrachtete sie sich eigentlich nicht. Doch genau das musste man sein, wenn man sich mit den Sieben anlegte. Vielleicht irgendwann einmal, sollte bei ihr jemals ein inoperabler Hirntumor oder Krebs im Endstadium festgestellt werden und sie sowieso nichts zu verlieren hätte, aber ganz gewiss nicht in der nächsten Zeit. „Was tun wir, wenn sie wirklich hierherkommen?“, fragte sie nach. Es bestand natürlich noch die Möglichkeit, dass Seth einfach geprahlt hatte, aber andererseits hatte er so dermaßen überzeugt geklungen, dass es Eve ausgesprochen schwer fiel, seinen Worten nicht zu glauben. Liam musterte sie einen Augenblick. „Was würden Sie denn vorschlagen, Ms. Hamilton?“ Eve zögerte kurz. In ihrer Ausbildung hatte es, als es um den Umgang mit diesem speziellen Clan gegangen war, im Grunde nur eine einzige Devise gegeben: Sich ruhig verhalten und erst reagieren, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. „Das Beste hoffen und das Schlimmste erwarten?“, schlug sie somit vor. Liam lachte auf. „Guter Plan.“  „Wenn die Sieben wirklich alle hierher kommen, dann sollten wir Verstärkung rufen“, meinte Richard. „Einfach nur, um im Fall der Fälle gewappnet zu sein. Man kann nie wissen, was passieren wird.“ „Sie haben nicht Unrecht, Mr. Davis.“ Dennoch schwangen Zweifel in Liams Stimme mit. Auch Eve war etwas zurückhaltend. Selbst wenn sie alle Dämonenjäger der Welt zusammentrommeln würden – gut und gerne an die zehntausend Stück – war sie sich nicht sicher, ob dies ausreichen würde. Allein die zahlreichen Geschichten über diese besonderen Vampire ließen vermuten, dass sie sich selbst von einer Armee nicht würden aufhalten lassen. Außerdem war es sicher nicht das erste Mal, dass sie sich in London aufhielten. Die letzte offizielle Bestätigung stammte zwar noch aus der Zeit der Ripper-Morde, aber es war nicht unmöglich, dass sie sich auch noch später öfters mal in der Stadt oder zumindest in der Nähe aufgehalten hatten. Generell gingen sie eigentlich Konfrontationen aus dem Weg und blieben lieber im Dunkeln. Ein direkter Angriff auf die Jäger schien im Grunde zunächst unwahrscheinlich, solange keine Provokationen irgendwelcher Art betrieben wurden. Eigentlich musste man nichts weiter tun, als die Sieben in Ruhe zu lassen. Und dennoch kam Eve nicht umhin, dauernd Seths Gesicht vor sich zu sehen. Sein Tonfall hatte verhängnisvoll geklungen, als wüsste er etwas, dass das unausgesprochene Abkommen zwischen den Jägern und diesen besagten Vampiren aus dem Gleichgewicht bringen würde. „Es schadet nicht, vorbereitet zu sein“, murmelte sie somit auch ihre Zustimmung. „Ich mein‘, zumindest Manchester und Dublin könnten bestimmt ein paar Leute entbehren. Um sicherzugehen.“ Auch wenn sie das dumpfe Gefühl beschlich, dass es eh keinen Unterschied machte. Sie massierte sich unruhig ihre kalten Hände, während ihr die Begegnung mit diesem seltsamen Mann immer wieder durch den Kopf ging. Sein Lächeln, seine funkelnden Augen, das Feuer. Und die Tatsache, dass er mit ihr gesprochen hatte, als wären sie alte Freunde. Er hatte ihren Namen gekannt und wenn sie ehrlich zu sich war, erschütterte sie dies fast noch mehr als der Fakt, dass er einen Vampir mit Magie getötet hat. Sie war niemand Besonderes, einer von vielen Jägern, weder besonders herausragend noch einzigartig. Sie wusste mit ihrer Waffe umzugehen, hatte einen Dickschädel und wurde allgemein respektiert, aber dies konnte man über eigentlich jeden in diesem Gebäude sagen. Selbst der Hausmeister verfügte über gewisse Kampftechniken. Aber die Art, wie Seth sie angesehen hatte, machte deutlich, dass sie für ihn einen besonderen Platz einnahm. Warum auch immer. Sie war sich absolut sicher, diesem Mann noch niemals zuvor begegnet zu sein und vermochte sich nicht im Entferntesten zu erklären, wie sie in irgendeiner Verbindung zu ihm stehen könnte. Es machte alles keinen Sinn. Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass es über kurz oder lang entscheidend sein würde. +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  + Großstädte rochen unangenehm. Das hatte Asrim schon sehr früh festgestellt. Er hatte mit verfolgt, wie die Menschen von einfachen Holzhütten auf Steinhäuser und schließlich auf diese riesigen Metallkonstruktionen übergegangen waren. Nun ragten ihre Bauwerke weit in den Himmel, als wollten sie die Sterne berühren. Die Städte waren mit der Zeit immer mehr gewachsen und der Gestank war mit jedem Jahrhundert schwerer zu ertragen gewesen. Früher hatten die Menschen ihren Unrat einfach auf die Straße gekippt und somit die Luft verpestet. Selbst die ein oder andere Fliege war damals tot zu Boden gestürzt, weil sie die Ausdünstungen nicht hatte verkraften können. Und für die feine Nase eines Vampirs war es die Hölle auf Erden gewesen. Inzwischen verfügte man über moderne Abwassersysteme, die den Gestank nicht an die Außenwelt vordringen lassen sollten. Und dennoch rochen Großstädte unangenehm. Es waren nicht nur die Abgase und der Geruch von Müll, triefenden Fett und Schweiß ... es war nun vor allen Dingen dieser Mief von Selbstherrlichkeit und Größenwahnsinn, der einen verrückt machen konnte. Die Überheblichkeit der Menschen war in jeder Ecke zu spüren, überall sah man ihre protzigen Errungenschaften, auf die sie derart stolz waren, dass man es noch am anderen Ende der Welt sehen konnte. Arroganz und Hochmut beherrschten die Welt. Und das roch schlimmer als der ganze Unrat zusammengenommen. London war nicht viel besser als alle anderen Städte. Zwar kleiner und übersichtlicher als das große New York, wo sich Asrim vor gut zehn Jahren einige Zeit aufgehalten hatte, aber im Grunde gab es kaum einen bedeutenden Unterschied. Selbst der häufige Regen konnte den elenden Gestank nicht fortspülen. Es hatte sich einfach festgesetzt und würde erst wieder verschwinden, wenn das eintrat, was die Christen gerne als Jüngstes Gericht bezeichneten. Erst dann würde die Luft wieder rein und klar sein. So wie damals, in alter Zeit. „Ich mag London nicht“, ertönte eine Stimme direkt hinter ihm. „Ich mag England nicht. Ich kann das alles hier nicht leiden.“ Asrims Lippen umspielte ein Lächeln, ehe er einen Blick auf den Vampir warf, der etwas im Hintergrund stand und mit missmutiger Miene die Stadt vor sich betrachtete. Sharif hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich allgemein demonstrativ etwas zurückgezogen, um seinen Protest noch einmal mehr als deutlich zu unterstreichen. Bereits seit Tagen beschwerte er sich ununterbrochen über ihr angestrebtes Reiseziel. Schon für Deutschland, wo sie zuvor einige Zeit verbracht hatten, hatte er wenig Begeisterung aufbringen können, doch England stand glatt noch eine Stufe tiefer auf seiner Beliebtheitsskala. Als Ägypter, der Trockenheit und Hitze gewohnt war wie kein anderer, war er für das feuchte Klima einfach nicht geschaffen. „Entspann dich“, riet Asrim ihm. „Genieße doch einfach die Umgebung.“ Sharif musterte ihn einen Augenblick ungläubig, als würde er tatsächlich am Geisteszustand seines Gegenübers zweifeln. „Die Umgebung? Meinst du die Regenwolken, den Matsch oder den schrecklichen Gestank? Was von all dem soll ich genießen?“ Asrim schmunzelte leicht. Normalerweise war Sharif relativ ausgeglichen, doch ab und zu fand selbst er seine sarkastische Ader und zeigte keinerlei Hemmungen, seine Meinung offen und schonungslos zu äußern. Gerade, wenn es mehrere Tage hintereinander regnete, wurde er ausgesprochen garstig und unfreundlich. „Genieß doch einfach die Vorstellung, dass du bald einen Vampirmörder in tausend Stücke reißen kannst“, schlug Asrim mit einem bösartigen Lächeln vor. Sharif jedoch schnaubte nur. „Ein Vampirmörder? Alles, was wir haben, ist die Versicherung eines kleinen Untoten, dass ein soziopathischer Feuerteufel hier sein Unwesen treibt. Woher sollen wir wissen, dass dieser Kerl wirklich existiert?“ Es war typisch, dass er solcherlei Geschichten anzweifelte. Sharif hatte schon immer Probleme damit gehabt, Vertrauen aufzubauen. Selbst Asrim hatte damals vor vielen tausend Jahren einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Sharif zu einem neuen Leben als Vampir zu überreden. Anfangs wäre er lieber an seinen grauenvollen Verletzungen gestorben, als Asrim, der ihm von seiner fabelhaften Zukunft erzählt hatte, auch nur ein Wort zu glauben. Erst als seine Schmerzen unerträglich geworden waren und er sowieso nichts mehr zu verlieren gehabt hatte, hatte er schließlich zugestimmt. Aber Unrecht hatte er auf eine gewisse Weise nicht. Als sie sich in das Flugzeug gesetzt hatten, hatten sie kaum mehr gehabt als das Wort eines unbekannten Vampirs, der die Sieben in einem schönen und ruhigen Dorf mitten in Deutschland trotz aller Widrigkeiten aufgespürt hatte. Asrim hatte sich die Erzählungen über dunkle Schatten und einen unbekannten Mann, der in der Lage war, mit Magie selbst Unsterbliche zu töten, angehört und gleich gespürt, dass etwas in London vorging, das sie nicht einfach ignorieren konnten. Etwas hatte in der tiefsten Ecke seines Gedächtnisses gekitzelt, als er den Worten des aufgeregten und zu Tode geängstigten Untoten gelauscht hatte. „Wie können wir uns also sicher sein, dass unsere Reise nicht völlig umsonst war?“, hakte Sharif zähneknirschend nach. „Wer sagt uns, dass es diesen Irren überhaupt gibt?“ „Die Zeitungen“, erwiderte Asrim. „Es scheint im Laufe der letzten paar Wochen vermehrt Brandstiftungen gegeben zu haben. Ein starkes Indiz, dass jemand mit dem Feuer spielt, findest du nicht auch?“ Sharif hob eine Augenbraue und musterte seinen Schöpfer mit einem Blick, als würde er sich fragen, wann Asrim überhaupt Zeit und Muße fand, Zeitung zu lesen. Ganz besonders lokale Londoner Nachrichten, die kaum in der großen internationalen Presse Erwähnung finden würden. „Woher weißt du das denn schon wieder?“, hakte er verwundert nach. Asrim schwieg daraufhin nur. Er gab sich gerne rätselhaft und geheimnisvoll, um seine mystische Aura selbst gegenüber seinen Clanmitgliedern bewahren zu können. Und hätte er Sharif hier und jetzt gebeichtet, dass ihn eigentlich Necroma vor einigen Tagen auf diesen Umstand aufmerksam gemacht und er keine übernatürliche Eingebung gehabt hatte, hätte das die Wirkung irgendwie verfehlt. „Die Jäger Londons gehen stark davon aus, dass die Feuer in der letzten Zeit übermenschlichen Ursprungs sind“, fuhr Asrim stattdessen mit seinen Ausführungen fort. „Zugegeben, es handelt sich bloß um Menschen, die offenbar an einer gewissen Lebensmüdigkeit leiden, wenn sie sich mit Vampiren anlegen, aber nichtsdestotrotz kann man ihnen ja zumuten, so etwas zu erkennen. Zumal sie einige Magier in ihrem Team haben, die besser darüber Bescheid wissen.“ Sharif schnaubte bei diesem Kommentar bloß abfällig. „Jäger ...“, murmelte er. Ganz hier in der Nähe hatte einst der Widerstand begonnen, so wurde es vielerorts erzählt. Es hatte stets im Laufe der Jahrtausende Einzelkämpfer oder kleinere Gruppen gegeben, die sich dem Übernatürlichen gegenübergestellt hatten. Meist mit sehr geringen Erfolg, dennoch war der Glaube, dass die Menschheit eines Tages über die Kreaturen der Nacht triumphieren würde, niemals erschüttert worden. Und so war es gekommen, dass sie irgendwann begonnen hatten, sich zu organisieren. Der Ursprung fand sich an der Westküste Englands, nahe Liverpools. Damals, am Anfang des 17. Jahrhunderts, hatten sich Bauern und Adelige zusammengefunden, um sich einer Meute hungriger und aggressiver Vampire zu stellen. Zu der Überraschung aller war es ihnen sogar gelungen, die untoten Wesen mit Schwertern und Mistgabeln zu vertreiben. Und der Erfolg war den Menschen daraufhin zu Kopf gestiegen. Inzwischen gab es überall auf der Welt diese verfluchten Jäger, die sich für die Ritter der Gerechtigkeit hielten. Anfangs hatte Asrim diese Schar Größenwahnsinniger nicht allzu ernst genommen, aber mit der Zeit waren sie immer lästiger geworden. Ihre Waffen wurden immer moderner und heimtückischer, sodass sich schwächere Vampire nicht dagegen zu wehren wussten. Die Erfolgsrate dieser Jäger war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges enorm angestiegen. Ihr Netzwerk an Kriegern, Informanten und Spitzeln hatte einen immer größeren Einfluss gewonnen, selbst mit den öffentlichen Behörden arbeiteten sie des Öfteren zusammen. Auch hatten sie eine hohe Zahl an Gönnern, die immer wieder eine Menge Geld fließen ließen, um die Forschungen der Organisation zu unterstützen. Asrim seufzte. Er war wohl langsam an der Zeit, sich diesem Problem zu widmen. Die Jäger hatten ihn persönlich bis jetzt noch nicht behelligt, aber das würde sich eher früher als später ändern. Je ausgereifter ihre Methoden, desto übermütiger wurden die Menschen. Und mit dem Beginn des Computerzeitalters war ihre Überheblichkeit immer weiter gestiegen. Aber noch war nicht die Zeit gekommen, sich mit ihnen zu befassen. Asrim ließ seinen Blick schweifen. Neben dem typischen Geruch, der Großstädten anhaftete, hing noch etwas anderes in der Luft, das der Vampir nicht recht zu erfassen vermochte. Er hatte im Laufe der Zeit schon vieles erlebt und gesehen, doch die Atmosphäre, die zurzeit in London herrschte, konnte er mit nichts vergleichen. Es handelte sich um eine seltsam drückende Stimmung, die ganz sicher nichts mit den Regenwolken zu tun hatte. Vielmehr schien etwas Magisches die ganze Stadt zu erfüllen. Etwas, das Asrim noch nie zuvor verspürt hatte. „Merkst du das auch?“, fragte er bei Sharif nach, der sich gerade seinen Mantel enger um den Körper schlang und leise auf Ägyptisch vor sich hin fluchte.  „Was soll ich merken?“, fragte Sharif nach und beantwortete somit automatisch Asrims Frage. „Irgendetwas geschieht in dieser Stadt“, erklärte Asrim. Er versuchte, alle seine Sinne zu öffnen, zu ertasten, was eigentlich in der Stadt los war, doch er wollte ihm nicht recht gelingen. Stattdessen lief ihm ein jäher Schauer über den Rücken, der ihn leicht beunruhigte. Mit einem Mal verstand er, warum der Vampir in Deutschland all die Mühen auf sich genommen hatte, um Asrim zu erreichen. Die Macht, die ganz London zu ergreifen schien, musste für die heimischen Untoten über kurz oder lang unglaublich bedrohlich wirken. Wie dunstiger Nebel, der still und heimlich selbst in die kleinste Ecke kroch und alles einzunehmen vermochte, ohne dass man es zunächst richtig realisierte. „Und was genau?“, wollte Sharif wissen. Er klang wie ein genervter Jugendlicher, der sich einen sterbenslangweiligen Vortrag von seinem Vater anhören musste und darauf nicht die geringste Lust hatte. „Das kann ich noch nicht sagen“, murmelte Asrim. Jedoch kitzelte es in den Tiefen seines Gedächtnisses. Erinnerungen an die Türkei und Indien stiegen in ihm hoch, die er all die vielen Jahrzehnte erfolgreich verbannt hatte. Niemals wieder hatte er daran denken wollen, hätte es sogar am liebsten für immer und ewig verbannt. Die größte Errungenschaft seines Lebens. Und gleichzeitig die schrecklichste Niederlage. Was es wirklich möglich, dass es ihn nun, nach all dieser Zeit, wieder eingeholt hatte? Dass die Vergangenheit erneut zur Gegenwart wurde? „Du weißt ganz genau, was hier vor sich geht, nicht wahr?“ Sharif musterte seinen Schöpfer eingehend. Seine dunklen Augen funkelten in der pechschwarzen Nacht, während er den Kragen seines Mantels hochschlug, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. Asrim hatte keine Ahnung, was er hierauf hätte antworten sollen. Einerseits verspürte er das tiefe Bedürfnis, Sharif alles anzuvertrauen, mit ihm das vielleicht letzte Geheimnis zu teilen, das sie noch trennte. Immerhin war Sharif sein erstes Geschöpf, sein engster Vertrauter. Und damals vor fast dreitausend Jahren in einem kleinen Dorf am Nil hatte alles seinen Anfang genommen. Sie verband derart viel, dass es sich wahrscheinlich niemand auch nur ansatzweise vorzustellen vermochte. Asrims Blut hatte Sharif ein neues Leben geschenkt, ihn wiedergeboren in der Stunde seines Todes. Doch Asrim merkte bereits, dass er kein Wort über seine Lippen bringen würde. Zu sehr schämte er sich für das, was einst geschehen war. Er war töricht und überheblich gewesen und hatte dafür einen grausamen Preis zahlen müssen. Und nicht mal Sharif würde es verstehen oder gar jemals verzeihen können. „Du hast zumindest eine Vermutung, nicht wahr?“, ließ der Ägypter nicht ohne weiteres locker. Unruhig sprang er von einem Bein auf das andere, offenbar zunehmend beeinflusst von der eisigen Kälte. Unter Umständen spürte er aber inzwischen auch unterschwellig die seltsame Veränderung in der Luft, selbst wenn es ihm gar nicht so recht bewusst war. „Eine Vermutung?“ Asrim seufzte. In der Tat hatte er eine. Eine verrückte, irrsinnige, unmögliche und erschreckende Vermutung. Und er betete zu allen Göttern, die ihm bekannt waren, dass er falsch lag. Kapitel 4: Rashitar ------------------- Rashitar, Frankreich (837 v. Chr.):*     Es war dunkel in der Zelle. Dunkel und kalt. Neyo hatte keine Ahnung, wie lange er schon in diesem schwarzen Loch saß, jegliches Zeitgefühl war ihm vollkommen abhanden gegangen. Es mochten Tage sein, vielleicht sogar Wochen oder Monate. Im Grunde spielte es keine Rolle, es kam ihm so oder so wie eine nicht enden wollende, grausame Ewigkeit vor. Zitternd hockte er auf der durchgelegenen Pritsche, während er sich bemühte, den Geräuschen um sich herum keine allzu große Beachtung zukommen zu lassen. Die Krallen der Ratten schabten über den Steinboden und überall hörte Neyo das Getier herum wuseln. Fliegen machten sich am Kot der Ratten zu schaffen und tellergroße Spinnen wiederum erfreuten sich sehr an der regen Insektenpopulation. Zumindest über mangelnde Gesellschaft konnte Neyo sich nicht beklagen. Auch einige der anderen Verliese waren bewohnt, dies hatte er sogar noch mitbekommen, als man ihn gewaltsam in diesen Keller gezerrt hatte. Leere Augen hatten ihn emotionslos angesehen, ausgemergelte Gesichter überall. Die Hoffnungslosigkeit war beinahe greifbar gewesen, jegliche Zuversicht auf Flucht war spätestens ab diesem Zeitpunkt verschwunden. Nein, es gab keine Hoffnung mehr. Neyo zog seine Beine an sich heran und umschlang sie. Es war so unglaublich kalt, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Bei jedem Atemzug stieß er Wölkchen aus und seine Finger waren schon seit geraumer Zeit taub. Er war kaum noch in der Lage, sie zu bewegen. Nur mit Mühe konnte er seine kargen Mahlzeiten, die die grimmigen Wächter in scheinbar unregelmäßigen Abständen ab und an vorbeibrachten, vor den Ratten retten. Nicht selten hatte Neyo immer wieder den Wasserkrug umgeschmissen, da er ihn nicht richtig hatte greifen können. Er seufzte. Zum tausendsten Mal fragte er sich, wie er bloß in eine solch ausweglose Situation hatte geraten können. Er war sonst immer so vorsichtig gewesen. Stets hatte er darauf geachtet, bei seinen nicht allzu gesetzestreuen Tätigkeiten von niemandem beobachtet zu werden. Und selbst wenn er doch mal entdeckt worden war, dann waren die trägen Stadtwachen immer zu langsam gewesen, um ihn zu erwischen. Nun aber war es ihnen gelungen. Nur durch Zufall war Neyo im regen Getümmel des allmonatlichen Marktes auf eine Gruppe Wächter gestoßen, die den verwahrlosten Straßenjungen gepackt hatten, bevor dieser überhaupt  realisiert hatte, was mit ihm geschah. Unglücklicherweise hatten sich zu diesem Zeitpunkt mehrere Geldbeutel in seinem Besitz befunden, die er zuvor arglosen Besuchern gestohlen hatte. Neyo hatte zwar versucht, sich herauszureden und seinen Charme ein wenig spielen zu lassen, aber es war letzten Endes fruchtlos gewesen. Die Soldaten hatten nicht lange gefackelt und den Dieb in das finstere Verlies gesperrt. Seitdem hockte er nun dort und je mehr Zeit verstrich, desto verzweifelter wurde er. Es gab keine Möglichkeit, die Zellentür irgendwie aufzubekommen – selbst seine von ihm oft verwendeten Dietriche waren nutzlos, wie er bereits frustriert festgestellt hatte –, und selbst wenn es ihm doch gelungen wäre, auszubrechen, so hätte es nur einen einzigen Fluchtweg gegeben, der ihn direkt in die Arme der Wächter getrieben hätte. Die Katakomben befanden sich tief unter der Erde, sodass es völlig unmöglich war, durch irgendein anderes Schlupfloch zu entkommen. Es gab nur diesen einen langen, dunklen Gang, der wieder hinaus in die Freiheit führte und gerade deswegen zu jeder Tages- und Nachtzeit streng bewacht wurde. Neyo lehnte sich gegen die kalte Wand. Er würde wohl noch eine lange Zeit in diesem Verlies feststecken, vielleicht sogar für immer. Auf der Straße hatte er Gerüchte gehört, dass es bisweilen vorkam, dass man den einen oder anderen Gefangenen hier unten vergaß. Angeblich sollten schon viele in ihren Zellen verhungert und jämmerlich zugrunde gegangen sein, weil man sich nicht mehr an sie erinnert hatte. Dort draußen hatte Neyo diese Geschichten für Humbug gehalten, aber nun, da er dieses schwarze Gefängnis am eigenen Leib zu spüren bekam, war er sich nicht mehr so sicher. Er ertappte sich dabei, wie er immer wieder erleichtert aufatmete, wenn der Wachposten mit seinem Essen erschien. Noch hatte man ihn zumindest nicht vergessen. Neyo lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als plötzlich ein markerschütternder Schrei durch den Gang hallte. Schmerz und Todesqualen schienen greifbar zu werden. Selbst die Ratten verkrochen sich wieder quietschend in ihren Löchern, als glaubten sie, bald die nächsten zu sein, während Neyo das unkontrollierte Zittern seines Körpers nicht zu unterbinden vermochte. Die Kälte, die ständige Anspannung, die Angst – das war einfach zu viel. Offenbar hatten die Erbauer der Katakomben alles so angelegt, dass man nicht nur seinem eigenen Leid ausgesetzt war, sondern auch noch das seiner Mitgefangenen teilte. Jedes Ächzen und Stöhnen bekam er mit, selbst wenn es vom anderen Ende des Gangs zu ihm herüber hallte. Und noch lange klang es in seinen Ohren, selbst wenn die Geräusche bereits verstummt waren und einer drückenden Stille Platz gemacht hatten. Besonders schlimm war die Folterkammer. Beinahe täglich wurde dort irgendeine arme Seele fast zu Tode gequält, immer wieder hörte man die Schreie und das Weinen der Gepeinigten. Selbst die härtesten Verbrecher winselten um Gnade und Erbarmen. Ihr Flehen war im ganzen Gefängnis zu hören, niemand konnte davor flüchten oder es verdrängen. Man war dem hilflos ausgeliefert. Und wenn schon solche unerschütterlichen Männer bei der Aussicht darauf, in die Folterkammer gebracht zu werden, in Tränen ausbrachen, so wollte Neyo lieber gar nicht erst wissen, wie es dort aussah. Er fürchtete den Tag, an dem er dort vorstellig werden musste. Er hoffte bloß inständig, dass ein kleiner Dieb von gerade mal fünfzehn Jahren es nicht wert wäre, all diese Folterinstrumente an ihm auszuprobieren. Vielleicht ein paar Peitschenhiebe, möglicherweise sogar die Streckbank ... doch hoffentlich nicht mehr. Gerade als er darüber nachdachte, was es wohl alles für Apparaturen in der Folterkammer geben mochte, vernahm er plötzlich Schritte. Sein Herz schlug unwillkürlich schneller. Es war noch lange nicht Zeit fürs Essen, und außerdem schienen sich da mehr als eine Person zu nähern. Bis jetzt war es immer ein einzelner Wächter gewesen, der die Mahlzeiten vorbeigebracht hatte. Sie kamen nur zu mehreren, wenn sie jemanden zur besagten Kammer eskortieren wollten. Neyo schluckte. War es jetzt etwa soweit? War seine Zeit gekommen? Entschieden schüttelte er den Kopf und vertrieb seine düsteren Gedanken. Es gab schließlich noch Dutzende andere Zellen hier unten, warum sollten sie ausgerechnet zu ihm kommen? Als jedoch die Schritte abrupt vor seiner Gittertür stoppten, brach jegliche Hoffnung in sich zusammen. Neyos Herz hämmerte hart gegen seinen Brustkorb. Er zog die Beine enger an sich heran und drückte sich noch weiter gegen die Wand, sodass es schmerzte. Er wollte in der Dunkelheit versinken, einfach nur unsichtbar werden. Inständig betete er zu den Göttern, dass man ihn verschonte, obwohl ihm im Grunde klar war, dass dies nicht viel bringen würde. Die höheren Mächte waren ihm noch nie wohlgesonnen gewesen. Stattdessen würden sie zulassen, wie die Wächter ihn brutal aus seiner Zelle zerrten und ihm zu jenem Raum brachten, aus dem zu fast jeder Tageszeit entsetzliche Schmerzensschreie drangen. Und es würde diese Männer nicht im Geringsten kümmern, ob Neyo ein Dieb, ein Meuchelmörder oder auch völlig unschuldig wäre. Sie machten mit allen dasselbe. Im dumpfen Schein einer Fackel konnte Neyo zwei Gestalten erkennen. Der eine trug die typische Kluft der Wächter, der andere jedoch fiel vollkommen aus dem Rahmen. Soweit es Neyo in dem ungewohnten Licht zu erkennen vermochte, war der Fremde in extrem feine Kleidung gehüllt. Sein an den Schläfen schon etwas ergrautes Haar war gepflegt, selbst die Nägel wirkten weißer und sauberer, als es sonst der Fall war. Im Großen und Ganzen sah er aus wie ein Edelmann, die Neyo normalerweise nur allzu gern von ihren schweren Geldbeuteln erleichterte. „Das ist er?“ Der Adlige hatte sich fragend an den Wächter gewandt. Dieser nickte daraufhin nur stumm. „Sehr gut. Dann schließt auf.“ Der Soldat musterte sein Gegenüber einen Moment lang überrascht, dann aber tat er, wie geheißen. Geschwind fingerte er den richtigen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Der Wächter verharrte an der Schwelle, während der Edelmann eintrat. Mit einem abschätzenden Blick schaute er sich in der menschenunwürdigen Zelle um. Neyo hatte währenddessen verwundert die Stirn gerunzelt. Was suchte dieser Mann bei ihm? Er wirkte mit seiner prächtigen Kleidung und seinem gepflegten Äußeren vollkommen fehl am Platz, wie ein wunderschöner Pfau unter einer Horde dreckiger Ratten. Auch seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er viel lieber woanders gewesen wäre als an diesem Ort. Was also trieb ihn nach unten in diese schmutzigen, stinkenden Katakomben?  „Sei gegrüßt, mein junger Freund.“ Der Mann hatte ein Lächeln auf den Lippen, das erstaunlicherweise sogar ehrlich wirkte. Neyo verzog missmutig das Gesicht, in der festen Überzeugung, dass sich sein Gegenüber wohl über ihn lustig machen wollte. „Willst du mir vielleicht deinen Namen verraten?“, erkundigte sich der Herr in einem freundlichen Tonfall, als wären sie sich gerade zufällig auf dem Marktplatz begegnet. Immer noch etwas verwirrt, schwieg Neyo. „Du wurdest etwas gefragt!“, fuhr der Wächter den Jungen barsch an. Die Hand legte er auf seinen Schlagstock, seine Augen funkelten bedrohlich. „Weißt du denn nicht, wer vor dir steht, dreckiger Straßenköter? Das ist der große Magier Jyliere, rechte Hand des hochgeschätzten Oberen. Zeige etwas mehr Respekt, Bengel!“ Neyo stockte der Atem, fassungslos sah er den Fremden an. Ein Magier? Konnte das tatsächlich sein? Aber noch während er darüber nachdache, ob der Wächter nun gelogen hatte oder nicht, entdeckte Neyo das Emblem auf der Gürtelschnalle des Edelmannes. Ein stolzer Adler mit weit ausgebreiteten Flügeln war darauf zu sehen, das Symbol des Oberen. Nur Magier allerhöchsten Ranges durften sich mit diesem Wahrzeichen schmücken, jedem anderen war es strengstens untersagt und wurde schwer bestraft. Neyo spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror. Mit geweiteten Augen betrachtete er den Mann, der ihn seinerseits freundlich anlächelte. Ein Magier aus den Reihen des Oberen ... Die Regenten des Landes ... Die Mächtigsten von ganz Rashitar ... Und einer von ihnen befand sich nun bei ihm, in seiner dunklen und schmutzigen Zelle. Ungläubig blinzelte Neyo. Noch nie zuvor war er in engeren Kontakt mit einem Magier gekommen, er kannte nur die zahlreichen Geschichten, die sich allerorts erzählt wurden. Man bezeichnete sie als übernatürliche Männer und Frauen, die mit ihren Fähigkeiten Dinge vollbringen konnten, dass man es sich kaum vorzustellen vermochte. Angeblich geboten sie über das Wetter, konnten Feuer beschwören, Tote wieder zum Leben erwecken und sogar die Gedanken eines anderen lesen. Neyo war sich nie sicher gewesen, ob all diese Gerüchte zutrafen, Fakt war jedoch, dass den Magiern eine große Menge Respekt entgegengebracht wurde. Respekt ... und auch Angst. Ihre Kräfte machten viele nervös, niemand wusste so genau, wozu diese Magier eigentlich alles fähig waren. Manche behaupteten sogar, sie könnten den Untergang der Welt einläuten, wenn ihnen der Sinn danach stand. „Du brauchst dich nicht zu fürchten“, sagte der Magier in einem gutmütigen Tonfall. „Ich werde dir nichts tun.“ „Was wollt Ihr von mir?“ Neyo war erstaunt, dass trotz seiner Unsicherheit seine Stimme so fest klang. Argwöhnisch beäugte er den Mann namens Jyliere. „Ich will dir helfen“, meinte der Ältere. Neyo konnte es nicht verhindern, er schnaubte verächtlich. „Wieso sollte ein Magier einem wertlosen Dieb helfen?“ Jylieres Miene wurde plötzlich ernst. Er trat an den Jungen heran und hockte sich hin, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein. Der Unrat und die Exkremente der Ratten schienen ihn nicht zu kümmern. „Du bist nicht wertlos, haben wir uns verstanden? Ganz und gar nicht wertlos.“ Neyo erwiderte nichts, sondern schaute sein Gegenüber einfach nur an. Seine anfängliche Angst war verflogen, nun war nur ein merkwürdiges Gefühl der Verwirrtheit zurückgeblieben. Er wusste nicht, was er von dem Mann halten sollte, der solch seltsamen Versprechungen gab und dies offenbar sogar ernst meinte. Neyo war schon immer ein guter Menschenkenner gewesen und er erkannte keinerlei Lüge hinter den Worten Jylieres. Aber warum sollte ein großer Mager, der wahrlich Besseres zu tun hatte, als einem armen Straßenjungen in seinem finsteren Verlies aufzusuchen, ihm seine Hilfe anbieten? „Du bist ein Opfer der Gesellschaft“, sagte Jyliere mit einem väterlichen Lächeln. „Du musstest stehlen, um zu überleben. Ich kann das verstehen, glaub mir. Ich hätte in deiner Situation nicht anders gehandelt.“ Neyo verengte seine Augen misstrauisch zu Schlitzen. „Was also wollt Ihr von mir?“ Er hielt jäh inne, als ihm ein abstruser Gedanke kam. „Soll ich etwa für Euch stehlen?“ Während der Wächter an der Tür empört schnaubte, lachte Jyliere herzlich auf. „Du hast einen wundervollen Humor, mein Junge. Das gefällt mir.“ Neyo runzelte die Stirn. Was für ein seltsamer Mann ... Solch ein sonderbares Benehmen hätte er bei einem der obersten Magier nun wirklich nicht erwartet. War das vielleicht alles nur ein lausiger Scherz? „Ich kann dir ansehen, dass du verwirrt bist“, sagte Jyliere gutmütig. „Dir muss diese Situation sehr eigentümlich vorkommen. Du hast keine Ahnung, warum so ein wohlhabender und einflussreicher Mann plötzlich in deiner Zelle steht, nicht wahr?“ Er seufzte. „Und ob du's glaubst oder nicht, ich bin mir selbst nicht einmal sicher, wieso ich eigentlich hier bin.“ Er ist verrückt, schoss es Neyo durch den Kopf. Verrückt und senil. „Nenn es Fügung, nenn es Schicksal“, fuhr der Magier fort. „Ganz gleich, wie du es bezeichnen möchtest, es ändert nichts an der Tatsache, dass ich, Jyliere, engster Vertrauter unseres hochgeschätzten Oberen Te-Kem, hier bei dir stehe, mein namenloser Freund.“ „Neyo“, murmelte der Junge. Jyliere lächelte, seine Augen funkelten kurz auf. Aus irgendeinem Grund, so erkannte Neyo, schien der alte Mann erleichtert zu sein, obwohl sich der Dieb das nicht so recht erklären konnte. „Ein starker Name“, sagte der Magier. „Deine Eltern haben ihn weise ausgesucht.“ Neyo rümpfte die Nase. „Meine Eltern haben gar nichts ausgesucht. Ich habe mir den Namen selbst gegeben.“ Seinen Vater hatte der Junge noch nie zu Gesicht bekommen und seine Mutter hatte ihren Sohn bloß 'Strolch' oder 'Junge' gerufen. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, ihm irgendeine Identität zu geben. Im Grunde konnte Neyo froh sein, dass sie ihn nach der Geburt nicht irgendwo ausgesetzt hatte. „Ich verstehe“, meinte Jyliere ernst. „Anders ausgedrückt: Es hat sich nie jemand um dich gekümmert, du musstest von Anfang an selbst für dich sorgen. Und das hast du offenbar ganz gut gemeistert ... na ja, von deinem unfreiwilligen Besuch in diesem netten, kleinen Gefängnis einmal abgesehen.“ Neyo setzte eine übellaunige Miene auf. „Ich habe nicht die Absicht, hier zu versauern“, meinte er entschlossen. Der Wächter an der Türschwelle lachte daraufhin spöttisch auf. „Ganz meine Meinung“, sagte Jyliere, den Wachposten vollkommen ignorierend, der sich bei diesen Worten verschluckte und anschließend mühsam nach Luft rang. „Ich werde dich hier rausholen, mein junger Freund.“ „Ihr?“ Neyo konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Denkst du etwa, ich wäre in dieses dreckige Loch heruntergestiegen, nur um einmal mit einem Dieb zu reden?“ Der Magier schüttelte den Kopf. „Nein, Neyo, meine Beweggründe reichen tiefer. Ich möchte dich mitnehmen. Mit zu mir.“ Neyo war die Kinnlade nach unten geklappt. Anscheinend war dieser alte Mann wirklich senil. „Aber ... warum?“ Neyo konnte es nicht begreifen. „Willst du dich etwa beschweren?“, fragte Jyliere mit hochgezogenen Augenbrauen. „Nun ... nein, natürlich nicht“, stotterte Neyo etwas verunsichert. „Aber Ihr kennt mich doch gar nicht! Warum also wollt Ihr das tun?“ Jyliere lächelte geheimnisvoll. „Ich habe meine Gründe, Neyo. Eines Tages wirst du es verstehen.“  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  * Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.):   Der Winter rückte immer näher. Die braunen Blätter des Herbstes waren bereits größtenteils zu Boden gefallen und die Luft erschien schwerer. Jeder Atemzug wurde von einem stechendem Schmerz begleitet, der im Hals anfing und bis in die Lunge hinunter wanderte. Es hatte bereits Tote draußen gegeben – herrenlose Obdachlose, die die Kälte und Erbarmungslosigkeit der Nacht ohne Rücksicht umgebracht hatte. Neyo war froh, nicht mehr zu dieser Sorte Mensch gezählt zu werden. Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens hatte er, wie viele andere arme Teufel, in der Gosse verbracht. Seine Mutter war früh von ihm gegangen, sodass er schon als kleiner Junge alleine über die Runden hatte kommen müssen. Manchmal hatte er Tage oder Wochen nichts gegessen und besonders in der Winterszeit konnte dies schlimme Folgen nach sich ziehen. Neyo war nur zweimal knapp dem Kältetod entkommen. Mit Mühe und Not hatte er sich selbst am Leben erhalten. Oft jedoch hatte er sich gefragt, ob dies alles überhaupt einen Sinn hatte. Ständig hatte er stehlen und kämpfen müssen, besonders ehrenvoll war ihm dies nicht erschienen. All die Geschichten der stolzen Ritter und Magier hatten ihn immer aufs Neue vor Augen geführt, wie nutzlos und unbedeutend sein Leben doch war. Jeder Versuch, diese Tatsache irgendwie zu ändern, war kläglich gescheitert. Hoffnungslosigkeit hatte ihn erfüllt, als er gerade mal zehn Jahre alt gewesen war. Selbstmordgedanken waren bei ihm an der Tagesordnung gewesen. Inzwischen hatte sich diese düstere Stimmung aber wieder gelegt. Neyo war inzwischen weit darüber hinaus, in Trostlosigkeit zu versinken. Seine eigenen, dunklen Gedanken hatten ihn nahe an den Abgrund geführt – zu nahe, für Neyos Geschmack. Am Ende hätte er sich selbst zerstört. Doch glücklicherweise hatte es das Schicksal anders mit ihm gemeint. Jyliere war plötzlich aufgetaucht – damals, an diesem schicksalhaften Tag vor so vielen Jahren – und hatte sein Leben verändert. Neyo hatte nie herausgefunden, was Jyliere zu dieser Tat getrieben hatte. Es schien fast, als wüsste dieser alte Narr nicht einmal selbst, warum er eines schönen Tages plötzlich das Verlangen gehabt hatte, dem Verlies einen Besuch abzustatten. Nun war Neyo hier, bereits seit über zehn Jahren, und wieder hatte ihn ein Gefühl der dumpfen Trostlosigkeit erfüllt. Einst war er ein Dieb gewesen, ein hinterlistiger Straßenräuber, ein Niemand – hatte sich dies überhaupt geändert? Jyliere hatte ihn damals, ohne irgendeine Frage über Neyos zweifelhafte Herkunft zu stellen, einfach mitgenommen und in sein Haus aufgenommen. Hatte ihm ein Dach über den Kopf, anständige Kleidung und drei Mahlzeiten am Tag gegeben. Immer wieder hatte der alte Magier ihn als seinen Freund bezeichnet, als einen Vertrauten ohnegleichen. Neyo fand zwar, dass die Bezeichnung Diener um einiges passender wäre, doch er nicht das Recht, sich zu beklagen. Früher war es ihm wesentlich schlechter ergangen. Neyo seufzte. All dies waren alte Geschichten, schon unheimlich lang her. Er hatte schon früh gelernt, dass es nichts einbrachte, der Vergangenheit nachzutrauern, dennoch erwischte er sich immer wieder dabei. Zwar waren diese Erinnerungen nicht besonders rosig, trotzdem konnte er sich nicht von ihnen lösen. Sie waren ein Teil von ihm, untrennbar mit ihm verbunden. Er würde es wohl nie fertig bringen, das bleiche Gesicht seiner Mutter zu vergessen, als sie tot neben ihm gelegen hatte. Ebenso die Erinnerung an sein zertrümmertes Bein und seine wochenlangen Todesqualen hatten sich in sein Gehirn gebrannt. Es gab einfach Dinge, die man niemals vergaß, sosehr man es sich auch wünschte. „Neyo, schläfst du etwa?“, ertönte plötzlich eine vorwurfsvolle Stimme von hinten. Neyo zuckte zusammen und drehte sich um. Reann, die immer noch an dem bulligen Schreibtisch saß und vor sich ein dickes Buch liegen hatte, schaute ihn herausfordernd an. Ihr Blick war so dermaßen herablassend, dass man niemals im Leben vermutet hätte, dass dieses Mädchen erst gut zwanzig Jahre alt war. Man hätte sie stattdessen glatt für eine strenge Lehrerin im hohen Alter halten können. Ihr langes, blondes Haar hatte sie zu einem gesitteten Zopf hochgebunden und ihre blauen Augen funkelten eiskalt. Neyo konnte sich nicht entsinnen, dass dieses Mädchen einmal in seinem Leben höflich mit ihm gesprochen oder ihm gar ein kleines Lächeln geschenkt hätte, das nicht herablassend oder spöttisch gewesen wäre. Ihr unterkühlter Umgang mit anderen Menschen ließ sie zurückgezogen und befremdlich  wirken. Doch Reann war noch in vielerlei Hinsicht anders als die meisten. Sie war jung, schön, klug ... und magisch veranlagt. Ihr Vater war kein Geringerer als der oberste Magier des Landes, Te-Kem. Reann war seine einzige Tochter, sein Ein und Alles. Es hatte während der Schwangerschaft Probleme gegeben, über einen längeren Zeitraum hatte sogar das Leben der Mutter auf dem Spiel gestanden. Er war zwar letzten Endes alles gut ausgegangen, doch Te-Kems Frau war danach nicht mehr in der Lage gewesen, weitere Kinder zu gebären. Somit war Reann sein Erbe, sein Vermächtnis und sein größter Schatz. Und diese spezielle Sonderstellung ließ sie alle um sich herum deutlich spüren.  „Ich schlafe nicht, aber vielen Dank der Nachfrage.“ Neyo hatte es noch nie über sich gebracht, diesem Mädchen den Respekt entgegenzubringen, den es eigentlich erwartete. Die meisten Dienstboten und Sklaven katzbuckelten vor ihr, kaum dass sie einen Raum betrat, doch Neyo konnte nur mit den Schultern zucken. Sie war jünger als er, sie war unerfahrener als er, auch wenn sie gerne das Gegenteil behauptete, und sie hatte nicht mal ansatzweise das erlebt, was er in den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens hatte durchmachen müssen. Neyo sah nicht ein, sich von so jemanden herumkommandieren zu lassen. „Warum bist du überhaupt hier?“, fragte sie zischelnd. „Offenbar nicht, um Staub zu wischen oder dich anderweitig nützlich zu machen.“ Es war zwar Tatsache, dass er eigentlich vor Reann in der reich ausgestatteten Bibliothek Jylieres gewesen war und in einem Buch geblättert hatte, dass von Helden und Drachen erzählte, doch Reann war stets der Auffassung gewesen, dass er sowieso zu dumm wäre, um lesen zu lernen, und stattdessen immer nur vorgab, einigermaßen intelligent zu sein. Für sie war es demnach unlogisch, dass sich Neyo in einer Bibliothek aufhielt, wenn er keinen Putzlappen in der Hand hielt. Neyo wollte eigentlich zu einem Gegenargument ansetzen, ließ es aber bleiben. Dem Mädchen wurde Zuhause täglich vorgelebt, dass die Dienerschaft bloß dazu da war, zu arbeiten, und nicht ihren Horizont in irgendeiner Weise zu erweitern brauchte, und Neyo war es leid, Reann vom Gegenteil zu überzeugen. Selbst Jyliere, der mit seinem Personal sehr viel offener und großzügiger umsprang, hatte es bisher nicht geschafft. Wie sollte dies also Neyo gelingen? Somit starrte er seufzend aus dem Fenster hinüber zur Stadt und versuchte, die über alle Maßen kritische Magierin an dem Schreibtisch zu ignorieren. Jylieres Villa lag etwas außerhalb auf einem bewaldeten Hügel; eine ruhige Gegend, die einerseits viel Bequemlichkeit bot und andererseits einen guten Überblick bescherte. Der Ausblick auf die riesige Stadt war wirklich fantastisch, sodass sich Neyo stets darin verlor. Rashitar war die Hauptstadt des gleichnamigen Gebietes und erstrahlte deshalb in einem ganz besonderen Licht, welches bezaubernd und erschreckend übernatürlich zugleich wirkte. Die Häuser, Märkte, Weihstätten und Straßen waren von höchster Qualität, sodass man tatsächlich fast vergessen konnte, dass nicht alle Bewohner in Reichtum und Luxus lebten. Hauptaugenmerk stellte ohne Zweifel der riesige Herrscherbau und Wohnsitz des amtierenden Oberen dar, der alles überragte. Er erschien so groß wie die Stadt selbst und raubte jedem den Atem. Selbst langjährige Bewohner Rashitars, die das Monument jeden Tag zu Gesicht bekamen, ließen es sich nicht nehmen, es immer wieder zu bewundern und sich in seinen Bann ziehen zu lassen. Es war aus einem seltsam fluorisierenden Stein gearbeitet, welches Neyo zuvor nie irgendwo anders gesehen hatte. Es schien beinahe verzaubert, als würde es leben. Selbst wenn der Himmel verdeckt war und die Sonne nicht strahlte, leuchtete das Bauwerk hell und einladend. Rashitar war schon immer eine eigentümliche Welt gewesen, voller Rätsel und Geheimnisse, doch Neyo konnte es sich gar nicht anders vorstellen. Es war ihm geradezu unbegreiflich, wie all die Menschen aus der Welt der Gewöhnlichen ohne Magie existieren konnten. Jyliere hatte ihm zwar erklärt, dass dort ebenfalls Übernatürliches existierte, aber bei weitem nicht so offen und weit verbreitet wie im Reich des Oberen. Viele Leute hielten dort Zauber und Magie für ein Privileg, das allein den Göttern vorbehalten war, und reagierten mit Furcht und Unvernunft, wenn sie Zeuge dessen außerhalb jener Sphären wurden. In der Ferne konnte Neyo mit einiger Mühe das leichte Glitzern der magischen Barriere erkennen, die Rashitar von der Welt der Menschen trennte. Nur die führenden Oberhäupter und deren Getreuen auf der anderen Seite wussten von der Existenz des Reiches Te-Kems, die gemeine Bevölkerung war größtenteils ahnungslos. Die Barriere war wie ein Schleier, eine Tarnung, die zwar niemand zurückhalten konnte, wenn er wirklich den Wunsch verspürte, sie zu durchtreten, aber gleichzeitig bei allen, die sich auf der anderen Seite befanden, offenbar den Wunsch auslöste, den Blick abzuwenden und keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Neyo hatte keine Ahnung, wie es genau funktionierte, aber er wusste, dass noch niemand aus Versehen diese Barriere durchschritten hatte. Rashitar war, zumindest der allgemeinen Legende nach, vor gut fünfhundert Jahren entstanden. Damals soll es zu einem großen Konflikt zwischen Magiern und den herrschenden Mächten der Menschen gekommen sein und keine der beiden Seiten war gewillt gewesen, aufzugeben. Schließlich hatten sich die erzürnten Zauberer zusammen mit ihrer Gefolgschaft und ihren Dienern, welche zum größten Teil gewöhnliche Sterbliche gewesen waren, zurückgezogen und hatten auf diese Weise das Land entdeckt, welches sie zu ihrer Niedersiedlung erklärt hatten. Über die Jahre und Jahrhunderte wuchs und gedieh Rashitar prächtiger, als es je ein Land auf der Erde fertig gebracht hätte. So zumindest erzählte man es sich. Neyo hatte keinerlei Beweis dafür, hatte er sich noch nie außerhalb der Barriere aufgehalten. Man sprach von niederen Kulturen mit oberflächlichen Handelskontakten und wenig Sinn für Entwicklung und Fortschritt. Es hätte keinerlei Reiz, diese Welt zu besuchen, hieß es von allen Seiten. Und dennoch ertappte sich Neyo immer wieder dabei, wie er sich genau das wünschte. Vielleicht stimmte es tatsächlich, dass die Menschen hinter der Barriere in Holzhütten lebten und sich mit den Fellen der durch sie selbst erlegten Tiere kleideten. Aber trotzdem war es eine fremde Welt und für ihn wahrscheinlich aufregender und sonderbarer, als es Magie je hätte sein können. „Denkst du wieder daran, die Barbaren zu besuchen?“, hakte Reann nach, als hätte sie seine Gedanken gelesen. In einem schwachen Moment hatte Neyo ihr einst offenbart, dass er die Fremde gerne einmal erkunden würde, und seitdem wurde sie nicht müde, ihn deswegen aufzuziehen. „Vielleicht solltest du es wirklich tun. Du würdest gut zu ihnen passen.“ Neyo schnaubte. Auch Reann hatte Rashitar noch niemals verlassen und wusste genauso viel beziehungsweise genauso wenig wie er über diese Welt hinter der Barriere. „Ich finde es ehrlich gesagt traurig, dass du kein bisschen neugierig bist“, entgegnete Neyo. Reann kniff ihre Augen zusammen und musterte ihn kalt. Mochte sie auch mächtig und talentiert sein, so besaß sie doch keinerlei Vorstellungskraft und hielt Träumen für reine Zeitverschwendung. Was sollte sie es auch kümmern? Sie hatte alles, was man begehren konnte. Eltern, die die Erde, auf der sie wandelte, verehrten. Macht. Einfluss. Respekt. Sie verstand nicht, wie es jemanden in die Ferne ziehen konnte. Sie sah bloß, dass Neyo unter Jylieres Dach regelmäßige Mahlzeiten und ein warmes Bett besaß, und begriff nicht, wieso das nicht genug sein sollte. „Willst du nicht wissen, ob es stimmt, was man über die Welt da draußen sagt?“, hakte er nach. „Stell dir nur einmal vor, wie hart das Leben ohne die Bequemlichkeit der Magie wäre.“ Neyos Leben in den Straßen Rashitars war zwar auch alles andere als einfach gewesen, aber dennoch hatte die Magie so manches erleichtert. Decken, die während der kalten Winterszeit mehr Wärme spendeten, als sie eigentlich unter normalen Umständen getan hätten, und von barmherzigen Magiern unter den Notleidenden oftmals verteilt worden waren. Eine Flasche, die mehr Inhalt zu fassen vermochte, als es von außen den Anschein machte. Kleidung, die nur sehr schwer zu zerreißen und zerschleißen war. Ohne all dies hätte Neyo vielleicht nicht überlebt. Und es brach ihm das Herz, dass die Menschen jenseits der Barriere nicht über all dies verfügten. „Ein Leben ohne Magie erscheint mir nicht sonderlich erstrebenswert“, erwiderte Reann kopfschüttelnd. „Ich stelle es mir kalt und trostlos vor. Unnötig mühsam.“ Neyo gab ihr durchaus recht, aber dennoch gefiel ihm ihr Tonfall ganz und gar nicht. Es klang, als würde sie auf das Leben derjeniger, die nicht mit solch einem Glück zur Welt gekommen waren wie sie, herabsehen. „Vielleicht würde es dir aber mal guttun“, schlug Neyo vor. „So etwas stärkt den Charakter, habe ich mir sagen lassen.“ Reann warf ihm einen giftigen Blick zu. „Du hast auch lange Zeit ohne Magie gelebt und deinem Charakter hat es nicht sonderlich gutgetan. Warum sollte es dann bei mir anders sein?“ Neyo kam trotz alledem nicht umhin, zu grinsen. Mit den Jahren war sie immer talentierter darin geworden, was Schlagfertigkeit anging. Die erste Zeit hatte sich ihr Gesicht immer nur vor Wut rot verfärbt und sie hatte stets irgendwelche leeren und fantasielosen Drohungen ausgesprochen, kaum dass Neyo es gewagt hatte, ihr zu widersprechen. Sie war solch ein Verhalten einfach nicht gewohnt und demnach überfordert gewesen, angemessen darauf zu reagieren. Inzwischen schlug sie immer öfters zurück und wirkte sogar regelrecht stolz auf sich selbst, wenn sie es tatsächlich ab und zu schaffte, ihn aus dem Konzept zu bringen. Auf seltsame Art sah sie dies sogar als Herausforderung an, die es zu meistern galt, auch wenn sie dies bisher niemals offen zugegeben hatte. „Ich würde es trotzdem sehr gerne sehen“, meinte Neyo schmunzelnd. „Wie wär’s, du und ich machen einen Tagesausflug ins Land der Barbaren. Niemand würde bemerken, dass wir weg waren.“ Reann schnaubte. „Falls du es vergessen hast: Ich bin Magie! Selbst wenn ich die Barriere überquere, werde ich niemals ohne sie sein.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Von daher ist dein Argument hinfällig.“ Neyo zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern. „Dann sieh es als Expedition. Eine Art Forschungsreise.“ Reann hob eine Augenbraue und musterte ihn auf eine Weise, die deutlich machte, dass sie nicht genau wusste, wie sie seine Aussage einzuschätzen hatte. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr wahrscheinlich, dass dies alles nur ein dummer Scherz war, doch die Ernsthaftigkeit in Neyos Stimme verwirrte sie. „Sollte ich irgendwann einmal absolut verzweifelt sein, werde ich es in Erwägung ziehen“, sagte sie schließlich. Neyo grinste schief. „Ich nehme dich beim Wort.“ Zur gleichen Zeit lachte er aber auf. Die Vorstellung, dass sie sich tatsächlich eines Tages dazu bereiterklären würde, war im Grunde absolut lächerlich. Es gab nichts auf der Welt, dass sie dazu würde treiben können. Höchstens das Ende aller Zeit, wenn Dämonen durch die Straßen streiften und unschuldige Seelen in die Unterwelt entführten. Wenn sie sowieso nichts mehr zu verlieren hätte und die einzige Alternative ein schrecklicher Tod gewesen wäre. Und wie hoch standen schon die Chancen, dass es jemals soweit kommen würde?   Kapitel 5: Ein freier Tag ------------------------- London, England (2012):     Eve kuschelte sich erleichtert seufzend in die bequemen Kissen ihrer Couch. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich auf ihren freien Abend überaus gefreut. Seit Seth vor fünf Tagen zum ersten Mal aufgetaucht war, hatten die Jäger keine ruhige Minute mehr gehabt. Man hatte flüchtenden Vampiren aufgelauert, um aus ihnen herauszuquetschen, wovor genau sie eigentlich flohen und was zur Hölle überhaupt los war in London. Doch die Informationen waren äußerst spärlich gewesen, die Untoten selbst schienen nicht mal genau zu wissen, was ihnen so viel Angst machte, dass sie panisch die Stadt verlassen mussten. Ebenso die Spitzel aus dem Untergrund hatten keine brauchbaren Hinweise liefern können, außer der Tatsache, dass auch andere übernatürliche Kreaturen London den Rücken kehrten beziehungsweise schon landesweit davor warnten, sich in die Nähe der Hauptstadt zu begeben. Viele Magier, die eng mit den Jägern zusammenarbeiteten, hatten verlautbaren lassen, dass sie schon mehrmals aus verschiedenen Ecken darauf angesprochen worden waren. Es konnte zwar niemand genau sagen, wieso, aber offenbar waren alle alarmiert genug, um die Drohung ernst zu nehmen. Die Jäger standen zumindest trotz intensiver Nachforschungen vor einem Rätsel. Das Auftauchen Seths hatte zwar zunächst eine neue Spur hervorgebracht, aber sie war schnell derart kalt geworden, dass es wenig erfolgsversprechend schien. Es war unklar, ob die Vampire vor ihm flohen oder vielleicht vor etwas Größerem. Man konnte sich nur einig sein, dass es nichts Gutes bedeutete. Diese Spurensuche der letzten Tage hatte Eve auf jeden Fall mehr ausgelaugt, als sie es für möglich gehalten hätte. In ihrem Kopf schwirrten irgendwelche Daten und Zahlen herum, die sie aus über hundert Büchern aufgesaugt hatte. Inzwischen wusste sie unglaublich viel über die Geschichte Englands von der Antike bis zur Neuzeit, aber Seth und den mysteriösen Umständen in London hatte sie das kein Stück näher gebracht. Sie traten nur noch auf der Stelle. Eve griff nach der Tüte Chips und schaltete den Fernseher ein. Sie wollte sich einfach nur entspannen und fürs erste alle Vampire und merkwürdige Männer mit wirren Haaren vergessen. Heute war ihr freier Tag und den würde sie sich sicher nicht vermiesen lassen. Das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür ließ sie kurz aufblicken. Eine blonde, hochgewachsene Schönheit kam hereingetreten und balancierte auf ihren Armen zwei riesige Einkaufstüten, die anscheinend kurz davor standen, mit dem Boden Kontakt aufzunehmen. Eve seufzte schwer und hievte sich mühevoll von der gemütlichen Couch hoch, um ihrer Mitbewohnerin zur Hilfe zu eilen. „Du bist hier?“, fragte Tiffany überrascht, als Eve ihr die Tüten entriss und sie in die Küche trug. „Ich dachte, du müsstest arbeiten?“ „Heute nicht.“ Eve genehmigte sich ein Lächeln. „Liam hat mir freigegeben.“ Tiffany fuhr sich durch das lange Haar und schnaubte empört. „Da hätte er wirklich früher drauf kommen können. Du schuftest dich schon seit Tagen zu Tode. Am Ende hast du noch einen Bandscheibenvorfall, bevor du dreißig bist.“ Eve lächelte amüsiert. Manchmal konnte Tiffany ein wenig melodramatisch werden, aber in der Tiefe ihres Herzens meinte sie es immer nur gut. Die beiden Frauen hatten sich vor gut drei Jahren bei den Dämonenjägern kennengelernt. Tiffany war in der Informationsabteilung der Organisation tätig und war dazu in der Lage, Dinge aus ihrem Computer herauszuholen, die Eve nie für möglich gehalten hätte. Sie hatte schon immer einen Faible für Elektronik und das ganze Drumherum gehabt, sodass sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht hatte. Sie war durch und durch ein Computerfreak, auch wenn sie eher nach einem Supermodel aussah. Zusammengezogen waren sie kurz nach ihrem Kennenlernen. Tiffany war damals nach ihrem Informatikstudium aus Frankreich zurückgekehrt und hatte dringend nach einer Unterkunft gesucht. Da Eves Wohnung ausreichend Platz besaß und sie sowieso immer Probleme gehabt hatte, alleine zu leben, hatte sie Tiffany kurzerhand zu sich eingeladen. Seitdem wohnten die beiden unter einem Dach und hatten ein paar Sorgen weniger. „Aber es passt wunderbar, dass du heute frei hast“, meinte Tiffany erfreut. „Dann kannst du mich begleiten.“ Eve stöhnte bereits innerlich. „Wohin?“ „Na, zum Club“, sagte ihre Freundin wie selbstverständlich. „Ich wollte Robin heute noch sehen und das wäre doch die passende Gelegenheit, um für dich auch einen netten Typen rauszusuchen. Dort laufen wirklich hübsche Männer rum. Wenn ich nicht schon mit Robin zusammen wäre, hätte ich mir den ein oder anderen sicher nicht durch die Lappen gehen lassen.“ Eve seufzte. Wieso war diese Frau nur so erpicht darauf, sie andauernd zu verkuppeln? Nichts schien sie unversucht zu lassen, um Eve immer wieder mit neuen Männern bekannt zu machen. Eve war sich sicher, inzwischen kannte sie fast die Hälfte der männlichen Bevölkerung Londons. „Ehrlich gesagt wollte ich mich einfach ein bisschen entspannen“, meinte Eve. Sie wusste, dass es eigentlich nicht viel bringen würde, sich herauszureden, dennoch ließ sie es auf einen Versuch ankommen. Sie deutete demonstrativ auf die Chipstüte und den Fernseher, auf dem irgendein alter Schinken aus den Fünfzigern zu sehen war. Tiffany zog daraufhin nur ihre Mundwinkel nach unten. „Willst du hier etwa versauern? Sag mal, Süße, wann bist du das letzte Mal wirklich ausgegangen, um Spaß zu haben?“ Eve hütete sich davor, ihrer Freundin die Wahrheit zu sagen. Tiffany wäre wahrscheinlich vor Schock nur ohnmächtig geworden. Stattdessen murmelte sie: „Ist schon was her.“ „Siehst du?“ Tiffany stemmte die Hände in die Hüften. „Dann wird es mal Zeit. Möchtest du den Rest deines Lebens etwa alleine verbringen?“ Ehe sich Eve versah, hatte Tiffany sie in ihr Zimmer bugsiert und ihr ein passendes Outfit aus dem Schrank geholt, das ihrer Aussage nach alle Männer verrückt machen würde. Eve starrte skeptisch auf die paar Fetzen Stoff, die mehr offenbarten als verdeckten, doch trotz ihres Missmuts widersprach sie nicht. Mit Tiffany in solch einer Situation zu diskutieren war beinahe so, als wollte man eine Steinstatue dazu bewegen, mit den Augen zu zwinkern. Es war einfach nicht besonders erfolgversprechend. Nachdem Eve sich umgezogen hatte, hatte Tiffany sie auch schon gepackt und aus der Wohnung gezogen. Während ihre Freundin davon schwärmte, wie schön es doch wäre, dass sie beide endlich mal wieder zusammen unterwegs wären, ging Eve nur stillschweigend nebenher und versuchte mühevoll, ihre üble Laune zu unterdrücken. Immerhin meinte es Tiffany nur gut mit ihr. Ihr Ziel war der Nachtclub Red Foxy. Tiffany hatte dort in jüngeren Jahren als Kellnerin gearbeitet und deswegen ausgesprochen gute Kontakte. Ohne großes Hin und Her ließ Barry, der breite Türsteher, die zwei Frauen eintreten. Im Inneren war es dermaßen stickig und warm, dass Eve sofort ihren Mantel abstreifte und ächzend aufstöhnte. Sie war nie eins dieser Mädchen gewesen, dass jeden Abend mindestens eine Party besuchen musste, um glücklich zu sein, dennoch machte sie Tiffany zuliebe gute Miene zum bösen Spiel. Vielleicht würde sie sich sogar wirklich amüsieren, wenn sie erst einmal ein paar Drinks heruntergespült hatte. Robin erwartete sie bereits. Er hatte einen gemütlichen kleinen Tisch in einem etwas abgelegenen Teil des Clubs besetzt und winkte die Frauen zu sich her, als er sie erspähte. Tiffany begrüßte er mit einem leidenschaftlichen Kuss, während Eve mit einem Händedruck vorlieb nehmen musste. Robin Whitacker war Jurastudent im letzten Semester mit dem wohl warmherzigsten Lächeln, das Eve je bei einem Mann gesehen hatte. Sie konnte sehr gut nachempfinden, wieso sich Tiffany in diesen Kerl verliebt hatte. Er wirkte wie jemand, mit dem man getrost Pferde hätte stehlen können. Er und Tiffany waren sich vor sechs Monaten zufällig in der Stadt begegnet und sofort beide voneinander fasziniert gewesen, wie Eves Freundin niemals müde wurde zu erzählen. Eins hatte zum anderen geführt und seitdem waren die beiden unzertrennlich. Anfangs fühlte sich Eve in ihrer Gegenwart wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, aber je mehr Zeit verging, desto lockerer wurde sie. Nicht ganz unschuldig daran waren sicherlich die wohlschmeckenden Drinks, die sie sich zur Gemüte führte. Irgendwann ließ ihre Anspannung nach und auch ihre Müdigkeit verflog ein wenig. Einige Männer forderten sie zum Tanz auf – einer sogar ganz galant mit Handkuss –, doch Eve lehnte jedes Mal dankend ab. Ihr war nicht so sehr nach Bewegung, immer noch schmerzten die Muskeln von der tagelangen Anstrengung, die sie über sich hatte ergehen lassen müssen. Außerdem war keiner der Kerle dermaßen ansprechend, dass sie wegen ihm einen Krampf im Bein riskiert hätte. Da blieb sie lieber auf ihrem Stuhl sitzen und unterhielt sich angeregt mit Robin, während Tiffany ganz offensichtlich darüber nachdachte, wie sie am besten ihre Freundin dazu überreden konnte, sich ein bisschen mit einem Mann zu amüsieren. „Lass es einfach sein, Tiff, okay?“, meinte Eve schließlich, als sie Tiffanys männersuchenden Blick eine Weile ertragen hatte. „Ich werde hier sicher nicht meinen Traummann finden. Dafür hätte ich im Moment sowieso keine Zeit.“ „Und direkt im Anschluss käme die nächste Krise“, entgegnete Tiffany. „Du hast einfach niemals Zeit, das ist dein Problem. Wann willst du endlich mal so richtig leben?“ Eve war kurz davor, darauf hinzuweisen, dass viele Jäger sowieso keine hohe Lebenserwartung hatten, aber sie ließ es bleiben. Tiffany hatte auf dieses heikle Thema noch nie besonders freudig reagiert – tatsächlich versuchte sie schon seit geraumer Zeit, Eve dazu zu überreden, in eine weniger gefährliche Abteilung zu wechseln – und Robin, der annahm, Eve wäre eine gewöhnliche Büroangestellte, hätte solch eine Aussage nur sehr verwirrt. Tiffany seufzte derweil theatralisch auf. „Na fein. Könntest du mir dann vielleicht wenigstens eine riesige Portion Alkohol holen, damit ich meinen Frust runterspülen kann?“ Eve grinste. „Sicher.“ An der Bar war wie üblich Hochbetrieb, sodass Eve erst einmal etwas Geduld aufbringen musste, ehe sie ihre Bestellung aufzugeben vermochte. Der junge Barkeeper nickte daraufhin eifrig und machte sich sofort an die Arbeit. Eve lehnte sich währenddessen an den Tresen und seufzte. Im Grunde verspürte sie keinerlei Lust, noch länger als nötig in diesem Club zu verweilen. Es war zu laut, zu heiß, zu stickig und viel zu eng, als dass sie sich irgendwie hätte entspannen können. Und genau das war es, was sie eigentlich so dringend brauchte: Entspannung. Doch Tiffany würde dies nicht ohne weiteres gelten lassen. Sie würde darauf bestehen, dass Eve zumindest eine Telefonnummer von einem halbwegs gutaussehenden Mann einstrich, ehe sie überhaupt darüber nachdenken durfte, sich wieder nach Hause zu begeben. Tiffany hatte in dieser Hinsicht eiserne und unerschütterliche Prinzipien. Eve hatte lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Anfangs hatte sie es für einfache Rücksichtlosigkeit gehalten und in Tiffany eine Frau gesehen, die an und für sich recht nett und umgänglich war, aber ab und zu viel zu sehr an sich selbst dachte und sich nicht darum scherte, was andere interessierte. Schließlich aber hatte Eve erkannt, dass Tiffanys Verhalten nicht vordergründig egoistischer Natur war, sondern dass es ihr tatsächlich darum ging, ihre Mitmenschen glücklich zu machen. Und das genau auf die Art und Weise, die sie eben für die beste hielt. Betrachtete man es von ihrer Warte, hatte sie vielleicht auch gar nicht so unrecht. Eve wurde in letzter Zeit immer öfters von einem nagenden Gefühl der Einsamkeit heimgesucht, weswegen sie sich stets bemüht hatte, sich in ihrer Arbeit zu verkriechen und einfach nicht darüber nachzudenken. Es eben zu ignorieren, so gut es nun mal ging. Doch wenn sie Tiffany und Robin beobachtete, wie sie derart verliebt und vertraut miteinander umgingen, zog sich unweigerlich ihr Herz zusammen und eine Sehnsucht erfüllte sie, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie da war. „Du siehst aus, als wäre dein Hund gestorben“, vernahm sie plötzlich eine Stimme von der Seite. Eve drehte sich um und sah sich einem Mann gegenüber, der halb auf einem Barhocker saß und sie mit einem schiefen Lächeln musterte. Er war vielleicht Ende zwanzig bis Anfang dreißig, hatte dunkles Haar, einen leichten Bartschatten und Augen, die in dem besonderen Licht des Nachtclubs ungewöhnlich leuchteten. „Tut mir leid, falls ich dir zu nahe getreten bin“, fuhr er fort, nachdem Eve keine Anstalten erkennen ließ, auf seinen Kommentar zu antworten. „Du siehst nur irgendwie deprimiert aus.“ Eve versuchte, ihre Mundwinkel wenigstens halbwegs nach oben zu ziehen, um nicht wie ein melancholisches Mauerblümchen zu wirken, das nichts von Partys und Vergnügung verstand, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen ruhte ihr Blick unverwandt auf diesem mysteriösen Mann, dessen Augen sie sofort in ihren Bann schlugen. Auf eine seltsame Art hatte sie das Gefühl, in ihnen ertrinken zu können, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Als könnte sie sich selbst verlieren und daraufhin für immer von der Bildfläche verschwinden. Ihre Jägerinstinkte meldeten sich unvermittelt. Nie schaffte sie es, sie völlig abzustellen und einfach einmal eine Situation unvoreingenommen zu genießen. Stattdessen fühlte sie sich unbehaglich und fragte sich unweigerlich, wie es ihm gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern. Selbst die Tatsache, dass es in dem Club ziemlich voll war und sich gar Hunderte Menschen durch die Menge quetschten, beruhigte sie in keinster Weise. „Ich bin nicht deprimiert“, erklärte sie aber schließlich. Mit aller Mühe versuchte sie, ihre leicht schrillenden Alarmglocken zu ignorieren. „Nur etwas überarbeitet.“ Wie von selbst glitt ihre Hand über den kleinen Anhänger an ihrem Hals, den sie vor vielen Jahren von Liam überreicht bekommen hatte. Er war aus Silber, oval, relativ klein und mit einem Zauber belegt, den ein Magier der Organisation ausgesprochen hatte. Immer, wenn sich etwas Übernatürliches näherte, verfärbte er sich rot und machte somit auf die nahende Gefahr aufmerksam. Auch als sie nur wenige Tage zuvor Walker gestellt hatte, hatte er augenblicklich reagiert. Nun aber blieb er silbern und völlig unbeteiligt. Und dennoch vermochte Eve ihr ungutes Gefühl einfach nicht abzustellen. Seth spukte ihr noch immer in den Gedanken herum und machte es ihr somit offenbar unmöglich, ein harmloses Gespräch zu führen, ohne dass gleich irgendwelche Verdächtigungen in ihr hochstiegen. „Ach ja, die Arbeit kann einen manchmal auffressen.“ Verständnisvoll nickte der Mann, während er nach seinem Bier griff und einen kurzen Schluck davon nahm. „Im Grunde schade, wenn man bedenkt, worauf es im Leben eigentlich ankommt.“ Eve bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Tiffanys Blick auf ihr ruhte. Sie strahlte förmlich, anscheinend zutiefst befriedigt, dass ihre Freundin nun doch jemanden gefunden hatte, den sie nicht sofort wieder loswerden wollte. Eve wiederum überlegte bereits, ob sie den Mann einfach stehenlassen sollte. Ihr stand nicht der Sinn nach einem Flirt oder vielleicht sogar nach mehr. In London spielten sich gerade sonderbare Dinge ab, sodass sie für solche Banalitäten überhaupt keine Zeit aufbringen konnte. Aber sie brachte es nicht übers Herz, ihn fortzuschicken, viel zu sehr fühlte sie sich von ihm angezogen. Er hatte einfach etwas an sich, dass ihren Puls automatisch in die Höhe trieb, sosehr sie sich auch dagegen wehrte. Er war durchaus ansehnlich, wenn nicht zu sagen attraktiv, und hatte etwas Schelmisches an sich, als würde ihm der Schabernack direkt im Nacken sitzen. Auf der anderen Seite war da aber auch etwas Düsteres. Es lag nicht nur an seinen dunklen Haaren und seiner schwarzen Kleidung, sondern vielmehr an seiner Ausstrahlung. Ihn umgab eine geheimnisvolle Aura, die Eve sofort stutzig gemacht hätte, wenn ihr Talisman in irgendeiner Art darauf reagiert hätte. „Freunde von dir?“, fragte er plötzlich nach. Eve blinzelte und wunderte sich zunächst, worauf er überhaupt ansprach. Dann aber bemerkte sie, dass seine Aufmerksamkeit auf Tiffany und Robin ruhte, die wieder dazu übergegangen waren, sich innig gegenüber ihre Empfindungen zu demonstrieren. „An guten Tagen schon“, gab Eve zu. Ein Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Und im Moment?“ Eve wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Nicht so sehr.“ Er lachte kurz auf. Ein wunderbares Geräusch, das die Musik zu übertönen schien, Eve aber gleichzeitig einen Schauer über den Rücken jagte. „Verrate mir deinen Namen“, forderte er sie auf. „Eve“, stellte sie sich vor. Er schwieg einen Moment und schloss kurz die Augen, als müsste er diese Information erst einmal verdauen. „Eve“, flüsterte er daraufhin ihren Namen auf eine Art und Weise, wie die Jägerin es noch nie vernommen hatte. Er umschmeichelte dieses eine Worte, umhüllte es, machte es zu etwas ganz Besonderem. Eve konnte nicht verhindern, dass sie automatisch erschauerte. „Ein wundervoller Name“, sagte er schließlich nach einer Weile, die Eve wie eine Ewigkeit vorzukommen schien. „Fast schon vergeudet für jemanden wie dich.“ Eve runzelte verwirrt die Stirn. „Was?“ Er lächelte daraufhin geheimnisvoll, antwortete aber nicht. Eve spürte erneut, wie sich ihre Instinkte meldeten. Wie sich ihr Magen zwangsläufig zusammenzog, als würde eine große Gefahr direkt über ihr schweben, die kurz davor stand, sie gnadenlos zu attackieren. „Ich verstehe nun allmählich ein bisschen, wie alles zusammenhängt“, erklärte der Fremde grinsend. „Sag, stehst du mit ihm im Bunde? Dein Geruch lässt schließlich kaum einen anderen Schluss zu.“ Eve blinzelte verdutzt. „Mein Geruch?“, fragte sie, während sie mit aller Macht den Drang zu unterdrücken versuchte, an sich selbst zu schnuppern. „Ich bin dir hierher gefolgt, weil du wirklich ganz abscheulich nach Asche und Tod riechst“, fuhr der Mann in einem viel zu heiteren Tonfall fort. „Sei jetzt nicht gekränkt, das ist einfach eine Tatsache, an der du eh nichts ändern kannst. Selbst fünfhundert Duschen würden keinen Unterschied machen.“ Eve trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie hatte schon viele sonderbare Gestalten in Clubs und Bars getroffen – manche harmlos, andere wiederum besorgniserregend –, doch dieser Kerl war ganz eindeutig kein gewöhnlicher Staatsbürger, der abends unschuldig mit fremden Frauen über Hygiene diskutierte. Ganz im Gegenteil. „Wie lautet dein Name?“, zischte Eve. Die unterschwellige Anziehungskraft war mit einem Schlag verschwunden, kaum dass ihr gewahr wurde, dass es sich bei ihm nicht um einen normalen Menschen handelte. Nur ein übernatürliches Wesen hätte den Geruch von Feuer und Asche, der durch Seth und seine Magie entstanden war, selbst noch nach Tagen an ihr wahrgenommen. „Du kannst mich nennen, wie du willst“, bot er belustigt an. „Namen sind sowieso völlig bedeutungslos.“ Eves Augen huschten unruhig hin und her. Normalerweise hätte sie keinerlei Problem damit gehabt, sich ohne Rücksicht auf Verluste auf dieses Geschöpf zu stürzen. Die meisten waren sowieso viel zu überheblich und dementsprechend stets aufs äußerte perplex, wenn Eve ohne jede Vorwarnung Hals über Kopf auf sie zustürmte Das Moment der Überraschung hatte ihr schon oft gute Dienste geleistet. Aber nun befand sie sich an einen öffentlichen Ort. Niemand hätte sicherlich tatenlos dabei zugesehen, wie sie dieser Kreatur, die einem Menschen so täuschend ähnelte, ein Messer in die Halsschlagader rammte. Darüber hinaus war es viel zu gefährlich, den ersten Schritt zu wagen, solange der Gegenüber keine Anzeichen von Gewalt erkennen ließ. Am Ende hätte Eve unter Umständen bloß eine Massenpanik erzeugt und unschuldige Menschen wären zu Schaden gekommen. „Du bist ein Vampir, nicht wahr?“, fragte sie zähneknirschend. Mehr als je bereute sie es, nicht auf ihre inneren Alarmglocken gehört zu haben. Es schien wohl im Laufe der Zeit geschehen zu sein, dass sie sich, ohne es wirklich zu merken, immer stärker in die Abhängigkeit ihrer magischen Spielzeuge begeben hatte, die sie eigentlich vor solch einer Situation hätten schützen sollen. „Ein schlaues Kind“, lobte das Wesen sie höhnisch. „Wie dumm, dass du trotz alledem nicht mehr lange leben wirst.“ Eve blieb nicht mal Zeit, bei diesem letzten Satz zusammenzucken. Denn mit einer Schnelligkeit, die wirklich  absolut nicht menschlich sein konnte, packte er sie plötzlich an der Schulter und schleuderte sie gegen die nächstgelegene Wand. Eve war viel zu überrascht, um angemessen zu reagieren oder sich auch nur ansatzweise zu verteidigen. Zumindest schaffte sie es einigermaßen, ihren Kopf aus der Schusslinie zu halten, sodass er nicht gegen das harte Mauerwerk prallte. Stattdessen knallte sie unangenehm mit ihrem Rücken dagegen, sodass ihr gleich alle Luft aus der Lunge gepresst wurde und sie keuchte wie ein Fisch an Land. Unheilvolle Sternchen begannen, vor ihren Augen zu tanzen, während sie mühevoll versuchte, ihre Benommenheit abzuschütteln und einen klaren Kopf zu behalten. „Es ist wirklich süß, wie leichtgläubig ihr manchmal seid“, vernahm sie die Stimme des Mannes, als er sich ihr mit raubtierhaften Bewegungen näherte. „Ihr glaubt, alles zu wissen, alles unter Kontrolle zu haben, und merkt dabei nicht, wie furchtbar falsch ihr doch eigentlich liegt.“ Eve spürte, wie er seine Finger um ihren Hals legte. Er hätte nur einmal fest zudrücken müssen und schon wäre ihr Genick gebrochen gewesen. Bloß ein kleiner Ruck und ihr Leben wäre vorbei gewesen. Die umgebenden Menschen schienen hingegen von dem ganzen Szenario nichts mitzubekommen. Keiner würdigte sie auch nur eines Blickes, während sie weiterhin fröhlich lachten, tranken und tanzten und sich ihres Lebens erfreuten. Selbst eine Gruppe von aufgeregt schwatzenden Frauen, die derart nah an ihnen vorbeiging, dass sie den Vampir fast schon streiften, nahm überhaupt keine Notiz. Als wären sie vollkommen unsichtbar. Der Untote schaute ihnen grinsend hinterher. „So dumm und so blind.“ Auch seine Stimme hatte sich nun verändert. Zuvor noch verführerisch, aber gleichzeitig auch normal, hatte sie inzwischen etwas Unmenschliches an sich. Obwohl er in einer gewöhnlichen Lautstärke sprach, konnte Eve ihn trotz des allgemeinen Lärms bestens verstehen. Als befänden sie sich in einer schallgeschützten Luftblase. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, die sie angesichts des ersten Schrecks hatte fallenlassen und die nun auf dem Boden neben einem bereits ramponierten Barhocker lag. Es befanden sich zwar keine offensichtlichen Waffen wie Pistolen oder Messer in ihr – schließlich wäre sie damit niemals in einen öffentlichen Club gekommen –, aber dafür trotzdem einige Spielereien und Überraschungen, die magische Wesen aus dem Gleichgewicht bringen konnten. Neben einer kleiner Apparatur, die von außen wie ein USB-Stick wirkte und in Wahrheit einen derart hohen Ton erzeugte, dass er alle Geschöpfe mit überempfindlichen Sinnen aus dem Konzept bringen konnte, war auch eine Flüssigkeit, versteckt in einer handelsüblichen Sprühdose, in ihrem Besitz, die ähnlich wie Pfefferspray die Augen des Angreifers vorübergehend schwer schaden konnte. Doch gerade lag die Tasche viel zu weit weg, um ihre Waffen benutzen zu können. So vermochte sie nichts weiter zu tun, als sich von diesem Wesen gegen die Wand drücken zu lassen und sich zu fragen, wie es soweit hatte kommen können. Ihr Anhänger hatte auf diesen Mann nicht reagiert, sodass sie sich in Sicherheit gewähnt hatte, auch wenn ihre inneren Instinkte sie von Anfang an vom Gegenteil zu überzeugen versucht hatten. Aber Eve war viel zu betört von dem Fremden gewesen und hatte sich überdies viel zu sehr auf ihren magisch versehenen Talisman verlassen, um darauf zu achten. Und nun war sie hier, in der Gewalt einer Kreatur, die sicherlich keinerlei Probleme damit haben würde, ihrem Leben ein Ende zu setzen. „Du hast mich gleich von Anfang durchschaut, nicht wahr?“, fragte er nach. Er klang sogar richtiggehend überrascht, als wäre er tatsächlich beeindruckt, dass ihre menschlichen Instinkte zu so etwas überhaupt fähig waren. „Du hättest auf dich selbst hören sollen anstatt auf diese dummen Kinkerlitzchen.“ Sanft fuhr er mit der Fingerspitze über ihren Anhänger, während sich Eve nur noch weiter verkrampfte, als er auch ihre Haut streifte. „Sowas wirkt bei mir nicht“, erklärte er lächelnd. „Zumindest nicht so etwas winziges.“ Seine Augen blitzten übernatürlich auf, wie es Eve zuvor bisher nur bei Raubkatzen und Vampiren gesehen hatte. Unwillkürlich musste sie wieder daran denken, wie Seth sie eindringlich davor gewarnt hatte, dass die Sieben auf dem Weg nach London waren. Vampire, die anders als ihre Artgenossen waren. Die sicherlich einen kleinen Zauber, verborgen an einem Anhänger, mühelos umgehen konnten. Eves Herz schlug noch schneller. Konnte das tatsächlich sein? Hatte sie jemand überwältigt, von dem sie bisher nur gehört und in alten Texten gelesen hatte? Der kaum mehr war als eine bedrohliche, aber gleichzeitig auch irgendwie irreale Legende? „Ich …“, brachte Eve mühsam hervor. Der Untote schnürte ihr zwar nicht völlig die Luftzufuhr ab, machte es ihr aber äußerst schwer, zu atmen. Ein intensives Gespräch war auf diese Weise zumindest nicht möglich. „Was willst du wissen?“, erkundigte sich der Vampir belustigt. „Warum ich dir ausgerechnet hier in diesem überfüllten Club auflauere, anstatt dich einfach auf deinem Heimweg in eine verlassene Gasse zu zerren? Wieso ich mir überhaupt die Mühe mache? Was ich eigentlich von dir will?“ Eve versuchte, bei der letzten Frage zu nicken, doch er hielt sie derart stark fest, dass es ihr unglaublich schwerfiel. Dennoch schien er ihre Geste zu verstehen. „Wie ich bereits sagte: Du stinkst!“ Er verzog demonstrativ sein Gesicht. „Und du scheinst mir die erste richtige Spur zu sein. Ich war einfach neugierig, was du mit diesem Feuerteufel zu tun hast.“ Er lächelte kalt. „Und siehe da, du bist gar keine Ottonormalverbraucherin. Im Grunde auch nicht weiter überraschend, wenn ich ehrlich bin. Dieser Mistkerl tötet Vampire, sodass es eigentlich logisch ist, dass ihr kleiner Jägerlein auch eure Finger im Spiel habt.“ Eve kam nicht umhin, sich angesichts dieser Aussage gekränkt zu fühlen. So wie es zurzeit den Anschein machte, tötete Seth, ohne dabei großartige Rücksicht auf irgendwelche Verluste zu nehmen, und Eve spürte einen starken Widerwillen, mit solch einer Person gleichgesetzt zu werden. Doch erneut schaffte sie es nicht, ihre Worte richtig zu artikulieren. Stattdessen setzte sie eine düstere Miene auf und hoffte, dass der Vampir es auf diese Weise verstand. „Ich könnte dich jetzt einfach mitnehmen und ausquetschen“, fuhr der Fremde derweil unbekümmert fort. „Niemand würde es mitkriegen. Du könntest hier und jetzt von der Bildfläche verschwinden, als hättest du niemals existiert.“ Eve schaute sich um. All die Menschen, die ihr so nahe standen und sie überhaupt nicht zu bemerken schienen. Tiffany, die ungeniert mit Robin flirtete und sich kein bisschen darum zu sorgen schien, wohin ihre Freundin so plötzlich verschwunden war. Der Untote hatte Recht. Niemanden würde es auffallen. „Weißt du, was dieser Feuerteufel genau ist?“, hakte der Vampir nach. Seine Augen leuchteten bedrohlich auf, als er sie intensiv musterte. Eve schüttelte hastig den Kopf. Zumindest, soweit es ihr möglich war. Der Vampir zögerte einen Augenblick, schien ihr aber zu glauben. Gerade ältere Exemplare hatten die Gabe, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Währenddessen bemerkte Eve, dass die Aufmerksamkeit des Fremden in eine andere Richtung abdriftete. Sein Blick verlor sich im nichts, als würde es intensiv etwas lauschen, dass nur er alleine wahrzunehmen vermochte. Die Jägerin bezweifelte im ersten Moment, dass er tatsächlich bei der lauten Clubmusik irgendetwas anderes hören könnte, aber andererseits gab es so viele erstaunliche Geschichten über die Alten, dass es einen doch nicht so wirklich verwundert hätte. „Hm, ich würde gerne noch plaudern, aber wir müssen es wohl leider verschieben.“ Er lächelte auf eine Art und Weise, die vermutlich charmant gewesen wäre, hätte er nicht seine Finger um ihre Kehle gelegt. „Es hat mich wirklich sehr gefreut, deine Bekanntschaft zu machen, Eve. Und sei dir gewiss, das ist nicht das letzte Mal, dass wir uns sehen.“ Eve lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auf eine weitere Begegnung so einer Art konnte sie ehrlich gesagt sehr gerne verzichten. „Und richte deinen kleinen Jäger-Freunden aus, dass sie uns in Ruhe lassen sollen!“, warnte er noch zischelnd. „Wir sind nicht in London, um uns mit euch anzulegen, aber solltet ihr frech werden und uns im Weg stehen, werden wir euch jeden Knochen einzeln brechen, euch die Kehlen aufschlitzen und eure leblosen Körper in der Themse versenken. Ist das klar?“ Eve nickte sofort. Sie hatte keinerlei Grund, diese Drohung in irgendeiner Art und Weise zu bezweifeln. Währenddessen ließ der Vampir plötzlich von ihr ab. Eve saugte sofort automatisch alle Luft in ihre Lunge ein, sodass ihr schwindelig wurde. Doch erfolgreich wehrte sie sich gegen eine Ohnmacht, ebenso wie sie es mehr schlecht als recht verhindern konnte, dass ihre Knie nachgaben und sie auf den Boden sackte.  „Seid einfach schön brav, dann passiert euch nichts“, meinte er. Der Vampir musterte sie noch einen Augenblick, dann wandte er sich von ihr ab. „Wer bist ...  du?“, rief Eve ihm hinterher, ihre letzten Kräfte mobilisierend. Zwar klang ihre Stimme kratzig und angeschlagen, aber nichtsdestotrotz fest und bestimmt. Er lächelte versonnen. Kurz bevor er in der Dunkelheit verschwand und mit den Schatten eins wurde, antwortete er: „Man nennt mich Alec!“ Kapitel 6: Suche ---------------- Es roch ungewöhnlich muffig in der alten Bibliothek, sodass Eve beim Betreten angewidert die Nase gerümpft hatte. Der Wunsch, ein Fenster zu öffnen, war geradezu unwiderstehlich gewesen, doch sie hatte genügend Willensstärke aufbringen können, um sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Draußen pfiff ein scharfer Wind und eine einzige verirrte Windböe hätte ausgereicht, um die Bibliothek auf den Kopf zu stellen. Überall lagen alte Papiere oder Pergamente herum, die ohne weiteres davon gesegelt wären. Zum Teil unbezahlbare Kostbarkeiten, deren Verlust Eve weder mit Freundlichkeit und Charme noch mit Geld irgendwie hätte aufwiegen können. Somit hatte sie sich schweren Herzens dazu durchgerungen, die abgestandene Luft zu ertragen. Inzwischen hatte sie diesen Umstand jedoch schon wieder völlig vergessen. Seit gut zwei Stunden hockte sie nun hier und war so sehr in die Quellen vertieft, dass sie gar nichts mehr um sich herum wahrnahm. Auch Liam, der vor ungefähr einer halben Stunde bei ihr aufgetaucht war und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, hätte sie fast nicht bemerkt gehabt. Sie war ganz und gar von ihrer Arbeit gefesselt, verbissen suchte sie nach Antworten. Ihr Tisch war nur noch ein einziges Chaos, Bücher und Schriftrollen stapelten sich übereinander. Jedem Buchliebhaber hätte dieser Anblick gegraust. Aber Eve kümmerte sich nicht darum. Ihr war nur der Inhalt wichtig. Ob da ein paar Seiten umgeknickt waren, war für sie völlig nebensächlich. In ihren Händen hielt sie gerade einen Brief aus der Zeit der Revolution 1848 in Deutschland. Ein reicher Handelsmann hatte einem Freund in England von ungewöhnlichen Ereignissen berichtet, die ihn nicht zur Ruhe hatten kommen lassen. Mehrere Menschen seien verschwunden und an Wänden hätten sich mehrere Zeichen gefunden, deren tiefes Rot stark an Blut erinnert hätte. Eve war klar, dass dies mit den Sieben in Zusammenhang gebracht werden konnte. Die Historiker der Dämonenjäger hatten schon vor einigen Jahren herausgefunden, dass sich der Vampirclan während der Deutschen Revolution in Berlin aufgehalten hatte. Es war ein absolut typisches Verhalten für Vampire, Gemetzel zogen sie geradezu magisch an. Kriege und Revolten waren in ihren Augen wahre Freudenfeste. Dem Geruch des Blutes konnten sie nicht widerstehen. Interessanterweise hatte Eve sogar einen Bericht ihrer Ururgroßmutter gefunden, der sich auf die Sieben bezog. 1890 war Mary Hopkins, damals als Jägerin in London stationiert, in engeren Kontakt mit diesen Vampiren gekommen, als übernatürliche Ereignisse die Stadt in Atem gehalten hatten. Sie war sowohl Alec als auch Elias und Annis, den berühmt-berüchtigten Zwilligen, mehrmals begegnet und hatte letzten Endes mit Stolz behaupten können, überlebt zu haben. Und ihre Beschreibung Alecs passte haargenau zu dem, was auch Eve empfunden hatte: „Ich würde gerne behaupten, dass man auf dem ersten Blick zu sehen vermag, welch ein unberechenbares Monster er ist. Aber er trägt eine Maske, ein Lächeln, einen unschuldigen Blick. Schon unzählige haben sich davon täuschen lassen und es werden in Zukunft noch viele mehr sein. Man möchte glauben, dass noch etwas Menschlichkeit in ihm steckt, und muss sich manchmal selbst daran erinnern, dass er ein Vampir ist, da man diese Tatsache wieder schnell vergessen kann, wenn man mit ihm redet. Er ist charmant und wortgewandt, doch man sollte sich immer vor Augen halten, dass er nur seine eigenen Ziele verfolgt. Und sollte man diesen in irgendeiner Weise im Weg stehen, wird er nicht davor zurückschrecken, sein wahres Wesen zu zeigen.“ Eve hätte es kaum besser ausdrücken können. Alec hatte so charmant und anziehend gewirkt, dass sie ihre Instinkte, die sich von Anfang an gewarnt hatten, einfach ignoriert hatte. Normalerweise verließ sie sich immer auf ihr Bauchgefühl, aber diesmal hatte sie sich selbst irgendwelche halbgaren Ausreden aufgetischt, um sie nicht weiter beachten zu müssen. Und somit war sie auf ihn hereingefallen. Wie ein dummes, naives Mädchen, das absolut nichts von der Welt und ihren Gefahren verstand. Und Eve war sicher nicht gewillt, dies einfach auf sich sitzen zu lassen. Sie wusste zwar, wie leichtfertig und maßlos es klang, wenn sie behauptete, es mit einem weit über zweitausendjährigen Vampir aufzunehmen, dennoch ließ sie sich nicht davon abbringen. Selbst Alec war nicht unverwundbar. Jeder hatte einen Schwachpunkt, eine empfindliche Stelle. Eve hatte gehofft, diese bei ihren Recherchen zu entdecken. Ihr war schon früh aufgefallen, dass Vampire es nicht allzu sehr mochten, wenn man in ihrer menschlichen Vergangenheit herumstocherte. Ihnen schien der Gedanke nicht zu behagen, dass sie einst dermaßen schwach gewesen waren. Alec war in dieser Angelegenheit bestimmt nicht viel anders. Doch zu ihrem Bedauern hatte Eve nichts über ihn finden können. Seine Zeit als Mensch war ein Mysterium, wie das der meisten Mitglieder der Sieben. Je älter sie waren, desto schwerer wurde es, ihrem Werdegang zu folgen, ganz zu schweigen davon, dass sie im Laufe der Zeit so viele unterschiedliche Namen und Titel erhalten hatten, dass man nicht immer mit Sicherheit sagen konnte, von wem überhaupt gesprochen wurde. Eve seufzte. Wahrscheinlich war diese ganze Sucherei völlig sinnlos. „Darf man fragen, was du da machst?“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihr. Eve wirbelte erschrocken herum und blickte direkt in Richards blaue Augen. Interessiert musterte er die vor Eve ausgebreiteten Werke. „Ich lese“, brummte sie leicht verärgert. Ihr waren Richards zuckende Mundwinkel nicht entgangen. Wahrscheinlich freute es ihn ungemein, dass er sie derart hatte überrumpeln können. „Das sehe ich“, meinte er amüsiert. „Aber die Wahl deiner Lektüre ist ein wenig merkwürdig. Ich persönlich würde ja einen guten Krimi bevorzugen ... aber du scheinst mehr auf blutige Tatsachen zu stehen.“ Er legte seinen Kopf schief. „Wenn du vorhattest, mehr über Alec rauszufinden, dann vergiss es. Das haben andere schon vor dir versucht und sind kläglich gescheitert.“ Eve verzog ihr Gesicht. Sie gab Richard ungern Recht, aber es sah tatsächlich danach aus. Ihre stundenlange Suche hatte nichts Vielversprechendes zutage gebracht. „Außerdem würde ich dir sowieso dringend raten, es sein zu lassen“, warnte er eindringlich. „Du solltest dich mit diesem Typen überhaupt nicht beschäftigen. Er ist nicht nur ein Vampir, sondern ein Sa’onti. Das geht niemals gut aus.“ Eve seufzte. Seine Logik war unglücklicherweise unumstößlich. Sa’onti war ein Begriff aus der Dämonensprache, auch Höllenzunge genannt. Eben jener Sprache, die vorrangig den übernatürlichen Wesen vorbehalten war und universal auf der ganzen Welt eingesetzt wurde. Die genaue Deutung des Wortes war schwer zu erfassen, aber Eve hatte gehört, dass es viele mit ‚Totgeburt‘ oder ‚geboren, um zu sterben‘ übersetzten. Sa’onti standen in der Vampirhierarchie an der obersten Stelle, sowohl was Macht als auch was Einfluss anging. Ihre Anzahl war, nach Erkenntnissen der Jäger, recht überschaubar, aber viele vermuteten, dass die Dunkelziffer weitaus höher lag. Die Berichte waren zum Teil sehr vage und verschwommen, zumal man rein äußerlich einen Sa’onti sowieso nicht von einem gewöhnlichen Vampir zu unterscheiden vermochte. Wie sich das alles genau entwickelt hatte, war ebenfalls lange Zeit ein Rätsel gewesen. Früher hatte man gerne von Schicksal und Vorsehung gesprochen, inzwischen bezog man sich mehr auf die Genetik. Vor Jahrtausenden hatte sich das vampirische Gen mit dem menschlichen vermischt – zum Beispiel durch den Biss eines Untoten und dem damit einhergehenden Kontakt mit dessen Speichel – und war über die Generationen erhalten geblieben. Es schien nicht besonders häufig bei den menschlichen Nachkommen aufzutauchen und selbst bei vielen, die es irgendwo tief versteckt in ihrem genetischen Code mit sich trugen, blieb es absolut inaktiv. Zahlreiche Tests seit den 1980er Jahren hatten dies bestätigt. Wenn es jedoch ausbrach, war es für den Betroffenen alles andere als angenehm. Im Grunde glaubte der Körper, ein Vampir zu sein, ohne je eine Verwandlung durchgemacht zu haben. Stattdessen war die menschliche Physiognomie nicht dafür geschaffen, die Fähigkeiten eines Vampirs lange zu ertragen, und ging stattdessen qualvoll zugrunde. Es gab zwar nicht viele Überlieferungen, die davon erzählten, aber man sprach von einem endlosen Leid, das nur durch den Tod oder die Transformation in einen Vampir ein Ende finden konnte. Weitere Erkenntnisse fehlten jedoch. Die Sa’onti hielten sich größtenteils bedeckt und agierten nicht besonders auffällig mit der Welt der Menschen. Es gab Gerüchte von Sa’onti, die einzeln durch die Länder reisten, und ebenso einigen, die große Ansammlungen von Vampiren um sich geschart hatten. Asrims Clan hingegen war der einzig bekannte, der ausschließlich aus Sa’onti bestand, und demnach gefürchteter war als alle anderen. Möglicherweise gab es aber noch mehr, vielleicht existierte sogar irgendwo versteckt eine riesige Armee, die nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um die Weltherrschaft zu übernehmen, doch allein der Gedanken daran war dermaßen unerfreulich, dass sich niemand lange damit beschäftigen wollte. „Ich soll demnach einfach aufgeben?“, hakte Eve missbilligend nach. „Ich soll die Tatsache, dass er mich angegriffen hat, einfach vergessen und weiter mein Leben leben?“ Sie fuhr sich über den Bluterguss an ihrem Hals, den Alec ihr am Vorabend zugefügt hatte. Eine ständige Erinnerung daran, dass sie vollkommen machtlos gewesen war. „Selbst wenn du tatsächlich irgendetwas finden solltest, was macht es für einen Unterschied?“, fragte Richard. „Es wird ihn nicht beeindrucken, wenn du ihm Geschichten aus längst vergangener Zeit erzählst.“ Eve schnaubte. „Wenn es die richtigen Geschichten sind, dann schon.“ Richard seufzte, als er sich auf einem Stuhl niederließ und eine Schriftrolle aus dem antiken Ägypten inspizierte. Er studierte die alten Hieroglyphen mit solch einer Konzentration, dass man fast hätte denken können, er könnte wirklich Altägyptisch lesen. „Wenn es dir wirklich so wichtig ist, würde ich dir raten, Seamus auszusuchen“, meinte er schließlich. „Wenn dir einer helfen kann, dann er.“ „Seamus?“, fragte Eve verdutzt. „Kennst du ihn nicht?“, meinte Richard erstaunt. „Er ist ein Historiker, der zwar nicht offiziell für uns arbeitet, aber uns immer wieder hilfreiche Tipps zukommen lässt. Soweit ich weiß, beschäftigt er sich schon seit Jahren mit den Sieben. Das ist so ein komisches Hobby von ihm. Er scheint das Ganze wirklich faszinierend zu finden.“ Richard schüttelte nur verständnislos den Kopf. Eve war währenddessen nachdenklich geworden. „Und du denkst, er könnte mir helfen?“ Ihr Gegenüber hob die Schultern. „Möglich. Zumindest weiß er einiges über diese besonderen Vampire.“ Eve musste zugeben, dass das vielversprechend klang. Zumindest schien es ihr besser, als sich stundenlang durch irgendwelche alten Bücher zu wälzen und hinterher nicht viel schlauer zu sein als zuvor. Für Recherchearbeiten war sie einfach nicht geschaffen. „Wo wohnt denn dieser Seamus?“, erkundigte sie sich. „Irgendwo in Ealing“, meinte Richard nach kurzem Überlegen. „Die genaue Adresse hab ich zwar nicht im Kopf, aber die lässt sich schnell rausfinden.“ Er musterte sie intensiv. „Aber sei trotzdem gewarnt.“ Eve runzelte verwundert die Stirn. „Weswegen?“ Richard seufzte. „Seamus ist ... na ja, ein bisschen seltsam. Er kommt nicht viel unter Menschen, weißt du?“ Eve nickte verstehend. Sie war es so oder so gewohnt, mit sonderbaren Gestalten zu verkehren, da würde sie ein Gelehrter wohl kaum überraschen können. „Und ich weiß, dass ich eigentlich mit einer Wand spreche und meinen Atem lieber sparen sollte, aber sei vorsichtig!“, wiederholte er noch einmal mit Nachdruck. „Alec ist ein Bluthund! Das sind sie alle. Die können vermutlich zehn Meilen gegen den Wind riechen, was du zu Mittag gegessen hast.“ Er lehnte sich vor. „Wenn er glaubt, dass du Informationen über diesen Seth hast, wird er dich weiter beschatten. Er wird sicher nicht lockerlassen.“ Eve zog ihre Mundwinkel nach unten, als sie sich daran erinnerte, wie Alec ihr versprochen hatte, dass es nicht ihre letzte Begegnung sein würde. „Und was erwartest du von mir? Dass ich rund um die Uhr mit Bodyguards herumrenne? Dass ich mich hier verkrieche, bis alles vorbei ist?“ „Also das klingt eigentlich gar nicht so schlecht ...“ Eve schlug lautstark das Buch zu, das sie vor sich liegen hatte. „Ich werde mein Leben sicher nicht umkrempeln, nur weil mir gestern Abend ein Vampir aufgelauert hat. Das ist wirklich nicht das erste Mal.“ Richard nahm sie scharf ins Visier. „Wir reden hier immerhin von demjenigen, die in den alten Quellen stets als Angelus Mortis[1] bezeichnet wird, schon vergessen?“ Wie hätte ihr das entfallen können? Ihr Körper war wie gelähmt gewesen, sein Blick eisig und so stechend, dass sie einen schwachen Moment lang wirklich geglaubt hatte, er könnte sie tatsächlich auf diese Art und Weise töten. Eve hasste es, was er mit ihr angestellt hatte. Und sie war bestimmt nicht bereit, nun klein beizugeben. „Auf jeden Fall musst du wachsam sein“, mahnte Richard sie eindringlich, nachdem er offenbar erkannt hatte, dass selbst die vernünftigsten Warnungen keine nennenswerte Wirkung erzielen würden. „Du scheinst aus irgendeinem Grund zwischen zwei Fronten geraten zu sein. Seth auf der einen und die Sieben auf der anderen Seite. Bleibt nur die Frage, wer schlimmer ist.“ Eves Blick fiel wieder auf die Aufzeichnungen von Mary Hopkins. Wer war nun schlimmer? Die Monster oder derjenige, der sie jagte und dabei keinerlei Rücksicht auf Verluste nahm? Wer von beiden war das herzlosere Ungeheuer?       *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *   Von irgendwo ertönte das Schlagen einer Kirchenglocke. Dumpf, leise und doch beständig. Nichts würde sie aus der Ruhe bringen können, nicht mal, wenn plötzlich ein gewaltiger Krieg losbrechen sollte. Sharif hatte sich nie besonders zum Christentum hingezogen gefühlt, aber die Bauten hatten es ihm seit jeher angetan. Beeindruckt hatte er die Architektur in sich aufgesogen, die gewaltigen Gebäude betrachtet und sich immer wieder aufs Neue gefragt, wie ausgerechnet die verdorbene Menschheit so etwas Schönes zu erschaffen vermochte. Der Klang von Glocken konnte Sharif derweil immer noch einen jähen Schauer über den Rücken jagen. Er hatte im Laufe der Jahrtausende viel gesehen und erlebt, hatte am eigenen Leib erfahren, wie Reiche gegründet, gewachsen und wieder zugrunde gegangen waren. Nichts schien für die Ewigkeit geschaffen, alles befand sich in ständiger Bewegung. So kam es ihm fast vor, als wären die Glocken die einzige Konstante. Er hatte sie damals während der Französischen Revolution gehört, ebenso wie während des Dreißigjährigen Krieges, der großen Pestwelle im Hochmittelalter und allgemein jeden einzelnen Tages, sofern er sich an einem einigermaßen bevölkerten Ort befunden hatte. Sie klangen immer gleich – hoheitsvoll und ehrfurchtgebietend – und hatten sich seit Urzeiten in ihrem Klang nicht geändert. Ein letztes Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten.  „Warum hier?“ Oscars Stimme drang unvermittelt zu Sharif durch. Der hochgewachsene Vampir mit den stechenden Augen und dem stets säuerlichen Gesichtsausdruck hielt eine qualmende Zigarette zwischen den Fingern und starrte übellaunig auf die Stadt herab. All die blinkenden Lichter und die strahlenden Reklametafeln machten ihn nervös. Auch in der Wohnung, die Sharif für die Anwesenheit in London okkupiert hatte, hatte er alle Lichter ausgeschaltet. Er konnte zu viel künstliche Helligkeit einfach nicht vertragen. Tageslicht machte ihm nicht das Geringste aus, auch mit der Sonne konnte er ganz gut leben, aber sobald irgendetwas blinkte und funkelte, das nicht in erster Linie von der Natur erschaffen worden war, zog er sich meistens sofort zurück. „Du meinst, warum wir diese Wohnung ausgesucht haben?“ Sharif ließ seinen Blick durch das spießige Appartement mit der Blümchentapete und den Fotos von strahlenden Enkelkindern, die man fein säuberlich in den Regalen aufgereiht hatte, schweifen. „Ich weiß, der Innenarchitekt hat nicht gerade gute Arbeit geleistet, aber ich hatte ehrlich gesagt auch nicht vor, meinen Lebensabend hier zu verbringen. Die Besitzer sind zumindest gerade im Urlaub und ihre Wohnung liegt günstig. Hier in der Nähe sind schon drei Gebäude abgebrannt.“ „Nein, nicht die Wohnung“, erwiderte Oscar zischend. „England. London. Warum sucht sich ein Feuerleger ausgerechnet einen Ort aus, an dem es dauernd regnet? Zumindest um diese Jahreszeit. Wenn er wenigstens im Sommer zugeschlagen hätte, würde ich das vielleicht noch verstehen, aber im Herbst?“ Sharif konnte nur ahnungslos mit den Schultern zucken. Das hatte er sich bereits auch schon gefragt, aber keine passende Antwort gefunden. Auch Asrim war sehr schweigsam gewesen, als der Ägypter ihn darauf angesprochen hatte. Doch wenn Sharif es recht bedachte, war sein Schöpfer in letzter Zeit sowieso nicht besonders redselig. „Und warum wir alle?“ Oscar gestikulierte dermaßen wild mit der Hand herum, dass er Sharif beinahe mit der Zigarette erwischt hätte. „Wozu sind wir denn alle nötig, um einen kleinen Fisch zu fangen?“ Es hatte die Zeit im deutschen Hinterland, seiner alten Heimat, sehr genossen, sodass die Aussicht, ins menschenreiche London zu reisen, ihn nicht mal ansatzweise mit Freude erfüllt hatte. Seit seiner Ankunft sah er so aus, als hätte er die Stadt am liebsten bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt. „Ich habe keine Ahnung“, gab Sharif seufzend zu. Auch bei diesem Thema hatte Asrim nur irgendetwas Rätselhaftes gemurmelt und war dann von dannen gezogen. „Und wen jagen wir eigentlich?“, wollte Oscar wissen. „Einen Jäger? Einen Magier? Oder vielleicht einen Feuerdämon? Was denn eigentlich?“ Der Vampir schien kurz davor zu stehen, irgendwem den Hals umzudrehen. Oscar hatte früher durchaus noch so etwas wie Geduld und Zuversicht besessen, aber seitdem die Welt sich mit jedem Tag immer weiter veränderte, war er äußerst mürrisch geworden. Den technischen Errungenschaften der Menschen stand er mehr als nur feindselig gegenüber, sodass es ihn sogar tatsächlich mit Stolz erfüllt hatte, als ihn Elias noch letztens als wandelnden Anachronismus verspottet hatte. Er kümmerte sich nicht um Zahnräder und Elektrizität und Computer, sondern mied diese Spielereien, so gut es ihm möglich war.  „Was auch immer hier in London für Unruhe sorgt, es macht die anderen Vampire ziemlich nervös“, meinte Sharif. „Die anderen Vampire.“ Oscar schnaubte abfällig. „Das sind doch alles bloß Memmen, die sich nie von ihrer menschlichen Existenz lösen konnten. Wenn du dir diese Weicheier tatsächlich zum Vorbild nimmst, nehm ich am besten direkt das nächste Flugzeug zurück nach Deutschland.“ Aus einem der hinteren Winkel des Zimmers war ein Lachen zu hören. Oscar wirbelte herum und bedachte den dort befindlichen Alec mit einem harten Blick. Dieser saß auf einem Stuhl, hatte seine Beine auf den Esstisch gelegt und die ganze Zeit über mit einer Streichholzschachtel gespielt, während er den beiden anderen Vampiren zugehört hatte. Sharif hatte seine Anwesenheit schon fast vergessen gehabt. „Was gibt es da zu lachen?“, knurrte Oscar. Alec grinste breit. „Hab ich dir eigentlich in den letzten paar Tagen gesagt, wie sehr ich dich liebe, Bruder?“, hakte er amüsiert nach. „Du bist immer so freundlich und mitfühlend, selbst gegenüber Fremden, die du noch nie zuvor gesehen hast. Mir geht jedes Mal das Herz auf.“ „Wenn du willst, kann ich dir dein gammliges, kleines Herz gerne herausreißen“, schlug Oscar knurrend vor. Sharif konnte derweil nur mit den Augen rollen. Es war immer wieder dasselbe mit den beiden ... Sie waren Unikate, ohne Zweifel. Unterschiedliche Pole, heiß und kalt, Hund und Katze. Es gab kaum etwas, über das sie sich einig waren, ständig lagen sie sich in den Haaren und sprachen mehr Morddrohungen aus, als es Sharif pro Tag hätte zählen können. Sie nur zehn Minuten in einen Raum gemeinsam einzusperren, hätte wahrscheinlich katastrophale Folgen nach sich gezogen. Anfangs hatte Sharif wirklich befürchtet, diese gegenseitige Abneigung würde zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden führen. Oscar war ein ehemaliger keltischer Stammesführer, der sich durch sein autoritäres Auftreten den uneingeschränkten Respekt seiner Männer versichert hatte, und Alec ein Dieb, der sich noch niemals von irgendwem etwas hatte vorschreiben lassen. Sie passten einfach nicht zusammen und Sharif hatte eher früher als später mit einem großen Knall gerechnet. Mit irgendetwas so Gewaltigem, das nicht mal die Zeit imstande gewesen wäre, die tiefen Wunden zu heilen. Doch zu seiner großen Überraschung trat nichts Derartiges ein. Die beiden stritten sich weiter, fanden im Grunde so gut wie nie einen gemeinsamen Nenner, aber gleichzeitig entdeckte man auch eine seltsame Art von Zuneigung, wenn man sie länger beobachtete. Blicke, die ausgetauscht wurden und offenbar keiner Erklärung bedurften. Kleinigkeiten, die geteilt wurden, meist dann, wenn sie glaubten, niemand würde es bemerken. Gespräche, die tief reichten oder auch völlig oberflächlich blieben. Sie beiden waren auf jeden Fall ein überaus sonderbares Paar. „Hättet ihr beide vielleicht die Güte, euch erst gegenseitig zu zerfleischen, sobald dieser Feuerleger tot zu unseren Füßen liegt?“, hakte Sharif nach. „Im Sinne der allgemeinen Höflichkeit?“ Alec wirkte über alle Maßen missbilligend. „Seit wann gebe ich denn was auf Höflichkeit?“, konterte er. „Außerdem ist das echt nicht meine Schuld. Ich sage Oscar, dass ich ihn liebe wie einen Bruder, und er droht, mich zu zerstückeln. Wer ist hier also unhöflich?“ Sharif hob warnend seinen Zeigefinger, als Oscar gerade dabei war, seinen Mund zu öffnen, um zu einem – zweifellos harschen – Gegenargument anzusetzen. „Alles, was aus deinem Mund kommt, klingt wie eine Provokation, Alec“, entgegnete der Ägypter. „Also lass es gut sein, okay? Du weißt sehr wohl, dass Oscar schon seit mehreren Jahrhunderten davon fantasiert, dir den Kopf abzureißen. Und irgendwann bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich ihn nicht mehr daran hindern werde, verstanden?“ Alec hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Seinem Blick war jedoch zu entnehmen, dass ihn das alles viel zu sehr amüsierte, als dass er es irgendwie ernstnehmen könnte. „Konzentrieren wir uns einfach auf den Pyromanen, was haltet ihr davon?“, schlug Sharif vor. „Ich habe nämlich genauso wenig Lust hier zu sein wie ihr. Je schneller der Mistkerl unter der Erde liegt, desto eher können wir diese verfluchte Insel verlassen.“  „Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?“, fragte Oscar übellaunig. „Asrim will uns nichts verraten, wir stehen ohne die geringsten Informationen da. Ich bin jetzt schon seit drei Tagen in dieser stinkenden Stadt und bis jetzt habe ich keinerlei Anzeichen für irgendetwas Gefährliches ausmachen können. Allmählich glaube ich, dieser mysteriöse Feuerleger existiert gar nicht.“ Alec runzelte die Stirn. „Deine Sinne sind ganz schön vernebelt, kann das sein? Riechst du nicht die Asche und das Feuer?“ Oscar knirschte hörbar mit den Zähnen. „Ich rieche bloß den Regen und den Mief selbstgerechter Menschen. Das ist mehr als genug.“ Er zog seine Mundwinkel nach unten. „Was ist mit der Hexe? Hat sie eine Ahnung, wo sich unser Feuerliebhaber aufhält?“ „Necroma?“ Sharif grinste, als wäre dies der beste Witz, den er seit langem gehört hat. „Du kennst sie doch. Sie hatte wahrscheinlich schon unzählige Zukunftsvisionen, hat aber keine Lust, sie mit uns zu teilen.“ Oscar zog an seiner Zigarette. „Irres Miststück“, grummelte er. Sharif wandte derweil seinen Blick zu Alec, der noch vor ein paar Stunden verkündet hatte, dass er eine Spur aufgenommen hätte, was den Feuerteufel betraf. Der Ägypter wusste zwar nicht, ob dies tatsächlich mehr war als bloß heiße Luft, aber wahrscheinlich war es trotzdem allemal besser, als auf Necroma zu vertrauen. Oder auf Asrim, so musste sich Sharif widerwillig eingestehen. Ihr Schöpfer benahm sich auf alle Fälle mehr als seltsam und das lag Sharif ausgesprochen quer im Magen. Wenn der Vampir es nicht besser gewusst hätte, hätte er behauptet, Asrim wäre besorgt. Aber das war unmöglich. Asrim war niemals in Sorge. Er hatte immer alles unter Kontrolle, wie ein Puppenspieler seine Marionetten. Durch nichts ließ er sich aus der Ruhe bringen. Es musste schon der Weltuntergang bevorstehen, bevor Asrim in Sorge geriet. Kapitel 7: Schwarze Feder ------------------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.)     Rashitar hatte sich in den letzten hundert Jahren sehr stark verändert. Die Straßen waren ausgearbeiteter und breiter, die Gebäude höher und moderner und das Einzugsgebiet schien sich glatt verdoppelt zu haben. Asrim erinnerte sich zumindest an große und weite Wiesenflächen, die inzwischen verschwunden und einer Ansammlung aus Hütten und Häusern gewichen waren. Gleichzeitig war die Population auch deutlich gestiegen, was man deutlich am Lärm und am Geruch wahrnahm. Über kurz oder lang würde diese Stadt immer größer werden, bis sie sich irgendwann selbst auffraß und schließlich in absolute Vergessenheit geriet. So war es bisher schon immer gewesen und so würde es auch noch in Jahrtausenden sein. „Du musst mein Gedächtnis nochmal auffrischen“, vernahm Asrim Sharifs leicht genervte Stimme neben sich. „Warum genau sind wir nochmal hier?“ Vor gut einer halben Stunde waren sie in Rashitar angekommen und Asrim war erpicht gewesen, die neuen Winkel und Ecken zu erkunden. Sharif war ihm zunächst kommentarlos gefolgt, offenbar nicht gewillt, seinen Schöpfer bei seiner Entdeckungstour zu stören, letztlich hatte er aber wie üblich nicht an sich halten können. „Aus Gründen, die dir Kopfschmerzen bereitet haben, als ich versucht habe, sie dir zu erklären“, meinte Asrim amüsiert. „Außerdem, was hast du gegen ein bisschen reisen denn einzuwenden?“ Sharif schnaubte. In den letzten Monaten hatte er sich durch Gebiete bewegt, die mit der Hochkultur, die er aus seiner Heimat Ägypten gewohnt war, nicht unbedingt hatten konkurrieren können. Keine beeindruckenden Bauwerke, keine großen Könige. Dafür sehr viel Wildnis und zahllose weit auseinanderliegende Dörfer und Stämme, die sehr misstrauisch auf Fremde reagierten. Rashitar machte dazu im Gegensatz einen etwas hochwertigeren Eindruck. Es war die Hauptstadt des gleichnamigen Gebietes, das sich, abgegrenzt von äußeren Einflüssen, an der Küste des Landes entwickelt hatte. An diesem Ort konnten die Magier, ohne Furcht auf Verfolgung und Unterdrückung, ihrer Macht und ihrem Geist freien Lauf lassen. Und dies hatte über die Jahrhunderte zu einer starken Infrastruktur, einem raschen Fortschritt und sehr viel Wohlstand geführt. Und trotzdem erweckte Sharif den Eindruck, als wäre er am liebsten wieder zu den Barbarenvölkern zurückgekehrt. „Ich kann Magier nicht ausstehen“, zischte er, sich sehr wohl bewusst, dass auch Asrim zu dieser Gattung zählte. „Sie sind überheblich und arrogant und spüren schon aus hundert Fuß Entfernung, dass man kein gewöhnlicher Mensch ist.“ Asrim hob eine Augenbraue. „Und du willst als gewöhnlich wahrgenommen werden?“ „Ich will keine Aufmerksamkeit“, erwiderte sein Gegenüber. Asrim fand es immer wieder erstaunlich, dass Sharif noch seinen alten Gewohnheiten nachhing. Als armer Mann geboren, hatte er sich stets untergeordnet und war sehr darauf bedacht gewesen, niemanden auf die Füße zu treten. Nun, ein gutes Jahrhundert später, hätte er sich als grausamer Gott oder großer Herrscher einen Namen machen können, wenn er gewollt hätte. Er hätte all jene zu terrorisieren vermocht, die ihn unter normalen Umständen unterminiert hätten. Aber stattdessen blieb er im Schatten. Unsichtbar. „Es tut mir sehr leid für dich, aber unsere Anwesenheit dürfte einigen Männern und Frauen hier eher früher als später auffallen“, erwiderte Asrim. Und das war auch genau das, was er begehrte. Unsicherheit, Angst, Panik. Er bezweifelte stark, dass sich diese Menschen schon einmal mit Vampiren hatten auseinandersetzen müssen. Untote mieden normalerweise die Gesellschaft von Magiern - unter anderem aus den von Sharif bereits aufgeführten Gründen - und eine ganze Stadt voller Magie musste normalerweise ziemlich abschreckend wirken. Zumindest erschien es zweifelhaft, dass sich bereits ein oder gar mehrere Vampire bewusst an diesen Ort begeben hatten, wenn sich nicht allzu weit mehrere Dörfer mit Menschen befanden, die ein übernatürliches Wesen nicht einmal dann erkannten, wenn es direkt vor ihnen stand. „Und wozu das Ganze?“, wollte Sharif wissen. „Damit du in den allgemeinen Chroniken erwähnt wirst, der Schatten aus dem Osten, und Jahrtausende später, wenn jemand das liest, vor Angst erzittert?“ Asrim grinste. „Man muss sich eine gewisse Reputation aufbauen, findest du nicht?“ Sein Blick fiel währenddessen auf den Herrscherpalast, das Herzstück der Stadt. Er war ein absolut beeindruckendes Bauwerk, das selbst Asrim bei seinem ersten Besuch die Sprache verschlagen hatte. Nirgends hatte er bisher solch ein Kunstwerk der Architektur und Magie gesehen. Sharif hingegen wirkte nicht allzu überwältigt. Er hatte den Palast des Pharaos gesehen, die Pyramiden der Götter und war demnach Größe und Pracht fast schon gewohnt. Asrim wusste zwar, dass er tief in seinem Inneren durchaus Bewunderung für dieses Handwerk aufbrachte, aber zu stolz war, dies auch in Worte zu fassen. „Wir sind seinetwegen hier, nicht wahr?“ Sharif deutete auf den Palast und machte deutlich, dass er auf einen ganz speziellen Bewohner anspielte. Und Asrim vermochte nicht zu widersprechen. In der Tat war er nicht nur aus Melancholie und Sehnsucht wieder nach Rashitar zurückgekehrt. „Ist das wirklich alles?“ Sharif klang ehrlich enttäuscht. „Wir sind tatsächlich nur hier, weil du noch etwas mit diesem Ober-Magier zu klären hast? Dafür sind wir tatsächlich quer durch dieses trostlose Land gereist?“ Asrim musste bei seiner Wortwahl automatisch schmunzeln. Ägypten bestand im Grunde nur aus Sand und Hitze, während die Ländereien, die sie die letzten Monate besucht hatten, grün und fruchtbar gewesen waren – und dennoch betrachtete Sharif sie im Vergleich als trostlos. Offenbar musste Asrim sich über kurz oder lang mal damit beschäftigen, Sharifs Weltsicht ein wenig zu korrigieren. „Wir sind also nur hier, um einen Magier zu töten.“ Sharif seufzte resigniert. „Ich hatte mir eigentlich ein bisschen mehr Abenteuer versprochen.“ Asrim zog seinen Mundwinkel nach oben. „Wer sagt, dass wir ihn töten?“ Der Ägypter runzelte die Stirn. „Nicht?“ Asrim schüttelte entschieden den Kopf. „Das wäre viel zu gut für ihn. Es wäre eine Erlösung und das ist wirklich das letzte, was ich diesem Bastard geben möchte.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, ich will, dass er leidet. Ich will, wie er hilflos dabei zusieht, wie er alles, das ihm wichtig ist, nach und nach verliert. Ich will, dass er im Blut derjeniger schwimmt, die er über alles liebt. Ich will, dass er verzweifelt, bis er mich irgendwann unter Tränen anfleht, ihn umzubringen.“ Sharifs Augen leuchteten übernatürlich auf, als sich ein breites Grinsen auf seinen Lippen ausbreitete. „Ich nehme alles zurück. Das klingt nach Spaß!“     *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *   „Hast du auch dieses Gefühl, dass irgendetwas Unheimliches dort draußen vorgeht?“ Te-Kems Stimme schien ruhig und gefasst, doch Jyliere kannte ihn inzwischen lange genug, um das leichte Zittern in seinem Tonfall zu bemerken. Der Obere stand vor einem großen Fenster, das einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt gewährte, und hatte nun schon seit mehreren Minuten gedankenverloren in die Ferne geschaut. Kein Ton hatte seine Lippen verlassen, nicht einmal ein Muskel hatte sich bewegt. Jyliere, der schon seit geraumer Zeit an jenem langen Tisch saß, den Te-Kem stets für Versammlungen und private Treffen jedweder Art nutzte, blickte bei den Worten seines Freundes auf. Er stellte das Weinglas in seiner Hand zur Seite und musterte Te-Kem fragend. „Was meinst du?“, hakte er nach. Te-Kem wandte sich um und seufzte. „Ich weiß nicht genau. Es fühlt sich an, als ob …“ Er hielt inne, offenbar nicht sicher, wie er es überhaupt formulieren sollte. „Kennst du das, wenn du das Gefühl hast, ein bedrohlicher Schatten würde über einen schweben?“ Jyliere musste sich eingestehen, dass ihm dies sehr wohl vertraut war. Viele Magier spürten es auf eine bestimmte Art und Weise, wenn irgendetwas in der Luft lag. Und gerade Te-Kem war dafür schon immer sehr empfänglich gewesen. „Glaubst du, uns steht etwas Schlimmes bevor?“, fragte Jyliere nach. Er persönlich bemerkte rein gar nichts Ungewöhnliches, doch Te-Kems sorgenvoller Gesichtsausdruck machte ihn unruhig. „Ich weiß nicht, alter Freund.“ Trotz alledem kam Jyliere nicht umhin, zu schmunzeln. Es war immer wieder amüsant, wenn er ihn als alten Freund titulierte, obwohl sie rein äußerlich derart verschieden waren. Jyliere war deutlich älter als Te-Kem und auch wenn dies bei Magiern irgendwann keinen großen Unterschied mehr machte, war Te-Kem gleichzeitig noch jung genug, um sich seine Jugend zu bewahren. Er wirkte kaum älter als dreißig Winter und würde wahrscheinlich auch noch einige Jahrzehnte dieses Aussehen behalten können, ehe es zu viel Energie auffressen würde, die Alterungserscheinungen zu unterdrücken, und stattdessen all seine Magie darauf konzentrieren würde, länger zu leben. Jyliere hatte diesen Punkt vor gut einem halben Jahrhundert überschritten. Damals war er auch noch frisch und gutaussehend gewesen, aber mit der Zeit war es anstrengender geworden, die Falten zu eliminieren und das weiße Haar zurückzuhalten, sodass er es irgendwann aufgegeben hatte. Es war für ihn sowieso kein allzu großer Verlust gewesen, er hatte nie zur eitlen Sorte gehört. Bei Te-Kem würde dies früher oder später wahrscheinlich ein wenig schwieriger werden, dessen war sich Jyliere sicher. Er mochte es, verehrt und respektiert zu werden, und jede noch so kleine Unregelmäßigkeit in seiner Erscheinung kam für ihn einem Eingeständnis gleich, dass seine Magie nicht ausreichend war. Die Versicherung Jylieres, dass es jedem irgendwann so erging, hatte er bisher immer abgeblockt. Aber irgendwann würde er es wohl oder übel einsehen müssen. Dann würde auch seine Zeit kommen. „Vielleicht hast du einfach nur schlecht geschlafen“, mutmaßte Jyliere und nahm damit den Gesprächsfaden wieder auf. „Der Verstand kann einem schnell Streiche spielen.“ Te-Kem wirkte wenig überzeugt, schien aber zumindest über die Worte seines Gegenübers nachzudenken, anstatt sie einfach brüsk abzuwinken. Das war schon immer seine größte Stärke gewesen, wie Jyliere fand: Die Fähigkeit, anderen Menschen zuzuhören und ihren Rat ernst zu nehmen. Es war besonders erstaunlich, wenn man bedachte, dass sein Vater das genaue Gegenteil gewesen war. Nur seine eigene Meinung war wichtig gewesen und seine Berater kaum mehr als schmückendes Beiwerk. Ein Klopfen riss die beiden aus ihren Gedanken. Ein junger Mann, der relativ neu in Te-Kems Dienstbotenstamm war, steckte seinen Kopf durch den Türspalt und meinte: „Verzeiht bitte die Störung, mein Herr. Es wurde etwas für Euch abgegeben.“ Er zögerte noch, offenbar unsicher, ob er die Erlaubnis hatte, das Zimmer zu betreten, aber als Te-Kem ihn herein winkte, setzte er sich sofort in Bewegung und überreichte dem Magier etwas, das wie ein Fetzen Stoff aussah. Te-Kem, zuvor nicht sonderlich interessiert, was der Junge für ihn hatte, runzelte nun verwirrt die Stirn. „Was …?“ Er nahm das Dargebotene entgegen, merkte dann, dass sich etwas im Inneren befand, und wickelte es aus. Jyliere beobachtete daraufhin erstaunt, wie sämtliche Farbe aus Te-Kems Gesicht zu verschwinden schien. Mit vor Schock weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Objekt in seiner Hand, als könnte er einfach nicht glauben, was er vor sich sah. Jyliere war sofort auf den Beinen und eilte an die Seite seines Freundes, halb damit rechend, sich mit einem abgetrennten Finger oder etwas anderem Schrecklichem konfrontiert zu sehen. Irgendetwas, das rechtfertigte, dass Te-Kem derart die Fassung verlor. Umso überraschter war er, als er feststellte, dass es sich nur um eine schwarze Feder handelte. Wahrscheinlich von einem Raben, hätte Jyliere raten müssen. Nichts Außergewöhnliches. Und dennoch machte Te-Kem den Anschein, als hätte man ihm gerade ein Omen des Todes überreicht. „Wer hat dir das gegeben?“, wollte Jyliere von dem Jungen wissen. Der Diener war angesichts der Reaktion seines Herrn sichtlich eingeschüchtert. Er wich einen Schritt zurück, als er stammelte: „Ich … es war ein Mann … ich … ich …“ Er schüttelte den Kopf, sich selbst ermahnend. „Ich kann nicht genau sagen, wie er aussah. Es war so dunkel … obwohl es eigentlich nicht so dunkel war, wenn ich ehrlich bin. Es hatte … etwas Magisches an sich.“ Er schluckte. „Er sagte, ich solle es Euch sofort vorbeibringen. Und ich … er hat mir Angst gemacht. Verzeiht mir.“ Der Junge erweckte den Eindruck, als wollte er noch ewig so weiter plappern, bis sich seine Zunge verknotete, sodass Jyliere ihm mit einem Wink zu verstehen gab, dass er sich zurückziehen sollte. Der Diener war sichtlich erleichtert, als er sich knapp verbeugte und sofort verschwand. Te-Kem hatte es währenddessen mit Mühe und Not auf einen Stuhl geschafft. Jyliere vermutete, dass seine Beine ihn wahrscheinlich nicht mehr sehr viel länger getragen hätten. „Was hat das zu bedeuten?“, wollte er alarmiert wissen. Te-Kem schien eine Weile wie betäubt, ehe er wisperte: „Asrim …“ Jyliere spürte, wie er bei der Nennung dieses Namens automatisch zusammenzuckte. „Was?“ Fassungslos starrte er die Feder an. „Aber … Asrim ist tot, oder etwa nicht? Das ist zumindest das, was dein Vater mir gesagt hat.“ „Das ist auch das, was er mir erzählt hat“, meinte Te-Kem und zog eine Grimasse. „Es scheint, als wäre er mit uns beiden nicht sonderlich ehrlich gewesen.“ Sein Blick war die ganze Zeit über auf die Feder gerichtet, während ihn die verschiedensten Emotionen schier zu überwältigen schienen. Noch nie zuvor hatte Jyliere seinen Freund derart erlebt. Er kannte nur Geschichten über Asrim, grausame und furchtbare Geschichten, die einem unwillkürlich Albträume bescherten. Aber gleichzeitig war die oberste Riege Rashitars eigentlich bisher absolut überzeugt gewesen, dass dies ein Feind war, den man nicht mehr zu fürchten hatte. Die Umstände seines angeblichen Todes waren zwar nicht bekannt gewesen, aber eigentlich vertrauensvolle Mitglieder ihrer Gemeinschaft hatten schon ewigen Zeiten versichert, dass Asrim nicht mehr unter den Lebenden weilte. „Wie … wie kommst du darauf, dass es sich um Asrim handelt?“, fragte Jyliere. Te-Kem hob die Feder hoch und gab Jyliere mit einem Blick zu verstehen, dass dies all der Beweis war, den sie benötigten. Dass nur Asrim selbst und sonst niemand anderes dies geschickt haben mochte. „Kanntest du ihn?“, wollte Jyliere wissen. Te-Kem antwortete nicht, aber erneut sprach seine Miene Bände. Es war eine Frage, die er liebend gerne verneint hätte, es aber einfach nicht konnte. „Ist es demnach eine Warnung?“, fuhr Jyliere fort. „Will er sich rächen, weil die höchsten Magier aus dieser Stadt ihn damals getötet oder es - beziehungsweise - versucht haben?“ Te-Kems Blick wirkte schwer, als er Jylieres Worten lauschte. Eine Weile blieb er weiterhin stumm, sodass sich Jyliere schon fast fragte, ob sein Freund die Fähigkeit zu Sprechen verloren hatte, ehe er schließlich antwortete: „Wenn wir nur versucht hätten, ihn zu töten, wäre es vermutlich gar nicht mal so schlimm …“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, was wir getan haben, war um so vieles grausamer.“ Er erschauerte, als ihm wohl bewusst wurde, dass das seltsame Gefühl, dass ihn schon den ganzen Abend in seinen Klauen gehalten hatte, wahrscheinlich durch die Anwesenheit Asrims hervorgerufen worden war. Er schien, als wollte er am liebsten weglaufen und sich irgendwo in einem finsteren Loch verstecken.   „Wenn er wirklich hier ist …“, sagte er mit belegter Stimme, „ … dann wird seine Rache schrecklicher sein als alles, was wir bisher erlebt haben.“ Kapitel 8: Scheinheilig ----------------------- London, England (2012): Das Rauschen des Wassers drang an Alecs Ohren, als er die Eingangstür der Wohnung geräuschlos hinter sich schloss. Zwar hätte er auch lässig galant durchs Fenster einsteigen können, so wie Hollywood es wahrscheinlich von ihm erwartet hätte, doch Alec hatte schon immer den direkten Weg bevorzugt. Possenreißerei und überquellendes Selbstbewusstsein, das schnell in Peinlichkeit umzuschlagen vermochte, war noch niemals sein Stil gewesen. Er mochte es stattdessen simpel und fast schon ein wenig unspektakulär. Alecs Blick schweifte durch die Wohnung. Es war nichts Besonderes daran, eine unauffällige Einrichtung, wie sie in vielen Häusern Englands zu finden war. Alles wirkte vollkommen gewöhnlich und nichts deutete darauf hin, dass in diesem Appartement zwei Jägerinnen wohnten. Keine antiken Waffen, die demonstrativ an der Wand hingen, und auch keine Bücher über Okkultismus in den Regalen. Es machte den Anschein, als wollten sich die Frauen wenigstens zu Hause von ihrer Arbeit distanzieren. Als wäre dies ein kleiner Zufluchtsort, an dem sie alle Dämonen und Vampire vergessen konnten. Alec schmunzelte angesichts dieser Erkenntnis. Er liebte es einfach, perfekte kleine Reiche, die die Menschen für sich selbst erschaffen hatten, zu entweihen und damit zu zerstören. Schon sehr bald würden sich die Jägerinnen nicht mehr so sicher fühlen in ihren eigenen vier Wänden, wenn sie erst einmal bemerkten, welch unheiliger Besucher ihre Welt betreten hatte. Alecs Aufmerksamkeit blieb an einigen Fotos hängen. Das größte von ihnen zeigte die beiden Mieterinnen, wie sie Arm in Arm in die Kamera strahlten. Die blonde hochgewachsene Schönheit entblößte dabei ein Perlweißlächeln, dass einem fast schon mulmig werden konnte. Diese Frau schien wohl zu der Sorte Mensch zu gehören, die sich gern in den Vordergrund drängte und nach Aufmerksamkeit heischte. Ihre Freundin hingegen war offenbar von gänzlich anderer Art. Sie wirkte zurückhaltender, beinahe schon ein wenig genervt vom Treiben ihrer Mitbewohnerin. Obwohl ihr Lächeln ehrlich schien, konnte Alec den Missmut in ihren Augen erkennen. Offenbar hatte sie von früh auf gelernt, sich perfekt zu verstellen. Die anderen Bilder zeigten weitere Personen, wahrscheinlich Familienmitglieder und Freunde. Zumindest entdeckte er ein etwas älteres Foto, das einen Ehrenplatz an der Wand erhalten hatte, und ein glücklich lächelnden Paar zeigte, das, der Ähnlichkeit zur unter der Dusche stehenden Jägerin nach zu urteilen, vermutlich ihre Eltern waren. Alec wandte sich dem Wohnzimmertisch zu. Dort lag die Post übereinander gestapelt – Briefe und Zeitschriften –, die man achtlos dort hingeworfen hatte. Alec nahm sich einen der Briefe – dem Logo auf dem Umschlag nach zu urteilen die Stromrechnung – und betrachtete ihn genauer. Dort stand, in unschuldigen Druckbuchstaben, ihr vollständiger Name: Eve Hamilton! Alec hatte, als er ihn unten am Briefkasten entdeckt hatte, kurz die Stirn gerunzelt, sich daran erinnernd, dass Necroma diesen Namen in den letzten Jahrzehnten des Öfteren erwähnt hatte. Zwar immer im Zusammenhang mit irgendwelchem rätselhaftem Unsinn, sodass Alec nicht imstande war, irgendeine Verbindung zu knüpfen, aber es hatte auf jeden Fall irgendeine Bedeutung. Auch wenn noch nicht wirklich ersichtlich war, welche. Es hatte auf jeden Fall ausgereicht, dass Asrim ihn, als er sich im Red Foxy der Jägerin unangenehm genähert und ernsthaft erwogen hatte, Gewalt anzuwenden, um die ersehnten Antworten zu erhalten, zurückgepfiffen hatte. Sein Schöpfer hatte ihm daraufhin mehr als deutlich gemacht, dass der Frau kein Haar zu krümmen wäre, da sie noch eine entscheidende Rolle zu spielen hätte, war jedoch nicht weiter ins Detail gegangen und hatte Alec verwirrt und ratlos zurückgelassen. Er hatte keine Ahnung, was los war. Er wusste nur noch, dass Necroma den Namen Eve Hamilton bei mehreren Gelegenheiten erwähnt hatte, während sie im selben Atemzug von verlorenen Kindern, blutigen Straßen und rachsüchtigen Dämonen gesprochen hatte. Und das alles mit einem solch breiten Lächeln, dass sich Alec deswegen keine großen Sorgen gemacht hatte. Nun jedoch wurde er das Gefühl nicht los, dass er ihr damals besser hätte zuhören sollen. Das Rauschen des Wassers verstummte plötzlich und es drangen Geräusche an Alecs Ohr, die darauf schließen ließen, dass Eve aus der Dusche kletterte. Ein kurzer Schmerzensschrei und ein äußerst undamenhafter Fluch waren zu hören, als sie sich irgendwo anstieß. Es dauerte nicht lange und die Badezimmertür öffnete sich. Heraus trat eine frisch geduschte und sichtlich belebte Jägerin. Alec musste bei ihrem Anblick unweigerlich schmunzeln. Wenn all seine Gegner so aussehen würden, dann wäre es ihm sicher schwer gefallen, zu entscheiden, ob er sie hassen oder lieben sollte. Eves nasse Haare waren von einem hellgrünen Handtuch zerrubbelt, welches sie locker um ihren nackten Körper geschlungen hatte. Sie summte leise eine Melodie, während sie über den leichten, dennoch nicht zu übersehenden Bluterguss an ihrem Hals strich, den Alec ihr am vorherigen Abend beigebracht hatte. „Hallo, Schatz!“ Die Stimme des Vampirs riss sie augenblicklich aus ihren Träumereien. Wie vom Donner gerührt hielt sie inne und starrte Alec in ihrem Wohnzimmer dermaßen ungläubig an, als würde sie ihn für eine Illusion halten. Für einen kurzen Moment war sie zur Salzsäule erstarrt, einer hübschen Statue gleich. Ihre Lähmung dauerte jedoch nur wenige Sekunden an. Eilig stürmte sie zur nächsten Kommode und schnappte sich die Waffe, die dort neben den Schlüsseln platziert lag. Alec hätte sie zwar mühelos daran hindern können, doch er verspürte wenig Lust dazu. Solch ein Schießeisen konnte ihm sowieso nichts anhaben, es würde bei ihm nicht mehr Schaden anrichten als ein Mückenstich. Eve reckte ihm mit entschlossener Miene die Pistole entgegen, während sie mit der anderen Hand geradezu krampfhaft ihr Handtuch festhielt. „Was ... was tust du hier?“, stieß sie hervor. Sie zitterte ein wenig, dennoch versuchte sie eisern, furchtlos auszusehen. „Wie kannst du es wagen, hier einzudringen?“ Alec lachte auf. Sie sah wirklich entzückend aus, wenn sie wütend war. „Ich wollte dich doch nur besuchen“, meinte er, als wäre es das Natürlichste der Welt. „In diesem Club war es viel zu laut, um sich zu unterhalten, aber hier ist es wunderbar still.“ Tatsache war, dass er auch dort an Ort und Stelle irgendwie die Wahrheit aus ihr herausbekommen hätte. Er hätte sie sogar aufschlitzen und langsam verbluten lassen können und niemanden wäre es aufgefallen. Sie hatte es allein Asrim zu verdanken, dass sie an diesem Abend verschont geblieben war  „Du willst reden?“, fragte sie spöttisch. Man sah ihr an, dass sie angestrengt darüber nachdachte, welch finstere Pläne er wohl verfolgen mochte. „Wieso glaube ich dir das nur nicht?“ Alec legte seinen Kopf schief. Ihre Skepsis überraschte ihn wenig, im Grunde hatte er auch mit nichts anderem gerechnet. Hätte sie ihn mit offenen Armen empfangen und gleich zu einer Tasse Tee eingeladen, hätte sich sein so sorgsam erarbeitetes Weltbild von einem Moment auf den anderen völlig auf den Kopf gestellt. Dennoch sah er in ihren Augen kurz etwas aufblitzen, das er nicht recht einzuordnen wusste. „Du kannst von mir aus glauben, was du willst“, erklärte Alec. „Aber ich bin wirklich nur hier, um über ihn zu reden? Den, den eure Zeitungen 'Feuerteufel' nennen.“ „Seth“, sagte sie fast schon automatisch. Besonders erstaunt schien sie nicht zu sein. „Seth? So heißt er also?“ Alec konnte nicht unbedingt behaupten, dass dieser Name eine Erinnerung in ihm hervorrief. Allerdings war es ein Allerweltsname und darüber hinaus sowieso nicht besonders originell, sich nach einem alten Gott zu benennen.  „So hat er sich mir zumindest vorgestellt“, meinte Eve bissig. Ihr Blick huschte schnell zu einem dunklen Trenchcoat, der an der Garderobe neben der Eingangstür hing. Offenbar überlegte sie, ob sie ihr Leben riskieren würde, sollte sie nach dem Kleidungsstück greifen und es sich überziehen, um ihre nackte Haut zu bedecken. „Hat er sonst noch etwas gesagt?“, hakte Alec derweil nach. „Wo er herkommt, zum Beispiel?“ Eve biss sich unruhig auf ihre Unterlippe. „Er war nicht besonders gesprächig, was seine Vergangenheit angeht.“ Alec spürte jedoch, dass da noch mehr war. Dass sie noch weitere Informationen besaß, die sie wahrscheinlich erst herausrücken würde, wenn das Maß an Drohungen und Gewaltanwendungen ein Level erreicht hatte, bei dem sie sich nicht automatisch schämen musste, dass sie ihren Mund nicht hatte halten können. „Ich habe keine Ahnung, wer er ist“, erklärte sie, nachdem Alec eine Weile geschwiegen und sie stattdessen bloß mit einem intensiven Blick gemustert hatte, der ihr mehr als unangenehm zu sein schien. „Ich weiß nicht, aus welchem Loch er plötzlich geklettert ist und warum er so scharf darauf war, Walker in ein Brikett zu verwandeln.“ „Walker?“, fragte Alec mit hochgezogenen Augenbrauen nach. Eve verzog gequält ihr Gesicht. „Bloß ein dummer Vampir. Nichts weiter.“ Alec lehnte sich ein wenig vor. Immer noch saß er auf der bequemen Couch und ließ keinerlei Anzeichen erkennen, dies in unmittelbarer Zukunft ändern zu wollen. Eve jedoch wusste sehr wohl, dass es für ihn nicht mal eine Millisekunde bedurft hätte, um den Raum zu durchqueren und ihr das Genick zu brechen. Dennoch bemühte sie sich weiterhin um Fassung, während sich gleichzeitig unter den Duft von Shampoo und Körperlotion der Geruch von Unsicherheit und Angst mischte. „Ich mag es nicht, angelogen zu werden“, stellte Alec unmissverständlich klar. „Ich lüge nicht!“, erwiderte Eve nachdrücklich. Die Hand, mit der sie immer noch die Schusswaffe umklammert hielt, zitterte derweil derart stark, dass sie langsam ihren Arm sinken ließ. Trotzdem erkannte man aufgrund ihrer Haltung und dem Funkeln in ihren Augen, dass sie weit davon entfernt war, einfach aufzugeben. „Du erzählst mir aber nicht, was ich wissen will“, korrigierte Alec sie wie ein begriffsstutziges Kind. „Mir ist durchaus bewusst, dass du kaum etwas über diesen Seth weißt. Aber trotzdem möchte ich erfahren, wie eure Begegnung abgelaufen ist. Was er gesagt und getan hat. Wie er gesprochen und sich bewegt hat. Einfach alles.“ Unwillkürlich schüttelte sie daraufhin ihren Kopf. „Ich werde einem Monster wie dir sicher nicht helfen.“ Alec lachte auf. „Ihr Jäger seid ganz schön mutig. Und dumm noch dazu.“ Er legte seinen Kopf schief. „Allein schon euer Titel: Dämonenjäger!“ Er schnaubte verächtlich. „Ich vermute, ihr habt Dämon bloß als allgemeinen Überbegriff gewählt, um uns Vampire, Lykaner und all die anderen ‚Monster‘ unter einen Hut zu bringen, aber nichtsdestotrotz ist das mehr als scheinheilig und heuchlerisch. Hat denn einer von euch schon jemals einen realen Dämon gesehen? Irgendeiner von euch?“ Eve starrte ihn auf eine Art und Weise an, die deutlich machte, dass ihr noch niemals zuvor eine solche Frage gestellt worden war. „Das dachte ich mir“, meinte Alec. „Selbst ich bin in meinem langen Leben bisher nur drei Dämonen begegnet und ich hätte wirklich jedes einzige Mal sehr gut darauf verzichten können. Diese Kreaturen haben mir eine Scheißangst eingejagt!“ Alec war nicht zu stolz, sich dies einzugestehen. Es wäre mehr als töricht gewesen, überhaupt etwas anderes zu behaupten. Eve betrachtete ihn derweil nachdenklich. „Du denkst, dass dieser Seth ein Dämon ist, nicht wahr?“ „Ich hoffe es nicht“, gab Alec ehrlich zu. Ein Dämon, der Lust auf Vampirblut verspürte, war nicht unbedingt das, was er sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Vielmehr kam es einem Albtraum gleich, aus dem es kein Erwachen gab. „Wenn es nämlich wirklich so ist, dürfte London bereits verloren sein.“ Eve musterte ihn mit einer Miene, die deutlich machte, wie sehr sie versuchte, die Fassung zu bewahren. Im Angesicht eines Vampirs wollte sie ganz sicher keinen Nervenzusammenbruch erleiden, auch wenn sie sichtlich kurz davor stand. „Also, was hat dir Seth noch gesagt?“, lenkte Alec das Gespräch wieder in die vorherige Richtung. „Nichts“, entgegnete sie sofort. „Er sprach nur davon, dass ihr hier auftauchen würdet, was ja, wie man unschwer erkennen kann, der Wahrheit entspricht. Und sonst …“ Alec spürte, dass da noch etwas war, das sie zurückhielt. Nicht etwa aus kalter Berechnung oder dummen Stolz, sondern aus der simplen Tatsache heraus, dass sie selbst nicht genau wusste, was es zu bedeuten hatte. „Und was noch?“, hakte der Vampir herausfordernd nach. „Hat er dich belästigt? Dir einen Heiratsantrag gemacht?“ Eve musterte ihn irritiert, als wäre sie tatsächlich nicht sicher, ob er dies ernst meinte oder nicht. „Er ... er kannte meinen Namen“, gab sie schließlich zögernd zu. Alec musste zugeben, dass es ihn wenig erstaunte. Sie war ganz sicher keine gewöhnliche Jägerin, wenn man bedachte, dass Necroma einst vor etlichen Jahren ein Gedicht über ihre haselnussbraunen Augen und ihre Blue Jeans verfasst und ihre Umgebung damit tagelang genervt hatte. Sie spielte einen wichtigen Part und Alec juckte es gerade sehr unter den Fingernägeln, die Vampirin aufzusuchen und sie danach zu fragen, auch wenn er wahrscheinlich keine klare Antwort von dieser verrückten Frau erhalten würde. „Du wirkst nicht, als würde dich das überraschen“, bemerkte Eve derweil argwöhnisch. „Was weißt du darüber?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Wo wäre denn da der Spaß, wenn ich es dir verraten würde?“ Dass er im Grunde genauso wenig Ahnung hatte wie sie selbst, ließ er einfach außen vor. Er liebte es viel zu sehr, Menschen zu provozieren. „Sag es mir!“, zischte sie daraufhin, für einen Augenblick völlig vergessend, mit wem sie eigentlich sprach. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit stand Alec von der Couch auf und trat direkt vor Eve, die erschrocken zusammenzuckte, aber genug Selbstbeherrschung besaß, um keinen einzigen Schritt zurückzuweichen. Stattdessen hob sie ihre Waffe wieder an und drückte sie gegen seinen Oberkörper, während sie sich gleichzeitig nicht daran zu stören schien, dass nur wenige Zentimeter Platz zwischen ihnen war. „Du bist wirklich süß, mein Engel“, sagte Alec amüsiert. „Dir ist aber schon klar, dass eine lächerliche Kugel mich nicht töten kann, oder?“ Eve hob eine Augenbraue. „Und dir ist bewusst, dass ich keine normale Munition verwende, nicht wahr? Diese lächerliche Kugel würde dir höllische Schmerzen bereiten.“ Alec lachte auf. „Ihr Menschen und euer Erfindungsreichtum. Ihr seid so gut darin, Dinge zu erschaffen, weswegen ich es noch nie verstanden habe, warum ihr es gleichzeitig darauf anlegt, so gottverdammt viel zu zerstören.“ Er hob seine Hand und fuhr sanft über den Bluterguss an ihrem Hals. Sie verkrampfte sich bei dieser Berührung zusehends, schaffte es aber immer noch, nicht zurückzuweichen. „Du riechst immer noch nach ihm, mein Schatz“, flüsterte der Vampir, nachdem er noch ein bisschen nähergekommen war. „Ich habe dir ja bereits gesagt, so schnell wirst du diesen Gestank nicht mehr los.“ „Seth!“, rief ihm Eve daraufhin wieder ins Gedächtnis, offenbar nicht erpicht darauf, über ihren Körpergeruch zu reden. „Was weißt du über ihn, das du mir nicht sagen willst?“ Alec musste sich eingestehen, dass sie ziemlich amüsant war, wie sie dort halbnackt vor ihm stand und Forderungen aussprach, als hätte sie tatsächlich irgendeine Macht über ihn. „Ich bin nicht verpflichtet, dir irgendeine Auskunft zu erteilen“, erklärte der Vampir. „Du brauchst also wirklich nicht zu erwarten, dass ich ein lieber, netter Vampir bin und dir alles erzähle, was ich weiß. Wo wäre denn da der Spaß?“ Eve knirschte daraufhin lautstark mit den Zähnen und schien tatsächlich kurzzeitig zu überlegen, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Doch stattdessen verkrampfte sie den Griff um ihr Handtuch, während sie sich zu erinnern versuchte, dass sie fast unbekleidet vor einem der ältesten Vampire der Welt stand und nichts weiter zur Verteidigung aufzuweisen hatte als eine Waffe, die ihn nicht töten konnte. „Ist dir kalt, Prinzessin?“, erkundigte sich Alec schmunzelnd. „Wenn du willst, bringe ich dich gerne ins Bett.“ Eve verzog missmutig ihre Mundwinkel nach unten. „Danke, ich verzichte.“ Dennoch erschauerte sie ein wenig – und das gewiss nicht nur aus Angst –, als Alec sich noch etwas weiter zu ihr vorbeugte. „Du weißt nicht, was du verpasst.“ Eve schien für eine kurze Weile mit ihrer Fassung zu ringen. Ihre Augen wurden leicht glasig, als sie mit aller Mühe versuchte, Alecs Blick standzuhalten. „Er will euch umbringen“, sagte sie schließlich kalt. „Wer? Seth?“ Alec lachte spöttisch auf. „Da wäre er nicht der erste, der es versucht. Ihr süßen kleinen Jägerlein habt es auch schon öfters ausprobiert. Und bisher ist es noch niemanden gut bekommen.“ Eves Körper versteifte sich immer mehr. „Seth ist kein gewöhnlicher Jäger. Er kann Vampire mit Magie töten.“ „Bist du sicher, dass es das war, was du gesehen hast?“, wollte Alec wissen. Sowohl der Vampir in Deutschland als auch lokale Untote hatten ähnliches berichtet, aber da die wenigsten auf diesem Planeten überhaupt Erfahrung mit wirklich mächtiger Magie hatten, war Alec bei solchen Aussagen immer vorsichtig. Was für die einen Magie war, war für die anderen nur ein billiger Trick aus Verblendung und Täuschung. Eve zumindest schien absolut von ihren Worten überzeugt, aber Alec kannte sie nicht einmal ansatzweise gut genug, um zu wissen, ob sie solch eine Situation auch richtig einzuschätzen vermochte. Allerdings deckte sich ihre Aussage mit den zahllosen anderen Berichten. Entweder hatten sich alle von diesem Seth blenden lassen oder es steckte doch etwas Wahres dahinter. Alec gefiel keine von beiden Varianten, denn so oder so trieb sich hier jemand herum, der durchaus gefährlich werden könnte, wenn man ihm nicht rechtzeitig Einhalt gebot. „Und habe ich es demnach richtig verstanden, dass Seth bereits wusste, dass wir hierherkommen würden?“, hakte Alec nach. Eves Mundwinkel zuckten kurz. „Es scheint mir fast, als hätte er es bewusst darauf angelegt. Als hätte er euch hierherlocken wollen.“ Was ja offenbar wunderbar funktioniert hat, schoss es Alec durch den Kopf. Er musste zugeben, dass ihm das alles nicht sonderlich gefiel. Es klang irgendwie unangenehm nach einer Falle, auch wenn dies im Grunde unmöglich war. Asrim und Necroma hätten dies eigentlich meilenweit gegen den Wind riechen müssen. Eigentlich. Asrim war seit ihrer Ankunft unglaublich wortkarg gewesen und hatte sich gleich rar gemacht. Zwar war er schon immer gerne geheimnisvoll geblieben und ließ sich meistens nur dann blicken, wenn er Lust und Laune dazu verspürte, aber trotzdem hatte es sich für Alec irgendwie anders als sonst angefühlt. Irgendetwas ging vor sich, über das ihr Schöpfer unter gar keinen Umständen reden wollte. Alec schob diese Gedanken jedoch vorerst zur Seite. Er wollte in der Gegenwart einer Jägerin sicher nicht den Anschein erwecken, besorgt zu sein. Stattdessen ergriff er unsanft die Haare an ihrem Hinterkopf und zwang sie, ihn direkt anzuschauen. Eve verkrampfte sich noch mehr und verzog kurz vor Schmerz ihr Gesicht, doch immer noch hielt sie ihre Waffe umklammert, als wäre es das einzige auf der Welt, das ihr noch Halt gab. „Ich komme langsam zu der Überzeugung, dass ihr netten Jägerlein tatsächlich nicht mit Seth zusammenarbeitet“, meinte Alec. „Ihr wärt niemals so dämlich, uns hierherzulocken. Niemand wäre so dämlich!“ Abgesehen von diesem Seth, fügte er noch in Gedanken hinzu. „Außerdem legt er die Stadt in Schutt und Asche und es wäre wirklich traurig, wenn ihr da eure Hände im Spiel hättet“, fuhr er fort. „Er ist euch wahrscheinlich ebenso sehr ein Dorn im Auge wie uns, nicht wahr?“ Eve versuchte zu nicken, schaffte es aber nicht ganz. „Er ... er vertreibt die Untoten“, sagte sie, so gut es ging um Fassung bemüht. „Aber er tötet Menschen. Das ist eine vampirfreie Stadt einfach nicht wert.“ Alec nickte. „Fein. Demnach stehen wir ausnahmsweise auf derselben Seite.“ Er lächelte unheilvoll. „Ich erlaube euch also großzügig, dass ihr eure Ermittlungen weiter fortführt. Und solltet ihr tatsächlich etwas Interessantes herausfinden, wäre es für euer aller Seelenheil das beste, wenn ihr es uns mitteilen würdet.“ Eve schluckte schwer. „Wie ...?“, begann sie, kam jedoch nicht weiter, als Alec ihren Kopf immer weiter in ihren Nacken legte. „Oh, das werde ich schon erfahren“, erklärte der Vampir schmunzelnd. „Denn da du im Moment die einzige Spur in ganz London bist, werde ich ab jetzt dein Schatten sein. Und das wird ein wahres Vergnügen, das kannst du mir glauben.“ Eve erschauerte sichtlich und taumelte einige Schritte zurück, als Alec nach diesen Worten von ihr abließ. Mit großen Augen musterte sie ihn und schien nicht zu wissen, was sie denken oder fühlen sollte. „Also seid schön brav und fleißig und wir werden, nachdem das Ganze ausgestanden ist, vielleicht darüber hinwegsehen, euch weiter zu belästigen“, bot er an. „Aber wenn ihr Zeit vertrödeln solltet, wird Oscar euch wahrscheinlich einen nach dem anderen in Stücke reißen. Und das wird sicherlich kein Vergnügen.“ Eve antwortete nicht. Stattdessen starrte sie ihn einfach nur bewegungslos an und schien zu ihrem Gott zu beten, dass Alec endlich aus ihrer Wohnung verschwand. „Es war trotz alledem schön, dich kennenzulernen, Eve Hamilton“, sagte der Vampir mit einem teuflischen Lächeln. „Und es wird gewiss nicht lange dauern, bis wir uns wiedersehen.“ Und mit diesem Worten zog er sich zurück. Zumindest vorerst. Kapitel 9: Dämon ---------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.):     „Hast du gesehen, wie blass er war? Er sieht echt nicht gut aus.“ Catha saß Neyo gegenüber und beugte sich weiter vor, damit er sie besser verstehen konnte. Sie befanden sich in der Küche, hatten auf den unbequemen Holzbänken Platz genommen und versuchten hartnäckig, den Trubel und den Lärm, der rings um sie herrschte, zu ignorieren. Doch dies war, so bemerkte Neyo, ein schier unmögliches Unterfangen. Küchenjungen klapperten mit Töpfen und Geschirr, die Mägde schrien unaufhörlich Kommandos und Gyr, der Koch, grölte wie so üblich ein äußerst anzügliches Lied, das von schönen Frauen, Alkohol und den allgemeinen Freuden des Lebens handelte. Neyo musste grinsen. Es mochte alles absolut chaotisch und wirr wirken, dennoch stimmte es ihn heiter. Er vergaß Reanns arroganten Gesichtsausdruck und all die anderen Sorgen und Probleme, die ihn zurzeit beschäftigen, und verlor sich ganz im Trubel dieser Menschen. Menschen, die über die Jahre hinweg zu guten Freunden geworden waren. Neyo spießte sich ein Stück Lammfleisch auf und schob es sich in den Mund, wo es langsam auf der Zunge zerging. Gyr hatte ihm zunächst nichts von seinem vorzüglichen Mahl abgeben wollen, doch nachdem seine reizende Tochter Catha ihn mit Worten und einem geradezu hinreißenden Augenaufschlag betört hatte, war jeglicher Widerstand versiegt. Neyo musste zwar zugeben, dass er eigentlich keinen sonderlichen Appetit hatte, aber hätte er das Essen hier und jetzt tatsächlich auch noch verschmäht, hätte ihn Gyr ohne großes Zögern den Kopf abgerissen. Catha saß Neyo nun gegenüber und in ihren Augen konnte er deutlich lesen, dass sie eine Art Wiedergutmachung von ihm erwartete. Sie war achtzehn, ohne Zweifel eine wahre Augenweide und sie wusste es, ihre Reize perfekt einzusetzen. Im Gegensatz zu der zugeknöpfen Reann hatte sie stets offenherzige Kleider bevorzugt, die mehr zeigten als verhüllten. Ihr tiefschwarzes Haar trug sie offen und schüttelte es dann und wann, um die willenlose Männerwelt gefügig zu machen. Einzig die Erinnerung an ihren herrischen und temperamentvollen Vater hielt die Herrschaften davor zurück, wie wilde Tiere über sie herzufallen. Neyo konnte sehr gut verstehen, dass viele ihr Herz an Catha verloren hatten, doch er gehörte ganz sicher nicht dazu. Er hatte sie als kleines Kind kennengelernt und fühlte sich immer noch wie ein großer Bruder für sie. Die Vorstellung, ihren Annäherungsversuchen entgegenzukommen, widerte ihn geradezu an. Dennoch, obwohl sie seine Zurückhaltung eigentlich bemerken musste, ließ sie nicht locker. Anstatt sich den Männern hinzugeben, die schon bei ihrem Anblick absolut den Verstand verloren, hatte sie sich einem Mann verschrieben, der in dieser Hinsicht gar nichts von ihr wissen wollte. Aber das war schlichtweg Cathas Natur, sie liebte Herausforderungen. „Wer ist blass?“, fragte Neyo derweil verwirrt nach. Er hatte das Gefühl, irgendetwas Entscheidendes verpasst zu haben. „Na, Jyliere!“, erklärte Catha. „Ich glaube, er wird krank. Oder alt.“ Neyo runzelte die Stirn. Er hatte Jyliere die letzten Tage eigentlich gar nicht wirklich zu Gesicht bekommen, ständig war er unterwegs gewesen. Einer Andeutung Reanns zufolge hatten er und Te-Kem offenbar gerade viel zu besprechen. Was genau vonstattenging, schien keiner zu wissen, es war jedoch allgemein bekannt, dass der Obere seinen jahrelangen Freund nicht nur bei politischen Fragen zurate zog, sondern seinen Rat in so gut wie allen Lebenslagen suchte. Es war demnach möglich, dass sie kurz vor einem Krieg standen oder dass Te-Kem einfach keinen passenden Mantel zu seiner neuen Hose fand. „Bei allen Göttern, stell dir vor, er würde ernsthaft krank.“ Catha wirkte ehrlich besorgt. „Was wird dann aus uns?“ „Sehr feinfühlig“, meinte Neyo kopfschüttelnd. „Nein, ehrlich!“, entgegnete sie vehement. „Ich meine, Jyliere ist doch mindestens ... Hunderte von Jahren alt. Wie alt können Magier nochmal genau werden?“ „Wenn sie mächtig genug sind, können sie viele Jahrhunderte auf der Erde wandeln, mein Schatz“, sagte eine tiefe Stimme direkt hinter Neyo. „Es ist zwar extrem ungerecht, aber wir müssen damit leben.“ Neyo brauchte sich nicht umzudrehen, um seinen alten Freund Calvio wiederzuerkennen. Der bärtige Mann von etwa vierzig Jahren ließ sich ächzend neben Neyo nieder und vergriff sich ungefragt an dessen Essen. Während Catha unwillkürlich das Gesicht verzog, konnte Neyo nur schmunzeln. Es war mehr als typisch für Calvio, irgendwo aufzukreuzen und sich einzumischen, wo es ihm gerade passte. Während die meisten Calvio für etwas suspekt hielten und eine Art Bandit und potenziellen Meuchelmörder in ihm sahen, hatte Neyo in ihm einen Seelenverwandten gefunden. Auch er hatte lange Zeit auf der Straße gelebt, ehe er bei Jyliere ein Dach über den Kopf gefunden hatte. Niemand, abgesehen von den Betroffenen, kannte die genaueren Umstände, wie es dazu gekommen war. Calvio ließ sich zwar nicht zweimal bitten, wenn man ihn aufforderte, etwas Licht ins Dunkel zu bringen, doch seine Geschichten änderten sich jedes Mal auf Neue. Neyo kannte inzwischen mindestens zwanzig verschiedene Varianten – manche ernst und traurig, andere wiederum lustig oder gar völlig wahnsinnig – und er war absolut überzeugt, dass keine davon der Wahrheit entsprach oder ihr wenigstens ansatzweise nahe kam. Keine Menschenseele hatte die leiseste Ahnung, was Jyliere dazu bewogen haben könnte, Calvio bei sich aufzunehmen. Seine menschlichen Qualitäten waren es zumindest sicher nicht gewesen. Calvio war ungehobelt, fluchte ständig, dass sich die Balken bogen, und ließ sich von niemanden etwas vorschreiben. Er beschrieb sich gerne selbst als respektlosen Vandalen, als Pirat und Freigeist, den man nicht in Ketten zu legen vermochte. Und Neyo fühlte sich in diesem Haushalt niemanden näher verbunden als ihm. „Ich schätze mal, man hat dir schon unzählige Male gesagt, dass du dir endlich mal ein paar Manieren zulegen sollst, aber ich finde, das kann man nicht oft genug erwähnen.“ Catha schenkte Calvio ein kaltes Lächeln. „Wir sind gerade mitten in einer Unterhaltung, falls du es bemerkt hast, und anständige Männer mischen sich nicht einfach ein.“ Neyo hob eine Augenbraue. Glaubte Catha tatsächlich, dass Calvio nur über einen kleinen Funken Anstand verfügte? „Du bist solch ein Goldstück“, meinte Calvio belustigt. „So naiv und leichtgläubig. Du wirst bestimmt als erstes auf dem Sklavenmarkt verkauft, wenn Jyliere stirbt.“ Catha schnappte empört nach Luft. „Sag sowas nicht!“, zischte sie. „Außerdem hatte ich nicht vor, auf einem Sklavenmarkt zu landen. Wir sind keine Barbaren.“ Calvio trank ungeniert aus Neyos Becher, der, wie der Mann gleich darauf enttäuscht feststellte, bloß mit Wasser gefüllt war. „Du sagst das, als wäre das etwas Negatives“, erwiderte er. „Ich habe schon ein paar von ihnen getroffen und sie waren eigentlich recht umgänglich und zivilisiert. Na ja, sie haben eine seltsame Sprache gesprochen, haben rumgebrüllt und wollten mich mit ihren Äxten erschlagen, aber abgesehen davon waren sie echt nett.“ Catha musterte ihn, als wüsste sie nicht, ob sie diese Geschichte glauben sollte oder nicht. Auch Neyo war in dieser Hinsicht unsicher. Solange niemand seine Besitztümer oder seine Frauen stahl, bezeichnet er fast jeden Menschen als ‚nett‘. „Und Jyliere wird uns sowieso alle überleben“, fuhr er fort. „Er ist einer der mächtigsten Magier dieses gottverdammten Stücks Erde. Wenn jemand sein Leben unendlich verlängern kann, dann ist er es.“ Er zuckte mit den Schultern. „Na und, dann sieht er eben was blass aus. Wir alle haben mal einen schlechten Tag.“ Es klang beinahe so, als wollte er nicht nur Catha, sondern auch sich selbst davon überzeugen. Als würde er sich insgeheim doch etwas Sorgen machen oder sich zumindest genug für das Thema interessieren, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. „Was würdest du denn tun, wenn du von jetzt auf gleich das Haus verlassen müsstest?“, hakte Neyo nach. Gedankenverloren stocherte er in seinem Essen herum und musterte seinen Freund interessiert. Calvio grinste breit, ehe er seinen Dolch, den er ständig bei sich trug, hervorholte und damit ungeniert den Dreck unter seinen Fingernägeln abkratzte. „Ich würde vielleicht aufs Meer. Oder Richtung Süden. Dort soll es Länder geben, die nur aus Sand und Sonne bestehen und wo es Hunderte von Bauwerken wie Te-Kems hübsches Häuschen gibt.“ Er sprach in einer Art und Weise davon, als hätte er dies tatsächlich schon einmal zu Gesicht bekommen. Und Neyo musste zugeben, dass es ihn nicht einmal überrascht hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre. „Würdest du mich mitnehmen?“, fragte Neyo daraufhin mit einem schiefen Lächeln. Calvio klopfte ihm auf die Schulter. „Mein Freund, ich würde es gar nicht anders haben wollen. Es wäre sterbenslangweilig ohne dich.“ Er lachte auf. „Vielleicht wird das alles sogar schneller geschehen, als dir lieb ist. Ich fürchte, in Rashitar wird’s schon sehr bald ungemütlich.“ Neyo runzelte verwirrt die Stirn und warf Catha einen fragenden Blick zu, die jedoch nur ahnungslos mit den Schultern zucken konnte. „Was meinst du damit?“ Calvio schmunzelte bloß geheimnisvoll und meinte: „Ich werdet es schon bald sehen.“ *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  * London, England (2012): Die Straßen waren wie ausgestorben. Obwohl es gerade erst nach zehn Uhr abends war, fand sich unterwegs so gut wie keine Menschenseele. Sharif verwunderte dies nur wenig. Menschen mochten vielleicht über sehr stümperhafte Sinne verfügen, aber selbst sie nahmen unterschwellig wahr, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Anwesenheit solch mächtiger Vampire und eines Mannes, der munter in ihrer Stadt Feuer legte, verleitete sie unbewusst dazu, abends lieber zu Hause zu bleiben und sich bei Nacht nicht mehr auf den Straßen herum zu treiben. „Und ihr habt nicht die geringste Ahnung, warum dieser Seth auf der Jagd nach Vampiren ist?“ Sharif musterte die beiden Untoten, die ihm direkt gegenüber standen, an ein Geländer gelehnt, das sie davor bewahrte, in die kalte Themse zu stürzen, und bei seiner Frage unisono ihre Köpfe schüttelten. „Er hat schon so viele vertrieben“, erklärte Natalia. „Nicht nur Vampire, auch Wölfe, Formwandler, Hexen. Niemand kann mehr die Atmosphäre in dieser Stadt ertragen.“ Sharif musste zugeben, dass er London schon seit dem Augenblick, als er es vor gut zweitausend Jahren zum ersten Mal besucht hatte, nicht einmal ansatzweise hatte leiden können, aber er behielt seine Gedanken für sich. Londoner hatten die Angewohnheit, es unglaublich persönlich zu nehmen, sobald man etwas Negatives über ihre Heimat äußerte. Natalia und Samuel lebten zumindest, laut eigener Aussage, schon seit über zweihundert Jahren in dieser Stadt. Beide in einem Elendsviertel aufgewachsen, war eine schwere Krankheit der anderen gefolgt und sie waren jämmerlich dahingesiecht, ehe ein Vampir schließlich Mitleid mit ihnen bekommen und sie verwandelt hatte. Der besagte Schöpfer war schon längst Geschichte, ermordet von Jägern, doch das hatte die zwei nicht aus der Stadt treiben können. Aus verschiedenen Quellen war Sharif mitgeteilt worden, dass dieses Pärchen mehr darüber Bescheid wusste, was in London vor sich ging, als die besten Klatschreporter der Welt. Wenn der Premierminister mit einer Prostituierten schlief oder ein Tourist über ein Grasbüschel stolperte, konnte man sicher sein, dass Natalia und Samuel bereits davon gehört hatten. Und so hatte sich Sharif kurzerhand an diesem späten Oktoberabend dazu entschlossen, die beiden aufzusuchen. Alec war wie immer verschwunden gewesen, Oscar hatte nur übellaunig vor sich hingebrummt und wahrscheinlich zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges wieder eine Zeitung in die Hand genommen, um zu erfahren, was in der Welt gerade los war, und der Rest ihrer Gruppe war irgendwo verstreut. Die Zwillinge und Yasmine hatten zumindest noch einen Zwischenstopp in Deutschland erledigt, aus welchen Gründen auch immer, und würden erst in ein paar Tagen in London eintreffen und Necroma befand sich wahrscheinlich gerade in irgendeiner anderen Sphäre oder gar einem Paralleluniversum. Verwundert hätte es Sharif zumindest nicht. Auf jeden Fall hatte er sich nicht dazu verdonnern lassen wollen, in der Wohnung herumzusitzen und Mutmaßungen darüber anzustellen, was überhaupt vor sich ging. „Ihr habt also keinerlei Informationen, die mir irgendwie nützlich sein könnten?“, hakte Sharif nach. „Das haben wir nicht gesagt“, erwiderte Samuel sofort. Er war klein, hager und hatte mehrere tiefen Narben im Gesicht, die wohl von einer lang zurückliegenden Pocken-Infektion oder etwas ähnlichem stammten. „Es gibt Gerüchte, dass er euch sucht.“ Sharif blinzelte einige Male, nicht sicher, ob er das gerade richtig verstanden hatte. „Wie, uns?“ „Die Sieben“, erklärte Samuel mit Nachdruck. „Es würde mich nicht überraschen, wenn er das ganze Theater hier nur veranstaltet, um euch nach London zu locken. Was ja auch sehr gut geklappt hat, wie man merkt.“ Samuel lachte auf, verstummte aber sofort wieder, als er Sharifs kalte Miene bemerkte. „Er sucht uns?“, zischelte er. „Warum hat das bisher keiner erwähnt?“ Samuel schluckte. „Na ja, er hängt es jetzt nicht großartig an die Glocke. Aber er hat wohl hier und da verlauten lassen, dass er sich auf eure Ankunft ... freut.“ Er hob seine Schultern. „Warum auch immer.“ Sharif runzelte die Stirn. Das waren in der Tat Informationen, mit denen er eigentlich nicht gerechnet hatte. Das klang fast, als wären sie direkt in eine Falle gelaufen. Aber mit Asrim, der die Ströme der Welt erkannte, und Necroma, der wahrscheinlich fähigsten Seherin der Welt, war so etwas eigentlich vollkommen unmöglich. Nun ja, zumindest fast. Sharif traute Necroma absolut zu, dass sie einfach ihren Mund gehalten hatte, weil sie das Ganze auf skurrile Art unterhaltsam fand. Unter Umständen hatte sie es sogar erwähnt, aber niemand hatte ihre kryptischen Ausführungen verstanden. Asrim hingegen ... Sharif konnte sich nicht erinnern, wann dieser Mann je in eine Falle gelaufen war. Zumindest unwissentlich. Dem Ägypter lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er daran dachte, wie seltsam sich sein Schöpfer seit einiger Zeit verhielt. Er war wortkarg, sprach in Rätseln und gab sich mysteriös. Und auch wenn dies eigentlich Asrims Art war, war es dieses Mal irgendwie anders. Sharif nagte unruhig auf seiner Unterlippe herum. Er fand das Ganze über die Maßen beunruhigend. Anfangs war er bloß genervt gewesen, dass Asrim sie ins nasse England gezerrt hatte, nun aber wünschte er sich mehr denn je, wieder kehrtzumachen und alles hinter sich zu lassen. Er war gewiss kein Feigling, aber die unterschwellige Angst, die die gesamte Stadt erfasst zu haben schien, machte ihn langsam wahnsinnig, sodass er sich unweigerlich fragte, wie es Vampire wie Natalia und Samuel überhaupt noch an Ort und Stelle aushalten konnten. „Sonst habt ihr keine relevanten Informationen für mich?“, hakte Sharif nach. „Wann ist er das erste Mal aufgetaucht, zum Beispiel?“ Natalia wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Gefährten. „Sicher sind wir uns nicht. Wir haben ihn ja noch nicht einmal persönlich zu Gesicht bekommen. Aber die ersten Feuer haben vor gut einem Monat angefangen und seitdem sind immer mehr übernatürliche Wesen aus der Stadt und der näheren Umgebung geflohen.“ Sie verzog ihr Gesicht. „Himmel, selbst mehrere Wolfsrudel haben sich aus dem Staub gemacht und es ist ja allgemein bekannt, wie angriffslustig sie werden können, wenn es um ihr Revier geht.“ Dem vermochte Sharif nicht zu widersprechen. Es brauchte schon einiges, um angesessene Rudel, die dies wahrscheinlich schon seit Generationen als ihre Heimat betrachteten, zu vertreiben wie aufgeschreckte Fluchttiere. „Einige haben in Betracht gezogen, dass es sich um einen Dämon handeln könnte“, meinte Natalia. Samuel schnaubte. „Es gibt einige, die es behaupten. Und es würde wahrscheinlich Sinn machen, wenn man bedenkt, dass ein Großteil von uns noch niemals zuvor einen Dämon getroffen hat und demnach seine Macht für uns etwas absolut neues und furchterregendes sein würde.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir können es nicht beantworten. Ich hatte eigentlich gehofft, niemals einem begegnen zu müssen.“ Sharif konnte es ihm nicht verübeln. Auch er war bisher nur zwei Dämonen begegnet - zur Zeit des Spartacus-Aufstandes in Capua und 1457 in einem kleinen Dorf in Ungarn, dessen Name ihm schon wieder entfallen war - und auf beide Begegnungen hätte er sehr gut verzichten können. Dämonen besaßen eine Macht und eine Ausstrahlung, die einfach nicht von dieser Welt war und selbst einen Vampir wie ihn zu erschüttern in der Lage war. Aber dennoch war Sharif nicht überzeugt, dass es sich um dämonische Aktivitäten handelte. Normalerweise kam mit der Gegenwart solch eines Wesens ein gewisser Geruch einher, den man selbst in den Nachbarstädten noch wahrgenommen hätte. Sharif hatte es nie richtig fassen können, aber er war überzeugt gewesen, dass die Hölle in ähnlicher Weise stinken musste. Schwefel, Rauch und noch allerlei anderes, über das er gar nicht so recht nachdenken wollte. Auch London hatte einen gewissen Eigengeruch, aber es war weit von dem entfernt, was Sharif damals bei den Zusammentreffen mit den Dämonen wahrgenommen hatte. Es passte einfach nicht zu den Erfahrungen, die er und auch die anderen Mitglieder seiner Familie in der Vergangenheit gemacht hatten. „Das letzte Mal gab es vor über einem Jahrhundert eine Dämonensichtung hier in London“, erklärte Sharif. „Seitdem zeigen sich keinerlei Aktivitäten in dieser Richtung, auch wenn während der Zeit des Zweiten Weltkriegs einige verzweifelte Narren dumm genug waren, es in ernsthafte Erwägung zu ziehen.“ Schnell hatte man ihnen daraufhin Einhalt geboten. Viele übernatürliche Kreaturen kamen nur bedingt oder überhaupt nicht miteinander zurecht, doch sobald es um solch einen massiven Eingriff in ihre Lebensqualität ging, waren alle Zwists und Meinungsverschiedenheiten vergessen und man rottete sich zusammen, um eine angehende Katastrophe zu verhindern. Es gab zahllose Berichte von Menschen, die leichtsinnig genug gewesen waren, solch eine Dämonenbeschwörung zu versuchen - meist aus Neugierde oder einfach aus eigenen egoistischen Bedürfnissen -, und es gab ebenso viele Berichte, die deutlich machten, wie die magische Welt dies zu verhindern wusste. Und dies endete selten mit einem mahnend erhobenen Zeigefinger und einer Verwarnung. Durchaus verständlich, wenn man bedachte, welche Geschichten über die Dämonen im Umlauf waren. Es war unglaublich wenig über sie bekannt, selbst Wesen wie Asrim oder Necroma hatten keinerlei Zugang und wussten auch nicht mehr als der ganze Rest. Man hatte keine Ahnung, woher sie stammten, was ihre Intentionen waren, ob sie überhaupt so etwas wie Struktur und Ordnung kannten. Wo sie auftauchten, herrschte meist bloß ein großes Chaos und Zerstörung. So waren etwa fünf Prozent der Toten während der großen Pestwelle im 14. Jahrhundert auf einen Dämon zurückzuführen, der wie ein Berserker in Frankreich gewütet hatte und dann plötzlich spurlos verschwunden war. Man vermochte Dämonen einfach nicht zu fassen. Die große Mehrheit der übernatürlichen Welt war sich bloß einig, es auch gar nicht darauf anzulegen, Näheres über sie zu lernen, sondern sie stattdessen so gut wie möglich fernzuhalten. Glücklicherweise schienen auch die Mehrzahl der Dämonen keinen Wert darauf zu legen, ihre Welt zu verlassen, um die menschliche Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. „Du glaubst nicht, dass es ein Dämon ist, nicht wahr?“, hakte Natalia nach. Offenbar hatte sie Sharifs nachdenkliche Miene richtig gedeutet. „Das ist durchaus eine Erleichterung, auch wenn es wieder die Frage offenlässt, was dieser Seth nun eigentlich ist!“ Sharif wollte gerade zu seiner Antwort ansetzen, als er plötzlich, wie aus dem Nichts, spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Zunächst war es nur ein seltsames Ziehen in der Magengegend, ein Unwohlsein, das man sich nicht recht erklären konnte. Im nächsten Moment merkte Sharif bereits, dass es ungewöhnlich warm war für eine Londoner Oktobernacht und fragte sich unweigerlich, ob dies bereits die ganze Zeit schon so gewesen war und er dem einfach keine Beachtung geschenkt hatte. Und dann sah er, wie Natalia und Samuel beide simultan ihre Augen aufrissen, ihren Blick auf etwas geheftet, das sich hinter Sharif befand. Der Vampir brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, welcher Neuankömmling die beiden von einem Moment auf den anderen sosehr aus der Fassung bringen konnte. Er sah die Angst in ihren Augen, ihre blanke Panik, als sie sich einem Wesen gegenübersahen, das niemand bisher einzuordnen vermocht hatte. Und bevor auch nur irgendeiner von ihnen überhaupt die Gelegenheit erhielt, auf die Situation zu reagieren, hörten sie bereits das bedrohliche Knistern des Feuers. Kapitel 10: Seamus ------------------ Das Haus von Seamus Heart entpuppte sich als ein grau gehaltenes Reihenhaus, das sich in keiner Weise von den zahllosen anderen in derselben Straße unterschied. Selbst der ordentlich getrimmte Rasen schien in allen Vorgärten identisch. Einzig kleine Unterschiede, wie etwa eine Mülltonne an der Hauswand oder ein Kinderdreirad vor der Eingangstür, zerstörten dieses Idyll von Gleichheit und Perfektion. Eve drückte auf den schiefen Klingelknopf, der aussah, als wäre er schon viel zu oft benutzt worden, und wartete darauf, dass sich im Inneren etwas rührte. Dabei ertappte sie sich, wie sie immer wieder ihren Blick schweifen ließ und nach verdächtigen Bewegungen Ausschau hielt. Seitdem ihr Alec am Abend zuvor offenbart hatte, dass er sie fortan auf Schritt und Tritt verfolgen würde, hatte Eve eine regelrechte Paranoia entwickelt. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Zwar war ihr klar, dass ein Wesen wie Alec viel zu geschickt war, um irgendwie aus Versehen auf sich aufmerksam zu machen, dennoch war nicht auszuschließen, dass er extra Krach machte, um sie zu provozieren und ihre Angst zu verstärken. Als die Tür sich öffnete, zwang Eve ihre Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Vor ihr stand ein blasser Mann in verwaschenen Jeans und Polohemd, der sie interessiert beäugte. Er war viel jünger, als Eve erwartet hatte, Mitte bis Ende dreißig vielleicht. Seine munteren kastanienbraunen Augen musterten seinen Besuch eingehend. „Sie wünschen?“, fragte er, nachdem Eve keine Anstalten machte, ihren Mund zu öffnen und den Grund ihres Kommens näher zu erörtern. „Ähm ... mein Name ist Eve Hamilton“, sagte sie, nachdem sie sich von der Überraschung, keinem vertrockneten alten Professor gegenüberzustehen, erholt hatte. „Ich hatte angerufen.“ Gleich nach Alecs Verschwinden hatte sie sich das Telefon geschnappt. Die Wut darüber, dass er sie erneut erniedrigt hatte, hatte ihren Wunsch, mehr über diesen Mann zu erfahren, nur noch verstärkt. „Ach, sicher“, meinte Seamus. Sein darauffolgendes breites Lächeln erinnerte Eve ein wenig an Tiffany. „Sie wollten etwas über die Sieben wissen. Nur herein mit Ihnen.“ Hatte Hearts Haus von außen noch spießbürgerlich und über alle Maßen angepasst gewirkt, so wurde man beim Anblick des Inneren eines Besseren belehrt. Anstatt einer traditionellen britischen Einrichtung sah sie sich einem Mix von Kulturen gegenüber, wie sie es in dieser Form noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Der Flur wirkte noch relativ normal – abgesehen vielleicht von der beeindruckenden Sammlung von Sombreros, die die Wand säumte –, aber ein Blick ins Wohnzimmer ließ Eve erstaunt aufkeuchen. Mit Regalen voller Büchern hatte sie gerechnet – immerhin hatte sie es mit einem Historiker zu tun –, doch auch auf dem Boden türmten sich die alten Wälzer, von denen viele den Eindruck machten, als würden sie in der nächsten Sekunde zu Staub zerfallen. Weitaus faszinierender waren jedoch die unzähligen Souvenirs, die sich in keiner erkennbaren Ordnung im Raum verteilt hatten. An den Wänden hingegen groteske afrikanische Masken, auf den Regalbrettern standen bayrische Bierkrüge, russischer Wodka, orientalisch anmutende Keramik, kleine Bronzetafeln mit ägyptischen Hieroglyphen und ein alter abgewetzter Baseball aus den USA. Sie schienen alle in keinerlei Zusammenhang zu stehen – was hatte auch schon eine Sportart aus den Vereinigten Staaten mit antiken Schätzen aus Ägypten zu tun? –, sie unterstrichen jedoch die offensichtliche Reiselust ihres Besitzers. „Gefällt's Ihnen?“ Seamus grinste breit, seine Augen funkelten wie die eines aufgeregten Jungen. Keine Frage, dieser Mann war unglaublich stolz auf seine Sammlung. Eve rang sich zu einem Lächeln und nickte. In Wahrheit war sie jedoch viel zu erschlagen, um sich eine konkrete Meinung zu bilden. Dennoch musste sie zugeben, dass ihr dieser ganz eigene Charakter der Inneneinrichtung durchaus zusagte. „Kommen Sie, setzen Sie sich“, bot Seamus ihr an und deutete auf die Couch, die irgendwo unter Bücher- und Papierbergen hervorlugte. Eve hob argwöhnisch eine Augenbraue und suchte ohne wenig Hoffnung nach einem freien Fleckchen, wo sie problemlos hätte Platz nehmen können, ohne gleich irgendwelche antiken Quellen zu zerquetschen. Seamus grinste angesichts ihrer Unsicherheit, wischte lässig einige Blätter zur Seite und drückte seinen zurückhaltenden Gast auf das weiche Sofa. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee? Kaffee?“, erkundigte sich Seamus. Eve musterte ihn skeptisch und wog die Chancen ab, ob er tatsächlich einen anständigen Kaffee zustande bringen könnte oder nicht, entschloss sich dann aber, kein Risiko einzugehen. „Nein, danke“, lehnte sie höflich ab. Seamus zuckte daraufhin nur mit den Schultern. Dennoch entging Eve nicht, dass er offenbar erleichtert war, seine Aufbrühkünste nicht unter Beweis stellen zu müssen. Er setzte sich auf einen Sessel, der Eve im allgemeinen Chaos zuvor gar nicht aufgefallen war, und lächelte breit. „Also, Ms. Hamilton“, begann er. „Ihre Bitte hat mich ehrlich gesagt nicht groß überrascht. In den letzten Tagen sind viele Jäger bei mir aufgetaucht und wollten Informationen über die Sieben haben.“ Er nahm sie genau in Augenschein. „Aber wieso möchten Sie unbedingt etwas über Alec speziell wissen? Ich gebe zu, er ist eine ausgesprochen interessante Persönlichkeit, aber trotzdem bin ich neugierig, warum Sie ausgerechnet nach ihm fragen? Wieso nicht nach Asrim oder Sharif?“ Eve presste die Lippen aufeinander und fuhr gedankenverloren über ihren Hals. Der Bluterguss würde schon bald verschwunden sein, doch die Demütigung, die der Untote ihr hatte zuteil kommen lassen, blieb weiterhin bestehen und hatte sich bereits wie ein bitterer Nachgeschmack auf ihre Zunge gelegt. Seamus schien ihre unbewusste Geste zu verstehen. „Alles klar“, meinte er fröhlich. „Sie sind ihm begegnet, nicht wahr? Sie sind ein wahrer Glückspilz!“ Eve runzelte verwundert die Stirn. Was das tatsächlich sein Ernst? „Ich würde ihn wirklich gerne einmal treffen“, fuhr Seamus ungerührt fort. Eves ungläubige Miene nahm er dabei gar nicht wahr. „Es wäre sicherlich grandios, mit ihm zu reden.“ Nun verstand Eve plötzlich, wieso Richard behauptet hatte, dieser Kerl wäre ein wenig sonderbar. Zumindest war sie noch nicht vielen Männern begegnet, die einen Kaffeeklatsch mit einem mordlüsternen Monster herbeisehnten. „Unsere Begegnung war alles andere als amüsant.“, entgegnete Eve bissig. Doch Seamus grinste nur von einem Ohr zum anderen. „Ich würde mich wirklich gerne mit einem von ihnen unterhalten. Wussten Sie eigentlich, dass Alec bei der legendären Schlacht von Marathon dabei gewesen ist? Und dass er Kaiser Augustus gekannt hat? Sie können sich kaum vorstellen, was er alles erlebt hat, was wir nur aus alten Quellen kennen. Es ist wirklich faszinierend.“ Eve musste gestehen, dass diese Vorstellung für einen Historiker durchaus verlockend sein konnte. Dennoch war es Wahnsinn, solch einen Wunsch zu äußern. Alec hätte sicherlich vieles mit Seamus angestellt, doch sich bestimmt nicht über längst vergangene Ereignisse mit ihm unterhalten. „Aber lassen Sie uns zum Grund Ihres Besuches kommen.“ Seamus erhob sich wieder und begann, in der allgemeinen Unordnung nach etwas Bestimmten zu suchen. „Wie lange sind Sie eigentlich schon Jägerin, wenn ich fragen darf?“ Eve hob ihre Augenbraue. Einen Moment wunderte sie sich, ob er sich nach ihrer Sicherheitsstufe erkundete und von dieser aus letztlich entscheiden würde, wie viel er ihr preisgeben würde, aber es schien ihn tatsächlich zu interessieren. „Aktive Jägerin bin ich seit fünf Jahren“, antwortete sie somit. „Aber im Grunde bin ich schon seit meiner Geburt involviert.“ „Tatsächlich?“, hakte Seamus nach, keinen Moment seinen Blick hebend. „Meine Eltern“, sagte Eve bloß und wusste im Grunde, dass es Antwort genug sein würde. Ihr Vater stand durch seine Tätigkeit als höherer Polizeibeamter sowieso schon in engeren Kontakt mit den Jägern und auch bei seinem Vater davor war es nicht anders gewesen. Seine Familie hatte schon seit vielen Generationen die Organisation direkt oder indirekt unterstützt, ob nun durch ihre Arbeit beim öffentlichen Dienst oder auch durch kleinere und größere Finanzspritzen. Frank Hamilton war bereits von Kindesbeinen an mit dem Wissen über die übernatürliche Welt aufgewachsen und hatte es sich später nicht nehmen lassen, auch seinen Teil dazu beizutragen. Auf diese Weise war er auch Eves Mutter, Emily, begegnet. Diese hatte ebenfalls auf eine lange Familientradition zurückgeblickt. Viele ihrer Vorfahren waren aktiv bei der Organisation involviert gewesen, als Jäger, als Forscher, als Strategen. Auch Emily hatte sich damals für diesen Weg entschieden und war durch ihre Arbeit in der Informations- und Presseabteilung unter anderem eng mit der Londoner Polizei in Kontakt gewesen, wo sie den noch jungen und ehrgeizigen Frank Hamilton kennengelernt hatte. Eve war es demnach fast schon vorherbestimmt gewesen, ebenfalls eines Tages für die Organisation zu arbeiten. Sie wusste zwar, dass ihr Vater es über alle Maßen hasste, dass sie aktiv auf Monsterjagd ging, anstatt hinter einem Schreibtisch zu sitzen, und dass es ihre Mutter auch absolut nicht gutgeheißen hätte, würde sie noch leben, aber für Eve war es einfach eine Bestimmung gewesen, der sie unbedingt hatte folgen müssen. „AH!“, rief Seamus plötzlich aus und riss Eve damit aus ihren Gedanken. Er hob einige lose Blätter und ein Buch in die Höhe, als wären es wertvolle Trophäen. „Gefunden!“ Er kämpfte sich wieder bis zu seinem Sessel vor und breitete seine Fundstücke auf dem niedrigen Wohnzimmertisch aus. „Das sind einige der Quellen, in denen Alec erwähnt wird“, erklärte er Eve. „Es hat wirklich lange gedauert, sie alle zusammenzutragen und es gibt sicherlich noch unzählige mehr. Die Sieben haben zwar immer versucht, sich bedeckt zu halten, aber letztendlich sind sie viel zu auffällig, als dass niemand sie bemerkt hätte.“ „Und was steht dort drin?“, fragte Eve neugierig. Sie schaute hinab auf die Blätter, auf denen sich Wörter rankten, die sie niemals im Leben hätte entschlüsseln können. „Na ja, alles Mögliche“, meinte Seamus. „Das ist zum Beispiel der Bericht eines Mönchs, der um 1672 auf Wanderschaft war und irgendwo in der Näher bei Lyon beobachtet hat, wie ein Teufel namens Alexandre – ganz klar eine Abwandlung des Namens Alec –  eine unschuldige Frau umgebracht hat. Und hier steht, dass der Vampir zur Zeit des Heiligen Römisches Reiches Deutscher Nation einige Zünfte gewaltig aufgemischt hat.“ Eve runzelte die Stirn. Sie hatte zwar durchaus etwas für Geschichte übrig und fand es dementsprechend interessant, aber diese Informationen würden sie nicht sehr weit bringen. Dass Alec in seinem langen Leben überall Angst und Schrecken verbreitet hatte, hätte sie sich auch ohne diese Belege denken können. „Aber das ist nicht das, was Sie suchen, nicht wahr?“ Wie schon zuvor schien Seamus ihre Gedanken gelesen zu haben. „Sie wollen bestimmt lieber etwas über Alecs Ursprung wissen.“ Nun wurde Eve hellhörig. „Seinen Ursprung?“, fragte sie. Das klang überaus verlockend, wie sie fand. „Nun ja, im Grunde ist das alles Theorie und noch von niemanden bewiesen worden“, entgegnete der Historiker. Auf seinen Lippen zeichnete sich wieder dieses Jungenlächeln ab. „Alecs Vergangenheit liegt ziemlich im Dunkeln. Nirgends scheint es Aufzeichnungen zu geben. Selbst über Sharif und sogar Asrim wissen wir das ein oder andere, doch Alec bleibt ein Mysterium. Nicht mal sein Abstammungsort ist wirklich bekannt.“ Seine Augen funkelten voller Freude. „Aber ich habe eine Theorie dazu. Wollen Sie sie hören?“ „Natürlich“, meinte Eve grinsend. „Weswegen wäre ich sonst hier?“ Ihr Wissensdurst schien Seamus zu begeistern. Unter all seinen gesammelten Quellen holte er ein älteres und schon etwas ramponiertes Buch hervor und überreichte es ihr. „Woher kommt es?“, hakte sie nach. Ihr Blick war auf den braunen und relativ unspektakulären Einband gerichtet, der keinerlei Besonderheiten aufzuweisen hatte. Es hätte sich um ein Werk mit allen Antworten der Welt handeln können oder auch nur um ein simples Kochbuch.  „Ich weiß nicht, wo es genau herkommt“, erklärte Seamus. „Ich fand es in einem kleinen Buchladen in Italien. Mir ist außerdem bekannt, dass die Jäger einige Kopien davon besitzen, überall auf der Welt.“ Eve runzelte die Stirn. „Es handelt sich also nicht um das Original?“ Seamus lachte auf, als wäre allein diese Vorstellung überaus abstrus. „Oh nein, meine Liebe. Das Original ist schon seit Urzeiten verschollen. Wahrscheinlich ist es bereits längst zu Staub zerfallen.“ Eve nickte gedankenverloren, während sie das Buch aufklappte. Das Papier war dünn und schon sehr vergilbt, was nicht gerade auf eine allzu große Qualität schließen ließ. Auch die Tinte hatte bereits stark an Intensität verloren, sodass man einige Buchstaben oder gar Wörter mehr erahnen als lesen konnte. Aber selbst, wenn das Buch noch in ausgezeichneter Verfassung gewesen wäre, hätte es Eve nicht sehr viel weitergebracht. Es handelte sich augenscheinlich um eine Sprache, die die Jägerin noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Sie war zwar durchaus kein begabtes intellektuelles Genie, aber generell war es ihr zumindest möglich, Sprachen wenigstens einigermaßen zuordnen zu können, selbst wenn sie den Inhalt nicht verstand. Nun jedoch stand sie vor einem absoluten Rätsel. „Was ist das für eine Sprache?“, hakte sie somit verwirrt nach. Sie erkannte keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeiner halbwegs bekannten Sprache. „Sie hat keinen Namen“, erklärte Seamus. „Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt einen genauen Ursprung hat.“ Eve hob eine Augenbraue. „Bitte was?“ Seamus lächelte sanft. „Jäger nennen sie Höllensprache oder auch Dämonenzunge, in Ermangelung einer besseren Bezeichnung. Vielleicht stimmt es sogar, wenn man bedenkt, wie wenig wir über Dämonen wissen.“ Nun begriff Eve. Sie selbst hatte damit bisher zwar nicht sehr oft zu tun gehabt, doch es gab Untersuchungen und Aufzeichnungen, die belegten, dass viele übernatürliche Wesen eine Sprache benutzten, die keinen menschlichen Ursprung hatte. Niemand wusste, woher sie stammte und wie sie überhaupt entstanden war. „Man weiß, dass Vampire sich oft ihrer bedienen“, fuhr Seamus fort. „Von Werwölfen wird dies inzwischen auch vermutet, obwohl es dazu noch sehr wenige Belege gibt. Es heißt, dass zumindest bei der Verwandlung von Vampiren diese Sprache automatisch ein Teil ihrer Selbst wird und sie sie verinnerlichen, als hätten sie nie etwas anderes gesprochen.“ „Das wäre bei meinem Französischunterricht in der Schule auch sehr hilfreich gewesen“, entgegnete Eve schmunzelnd, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das aufgeschlagene Buch in ihren Händen richtete. „Und Sie können das lesen?“ „Lieber Gott, nein“, erwiderte Seamus sofort. In seinen Augen blitzte etwas auf, das Eve nicht recht zu benennen wusste. Aber er wirkte fast wie ein Vater, der es entzückend fand, dass seine kleine Tochter noch an den Weihnachtsmann glaubte. „Man braucht schon mindestens einen Vampir, um das zu übersetzen.“ Grinsend zog er aus dem allgemeinen Chaos seines Wohnzimmers einige zusammengeheftete Blätter hervor. „Glücklicherweise war vor gut dreißig Jahren ein netter Untoter bereit, dies für einen irischen Jäger zu übernehmen. Im Austausch für sein Leben selbstverständlich.“ Er lehnte sich etwas nach vorne und reichte ihr die Übersetzung. „Ohne das wären sowohl ich als auch alle anderen völlig aufgeschmissen.“ Eve betrachtete die Notizen. Offenbar war der Text noch mit einer Schreibmaschine getippt worden. „Und die Übersetzung stimmt?“, wollte sie wissen. „Dieser Vampir hat nicht nur einfach etwas zusammengedichtet?“ „Zur Sicherheit hat man es unabhängig noch von einem zweiten Vampir übersetzen lassen“, meinte der Historiker. „Bloß, um die von Ihnen erwähnte Eventualität auszuschließen. Hier und da hatte er zwar einige Sätze anders formuliert, aber der Sinn blieb derselbe.“ Rasch überflog Eve den Text in ihrer Hand. Sie las Namen, die sie noch niemals zuvor gehört hatte, und entdeckte Orte, welche ihr nicht bekannt vorkamen. Schnell wurde ihr hingegen klar, dass es sich um eine Art Chronik einer mächtigen Magiersippe handeln musste. „Eine Familiengeschichte?“, fragte Eve nach. Seamus lächelte, als wäre er stolz, dass sie den Zusammenhang derart zügig erfasst hatte. „In der Tat. Es gibt einige solcher Chroniken, da Magier schon immer über einen nicht zu verachtenden Einfluss verfügt haben und stets bemüht gewesen waren, ihre Aufzeichnungen und die ihrer Vorfahren für die Ewigkeit zu bewahren. Sie wurden kopiert und wieder kopiert und gerieten so weltweit in Umlauf.“ Eve nickte unbewusst. Im Laufe ihrer Ausbildung war selbstverständlich auch Geschichte ein sehr wichtiges Thema gewesen. Gerade die magische Entwicklung hatte dabei einen hohen Stellenwert eingenommen. Magier waren – obwohl viele es gerne leugnen wollten und sich selbst als etwas Besseres betrachteten – stärker mit der Menschheit verbunden als jedes andere übernatürliche Wesen. Sie bewegten sich in der Masse, waren ein Teil von ihr. Viele stammten von gewöhnlichen Menschen ab, heirateten später gewöhnliche Menschen und zeugten oder gebaren völlig gewöhnliche Kinder. Das magische Erbe trat, wenn auch von Generation zu Generation weitergetragen, immer nur sporadisch auf. Es war wie ein rezessives Gen, das eine untypische Haarfarbe bestimmte. Zwar hatten Wissenschaftler schon früh herausgefunden, dass es sich nicht allein mit Genetik und Mutation erklären ließ, aber es stellte zumindest einen Teil dar. Magier hatten sich nichtsdestotrotz im Laufe der Geschichte einen gewissen Namen gemacht. Auch wenn die meisten in der Öffentlichkeit mit ihren Fähigkeiten nicht groß hausieren gegangen waren, hatten sie ohne Zweifel Einfluss auf Politik, Wirtschaft und die Lebenskultur genommen. Von einigen Königen und Kaisern der Vergangenheit wurde angenommen, dass sie Magier gewesen waren, ebenso wie andere mächtige Persönlichkeiten zumindest eine Verbindung zur magischen Welt nachgesagt wurde. „So eine offene und ehrliche Chronik ist trotz alledem selten“, fuhr Seamus fort. „Hier wird ohne Scheu über die magische Veranlagung gesprochen, über die Kräfte, Zaubersprüche, Elixiere. Damals war man eigentlich mehr erpicht, es zwischen den Zeilen zu verstecken, es bloß in Nebensätzen verborgen einfließen zu lassen. Immerhin war die Gefahr von Verfolgung, gerade im Mittelalter, sehr groß. Selbst machtvolle Magier haben es sich fünfmal überlegt, ob sie auf die öffentliche Bühne treten.“ Auch Eves Ausbilder hatte dies mehr als deutlich gemacht. Die Angst dem Übernatürlichen gegenüber war bei den meisten Menschen fest verankert und über die Jahrtausende niemals verblasst. Demzufolge hatten sich viele Magier bedeckt gehalten und sich bloß einem bestimmten Kreis anvertraut. Auch in der jetzigen Zeit war das kaum anders. Magie wurde inzwischen von einem Großteil der Bevölkerung zum Reich der Märchen gezählt und niemand legte es darauf an, daran etwas zu ändern. „Aber was hat das jetzt alles mit Alec zu tun?“, hakte Eve nach. Sosehr sie sich auch für solcherlei Geschichten begeistern konnte, galt ihr vordringliches Interesse zurzeit nun mal diesem ganz speziellen Vampir. Seamus‘ Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Er wird in dieser Quelle zum ersten Mal erwähnt.“ Eve spitzte sofort die Ohren. „Also geht es tatsächlich um seinen Ursprung?“ Gleichzeitig runzelte sie aber die Stirn. Wenn es sich wirklich darum drehte, verwunderte sie es sehr, dass davon nichts in der offiziellen Akte Alecs erwähnt worden war, die sie im Hauptquartier von vorne bis hinten durchgeblättert hatte. Seamus schien ihre Unsicherheit zu bemerken. „Ich weiß, was Sie denken. Aber wie ich bereits sagte, handelt es sich bloß um eine Theorie meinerseits.“ Eve blickte auf. „Alecs Name wird in diesem Text gar nicht genannt, nicht wahr?“ Wäre es anders gewesen, hätten es die Forscher der Dämonenjäger auf jeden Fall irgendwo niedergeschrieben oder zumindest einen Querverweis hinzugefügt. Doch Eve hatte bei ihren Recherchen nichts Derartiges gefunden. „Sein Name? Nein!“ Seamus schüttelte den Kopf, durch Eves enttäuschten Tonfall nicht im Mindesten aus dem Konzept gebracht. „Weder das Wort ‚Alec‘ noch einer seiner bekannten Titel taucht in dieser Quelle auf. Und dennoch bin ich überzeugt, dass er in diesem Text auftaucht.“ Eve biss sich auf die Unterlippe. Wieder kam ihr Richards Warnung in den Sinn, Seamus am besten nicht allzu ernst zu nehmen. Hatte sie sich womöglich zu viel erhofft? „Lesen Sie die Stelle, die ich für Sie markiert habe“, drängte Seamus sie aufgeregt. „Dann werden wir weitersehen.“ Eve blätterte fast bis ganz ans Ende, ehe sie die hervorgehobene Passage entdeckte. Sie kniff die Augen zusammen und tat, wie ihr geheißen. „Ein Monster aus dem Osten, so schrecklich und gefährlich wie der Tod, tauchte auf und brachte Dunkelheit und Angst mit sich. Niemand vermochte ihm zu entkommen, nirgends war man sicher. Selbst der oberste Magier Te-Kem war angesichts dieser Macht hilflos. Und erst, als das Ungeheuer die gesamte Elite restlos ausgelöscht hatte, verschwand es und ward nie wieder gesehen.“ Eve hielt inne und legte ihre Stirn in Falten. „Und Sie glauben, dort wird Alec beschrieben?“ „Ein Monster aus dem Osten?“, hakte Seamus in einem Tonfall nach, der Eve stark an den ihres Lehrers erinnerte, als er versucht hatte, seinen Schülern ein paar Antworten zu entlocken. „Das klingt eher nach Asrim, nicht wahr?“ Eve vermochte nicht zu widersprechen. In mehreren Quellen war der Vampir auf ähnliche Weise beschrieben worden. „Anhand dieser paar Daten vermochte man die Quelle auf ca. 800 v. Chr. zu datieren“, erklärte Seamus. „Te-Kem war damals der Führer einer Gemeinschaft aus Magiern und Menschen, die sich im Norden Frankreichs angesiedelt hatte. Sie lebten im Verborgenen, bauten Straßen und Häuser und entwickelten im Laufe der Zeit eine richtige Infrastruktur. Eine eigene Stadt, wenn Sie so wollen.“ Eve hatte schon öfter gehört, dass sich in der Antike und im Mittelalter vermehrt Magier und ihre Vertrauten zusammengefunden und Siedlungen gegründet hatten, wo sie offen ihre Magie hatten praktizieren können und sich nicht hatten verstecken müssen. Auf keiner Landkarte waren diese Ortschaften zu finden und man hatte heutzutage nur eine vage Ahnung, wo man sie ansiedeln sollte. „Andere Quellen bestätigen Asrims Anwesenheit“, fügte Seamus an. „Offenbar tauchte er zu jener Zeit wie aus dem Nichts dort auf. Es heißt, er hätte Unheil und Verderben über die Stadt gebracht, der dunkle Tod, der sich in der Dunkelheit versteckte und die Unschuldigen erbarmungslos verschlang. Gleichzeitig war er aber auch auf der Suche. Auf der Suche nach etwas, das sein Schicksal bestimmen sollte.“ Eve musste ehrlich zugeben, dass ihre Neugierde geweckt war. Fast schon automatisch lehnte sie sich nach vorne und lauschte gespannt den Worten des Historikers. „Was hat er gesucht?“, wollte sie wissen. „Es heißt, er wäre besessen gewesen“, meinte Seamus, die Stimme gesenkt, als befürchtete er, die Wände würden sie belauschen und ihr Wissen an die falschen Personen weitertragen. „Besessen von einem Mann.“ Eve hob daraufhin ihre Augenbrauen und wusste nicht, was sie darauf hätte erwidern sollen. Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf, einige lächerlich, andere aberwitzig, doch keiner ergab einen wirklichen Sinn. „Besessen?“, wiederholte sie, während sie das Wort langsam auf ihrer Zunge zergehen ließ und sich ausmalte, auf welche Art man dies zu interpretieren vermochte. „Auf eine … sexuelle ... Weise?“ Seamus‘ Mundwinkel verzogen sich sofort nach oben. Offenbar hatte er mit dieser Frage durchaus gerechnet. „Das geht aus dem Text nicht ganz hervor“, erklärte er abwiegend. „Man könnte es tatsächlich so interpretieren. Das hat auch der Großteil der Forscher getan, die sich mit dieser besagten Quelle auseinandergesetzt haben.“ Er beugte sich etwas weiter nach vorne. „Lesen Sie die Passage einfach weiter.“ Eve räusperte sich kurz, ehe sie fortfuhr: „Seine Absichten lagen wie er selbst im Dunkeln. Aus der Unterwelt entsprungen und von Dämonen geschickt, war er ein Monster, das die Finsternis für ein jedermann brachte, der sich in seiner Nähe aufhielt. Einem Verführer gleich brachte er den geheimen Liebhaber von Te-Kems Tochter auf seine Seite und vergiftete seinen Verstand. Wie besessen machte das Ungeheuer ihm zu seinem Sklaven, wollte ihn ganz für sich allein. Niemand sonst sollte ihn bekommen, nicht einmal die Dunkelheit selbst.“ Erneut hielt sie schließlich inne und blickte auf. Sie bemerkte, dass Seamus sie gespannt musterte und offenbar aufgeregt auf ihre Meinung wartete. „Er war also von diesem Mann … besessen?“, rekapitulierte sie das soeben Gelesene noch einmal. „Dieser Liebhaber von Te-Kems Tochter?“ „Neyo war sein Name“, erklärte Seamus. „Er wird früher im Text einmal erwähnt. Ein Dieb und Taugenichts, wie er herablassend beschrieben wird. Te-Kem hasste ihn bis aufs Blut, wie Sie sich sicher sehr gut vorstellen können. Seine einzige Tochter, verliebt in einen Niemand.“ „Aber was hat das alles mit Alec zu tun?“, hakte Eve nach. Ein Verdacht stieg in ihr auf, den sie jedoch nicht wagte, laut auszusprechen. „Nehmen sie den letzten Satz: Niemand sonst sollte ihn bekommen, nicht einmal die Dunkelheit selbst“, forderte Seamus sie auf. „Das Wort ikrama bedeutet Dunkelheit. Allerdings hat der zweite Vampir, der diesen Text für die Jäger bearbeitet hat, in einer Fußnote noch hinzugefügt, dass es in früheren Zeiten auch öfters mit Tod übersetzt wurde.“ Eve blinzelte. „Nicht einmal der Tod selbst sollte Neyo bekommen …“, murmelte sie. „Sie denken, er ist Alec, nicht wahr? Dieser Dieb und Taugenichts?“ „Chronologisch passt es perfekt“, meinte Seamus lächelnd. „Viele vermuten, dass Alec in diesem Zeitraum erschaffen wurde. Außerdem hat er wohl einem Mönch vor mehreren hundert Jahre einst erzählt, dass er in der Nähe des Meeres geboren und unter Magiern aufgewachsen ist.“ „Und was steht dort drin über diesen Neyo?“, hakte Eve interessiert nach. Wenn es sich dabei wirklich um Alec handeln sollte, wollte sie jedes noch so kleine Quäntchen an Information aufsaugen, die es zu finden galt. „Verhältnismäßig wenig“, meinte Seamus. „Wie gesagt, wird er dort als Dieb beschrieben, der ein Verhältnis mit Te-Kems Tochter einging, Reann. Ein Skandal, stammte sie immerhin aus gutem Hause. Doch Reann war verblendet und verzaubert, wie es im Text gesagt wird. Sie konnte anscheinend nicht mehr klar denken.“ Eve schnaubte. „Natürlich. Es ist sehr viel einfacher, zu behaupten, sie hätte unter einer Art Zauber oder Bann gestanden, als sich einzugestehen, dass das Mädchen echte Gefühle für einen Dieb gehabt haben könnte.“ Sie kam nicht umhin, mit den Zähnen zu knirschen. Seit jeher hatte sie es frustriert, wie damals die Frauen behandelt worden waren. Wie dumme und schwache Geschöpfe, die keinen eigenen Willen hatten. Auch Reann hatte damals wahrscheinlich keine wichtige Entscheidung in ihrem Leben selbst treffen dürfen. „Bei einem Unfall kam sie ums Leben“, fuhr Seamus fort. „Es wird nichts Genaueres beschrieben, aber offenbar trug Neyo eine Mitschuld.“ Eve legte ihren Kopf schief. Wenn Alec tatsächlich irgendwann mal etwas für dieses Mädchen empfunden haben sollte, dann würde ihm ein Ausflug in die Vergangenheit sicher nicht gefallen. Zumindest war es einen Versuch wert. Interessiert blätterte sie weiter in dem Text, las von alten Zeiten, von Magiern und Vampiren und dieser alten Fehde zwischen Te-Kem und Asrim, die den Vampir überhaupt erst nach Rashitar gelockt zu haben schien. „Was ist eigentlich zwischen Asrim und diesem obersten Magier vorgefallen?“, fragte sie, nachdem sie wieder ihren Blick gehoben hatte. Seamus seufzte kurz. „Na ja, das ist nach all diesen Jahrtausenden schwer zu beantworten“, gab er zu. „Es gibt sowieso nur sehr wenige Quellen aus dieser Zeit und anscheinend haben weder Te-Kem noch Asrim je mit jemanden darüber gesprochen. Zumindest haben sich bisher keine Überlieferungen dazu gefunden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es gab natürlich viel Gerede und Gerüchte, aber nichts davon lässt sich bestätigen.“ Eve nickte und war kurz davor, es dabei bewenden zu lassen, aber letztlich siegte doch ihre Neugierde. Der Text in ihrer Hand machte den Eindruck, als hätte der Vampir einen wirklich üblen Groll gegen den Magier gehegt und es sich nicht nehmen lassen, dessen Leben vollkommen zu ruinieren. „Und was wurde so geredet?“, erkundigte sie sich. Seamus schien erfreut, dass sie sich für das Thema derart interessierte. „Na ja, das Übliche zunächst. Manche sagen, es ging um Macht und Einfluss. Es gibt sogar diese wunderbare Geschichte, dass Te-Kem und Asrim zusammen Rashitar gegründet hätten, um einen Zufluchtsort für Magier zu schaffen, und Te-Kem dann den Vampir irgendwie betrogen hätte. Zeitlich passt es zwar nicht zusammen, aber es ist trotzdem ein unterhaltsames Märchen.“ Er lachte auf. „Aber das Thema Betrug taucht auch noch in anderen Quellen auf. Einige vermuten, dass Asrim eine Liebschaft mit Te-Kems Frau gepflegt hätte. Andere wiederum sagen, es wäre sogar mit Te-Kem selbst gewesen.“ Eve runzelte die Stirn. „Asrim und Te-Kem?“ „Warum nicht?“, hakte Seamus nach. „Asrim ist dafür bekannt, dass es keinen speziellen Typ bevorzugt. Generell scheinen sich viele Vampire bei ihren Auswahlkriterien weniger auf das Geschlecht als auf die Rasse zu konzentrieren. Ob sich jetzt ein Vampir eine Frau oder einen Mann nimmt, stört niemanden - nicht gerade wenige sind da sowieso in dieser Hinsicht relativ offen -, aber wehe, sie lassen sich mit einem Werwolf sehen! Im Grunde ist das wirklich ein sehr interessantes Phänomen, das –“ „Ich versteh schon“, unterbrach ihn Eve jäh. Sie war sicher nicht hierhergekommen, um über die sexuellen Vorlieben von Vampiren zu sprechen. „Ich wollte damit nur sagen, dass es nicht absolut unwahrscheinlich ist“, meinte Seamus mit einem schiefen Lächeln. „Wenn Asrim in der Stadt ist, können Sie ihn ja selbst fragen.“ Während der Historiker durchaus hatte durchblicken lassen, dass ihn ein Gespräch mit Alec über die Vergangenheit wirklich sehr zugesagt hätte, war nun mehr als deutlich, dass er in Bezug auf Asrim ganz sicher nicht dasselbe empfand. Stattdessen hörte man aus seinem Tonfall genau heraus, dass er, sollte er tatsächlich jemals im Leben diesem Vampir begegnen, augenblicklich das Weite suchen würde, Neugierde hin oder her. Und Eve vermochte es ihm nicht zu verübeln. Alec und die Sieben waren eine Sache, aber Asrim … Dieses schwer zu greifende Wesen, von dem manche behaupteten, es wäre älter als die Zeit selbst. Die Geschichten, welche über ihn im Umlauf waren, waren derart schrecklich, dass es Eve schon in Grund und Boden erschüttert hätte, wenn nur ein kleiner Bruchteil davon der Wahrheit entsprach. Sie war ganz bestimmt nicht erpicht darauf, dieser Kreatur zu begegnen. Da hätte sie lieber tausende unerwartete Besuche von Alec in ihrem Wohnzimmer in Kauf genommen. Aber dass Asrim sich tatsächlich zeigte, war eigentlich relativ unwahrscheinlich. Soweit bekannt war, hatte noch niemals zuvor ein Jäger diesen Vampir zu Gesicht bekommen. Meistens hielt er sich im Schatten und umgab sich nur mit einem illustren Kreis von Vertrauten, die vermutlich selbst unter schlimmster Folter nicht einmal seine Augenfarbe verraten hätten. Er liebte es viel zu sehr, den Schwarzen Mann zu spielen, als dass er plötzlich die Dunkelheit verlassen würde. Eve richtete ihren Blick wieder auf den Text in ihren Händen. Alec war zurzeit eine sehr viel präsentere Gefahr und demnach auf ihrer Prioritätenliste ganz weit oben. Sollte sich herausstellen, dass er tatsächlich einst jener Neyo gewesen war, der seine Liebe auf solch grausame Weise verloren hatte, dann würde sich Alecs Reaktion hierauf sicherlich ausgesprochen interessant gestalten. Eve bezweifelte zwar, dass ihn dieses Mädchen nun nach fast dreitausend Jahren noch großartig kümmerte, aber womöglich würde es ihn zumindest aus dem Konzept bringen, diese alten und vielleicht schon längst vergessenen Namen wieder zu hören. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert. Wenn Seamus sich irrte, wäre das schlimmste, das sie dafür erhalten würde, eine verwirrter Blick seitens Alecs. Aber wenn er wirklich richtig lag … „Beschäftigt sich die Organisation eigentlich auch mit diesem Feuerteufel?“, hakte Seamus plötzlich nach. Sein Blick war auf das große Wohnzimmerfenster gerichtet, das sich hinter Eve befand. Die Jägerin schaute einen Moment irritiert drein und wusste mit seiner Aussage nichts anzufangen, ehe sie schließlich seinem Augenmerk folgte und die Stichflammen entdeckte, die offenbar ganz in der Nähe der Themse gen Himmel züngelten. Dicker Rauch verdeckte die wenigen Sterne, die es geschafft hatten, einige Lücken in Londons Wolkendecke zu finden. „Verdammt!“, zischte Eve. Unruhig massierte sie sich die Hände, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf rasten. Bildlich stellte sie sich vor, wie Seth, dieser Mann mit dem irren Blick, dort inmitten dieses Infernos stand, Angst und Schrecken verbreitete und nebenbei vielleicht noch ein paar Vampire umbrachte. Vielleicht sogar Sa’onti. Eve schloss kurz die Augen, als sie daran dachte, was passieren würde, wenn Seth es tatsächlich gelingen würde, einen oder gar mehrere dieser speziellen Untoten auszulöschen. Es würde nicht nur Rache vonseiten der Überlebenden folgen, sondern Krieg. Zerstörung. Und es war mehr als unwahrscheinlich, dass London dies heil überstehen würde. „Ich muss gehen“, sagte Eve schließlich entschieden. Sie griff nach ihrer Jacke und wollte soeben Richtung Haustür eilen, doch Seamus bekam sie am Arm zu packen. „Sie wollen doch nicht etwa alleine dorthin?“, fragte er und deutete auf das alles verschlingende Feuer. „Das ist viel zu gefährlich.“ „Glauben Sie mir, meine Kollegen werden es sicherlich auch schon längst bemerkt haben“, meinte Eve zuversichtlich. „Es sind bestimmt schon einige Einheiten vor Ort.“ „Ich kann Sie trotzdem nicht alleine gehen lassen“, entgegnete Seamus. Er schwieg einen Moment, warf noch einen letzten Blick auf die Familienchronik der Magier und meinte schließlich: „Ich komme mit.“ Eve hob skeptisch eine Augenbraue. Für übertriebenen Heldenmut hatte sie eigentlich momentan wirklich keine Zeit. Seamus meinte es zwar nur gut mit ihr, aber es war stets ihre oberste Divise gewesen, Zivilisten aus den übernatürlichen Kämpfen herauszuhalten. „Hören Sie, ich will nicht unhöflich sein, aber ...“ Sie hielt inne und versuchte, ihm mit einem Blick zu verstehen zu geben, dass sie sein Angebot zwar schätzte, aber ablehnen musste. Doch zu ihrer Überraschung lächelte Seamus bloß amüsiert. „Man hat Ihnen wohl nicht gesagt, dass ich auch Magier bin, oder?“ „Wie bitte?“ Eve blinzelte verdutzt. „Tja, das vergessen die meisten immer“, meinte der Historiker schulterzuckend. „Zugegeben, ich bin jetzt nicht der Mächtigste, aber ich beherrsche den ein oder anderen Trick, der Ihnen nützlich sein könnte. Und ob Sie es mir nun erlauben oder nicht, ich werde Sie begleiten.“ Seamus hatte seine Entscheidung offenbar getroffen und würde wahrscheinlich auch nicht ohne weiteres davon abzubringen sein. Außerdem hatte Eve keine große Lust, sich mit einem Magier anzulegen. Die Jägerin nickte somit zustimmend, packte ihr Gegenüber am Arm und zerrte ihn hinter sich her. Sie durften keine Zeit mehr unnötig vertrödeln. Sie wollte ganz gewiss nicht, dass Seth ein weiteres Mal entkam. Sie musste ihn einfach treffen. Ihn fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Und wieso es eine Verbindung zwischen ihnen beiden zu geben schien. Warum er sie als sein Schicksal bezeichnet hatte. Eve hoffte bloß, dass sie diesmal ein paar Antworten bekommen würde. Kapitel 11: Feuer ----------------- Natalias und Samuels Leben waren schnell ausgelöscht. Die beiden Vampire machten auf den Absatz kehrt, als sie den ersten Schock einigermaßen überwunden hatten, und wollten rasch das Weite suchen, aber mehr als ein paar Schritte waren ihnen nicht vergönnt. Ihre Körper gefroren mitten in der Bewegung, als würde eine unsichtbare Macht sie festhalten. Sharif spürte ihre Angst, ihre Panik. Ihre absolute Verzweiflung. Er sah, wie Natalia eine Träne die Wange herunter rann, als sie begriff, dass dies ihr Ende war. Geboren in den Straßen Londons würde sie auch nun in diesen sterben. Kein Ton kam über ihre Lippen, als ihr Fleisch zu brennen begann. Sie wollten schreien, sie wollten kreischen wie am Spieß, aber aus irgendeinem Grund war es ihnen einfach nicht möglich. Ihre Münder standen weit offen, doch kein Laut war zu hören. Sharif vernahm nur das Knistern des Feuers und das Zischen des verkohlenden Fleisches. Und schließlich waren sie nur noch Asche. Vernichtet, als wäre ihre Existenz absolut nichtig und unwichtig gewesen. Als hätten sie nichts bedeutet und wären nicht einmal die Luft wert gewesen, die sie geatmet hatten. Und Sharif fragte sich unweigerlich, ob ebenfalls solch eine Leere zurückbleiben würde, wenn er als nächstes starb. Er hatte nicht einmal reagieren können, als Natalia und Samuel in Flammen aufgegangen waren. Es war zu schnell gewesen, zu plötzlich. Und gleichzeitig war sein Körper wie versteinert gewesen. Als hätte sich sein Geist schon längst verabschiedet und bloß eine Hülle zurückgelassen, die unbeteiligt dem Todeskampf der zwei Vampire zugeschaut hatte. Er war hilflos gewesen. Und solch ein Gefühl hatte ihn schon seit einer unglaublichen Ewigkeit nicht mehr ergriffen. Er hatte sogar schon komplett vergessen gehabt, wie es sich überhaupt anfühlte. Und mit einem Mal verstand Sharif sehr gut, warum die übernatürlichen Wesen in Scharen aus London flohen. Auch er selbst spürte, wie all seine Instinkte schrien und um sich traten, wie alles in seinem Inneren sofort danach verlangte, zu fliehen und nie wieder zurückzuschauen. Wie ein tief vergrabener Urinstinkt, der sich derart selten zeigte, dass es einen schier überwältigte, wenn er sich letztlich mit voller Wucht meldete. Es war das Feuer, die Luft, die ganze Atmosphäre. Alles wirkte plötzlich dermaßen toxisch und unerträglich, dass sich Sharif tatsächlich bemühen musste, nicht die Fassung zu verlieren. Nicht vor ihm. Seth war ganz und gar nicht das, was Sharif erwartet hatte. Nach all den Geschichten hatte er sich einen hochgewachsenen, düsteren Mann vorgestellt. Ein Schatten, der dann und wann aus der Dunkelheit hervorsprang, um Vampire zu verbrennen. Aber stattdessen sah Sharif sich nun einem Jüngling gegenüber, in dessen Augen der Wahnsinn flackerte und der die Macht der Götter besaß. Eine ausgesprochen gefährliche Kombination. „Du bist jünger, als ich angenommen hatte“, meinte Sharif, fast schon lässig, als wäre er nicht von oben bis unten mit Vampirasche eingedeckt. Als würde kein übernatürliches Feuer ihn umzingeln wie ein Feind, der sich zum Angriff bereit machte. „Und du bist älter geworden, Sharif“, erwiderte Seth mit einem leichten Lächeln. „Dein Gesicht ist noch dasselbe, aber deine Augen haben so viel mehr gesehen.“ Sharif rührte nicht mal einen Muskel, als er mit aller Kraft seine Verblüffung zu unterdrücken versuchte. Offenbar hatte Seth ihn schon einmal getroffen oder zumindest auf die ein oder andere Weise wahrgenommen. Sharifs Gedanken rasten, während er mühsam versuchte, Seths Gesicht irgendwo einzuordnen. Doch es waren im Laufe der Zeit einfach viel zu viele Menschen und andere Geschöpfe gewesen, er vermochte sich beileibe nicht an alle zu erinnern. „Du hast keine Ahnung, wer ich bin, nicht wahr?“, stellte Seth mit einem Lächeln fest. Er wirkte weder besonders erstaunt noch beleidigt, sondern eher zufrieden, als würde es ihm eine diebische Freude bereiten, Sharif dabei zuzusehen, wie er wild in seinem Gedächtnis grub. „Sei nicht gekränkt“, erwiderte der Vampir. „Scheinbar hast du bei mir keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre dieser ein absolut belangloser Umstand, der keiner weiterer Erklärung bedurfte. „Ich aber anscheinend bei dir umso mehr, nicht wahr?“ Seth wiegte seinen Kopf hin und her. „Wenn ich ehrlich bin, hätte ich dich damals in dieser Gosse in Behedet jämmerlich zugrundegehen lassen. Du kannst von Glück sagen, dass es nicht meine Entscheidung war.“ Nun vermochte Sharif sein Erstaunen nicht mehr zu verbergen. Nicht sehr viele kannten den Namen seines Geburtsortes oder wussten gar um die Umstände seines Todes. Damals, in dieser engen Gasse, vor fast dreitausend Jahren, als er sterbend in Sand und Blut gelegen hatte. Und wäre Asrim nicht an ihn herangetreten, hätte er an diesem heißen Nachmittag qualvoll sein Leben ausgehaucht. Außer seiner Familie hatte bisher niemand diese Geschichte gehört und er war sich absolut sicher, dass keiner von ihnen diese Information einfach weitergegeben hätte. Besaß Seth möglicherweise mentale Kräfte, die es ihm erlaubten, in Sharifs Gedächtnis herumzukramen wie in einem Wühltisch beim Ausverkauf? Dem Vampir wollte dieser Gedanke überhaupt nicht gefallen, auch wenn die Vorstellung, dass sich einer aus seinem Clan irgendwann einmal in Seths Gegenwart verplappert hätte, noch sehr viel unschöner war. „Du brauchst nicht so überrascht dreinzuschauen“, meinte Seth lachend. „Ich habe dich damals gesehen, als du noch ein kleiner, kümmerlicher Mensch warst.“ Sharif runzelte die Stirn. „Das ist beinahe dreitausend Jahre her!“, stellte er verwirrt klar. Seth lächelte. „Ich weiß.“ Sharif wusste nicht, was er darauf hätte antworten sollen. Es gab nur wenige Kreaturen auf der Welt, die solch ein stattliches Alter erreichen konnten, und Magier gehörten ganz klar nicht dazu. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug dreihundert Jahre, doch einige mächtigere Exemplare schafften es durchaus, mithilfe von Magie ihre Existenz für ein paar Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zu verlängern. Der bisher älteste Magier war ein Mann aus Singapur gewesen, der es sogar auf ein stolzes Jahrtausend gebracht hatte. Allerdings waren damit sehr viel Macht und sehr viele Entbehrungen einhergegangen und es war eine absolute Ausnahme gewesen. Natürlich war es immer noch möglich, dass Seth einfach log, doch Sharif erkannte keinerlei Anzeichen in dieser Richtung. Seths Herzschlag war stetig und unerschütterlich, seine Atmung gleichbleibend. Nichts deutete darauf hin, dass er die Wahrheit verbog. Aber wenn er tatsächlich so alt war, wie er behauptete, dann handelte es sich bei ihm um ein Wesen, dem die Zeit nichts anzuhaben schien. Vampire fielen in diese Kategorie, aber davon war Seth weit entfernt. Ebenso was Dämonen anging, gab es vielerorts Gerüchte, dass sie ewig zu leben vermochten, und auch wenn Seth durchaus etwas Dämonisches an sich hatte, war er zumindest kein reinrassiges Exemplar dieser Gattung. Doch es machte beinahe den Anschein, als hätte er mit dunklen Mächten gespielt, die sein Leben unnatürlich verlängert hatten. „Warum warst du damals in Behedet?“, wollte Sharif wissen. „Was wolltest du von einem Menschen wie mir?“ Seth lächelte schief. „Ich hatte eine schwere Schuld zu begleichen. Vielleicht fragst du einfach Asrim, der kann es dir näher erklären.“ Daraufhin sog er jedoch scharf die Luft ein und erwiderte in einem gespielt bedauernden Tonfall: „Oh nein, warte, das kannst du ja gar nicht. Du bist gleich tot.“ Er hob die Schultern. „Tja, lange müsstest du im Nachleben sowieso nicht warten, ich werde dir nach und nach deine Familie zuschicken.“ Im nächsten Moment spürte Sharif bereits, wie eine übernatürliche Macht ihn von den Füßen riss und er mit dem Rücken unangenehm auf dem harten Boden prallte. Er versuchte zwar, seine Vampir-Sinne zu aktivieren, um wenigstens die Landung einigermaßen galant hinzubekommen, doch sein Körper wollte nicht so funktionieren, wie er es gerne gehabt hätte. Statt Kontrolle spürte er nur eine beängstigende Lähmung, als wäre jeder Muskel in seinem Leib von einem Augenblick auf den anderen erschlafft. Und somit konnte er nichts weiter tun, als seine Augen aufzureißen, als sich das Feuer laut knirschend auf ihn stürzte wie ein ausgehungertes Raubtierrudel, das ihn zu zerfleischen gedachte. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins vernahm er noch Seths mitleidsloses Lachen, doch als im nächsten Moment die Flammen seines Haut auffraßen, war dies rasch wieder vergessen. Er spürte stattdessen bloß einen schier überwältigenden Schmerz, wie er es schon seit Jahrtausenden nicht mehr gefühlt hatte. Hätte er noch die Macht über seine Körperfunktionen gehabt, hätte er vermutlich laut aufgeschrien, doch kein Ton verließ seine Lippen. Er war Seth hilflos ausgeliefert und hatte keine Ahnung, wie es soweit hatte kommen können. Und als seine Welt schließlich in Dunkelheit versank, schoss ihm bloß ein Gedanke durch den Kopf: Ich hasse London!     *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *     „Feuer ist irgendwie faszinierend“, meinte Seamus fast schon ein wenig verträumt. „So gefährlich und gleichzeitig so fesselnd.“ Eve, die den Motor ihres Wagens ausstellte, warf dem Historiker einen skeptischen Blick zu, ehe sie entschied, Seamus' merkwürdige Ansichten nicht weiter zu beachten. Es gab im Moment wahrlich Wichtigeres, als über die bedrohliche Schönheit des Feuers zu reden. Eve kletterte hastig aus dem Auto und überprüfte die Umgebung. Mehrere Löschfahrzeuge hatten sich bereits eingefunden und das Sirenengeheul in der Ferne ließ vermuten, dass noch weitere anrücken würden. Die Feuerwehrmänner gaben ihr Bestes, den stechenden Flammen Herr zu werden, doch Eve erkannte sofort, dass dies ein schwieriges Unterfangen werden würde. Das Feuer zischte zwar bei der Berührung mit dem Wasser aus den zahllosen Schläuchen, aber wirklich davon beeindrucken ließ es sich offenbar nicht. Munter knisterte es vor sich hin, schien sogar noch ein wenig zu wachsen und bereits mit den Nebengebäuden zu liebäugeln. Eve wollte gar nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn es sich weiter ausbreitete. London war schon einmal den Flammen zum Opfer gefallen. Zwar war dies schon sehr lange her, aber dennoch hatte es niemand vergessen. Auch entdeckte Eve mehrere Jäger, die in sicherer Entfernung verharrten und mit finsteren Mienen das Treiben beobachteten. Die meisten hatten ihre Waffen gezückt und wirkten über alle Maßen kampfbereit, dennoch hielten sie sich vorerst im Hintergrund. Wahrscheinlich waren sie sich noch nicht sicher, ob dies alles das Werk des Feuerteufels war oder es sich bloß um einen viel banaleren Grund – etwa ein durchgeschmortes Stromkabel – handelte. Eve hingegen war sich ziemlich sicher, dass Seth etwas mit der Sache zu tun hatte. Nicht nur, dass sie es irgendwo tief in ihrem Inneren einfach spürte, sondern auch angesichts der Tatsache, dass sich das Feuer mehr als untypisch verhielt. Es züngelte und zischte über den nassen Pierboden, als wären Wasser und Beton die perfekte Grundlage. Zwar hatte es sich auch auf ein benachbartes Lagerhaus ausgebreitet und fraß das Gebäude regelrecht auf, doch gleichzeitig war klar, dass dies nicht den Ursprung des Feuers darstellte, sondern stattdessen bloß eine Begleiterscheinung war. Die Feuerwehrmänner konzentrierten sich zumindest vorrangig auf die Lagerhalle, aber Eve erkannte an ihren Gesten und Mienen, dass sie das Verhalten des Feuers durchaus verwirrte. Es schlängelte über den Boden, als wäre es lebendig, ein selbstständig denkender Organismus, der sich nicht an irgendwelche Grenzen zu halten hätte. „Das ist wirklich erstaunlich“, meinte Seamus beeindruckt. Der Schein der Flammen spiegelte sich in seinen Brillengläsern, während er das Schauspiel fasziniert beobachtete. „Es ist Kontrolle und zur gleichen Zeit vollkommenes Chaos.“ Eve spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Die Luft knisterte und das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Über kurz oder lang würde sie Deckung suchen müssen, um nicht irgendwann hustend und keuchend zusammenzubrechen. Ihr Blick schweifte derweil unentwegt über den Schauplatz. Sie suchte nach Schatten, nach Gestalten, nach ihm. Doch alles, was sie erblickte, waren Funken und Flammen und der Gewissheit, dass sich niemand, der sich von ihnen gefangen nehmen ließ, entkommen würde. „Wir sollten uns vielleicht ein wenig zurückziehen“, schlug Seamus vor. Seine Aufmerksamkeit ruhte auf den Jägern in der Ferne, die auf dem Dach eines bisher noch unberührten Lagerhauses eine gute Übersicht über das Spektakel hatten. „Am Ende werden wir noch gegrillt und ehrlich gesagt wollte ich so früh noch nicht mit meinem Leben abschließen.“ Er hielt kurz inne und verbesserte sich schließlich selbst: „Obwohl es mich davor bewahren würde, die Hausarbeiten der diesjährigen Erstsemeser korrigieren zu müssen. Das ist niemals ein Spaß.“ Eve warf ihm daraufhin einen argwöhnischen Blick zu, beließ seinen Kommentar jedoch ohne Reaktion. Sie fühlte sich gerade nicht danach, irgendwelche Scherze zu reißen. „Ich kann einen schnellen Tod gerne für Sie arrangieren, wenn Sie das wollen“, erklang plötzlich eine Stimme direkt hinter ihnen. Beide wirbelten sie alarmiert herum. Dort stand Seth, an eine Hauswand gelehnt und beobachtete vergnügt das knisternde Feuer. Der Schein der Flammen spiegelte sich in seinem Gesicht und gab ihm ein fast schon unheimliches Aussehen. Seine Haut wirkte völlig blass, beinahe fahl, aber seine Augen stachen überdeutlich hervor. Eve holte hastig ihre Waffe hervor, die sie noch vor ein paar Tagen Alec an die Brust gehalten hatte. Flüchtig blickte sie zu den anderen Dämonenjägern herüber, doch keiner schien von ihrer kleinen Gruppe Notiz zu nehmen. Immer noch starrten sie gebannt auf das Feuer und warteten darauf, dass etwas Übersinnliches geschah. Eve war für einen kurzen Moment verleitet, lauthals ihre Aufmerksamkeit zu erringen, doch sie verwarf diesen Gedanken recht schnell wieder. Im allgemeinen Getümmel hätte Seth unter Umständen fliehen können und immerhin gab es noch etwas, dass Eve unbedingt von ihm wissen wollte. „Wusstest du, dass das ein historischer Schauplatz ist?“ Seth schaute hinüber zu dem brennenden Gebäude und grinste breit. „1890 wurde an diesem Ort ein Tor zum Reich der Dämonen geöffnet. Du hättest das Blutbad sehen sollen, das war selbst für mich schon fast zu viel.“ Eve erinnerte sich deutlich, dies in ihren Recherchen aufgeschnappt zu haben, doch sie antwortete Seth nicht darauf. Sie war gewiss nicht hier, um über vergangene Ereignisse zu reden, auch wenn Seamus den Eindruck erweckte, als hätte er liebend gern das Thema noch weiter vertieft, Feuer hin oder her. „Ein anderes Mal kannst du mir gerne eine Geschichtslektion erteilen“, erwiderte sie zischend. „Aber jetzt wäre es wirklich zu gütig, wenn du mir einige Fragen beantworten könntest.“  „Dann frag, meine Hübsche!“, sagte Seth gutgelaunt. „Vielleicht antworte ich, vielleicht aber auch nicht.“ Eve schnaubte, während sie den Griff um ihre 45er noch mehr verstärkte. Ihr Gegenüber schien zwar in keiner Weise davon beeindruckt zu sein und sie vermutete, dass ihre Waffe so oder so keinen großen Schaden anrichten würde, aber gleichzeitig hätte sie sich ohne sie unbewaffnet und nackt gefühlt. Eve machte sich mental bereit, Seth zu konfrontieren und ihm zur Not mit List und Tücke eine Antwort zu entlocken, doch noch bevor sie ihren Mund geöffnet hatte, kam Seamus ihr zuvor. Offenbar schien er gleich begriffen zu haben, dass es sich bei Seth um keinen Geringeren als den in den Zeitungen vielerwähnten Feuerteufel handelte. „Wer ist in diesem Gebäude?“, wollte er wissen. Seth lachte auf. „Niemand. Nur ein paar Ratten, die aber noch rechtzeitig das Weite suchen konnten, falls das euch beruhigt.“ Er legte seinen Kopf schief. „Die Vampire am Pier allerdings ...“ Eve spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sie daran dachte, wie er stolz verkündet hatte, dass er die Sa’onti auslöschen würde. Hatte es bereits begonnen? „Was hast du getan?“, verlangte sie zu erfahren. Seth schien amüsiert. „Du wirkst, als hätte ich ein Kapitalverbrechen begangen. Sind ein paar tote Vampire nicht genau das, was deinen Tag versüßt?“ Eve sog scharf die Luft ein. Selbstverständlich würde sie einem Untoten keine Tränen nachweinen, aber wenn er es tatsächlich gewagt haben sollte, sich an einem Sa’onti zu vergreifen, dann würde die Rache wirklich absolut grauenhaft ausfallen. Und zwar nicht nur für Seth allein, sondern auch für jeden, den er je in seinem Leben getroffen hatte. Es würde Blut und Schmerz nach sich ziehen und das war selbst ein toter Vampir nicht wert. „Sag mir bitte nicht, dass du einige der Sieben ...“ Sie vermochte den Satz nicht mal zu Ende zu sprechen, viel zu schrecklich war die Vorstellung, was für verheerende Konsequenzen dies nach sich ziehen würde. „Bloß einer“, erwiderte Seth, als würde dies etwas in irgendeiner Weise besser machen. „Er war lediglich ein unhöflicher, aufgeblasener Ägypter, der schon vor Jahrtausenden hätte sterben sollen. Ich habe nur die Natur wieder ins Gleichgewicht gebracht.“ Eve schloss kurz ihre Augen. Sharif ... Das war ganz und gar nicht gut. „Hast du überhaupt die leiseste Ahnung, was du angerichtet hast?“, zischte sie aus zusammengebissenen Zähnen. Es gab viele Geschichten und Gerede über diesen besonderen Vampir, der zu den ältesten Wesen auf der Welt gehörte. Während Asrim mehr ein Schatten war, eine Legende, die nur wenige je zu Gesicht bekommen hatte, war Sharif sehr viel realer. Er galt als Kopf der Sieben, als der Anführer, als die vielleicht einzige Stimme der Vernunft in einer Gruppe aus extravaganten und unberechenbaren Geschöpfen. Und Eve befürchtete stark, dass ohne ihn all dies zerfallen würde. „Warum tust du das alles?“, wollte sie wissen. „Und vor allen Dingen, wieso tust du es allein? Du hättest zu uns kommen können, wir hätten dir zugehört.“ Seth lachte jedoch nur spöttisch auf. „Ich hätte euch meine gesamte Macht demonstrieren können und dennoch wärt ihr noch zu feige gewesen, euch mit den Sieben anzulegen.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Ihr wart euch schon immer einig darin gewesen, diese Vampire niemals anzufassen. Du siehst mich ja gerade im Moment so an, als würdest du mich für völlig wahnsinnig halten. Niemand von euch hätte mir jemals zugehört!“ Eve knirschte mit den Zähnen, musste ihm jedoch stillschweigend Recht geben. Es hatte in der Vergangenheit einige Überlegungen gegeben, sogar zum Teil richtig gute und ausgeklügelte Pläne, aber keiner davon war letztlich jemals in die Tat umgesetzt worden. Die Angst vor der Rache war einfach viel zu groß gewesen. Immerhin musste man nicht nur alle sieben Vampire erwischen, sondern auch Asrim selbst, um einigermaßen sichergehen zu können, dass man lebend aus der Sache wieder herauskam. Und das war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. „Warum tust du ihnen das an?“, wiederholte sie ihre Frage, nun zwar etwas leiser, aber gleichzeitig absolut sicher, dass Seth sie verstehen würde. „Was haben sie dir angetan, dass sie solch ein Schicksal verdient haben?“ Seths Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es wirkte gequält. Man erkannte einen uralten Schmerz, etwas, dass seine Seele sosehr verletzt hatte, dass vielleicht nicht einmal die Zeit selbst es irgendwann würde heilen können. Und es machte deutlich, dass er nicht eher ruhen würde, bis alle Vampire tot wären, selbst wenn dies seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Womöglich war dies das einzige, was ihn überhaupt noch am leben hielt. „Du könntest nicht einmal ansatzweise begreifen, was sie mir angetan haben“, erklärte er mit einem unterdrückten Zorn in der Stimme, dass es Eve eiskalt den Rücken herunterlief. „Ich habe all diese Jahrhunderte ihre Existenz geduldet, habe mich zurückgehalten, aber jetzt ...? Sie sind einfach viel zu weit gegangen!“ Sein Blick glitt plötzlich auf etwas direkt hinter Eve, während er seine Hände zu Fäusten ballte und rief: „Hast du gehört, Alec? Ihr seid zu weit gegangen!“ Eve gefror für einen Augenblick das Blut in den Adern. Nur ganz langsam und mit Bedacht – beinahe, als würde sie ein sündhaft teures Teeservice in Händen halten – drehte sie sich um. Und Alecs Anblick ließ sie sofort wieder wünschen, sie hätte sich erst gar nicht zu ihm umgewandt. Nichts erinnerte mehr an den Vampir, dem sie begegnet war. Kein überlegener Gesichtsausdruck, kein freches Lausbubengrinsen. Stattdessen war da nur Dunkelheit. Eve hatte in ihrem Leben schon viele aufgebrachte Vampire gesehen, aber keiner von denen hatte ihr je solch einen Schrecken eingejagt. Alec hatte nicht mal mehr eine Spur von Menschlichkeit an sich. Er wirkte wie ein Dämon, der soeben der Hölle entsprungen war. Seine Raubtieraugen leuchteten dermaßen intensiv, dass es Eve einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und aus seiner Kehle drang ein Knurren, welches ohne Probleme ein ganzes Wolfsrudel in die Flucht geschlagen hätte. Eve wich automatisch ein paar Schritte zurück und merkte, dass Seamus es ihr nachtat. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Untoten an, der wirkte, als wollte er jeden, der ihm zu nahe kam, erbarmungslos direkt hinunter in die Hölle ziehen. Seth hingegen ließ keine Spur von Angst erkennen. Gefasst und in keinster Weise eingeschüchtert erwiderte er Alecs Mörderblick, als würde er mit so etwas jeden Tag konfrontiert. „Wie schön, dass du auch zur Party erscheinst“, sagte er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit mit einem kalten Schmunzeln. „Es wäre wirklich tragisch gewesen, wenn du sie verpasst hättest.“ Eve spürte, wie ihr Puls immer weiter in die Höhe stieg. Und hätte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Mann, dieses Wesen, einen Vampir ohne Kraftanstrengung in Flammen hatte aufgehen lassen, hätte sie ihn für komplett und abgrundtief wahnsinnig gehalten. Alec erwiderte derweil nichts, sondern starrte Seth einfach nur mit einem Blick an, der jeden anderen sofort in die Flucht getrieben hätte. Er machte sich zum Angriff bereit. Darauf, diesem Mann, der es gewagt hatte, Hand an seine Familie zu legen, gnadenlos das Herz aus der Brust zu reißen. Und Eve wusste mit einem Mal, dass, wenn in den nächsten Minuten nicht noch ein Wunder geschah, niemand das Ganze heil überstehen würde. Kapitel 12: Der Eindringling ---------------------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.):     Es war selten, dass Neyo jemanden mitten in der Nacht in Jylieres Bibliothek antraf, doch diesmal sollte es wohl eine Ausnahme sein. Als er das erste Mal in tiefschwarzer Dunkelheit den Raum betrat, bemerkte er, dass Reann am großen Schreibtisch offenbar vor einiger Zeit eingeschlafen war. Ihre Kopf ruhte auf der Tischplatte, ihr Atem ging langsam und gleichmäßig. Sie wirkte derart friedlich, dass man sie glatt mit einem freundlichen Mädchen hätte verwechseln können. Neyo lächelte schief, ehe er eine Decke über ihre Schultern legte und sich wieder entfernte. Eine Weile stromerte er daraufhin durchs Haus, seine seit Wochen anhaltende Schlaflosigkeit verfluchend. Nachts fand er kaum noch Entspannung und tagsüber hatte er manchmal Probleme, seine Augen offenzuhalten. Er hatte bereits erwogen, deswegen einmal Jyliere zu kontaktieren, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich noch nicht dazu durchringen können. Anfangs hatte er es nicht für allzu wichtig erachtet, bloß eine Phase, die schnell wieder vorbeiging, und inzwischen schien Jyliere derart mit anderen Dingen beschäftigt, dass Neyo ihn deswegen nicht hatte belästigen wollen. Über kurz oder lang würde es wahrscheinlich wieder verschwinden, dessen war er sich sicher. Er legte einen kleinen Zwischenstopp in der Küche ein und nahm sich ein Stück Brot. Zwar fehlte ihm seit Wochen nicht nur Schlaf, sondern auch Appetit, aber sein Magen knurrte schon stundenlang ununterbrochen, sodass er sich schließlich dazu durchgerungen hatte, irgendetwas Essbares herunterzuquälen. Es schmeckte nach nichts und bereitete ihm keinerlei Freude, doch über kurz oder lang wäre er ohne Nahrung zusammengebrochen. Und er fühlte sich durch die mangelnde Ruhe schon ausgemergelt genug, da brauchte er nicht noch zusätzlich einen leeren Magen. Als er schließlich ein zweites Mal in dieser Nacht an der Bibliothek vorbeikam, bemerkte er, dass Reann in der Zwischenzeit aufgewacht war. Sie stand an einem Regal, fuhr mit ihren Finger über die Titel der verschiedenen Einbände und murmelte irgendetwas vor sich hin. Sie wirkte nervös, als würde sie dringend etwas suchen und es einfach nicht finden. „Du solltest dich lieber wieder was hinlegen“, meinte Neyo, immer noch an der Brotkruste knabbernd und sich fragend, wann er wohl endlich mal wieder Heißhunger verspüren würde. Er vermisste es auf jeden Fall über alle Maßen. Reann zuckte derweil überrascht zusammen, als sie unerwartet Neyos Stimme vernahm. Sie wirbelte herum und musterte ihn einen Augenblick, als würde sie ihn für einen Geist halten. „Warum bist du noch wach?“, fragte sie in einem scharfen Tonfall nach, als hätte er sie gerade bei etwas sehr Wichtigen und Intimen gestört. Neyo hob nur seine Schultern. „Einfach so“, sagte er lapidar. „Ich wollte ja eigentlich was in die Stadt runter, aber das Wetter ist furchtbar. Ich wäre schon durchweicht, ehe ich überhaupt das Grundstück verlassen hätte.“ Er legte seinen Kopf schief. „Und was machst du noch hier, wenn ich fragen darf? Waren die Studien so anstrengend, dass du eingeschlafen bist?“ Sein Blick richtete er auf die Decke, die Reann noch immer über ihre Schultern liegen hatte. Sie schien sofort zu begreifen, dass er derjenige gewesen war, der sie zugedeckt hatte, und wurde augenblicklich ein wenig rot um die Wangen. „Du solltest wirklich nach Hause“, meinte Neyo. „Oder von mir aus kannst du dich auch in eins der Gästezimmer legen.“ Reann begutachtete ihn skeptisch, offenbar unsicher, wie sie diese Freundlichkeit einzuschätzen hätte. Schließlich aber erwiderte sie: „Hast du irgendetwas Sonderbares bemerkt, während du hier durch die Gegend spaziert bist?“ Neyo blinzelte verdutzt. Mit solch einer Frage hatte er eigentlich nicht gerechnet. „Was?“ Reann winkte sofort ab, während sie sich wieder den Regalen zuwandte. Sie wirkte unruhig, aufgewühlt. Als wäre sie aus einem schrecklichen Traum aufgewacht, der sie einfach nicht loslassen wollte. „Alles in Ordnung?“, hakte Neyo daraufhin nach. Reann warf ihm einen seltsamen Blick zu und schien zu überlegen, ob sie sich dazu herablassen sollte, eine Antwort zu geben, als sie schließlich seufzte und entgegnete: „Irgendetwas ... stimmt nicht.“ Neyo hob eine Augenbraue angesichts dieser ausgesprochen spärlichen Erklärung. „Ein bisschen spezifischer müsstest du schon werden.“ Reann knirschte mit den Zähnen und massierte sich unruhig ihre Hände. „Ich habe einfach das Gefühl, dass ... irgendetwas passieren wird. Und zwar nichts Gutes.“ Neyo wollte gerade weiter nachbohren, als ein Geräusch in der Ferne ihn aufhorchen ließ. Leise und schwach, aber es klang ganz eindeutig wie splitterndes Glas. „Was ist?“, fragte Reann alarmiert nach. Sie schien nichts gehört zu haben. „Da war ...“, begann Neyo, ehe er innehielt und einmal tief Luft holte. „Es klang, als hätte irgendein betrunkener Idiot eine Vase umgeschmissen oder so. Calvio wahrscheinlich. Oder Gyr.“ Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und wollte sich in Bewegung setzen, als ihn Reann plötzlich am Handgelenk packte und zurückhielt. „Geh besser nicht“, warnte sie eindringlich. Neyo lachte auf. „Keine Panik, ich krieg das schon hin.“ „Aber ...“ „Was glaubst du denn, was das war?“, hakte Neyo amüsiert nach. „Dass jemand versucht, hier einzubrechen? Das ist das Haus eines Magiers, Reann! Niemand wäre so dämlich, so etwas zu wagen.“ Grinsend schüttelte er den Kopf, ehe er sich aus ihrem Griff entwand und davonging. Er hörte sie zwar noch eine Warnung rufen, doch er ignorierte sie einfach. Es war mehr als lächerlich anzunehmen, dass es irgendetwas anderes gewesen wäre, als eine Ungeschicklichkeit durch einen müden oder auch betrunkenen Mitbewohner des Hauses. Was hätte es auch sonst sein können? Als er jedoch um die nächste Ecke bog und sich einem Meer aus Scherben auf dem Boden gegenübersah, das einst ein vollkommen intaktes Fenster gewesen war, spürte Neyo, wie eine Unsicherheit ihn sofort befiel. Es war eine Sache, aus Versehen etwas anzustoßen und es damit zu zerstören. Aber dies hier wirkte ganz und gar nicht willkürlich. Ganz abgesehen davon, dass das Glas im Inneren verteilt lag und somit jemand von außen die Scheibe eingeschlagen haben musste. Neyo trat vorsichtig an das Loch in der Wand, mühevoll darauf bedacht, sich nicht an den Scherben zu verletzen, und warf einen Blick nach draußen. Immer noch regnete es in Strömen, aber es war relativ windstill, sodass es eigentlich mehr als unwahrscheinlich erschien, dass die Kraft der Natur irgendetwas damit zu tun haben könnte. Doch normalerweise zersprang ein Fenster nicht einfach ohne Grund in tausend Stücke. Plötzlich kam sich Neyo ziemlich unvorsichtig vor, dass es Reanns Warnung schlichtweg ignoriert hatte. Er hatte ihre Nervosität gesehen, ihre Unruhe, und dennoch war es derart leichtsinnig gewesen, es nicht ernst zu nehmen. Sich selbst verfluchend ließ er seinen Blick schweifen und suchte nach irgendwelchen Hinweisen oder Anhaltspunkten. Vielleicht Fußabdrücke oder etwas Vergleichbares, womöglich sogar Blut, da die Scherben immerhin ausgesprochen scharf erschienen. Aber Neyo entdeckte rein gar nichts und ebenso vermochte er nichts Außergewöhnliches zu hören. Bloß den prasselnden Regen und das Knistern einer Fackel etwas weiter runter den Flur. Wäre Jyliere noch an Ort und Stelle gewesen, hätte Neyo ihn sofort aufgesucht, doch er wusste, dass der Magier sich immer noch bei Te-Kem befand. Somit war Reann zurzeit die einzige, die womöglich Licht in das Ganze zu bringen vermochte. Seufzend drehte er sich somit wieder um ... und starrte direkt in ein leuchtendes Augenpaar! Für einen kurzen Moment war er wie gelähmt, dann aber keuchte er erschrocken auf und torkelte einige Schritte zurück. Er war versucht, eine Warnung hinauszuschreien, um die anderen zu alarmieren, doch kein Ton drang über seine Lippen. Er konnte bloß mit weitaufgerissenen Augen den Mann anstarren, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Neyo vermochte sein Gesicht nicht wirklich zu erkennen. Obwohl er direkt vom Licht Fackel beschienen wurde, blieb seine Gestalt dennoch im Dunkeln verborgen. Beinahe so, als hätte die Finsternis einen schützenden Mantel um ihn gehüllt. Einzig diese teuflisch funkelnden Augen stachen hervor. Die Augen eines Raubtiers. „Sieh an, ein verirrtes Lämmchen.“ Seine Stimme klang seltsam melodiös und gleichzeitig irgendwie unheilvoll. Neyo jagte sie einen kalten Schauer über den Rücken. „Was treibt dich denn zu so später Stunde hierher?“ Neyo verfluchte sich selbst dafür, dass er kein einziges Wort zustande brachte, doch er war wie betäubt. Er konnte sich nicht regen, nicht mal richtig atmen. Irgendwas an dem Mann war abgrundtief falsch. Sein Auftreten, seine Stimme und diese Augen – das alles wirkte nicht sonderlich ... menschlich. Neyo schluckte schwer. Wer – oder auch was – war das nur? „Hab ich dich geweckt?“, hakte er nach. „Ich weiß, ein Fenster zu zerstören hat eigentlich nicht viel Stil, aber irgendwie war mir nicht danach, einfach durch die Vordertür hereinzukommen. Das kann manchmal furchtbar langweilig sein.“ Er trat näher an Neyo heran, während seine Raubtieraugen ihn von oben bis unten untersuchten. Neyo wollte derweil nur noch fort, einfach weg von diesem ominösen Unbekannten. Von ihm ging etwas aus, das Neyo unwillkürlich erzittern ließ. Und gleichzeitig war da noch etwas anderes. Eine seltsame Art von Anziehung, die Neyo fast noch mehr erschütterte als alles andere. „Es ist irgendwie traurig, findest du nicht?“, fuhr der Fremde ungerührt fort, als würden sie eine nette, harmlose Unterhaltung führen. „Das hier ist das Haus eines mächtigen Magiers und die Sicherheitsmaßnahmen sind absolut lächerlich. Offenbar seid ihr wirklich so töricht zu glauben, dass euch niemand etwas anhaben kann und will.“ Neyo nahm all seinen Mut zusammen, als er sagte: „Normalerweise ist auch niemand so töricht ... in das Haus eines Magiers einzubrechen.“ Der Mann lächelte kalt und musterte ihn auf eine Art und Weise, die Neyo absolut nicht gefiel. Berechnend, forschend. Als würde er überlegen, ob er Neyo die Kehle aufschlitzen oder ihn doch mit dem Leben davonkommen lassen sollte. „Ich finde es ausgesprochen freundlich, dass ausgerechnet du mich begrüßen kommst, Neyo“, meinte der Unbekannte. „Auch wenn ich nicht sehr überrascht bin. Du findest wahrscheinlich schon länger nachts keinen Schlaf mehr, nicht wahr?“ Neyo spürte, wie ihm das Blut zu Eis gefror. Nicht nur, dass dieser mysteriöse Mann seinen Namen kannte, wusste er darüber hinaus auch noch über seine seit Wochen andauernde Schlaflosigkeit Bescheid, die er bisher noch niemanden gegenüber auch nur je erwähnt hatte. „Woher ...?“ Der Fremde lachte auf. „Ich habe einen Freund, der einen recht guten Überblick hat, wenn ich das so formulieren darf. Er freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.“ Neyo wusste nicht, was er darauf hätte antworten sollen. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf wie leergefegt war und nichts mehr einen Sinn ergab. „Mein Name ist übrigens Sharif“, meinte der Unbekannte lächelnd. „Es freut mich wirklich sehr, deine Bekanntschaft zu machen.“ Dies drückte er auch gleich aus, indem er Neyo unsanft am Genick packte und gegen die nächste Wand schleuderte, sodass all die Luft brutal aus seinen Lungen gepresst wurde und er sofort verzweifelt nach Sauerstoff rang. Für einen Moment wurde Neyo schwarz vor Augen und nur mit all seiner Willenskraft schaffte er es, nicht das Bewusstsein zu verlieren. „Verzeih bitte“, sagte Sharif in einem Tonfall, der nicht einmal ansatzweise andeutete, dass er irgendetwas bereute. „Glaub mir, in hundert Jahren werden wir darüber lachen.“ Mit einer Geschwindigkeit, die absolut nicht menschlich sein konnte, stand er plötzlich direkt vor Neyo und drückte ihn rücksichtslos gegen die Wand, ganz offenbar ohne die geringste Kraftanstrengung. Als wäre Neyo bloß eine leichte Puppe, die man selbst mit dem kleinen Finger hätte hochheben können. „Ich würde mich wirklich noch gerne mit dir unterhalten, aber ich fühle mich in Häusern von Magiern einfach nicht wohl.“ Er erschauderte demonstrativ. „Es macht mich irgendwie garstig und aggressiv, sodass ich gerade all meine Selbstbeherrschung brauche, um dir nicht den Kopf abzureißen. Und dabei bist du eigentlich der letzte in dieser gottverdammten Stadt, den ich umbringen möchte.“ Sharifs darauffolgendes Lächeln war kalt und unheilverkündend. Neyos primitivste Instinkte schrien auf, wollten nur noch fort von diesem Geschöpf, doch Sharif hatte ihn fest in seinem Griff. Flucht schien vollkommen unmöglich. „Aber die Tochter des Oberen ist hier, nicht wahr?“, fragte Sharif derweil nach. „Wenn das kein Leckerbissen ist, dann weiß ich auch nicht.“ Neyo spürte, wie sein Herzschlag einen Moment aussetzte. Bilder von Reann, wie sie in der Bibliothek saß und nicht so recht wusste, woher ihr ungutes Gefühl kam, tauchten vor seinem geistigen Auge auf. „Nein ...“, brachte er mühsam hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nimm es mir nicht übel, aber der besagte Freund von mir hat ein kleines Problem mit eurem Oberen“, setzte Sharif zu einer Erklärung an. „Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, worum es eigentlich geht, aber mich stört es nicht sonderlich. Wenn er meint, dass es eine nette Idee ist, eine Magierin zu töten, wer bin ich, dass ich dagegen protestiere?“ Neyo wand sich in seinem Griff, versuchte, sich irgendwie zu befreien, doch alles, was er erreichte, war, dass Sharif nur noch fester zudrückte und seine Luftzufuhr unterbrach. Er bemerkte bereits im nächsten Augenblick, wie seine Sicht verschwamm. „Wie ich bereits sagte, will ich dich nicht umbringen“, meinte Sharif scharf. „Gewisse Personen könnten mir das übelnehmen. Aber andererseits habe ich noch niemals an das Schicksal und Vorsehung geglaubt, von daher würde ich trotzdem nicht davor zurückschrecken, wenn du mich zu sehr nervst, habe wir uns verstanden?“ Neyo schaffte es, etwas zustande zu bringen, dass man als Nicken hätte bezeichnen können. Sharif schmunzelte daraufhin zufrieden. „Braver Junge“, sagte er. „Und jetzt entschuldige mich, ich habe eine Hexe zu töten.“ Das nächste, was Neyo spürte, war ein stechender Schmerz in der Magengegend, als Sharif seine Faust in dessen Bauch grub. Neyo keuchte auf, während er ihm nicht mehr gelang, auf seinen Beinen stehen zu bleiben. Ächzend sackte er zusammen und betete zu allen Göttern, die ihm bekannt waren, dass seine Innereien nicht zerfetzt worden waren. Er merkte derweil nicht, wie Sharif wieder eins mit der Finsternis wurde und verschwand, als hätte es nie gegeben. Einzig die zerschlagene Fensterscheibe und Neyos fürchterliche Schmerzen machten deutlich, dass es sich nicht um einen Albtraum gehandelt hatte. Eine Weile verweilte er kauernd auf dem Boden, sehr bemüht, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Sein Körper versagte, seine Sinne versagten, doch Neyo wollte sich einfach nicht geschlagen geben. Er wollte diesem Wesen diese Genugtuung sicher nicht gönnen. Und ebenso wenig durfte er zulassen, dass Sharif sein Vorhaben in die Tat umsetzte. Erneut sah er Reann vor sich, ihre Nervosität, ihre Unruhe. Sie hatte gewusst, dass irgendetwas Schreckliches auf sie zukam und war wahrscheinlich schon wahnsinnig vor Angst. Und Neyo war so dumm und naiv gewesen, ihr nicht zu glauben. Nie wieder, schwor er sich. Von diesem Tag an würde er stets auf Reanns Worte hören, ganz gleich, wie seltsam und merkwürdig sie sich auch anhören mochten. Es blieb nur die Frage, ob er jemals wieder die Gelegenheit dazu erhielt.        *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *       Reann wollte schreien, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Stattdessen starrte sie bloß mit großen Augen den Unbekannten an, der wie aus dem Nichts plötzlich vor ihr aufgetaucht war. Gerade noch war sie damit beschäftigt gewesen, das Buch zu suchen, welcher den Zauberspruch enthielt, mithilfe dessen man mit anderen Magiern über eine große Entfernung Kontakt aufnehmen konnte. Sie war sich zwar anfangs lächerlich vorgekommen, dass sie bloß wegen eines unguten Gefühls dermaßen überreagierte, aber nachdem sie festgestellt hatte, dass Jyliere nicht zu Hause war und diese Erkenntnis ihren Herzschlag glatt noch mehr in die Höhe getrieben hatte, hatte sie nicht mehr länger stillsitzen können. Sie hatte gehofft, dass Jyliere oder auch ihr Vater eine Erklärung für diese seltsame Unruhe gehabt hätten. Und nun merkte sie, dass es gar nicht mehr nötig war, denn die Antwort hatte sie inzwischen gefunden. Reann wich zurück, bis sie mit ihrem Rücken gegen ein Regal stieß. Die Angst überwältigte sie derart, dass sie all ihre Energie brauchte, um ihre Knie daran zu hindern, einzuknicken. Sie war wie gelähmt und verstand einfach nicht, warum. Immerhin war sie eine mächtige Magierin und hätte diesem Einbrecher innerhalb eines Sekundenbruchteils schreckliche Schmerzen zufügen können. Zumindest hatte sie schon früh gelernt, sich selbst zu verteidigen, und eigentlich hätte sie auf solch einen Moment bestens vorbereitet sein sollen. In ihrem Kopf formulierte sie auch bereits die richtigen Worte, aber sie brachte es einfach nicht über sich, dies alles in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Als wären all die Jahre der Studien plötzlich bedeutungslos. Stattdessen starrte sie den Fremden bloß an und merkte, wie falsch er im Grunde war. Seine Augen funkelten übernatürlich und die Dunkelheit schien sein Verbündeter, aber dennoch wäre sie niemals auf die Idee gekommen, ihn als Magier zu bezeichnen. Nein, er war gewiss irgendetwas anderes. Etwas, das ihren Körper automatisch erzittern ließ. „Dein Herz schlägt derart laut, dass ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören kann“, stellte er amüsiert fest. Seine Stimme klang erstaunlicherweise relativ normal. Zwar etwas dunkel und mit einem leichten Unterton, den Reann nicht ganz einzuordnen wusste, aber trotzdem verhältnismäßig gewöhnlich. „Ich könnte glatt dazu tanzen.“ Reann fühlte sich seltsam ertappt. Sie versuchte zwar, ihren Puls ein wenig zu beruhigen, merkte aber schnell, dass es absolut sinnlos war. „Wer ... wer bist du?“ Sie versuchte, gefasst und unbeeindruckt zu klingen, aber auch dies gelang ihr nur sehr mäßig. „Ich bin Sharif“, stellte er sich mit einem Lächeln fort. Er vollführte sogar einen Knicks, der jedoch mehr spöttisch als ernsthaft wirkte. „Es ist mir eine wahre Freude, die Tochter des Oberen kennenzulernen. Ich habe schon viel von dir gehört.“ Der Gedanke, dass dieser unheimliche Mann Informationen über sie gesammelt haben könnte, behagte ihr überhaupt nicht. „Wirklich?“ „Nein, eigentlich nicht“, erwiderte Sharif sofort. „Ich bin erst vor kurzem hier angekommen und habe ehrlich gesagt auch wenig Lust, mich in die Angelegenheiten von Magiern einzumischen. Was ihr kleinen Kreaturen euch untereinander zu erzählen habt, interessiert mich nicht.“ Reann hatte noch nie zuvor gehört, dass jemand derart herablassend über Magier gesprochen hätte. Selbst Neyo, der sich normalerweise für Hohn niemals zu schade war, brachte ihren Fähigkeiten durchaus Respekt gegenüber, selbst wenn er dies nicht immer öffentlich zugab. Neyo ... Mit einem Mal fiel ihr entsetzt wieder ein, dass er losgezogen war, um den Ursprung des seltsamen Geräusches zu erkunden und sie ihn seitdem nicht mehr gesehen hatte. War er diesem Mann – diesem Wesen – etwa begegnet? „Vielleicht bist du ein Miststück, vielleicht bist du auch der wunderbarste und mitfühlendste Mensch auf diesem Stück Erde“, fuhr Sharif derweil fort. „Ich bin einfach nur hier, weil Asrim eine Rechnung mit deinem Vater offen hat und dein abgetrennter Kopf ein nettes Präsent darstellen würde. Te-Kem würde wahrscheinlich aus allen Wolken fallen, denkst du nicht auch?“ Reann spürte, wie sich ihr Innerstes sehr unangenehm zusammenzog. War dies jetzt die Stunde ihres Todes? Sollte sie sterben, ohne je etwas Herausragendes geleistet zu haben? Bloß eine Fußnote in den Geschichtsbüchern? „Asrim ...?“, fragte sie nach. Sie musste irgendwie Zeit schinden, auch wenn sie gar nicht wusste, ob überhaupt Rettung in der Nähe war. Alles war besser, als in der nächsten Sekunde zu sterben. „Frag einfach deinen Vater“, meinte Sharif, nur um sich bereits einen Augenblick später selbst zu korrigieren: „Warte, das kannst du ja gar nicht. Du bist ja gleich tot.“ Er sagte es absolut gelassen, als wäre es etwas Selbstverständliches, das niemanden zu beunruhigen hätte. „Na ja, dann macht es auch wenig Sinn, dir irgendetwas zu erzählen, nicht wahr? Ist ja nicht so, als könntest du noch irgendwas mit diesem Wissen anfangen.“ Reann lief es eiskalt den Rücken herunter, als sich dieses Wesen über sie lustig machte. Sie sah das amüsierte Funkeln in seinen Augen, seine zu einem spöttischen Grinsen verzerrten Lippen und spürte, wie neben all der Angst auch Wut in ihr hochstieg. Und zwar eine ungeheure Wut auf sich selbst. Ihr Körper war gelähmt, ihr Geist wie benebelt und am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen. Irgendetwas löste die Präsenz dieses Mannes in ihr aus, das sie sich einfach nicht zu erklären vermochte. Wie ein längst vergessener Instinkt, der einen warnte, dass der Tod kurz bevorstand, und die Muskeln zu Eis gefrieren ließ. Reann bemühte sich, auf ihre Magie zurückzugreifen. Irgendetwas halbwegs Nützliches zustande zu bringen, um diesen Wesen zumindest zu überraschen und sich so eine Möglichkeit zur Flucht bot. Aber selbst der einfachste Zauber wollte ihr nicht einfallen, ihr Gedächtnis schien zu leergefegt. Im Grunde konnte sie froh sein, dass sie überhaupt noch ihren Namen kannte. „Wie hättest du es gerne?“, hakte Sharif derweil nach, an ihrem inneren Kampf kein bisschen interessiert. „Langsam, schnell? Blutig oder doch lieber ein netter Genickbruch?“ Er strich ihr sanft über die Wange und ließ sie erschauern. „Wenigstens eine Entscheidung in deinem Leben solltest du noch fällen dürfen. Und es ist gleichzeitig solch eine bedeutende. Fühl dich geehrt, nur die wenigsten haben die Möglichkeit, ihren Tod selbst zu bestimmen.“ Reann stand kurz davor, kraftlos zusammenzusinken. Einzig das letzte bisschen Willensstärke, das in ihr vorhanden war, hielt sie noch auf den Beinen. „Bitte ...“, wisperte sie. Sie hasste es über alle Maßen, derart verletzlich zu sein. Unter normalen Umständen hätte sie einen Feuerball auf diesen Fremden regnen lassen oder gar seine Innereien zum kochen gebracht. Aber stattdessen stand sie hier und zitterte wie ein kleines Mädchen. „Gräme dich nicht, mein süßes Kind“, meinte Sharif, als er sich näher zu ihr beugte und sein Atem ihre Haut streifte. „Viele reagieren auf meine Anwesenheit mit Schock. Dem hübschen Burschen, dem ich eben im Flur begegnet bin, erging es nicht anders.“ Reann merkte, wie sie bei diesen Worten zusammenzuckte. „Neyo ...“ „Ich habe ihn nicht getötet, falls dir das Sorgen bereitet“, sagte Sharif daraufhin. „Ich bin kein Monster, das jeden abschlachtet, der ihm im Weg steht.“ Reann spürte, wie sich trotz all der Panik und Verzweiflung auch ein Funke Erleichterung einschlich. Neyo mochte vielleicht respektlos und dreist sein, aber ganz gewiss hatte er es nicht verdient, zu sterben, erst recht nicht durch die Hand einer solchen Kreatur. Dass er lebte und Sharif offenbar kein Bedürfnis verspürte, dies in nächster Zeit zu ändern, war ein kleiner Lichtblick an einem sonst stockdunklen Horizont. Denn wenn man bedachte, dass dieses Wesen anscheinend nur wegen Reann gekommen war, hätte sie es sich niemals verzeihen können, wenn auch noch ein weiteres Leben dabei ausgelöscht worden wäre. „Also, um nochmal auf meine Frage zurückzukommen“, nahm Sharif wieder den Gesprächsfaden auf. „Ich persönlich würde den Genickbruch bevorzugen, das geht so schnell, dass du gar nichts merkst. Ich meine, ich könnte dir auch gerne die Kehle aufreißen, wenn dir das lieber ist. Mir widerstrebt zwar der Geschmack von Magierblut ein wenig, aber sollte es tatsächlich dein letzter Wunsch sein, werde ich darüber hinwegsehen.“ Reann verzog ihr Gesicht. Sie hätte ihn sogar beinahe als „freundlich“ bezeichnen können, wäre die Situation nicht derart abstrus und schrecklich gewesen. Sie schloss ihre Augen und hoffte bloß, dass es schnell und schmerzlos vonstattengehen würde. Sie spürte, wie Sharif mit seinen Fingern über ihren Hals strich, als würde er darüber nachdenken, ob er ihr die Kehle herausreißen sollte oder nicht, während sie sich verkrampfte und mit aller Mühe die Tränen zurückhielt. Wenn sie schon hier und jetzt sterben sollte, dann wollte sie im Angesicht des Todes wenigstens nicht weinen. „Du verstehst es wirklich, die Damen in deinen Bann zu ziehen, was?“ Reanns Herz pochte wie wild, als sie daraufhin die Augen wieder aufschlug. Niemals im Leben hätte sie gedacht, dass sie einmal froh darüber sein würde, diese Stimme zu hören. Neyo. Er stand an der Türschwelle und funkelte den Eindringling herausfordernd an. Er mochte auf den ersten Blick hart und unerschütterlich wirken, doch Reann merkte schnell, dass dies bloß Fassade war. Er schien ziemliche Schmerzen zu haben, nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen. An einen Kampf war wohl nicht zu denken, an eine Rettung schon gar nicht. Und dennoch war er gekommen. Angeschlagen und ohne eine Chance, die Situation irgendwie zu ihren Gunsten zu verbessern. Dieser dumme, verrückte Kerl. Sharif hatte sich währenddessen umgedreht. Aus seiner Kehle drang ein übernatürliches Knurren, als er den Störenfried mit einer harten Miene musterte. „Du hast dich tatsächlich einfach so an mich heranschleichen können“, stellte er fest. Er klang nicht überrascht, sondern fast schon beeindruckt. „Aber du solltest trotzdem besser gehen. Ich werde dich nicht verschonen.“ Neyo legte seinen Kopf schief. „Und ich werde dich nicht verschonen, solltest du dich nicht innerhalb der nächsten Sekunde aus dem Staub machen.“ Reann blieb beinahe das Herz stehen angesichts dieser Dreistigkeit, doch Sharif lachte bloß. „Ach wirklich?“, hakte er nach. „Und wie genau willst du das anstellen, wenn ich fragen darf?“ Neyo zuckte bloß mit den Schultern. „Ich gebe zu, du bist schnell und stark. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass du nicht besonders schlau bist.“ Reann bemerkte beunruhigt, wie Sharifs Lächeln langsam verblasste und in seinen Augen etwas aufblitzte. Seine Intelligenz anzuzweifeln war offenbar nichts, was er ohne weiteres hinnehmen konnte. „Und ich rede jetzt nicht von Bildung und dem Ganzen“, erklärte Neyo. „Ich meine, es kann gut sein, dass du zu lesen und vielleicht sogar zu schreiben vermagst. Womöglich hast du sogar ein bisschen Ahnung von Poesie und Astronomie, auch wenn du das niemals zugeben würdest.“ Er schmunzelte. „Aber ich rede hier von dem Essentiellen. Von Raffinesse und Brillanz. Du hättest dir so einen schönen Plan schmieden können und was machst du stattdessen? Schlägst eine Fensterscheibe ein und willst einer Frau hier die Kehle aufreißen. Ziemlich fantasielos.“ Sharif knurrte aus tiefster Seele. „Allmählich nervst du, Junge.“ Im nächsten Moment ließ er von Reann ab und bewegte sich in Richtung Neyo. Diese versuchte zwar noch verzweifelt, den Stoff seiner Kleidung zu fassen zu bekommen, um ihn wenigstens etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch Sharif war viel zu schnell für sie. Von einer Sekunde auf die andere schien seine Konturen plötzlich zu verschwimmen, als wäre er ein übermenschlicher Blitz. Reann keuchte erschrocken auf, als sie dieses Phänomen beobachtete, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Neyo hingegen wirkte angesichts dieser Geschwindigkeit seltsamerweise nicht sonderlich erstaunt. Zumindest war auf seinem Gesicht keinerlei Anzeichen von Überraschung auszumachen. Ganz im Gegenteil – er schien trotz dieses hohen Tempos, welches Sharifs Körper praktisch unsichtbar werden ließ, jede seiner Bewegungen verfolgen zu können. Und plötzlich holte Neyo etwas hinter seinem Rücken hervor. Die junge Magierin musste die Augen zusammenkneifen, aber schließlich glaubte sie zu erkennen, dass es sich bei dem Gegenstand um eine großflächige und spitze Glasscherbe handelte. Vielleicht von der eingeschlagenen Fensterscheibe, die er eben noch erwähnt hatte. Und diese stieß er Sharif mit all seiner Kraft direkt in den Hals. Reann zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich das Blut unbarmherzig in alle Richtungen spritzte. Der Eindringling schrie auf – vor Zorn, vor Erstaunen und auch vor Schmerz – und geriet sofort ins Taumeln. Seine Gestalt wurde wieder sichtbarer, als er aus den Schatten stolperte und seine Hand auf die Wunde presste, sichtlich aus dem Konzept gebracht. Es schien ihm alle Mühe zu bereiten, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.  „Komm, wir müssen hier weg!“ Neyo stand plötzlich ohne jede Vorwarnung neben Reann und packte sie etwas unsanft am Arm. Er wollte sie Richtung Ausgang zerren, doch schon im nächsten Augenblick stand bereits Sharif wieder vor ihnen, seine Miene ein finsteres Abbild abgrundtiefer Wut. Seine Kleidung war mit einer gigantischen Menge an Blut durchtränkt, dessen Verlust jeder normale Mensch inzwischen längst in die Knie gezwungen hätte. Sharif jedoch machte den Anschein, als würde die Tatsache, dass Neyo ihn derart überrumpelt hatte, sehr viel mehr stören als die Wunde an sich. Fast schon nebensächlich zog er die Scherbe aus dem Fleisch und strich sich über die Verletzung, als wäre nichts dabei. Als wäre es nur ein lästiger Mückenstich. Aber gleichzeitig sah man, dass er deutlich blasser geworden war. Neyo hatte offenbar die perfekte Stelle getroffen, um selbst solch ein Wesen wie Sharif aus dem Gleichgewicht zu bringen. „Das war ... wirklich ausgesprochen unhöflich ... von dir“, presste Sharif hervor. Selbst aus seinem Mund floss nun das Blut, sodass Reann es kaum noch ertragen konnte, ihn anzusehen. Sein harter Blick war derweil weiterhin auf Neyo gerichtet, als würde ihn das alles nicht weiter kümmern. „Es tut mir wirklich leid“, höhnte dieser inzwischen. „Ich hätte dich einfach meine Freundin umbringen lassen sollen, du hast Recht. Das nächste Mal werde ich daran denken.“ Trotz all der Angst und der Panik, die sich ihrer bemächtigt hatte, kam sie dennoch nicht umhin, erstaunt zu bemerken, dass Neyo sie tatsächlich als Freundin bezeichnet hatte. „Sei nicht so überheblich, Bürschchen“, zischte Sharif. Seine Augen funkelten übernatürlich. „Wenn du solch einen Todeswunsch hegst, hättest du es mir einfach nur sagen müssen. ich reiße dir mit dem allergrößten Vergnügen die Kehle auf.“ Neyo schnaubte. „Hast du nicht eben noch gesagt, ich wäre der letzte in dieser gottverdammten Stadt, den du töten möchtest?“ Sharif schien nur noch aus Dunkelheit zu bestehen, als er erwiderte: „Tja, du bist die Liste gerade in einem gehörigen Tempo nach oben geklettert. Gratulation.“ Neyo schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, doch Reann merkte, wie er kurz erschauerte. Aber anstatt irgendeinen gehässigen Kommentar abzugeben und damit dieses Wesen nur noch mehr zu provozieren, bugsierte er Reann schützend hinter sich und versuchte, soviel Selbstsicherheit zu mobilisieren, wie es ihm möglich war. „Was ist hier eigentlich los?“, ertönte plötzlich eine Stimme aus Richtung des Flures. „Wer macht zu solch nachtschlafender so einen verdammten Krach?“ Reann zuckte erschrocken zusammen und auch Neyo erschien nicht weniger überrascht. Einzig Sharifs Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen, er hatte das Näherkommen dieser vierten Person offenbar bereits vorher bemerkt. Calvio stand, mit einer hellen Kerze in der Hand, an der Türschwelle und starrte verblüfft auf die Szene, die sich ihm bot. Sein Blick huschte verwirrt hin und her, ehe er schließlich bei dem blutüberströmten Sharif hängenblieb und augenscheinlich nicht zu wissen schien, was er dazu sagen sollte. „Wie schön, ein neuer Mitspieler.“ Sharif gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, das wohl so eine Art Lachen darstellen sollte. „Ihr dürft gerne dabei zusehen, wie ich ihm das Herz aus der Brust reiße.“ Bereits im nächsten Augenblick wirbelte das Wesen herum und wollte sich auf den total perplexen Calvio stürzen. Dieser hatte seine Augen weit aufgerissen und murmelte irgendetwas, was Reann beim besten Willen nicht verstehen konnte. „Nein!“, schrie Neyo. Er griff nach Sharifs Mantel, offenbar in einem Anfall absoluter Verzweiflung dazu getrieben. Dieser jedoch wollte sich gewiss kein zweites Mal von Neyo aus dem Konzept bringen lassen. Erbarmungslos packte er daraufhin blitzschnell Neyos Arm und drückte derart fest zu, dass man die Knochen knirschen hörte. Neyo stöhnte vor Schmerz auf, doch noch bevor er die Gelegenheit erhielt, sich zu wehren oder wenigstens zusammenzusacken, hatte das Wesen plötzlich seine Fangzähne entblößt und trieb sie direkt in Neyos Unterarm. Dieser brüllte nun derart lautstark auf, dass vermutlich jeder einzelne Bewohner des Hauses spätestens ab diesem Zeitpunkt unsanft aus dem Bett geworfen wurde. Blut floss in Strömen aus der Wunde und Reann spürte, wie ihr für einen Augenblick das Herz stehenblieb. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Calvio, zuvor noch vollkommen erstarrt von der ganzen Szenerie, einen Dolch gezückt hatte und bereit war, seinem Freund zur Hilfe zu eilen, ganz gleich, wie seine Chancen auch stehen mochten. Sharif schien es jedoch zu ahnen, obwohl er zur gleichen Zeit mit dem Rücken zu Calvio stand. Noch bevor dieser sich überhaupt in Bewegung setzen konnte, ließ Sharif von Neyo ab und drehte sich ruckartig um. „Dein süßes Messerchen kann mir nichts anhaben“, erwiderte er amüsiert. „Aber es ist wirklich entzückend, dass du es versuchen willst.“ Neyo bekam von dem Ganzen gar nichts mehr mit. Die Gewalt der Schmerzen hatten ihm das Bewusstsein geraubt, sodass er nun zusammensank und reglos auf dem Boden liegenblieb. Reann war sofort an seiner Seite und überprüfte sogleich seine Lebensfunktionen. Sein Puls war sehr schwach und unregelmäßig, aber wenigstens noch vorhanden, während seine Atmung derart flach war, dass es Reann große Sorgen bereitete. Sharif sah zu ihnen beiden hinab und schien zu überlegen, ob er sich zunächst mit ihnen beschäftigen sollte, doch letztlich wandte er seine Aufmerksamkeit erst einmal Calvio zu, der zurzeit eine etwas akutere Bedrohung darstellte. Zwar würde der kleine Dolch sicher nicht ausreichen, um diesen Wesen zu verletzen oder gar zu töten, aber schon Neyos Glasscherbe hatte ihm nicht sonderlich viel Freude bereitet und er wollte diese Erfahrung sicher nicht wiederholen. Sharif stürzte sich mit einer übernatürlichen Geschwindigkeit auf Calvio. Während Neyo diese Tatsache wenig beeindruckt hatte, verlor Calvio für einen kurzen Moment die Fassung. Erschrocken taumelte er zurück und stieß einen überraschten Schrei aus. Reanns Puls stieg noch weiter in die Höhe und sie sah bereits vor ihrem inneren Auge, wie Sharif Calvio innerhalb eines Sekundenbruchteils das Genick brach. Dieses Geschöpf würde sich wahrscheinlich nicht lange mit Jylieres Diener aufhalten, ehe er sich wieder Reann und Neyo zuwendete. Sharifs verschwommene Gestalt machte kurz vor Calvio halt. Erst hatte es den Anschein, als wollte er den ehemaligen Straßenräuber an der Gurgel packen, doch dann erkannte Reann, dass dem nicht so war. Etwas anderes hatte die Aufmerksamkeit des Eindringlings erregt. Sharif beachtete Calvio plötzlich gar nicht mehr. Stattdessen schien er auf etwas in der Ferne zu horchen. Reann runzelte einen Moment verwirrt die Stirn, ehe sie ebenfalls angestrengt versuchte, etwas zu hören. Zunächst war da gar nichts, dann vernahm sie ein leichtes Schaben. Wahrscheinlich einige von Jylieres Personal, die der Tumult aus dem Schlaf gerissen hatte. Allerdings bezweifelte sie, dass ein paar Diener Sharifs mörderische Absichten in irgendeiner Weise Einhalt geboten hätten. Nein, es war etwas ganz anderes, dem er lauschte. Etwas, das nur er alleine zu hören vermochte. „Wie es scheint, muss ich unsere kleine Feier unterbrechen“, meinte Sharif mit einem Mal. Er ließ von Calvio ab, als wäre dieser plötzlich so uninteressant wie eine Fliege. „Ein Jammer.“ Reann merkte, dass sie vor Spannung den Atem angehalten hatte. Sie hatte zwar keine Ahnung, was vor sich ging, aber zum ersten Mal keimte so etwas wie Hoffnung in ihr auf. „Es ist eigentlich unhöflich zu gehen, wenn es gerade am schönsten ist, aber mir bleibt wohl keine Wahl.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich hoffe doch sehr, dass wir bald wieder Gelegenheit erhalten, miteinander zu spielen.“ Mit diesen Worten zwinkerte er Reann zu, ehe er plötzlich wie vom Erdboden verschwand. Sein Körper schien sich buchstäblich in Luft aufzulösen, mit der Finsternis eins zu werden. Nichts erinnerte mehr daran, dass er überhaupt da gewesen war. Wie ein schrecklicher Albtraum. Reann war wie versteinert. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Leere, während sie versuchte, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. Ihr Herz raste, ihr ganzer Körper war wie gelähmt und sie konnte einfach nicht fassen, was soeben geschehen war. „Alles in Ordnung?“ Calvio war an sie herangetreten und musterte sie mit einem Blick, den man beinahe als sorgenvoll hätte bezeichnen können. Unter Mühen brachte Reann ein halbherziges Nicken zustande. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hatte, wandte sich Calvio sofort Neyo zu. Dessen Augen waren immer noch geschlossen und es machte nicht den Anschein, als würde sich dies in der nächsten Sekunde ändern. „Es steht nicht allzu gut um ihn“, stellte Calvio fest. „Wer war dieser ... dieser Kerl?“ Er sprach das letzte Wort sehr zögerlich aus, als wäre es sich absolut nicht sicher, ob er Sharif auf diese Art und Weise überhaupt beschreiben konnte. Reann holte einmal tief Luft und versuchte, ihren zitternden Körper wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Nun, da Sharif fort war, brach alles über sie herein und sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. „Ich ... ich weiß nicht, wer er war“, erwiderte sie schließlich. Oder was er war, fügte sie noch in Gedanken hinzu. „Er war einfach plötzlich da und ...“ Sie blickte hinunter zu Neyo und realisierte mit einem Mal, dass sie ohne ihn mit absoluter Gewissheit an diesem Abend gestorben wäre. Das war eine Schuld, die sie niemals wieder begleichen könnte.  „Verstehe“, meinte Calvio derweil. Er wirkte sehr nachdenklich, als er seinen Blick wieder auf die große Blutlache am Boden richtete, die Sharif dort hinterlassen hatte. Als könnte das Blut dieses Wesen irgendwie lebendig werden und sie in der nächsten Minute angreifen. „Wer oder was auch immer dieses Ding war ... ich sehne nicht den Tag herbei, an dem es zurückkommt.“ Kapitel 13: Hilflosigkeit ------------------------- Alec spürte, wie ihn die unterschiedlichsten Gefühle bestürmten, als er den Mann vor sich anstarrte. Da war ein Hass und eine Wut, wie er sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr erlebt hatte. Seine Sicht verschwamm, sein ganzer Körper zitterte und das letzte bisschen Rationalität, das ihm noch zur Verfügung stand, schien mit jeder Sekunde zu schrumpfen. Als er seine Hände zu Fäusten verkrampfte und merkte, wie sich seine Fingernägel ins Fleisch bohrten und die Haut blutig schnitten, war es ihm einerlei. Gleichzeitig war da aber auch dieser Unglaube. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, dass Sharif - dieser ägyptische Oberlehrer, der schwere Naturkatastrophen und sogar offene Auseinandersetzungen mit Dämonen überlebt hatte - tatsächlich tot sein sollte! Für immer vom Antlitz der Erde verschwunden ... Es durfte einfach nicht sein! Und da war noch etwas, das in Alec brodelte. Eigentlich wollte er es ignorieren, wollte es beiseiteschieben, da es im Moment sowieso keine Rolle spielte und an seiner Entscheidung, Seth die Kehle aufzureißen, eh nichts ändern würde, aber irgendetwas in seinem Inneren drängte ihn einfach dazu, das Offensichtliche auszusprechen. „Ich kenne dich.“ Er merkte, wie Eve und ihr Begleiter ihm einen erstaunten Blick zuwarfen, und er musste zugeben, dass er selbst nicht minder überrascht war. Als er sich auf die Suche nach Seth gemacht hatte, war es ihm eigentlich nie in den Sinn gekommen, dass es jemand sein könnte, den er aus seiner Vergangenheit kannte. Der Geruch, der ganz London im Griff hatte, hatte bei ihm keinerlei vertrautes Gefühl ausgelöst. Demnach hatte Alec eigentlich damit gerechnet, sich jemanden Fremdes gegenüberzusehen. Jemanden, den er ohne schlechtes Gewissen in Stücke reißen konnte. Aber stattdessen war da dieser Mann, den er zwar momentan nicht einzuordnen wusste, aber den er auf jeden Fall schon zuvor begegnet war! Diese Augen, dieses Grinsen und dieses Fehlen jedweden Mitgefühls. Alec vermochte sich jedoch nicht mehr daran zu entsinnen, ob es Sympathie oder Antipathie gewesen war, die er gegenüber diesem Kerl empfunden hatte. Er spürte bloß Verwirrung angesichts dieser Vertrautheit, die ihn so unerwartet getroffen hatte wie ein Blitzschlag an einem sonnigen Tag. Auch wenn es letztlich unwichtig war. Seth hatte es gewagt, sich an Sharif zu vergreifen, und alleine deswegen hatte er jegliches Recht auf eine Weiterexistenz verspielt. „Wir kennen uns tatsächlich“, meinte Seth derweil mit einem breiten Grinsen, als würden sie gerade eine nette Unterhaltung führen. „Schön, dass du dich daran erinnerst. Sharif hatte mich wieder komplett vergessen gehabt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Allerdings hatten wir auch wirklich keine innige Beziehung oder dergleichen. Aber vielleicht wird ihm jetzt im Jenseits irgendwann bewusst, wo er mich schon mal gesehen hat.“ Alec konnte es nicht ertragen. Konnte es nicht ertragen, diesen Mann so nebensächlich über Sharif sprechen zu hören, als wäre er bloß ein unbedeutendes Insekt, das es nicht wert war, einen Gedanken daran zu verschwenden. Alec merkte kaum, wie er sich in Bewegung setzte. Die Vernunft warnte ihn, dass es mehr als töricht war, sich ohne Plan auf einen scheinbar mächtigen Feind zu stürzen, über den er keinerlei genauere Informationen hatte. Allerdings war Alec schon immer ein Mann der Tat gewesen, Taktik und Strategie hatte er stets anderen überlassen. Er ignorierte die Stimme in seinem Hinterkopf, die geradezu kreischte und ihn daran zu erinnern versuchte, dass dieses Wesen offenbar ohne große Kraftanstrengung Vampire bei lebendigen Leibe zu verbrennen vermochte. Es war ihm einerlei. Er dachte bloß an Sharif, sah dessen Gesicht vor seinen Augen und konnte sich einfach nicht mehr zurückhalten. Sie verband ein Band, das niemand zu begreifen in der Lage war. Es war mehr als Freundschaft, mehr als Familie. Seit Jahrtausenden waren sie eins, durch das Schicksal miteinander verknüpft. Und nicht einmal so ein simples und blasses Wort wie ‚Liebe‘ konnte beschreiben, was er für Sharif und auch alle anderen Mitglieder seiner Familie empfand. Und Alec wusste, dass er zugrundegehen würde, wenn auch nur einem von ihnen etwas geschah. Seth hatte offenbar durchaus damit gerechnet, dass Alec emotional reagieren würde. Allerdings schien er nicht erwartet zu haben, dass der Vampir jede Rationalität über Bord warf und sich lebensmüde in den Kampf stürzte. Dessen höhnische Miene verschwand, als der Vampir ihn plötzlich brutal am Handgelenk packte und ihm den Arm verdrehte. Seth keuchte vor Schmerz auf und fluchte in einer Sprache, die Alec noch nie zuvor gehört hatte. Das Feuer loderte knisternd wieder auf, geschürt durch die Macht ihres geheimnisumwobenen Herren. Alec registrierte diesen Umstand zwar kurz, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum. War Seth erst einmal außer Gefecht gesetzt, würde auch seine Magie versiegen. Mit all der Macht, die ihm zur Verfügung stand, schleuderte er Seth gegen die nächstgelegene Hauswand. Es gab einen ohrenbetäubenden Lärm, als das Mauerwerk unter der Kraft des Angriffs nachgab, als bestünde es nur aus Papier. Schutt und Dreck begruben Seth hemmungslos unter sich. Alec hörte ihn kurz aufkeuchen, dann jedoch wurde er von den Massen erstickt. Der Vampir genehmigte sich ein kurzes Schmunzeln, was jedoch jäh wieder verschwand, als sich die Flammen, die zuvor noch genüsslich das Lagerhaus verzehrt hatten, plötzlich ohne jede Vorwarnung auf ihn stürzten. Wie eine tödliche Dampfwalze rollten sie auf ihn zu, als wollten sie ihren Herren und Meister unter allen Umständen schützen. Wie jeder Vampir war auch Alec nie ein Freund von Feuer gewesen, hatte sich aber gleichzeitig bisher eigentlich nie davor gefürchtet. Nun aber spürte er, wie seine Instinkte aufschrien, wie alles in seinem Inneren geradezu danach verlangte, zu fliehen und nie wieder zurückzukehren. Einen schrecklichen Moment lang hatte er jedoch das Gefühl, seine Beine nicht bewegen zu können, vollkommen schutzlos zu sein gegenüber dieser grausamen Macht. Als wäre er gelähmt und müsste nun an Ort und Stelle verharren, bis das Feuer ihn mit Leib und Seele aufgefressen hätte. Erst im allerletzten Moment konnte er sich wieder zusammenreißen und vollführte einen beherzten Sprung zur Seite, um den tückischen Flammen zu entkommen. Er landete mitten in einer Gruppe von Feuerwehrmännern und Jägern, die gerade eifrig miteinander beratschlagt hatten. Die Mitarbeiter der Feuerwehr starrten den Vampir einfach nur ungläubig an, die Jäger hingegen reagierten sofort und rissen ihre Waffen in die Höhe. Bereit, zu schießen oder sich wenigstens zu verteidigen. Alec jedoch beachtete sie nicht weiter. Unter normalen Umständen hätte er den Jägern wenigstens ein paar Sekunden seiner Aufmerksamkeit geopfert, nun aber hatte er wahrlich andere Probleme. Denn die gefährliche Feuerwalze folgte ihm wie eine Schlange ihrem Opfer. Die Menschen um ihn herum keuchten erschrocken auf, als sie dieses Umstandes gewahr wurden. Einen Augenblick verharrten sie an Ort und Stelle, wahrscheinlich vor Angst wie gelähmt. Dann jedoch stürzten sie Hals über Kopf in alle Himmelrichtungen davon. Jedermann rannte nur noch um sein Leben. Da bildete auch Alec keine Ausnahme. Ihm war es zwar zuwider, dem Beispiel der Menschen zu folgen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Was hätte er auch sonst tun sollen? Wie sollte er gegen etwas ankämpfen, dass keine feste Form hatte und darüber hinaus imstande war, ihn in Asche zu verwandeln? Für einen kurzen Moment fiel Alecs Blick auf die zurückgelassenen Wasserschläuche der Feuerwehrmänner, doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Das Wasser hatte schon zuvor nichts gegen die Flammen ausrichten können, wieso sollte es jetzt anders sein? Nein, es brachte nichts, gegen das Feuer selbst zu kämpfen. Man musste denjenigen erwischen, der es kontrollierte. Seths Gestalt schälte sich breit grinsend auf den Flammen hervor, offenbar in keinster Weise geschädigt durch Alecs vorherigen Angriff. Als wäre es für ihn tagtäglich, durch irgendwelche Hauswände geschleudert zu werden. „Du kannst mir nicht entkommen, Neyo“, zischelte Seth genüsslich, während in seinen Augen ebenfalls eine rote Glut zu brennen schien. Und Alec kam nicht umhin, trotz der gespannten Situation und der drohenden Todesgefahr bei der Nennung dieses Namens zusammenzucken. Er hatte ihn schon so lange nicht mehr gehört, dass er ihn fast schon vergessen hatte. Und nun hier? Und ausgerechnet aus seinem Mund? „Du kennst seinen Namen?“, ertönte eine überraschte Stimme hinter ihnen. Dort stand Eve und schien von den Flammen völlig unbehelligt zu sein. Um sie herum knisterte und knirschte es, doch das Feuer kam ihr nicht zu nahe. Wollte ihr kein Leid zufügen. Alec hatte derweil seine Stirn gerunzelt. „Du kennst diesen Namen?“, hakte er knurrend nach. Die Jägerin fuhr kurz zusammen, als wäre ihr gerade bewusst geworden, dass sie ein wichtiges Geheimnis unbedacht ausgeplappert hatte. Dann jedoch räusperte sich und meinte mit all der Fassung, die sie aufzubringen vermochte: „Ich bin nicht so unwissend, wie du vielleicht glauben magst, Neyo.“ Und nun schon wieder. Er hasste diesen Namen! Hatte ihn eigentlich nie wieder in seinem Leben hören wollen. Und nun musste er sich ausgerechnet von zwei seiner Feinde so nennen lassen. Seth hatte in der Zwischenzeit ein Lächeln aufgelegt, als wäre er stolz auf Eves Wissensstand. Es schien mehr als offensichtlich, dass er nicht erwartet hatte, dass die Jägerin Bescheid wüsste. „Sehr schön, Eve“, meinte er lachend. „Du hast deine Hausaufgaben gemacht, wie ich sehe.“ Die Miene der Jägerin war grimmig, dennoch funkelte etwas in ihren Augen auf, als sie einen kurzen Blick auf ihren Begleiter warf, der so nah wie möglich neben ihr stand, um von dem Feuer nicht berührt zu werden. Eve hatte ihn zuvor am Nachmittag noch besucht und auch wenn der Vampir von ihrem Gespräch nichts mitbekommen hatte – zum Teil auch, weil es ihn meistens nicht großartig interessierte, was Menschen untereinander zu besprechen hatten –, war nun mehr als deutlich, dass dieser Mann für Eves neuen Informationsstand verantwortlich war. „Du brauchst nicht so mürrisch dreinzublicken, Alec“, wandte sich Seth schließlich wieder an ihn. „Ich weiß über euch alle Bescheid.“ Er grinste schief. „Nehmen wir Sharif als Beispiel. Einst ein armer Mann in einem kleinen Dorf am Nil. Behedet, wenn ich mich recht an den Namen erinnere. Er kämpfte täglich um sein Überleben und alles, was er hatte, war sein kleiner Freund Aja. Dieser war dir gar nicht so unähnlich – dreist, unüberlegt, sich keiner Konsequenzen bewusst. Und dann, eines Tages, hat sich Aja mit den Falschen angelegt und wurde in einer sandigen Gasse niedergestochen, während Sharif dabei nur zusehen konnte. Er beobachtete, wie sein Freund starb, und in diesem Moment erlosch auch das letzte bisschen Liebe und Mitgefühl, das er für die Menschheit hatte.“ [1] Seth lachte auf, als wäre es eine einfache Gutenachtgeschichte, die man schon Dutzende Male gehört hatte, doch Alec kam nicht umhin, zusammenzuzucken. Niemand wusste über diese Geschichte Bescheid außerhalb ihres Clans! Es war nirgendwo niedergeschrieben, wurde in keiner Quelle auch nur ansatzweise erwähnt. Und nun stand dieser Mann vor ihm und sprach davon, als wäre er leibhaftig dabei gewesen. „Und du, Neyo“, fuhr Seth derweil fort. „Deine Geschichte ist ebenfalls furchtbar interessant, auch wenn es im Grunde fast schon traurig ist, wie ahnungslos du eigentlich bist, was deine eigene Vergangenheit anbelangt. Du denkst, du kennst die ganze Wahrheit und dabei hast du genaugenommen keinen blassen Schimmer.“ Alec knirschte mit den Zähnen. Er spürte den beinahe unbändigen Drang, Seth am Kragen zu packen und ihn dazu zu zwingen, ihm zu verraten, was er genau damit meinte. Er kannte seine Vergangenheit! Jede einzelne Sekunde. Und bis jetzt hatte er es auch niemals angezweifelt. „Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen“, erklärte Seth mit einem Grinsen. „Alleine, um dabei zuzusehen, wie du Asrim damit konfrontierst, wäre es fast schon wert, dich leben zu lassen.“ „Asrim?“ Alec runzelte die Stirn, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber der immer dichter werdende Rauch machte es ihm zunehmend schwerer. Im Grunde war er nicht wirklich auf Sauerstoff angewiesen, doch der Qualm kroch unentwegt in seine Lungen und brachte ihn zum husten. Ein normaler Mensch wäre wahrscheinlich schon entkräftet auf seine Knie gesunken, röchelnd und japsend. „Es gibt eine Menge, was Asrim euch nicht erzählt hat“, meinte Seth. „Aber eines solltest du wissen: Er ist ein manipulativer Bastard und schert sich nicht um die Gefühle anderer!“ Alec blickte auf, lauschte Seths Tonfall, der bei der Nennung Asrims so hasserfüllt und kalt geworden war. In seinen Augen flackerte etwas auf, das so tief und so stark war, dass der Vampir unwillkürlich erschauerte. „Es geht um Asrim, nicht wahr?“, zischte Alec. „Du willst ihn!“ „Es geht um euch alle!“, fauchte Seth. „Aber im Gegensatz zu euch wird er ganz genau wissen, weswegen er in den Feuern der Hölle verbrennt!“ Erneut loderten die Flammen auf, doch diesmal hatte Alec keine Ahnung, wohin er hätte flüchten können. Seine Lunge drohte zu bersten, seine Sicht verschwamm zunehmend. Seine Sinne, auf die er sich sonst ohne das geringste Zögern verlassen konnte, spielten nun vollkommen verrückt. Wie, bei den Feuern des Tartaros, schaffte dieser Mann – dieses Wesen – das nur? Wie vermochte er bloß da zu stehen und Alec zum husten und zum würgen zu bringen, als wäre er bloß ein Mensch?  Als wäre er schwach. Wie all die anderen. Würde er nun sterben? Hier und jetzt? Alec konnte den Gedanken, von diesem grinsenden Irren gerichtet zu werden, kaum ertragen. Er hatte zwar nie großartig darüber nachgedacht, wie sein Tod letztlich wohl aussehen würde, aber er hatte sich eine epische Schlacht vorgestellt. Irgendetwas, an das sich die Nachwelt noch lange erinnern würde. Stattdessen stand er in einer großen Pfütze, war von Feuer umzingelt und war kurz davor, ermordet zu werden. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Er hätte sich zurückziehen sollen, als er noch die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Asrim und die anderen holen sollen. Sich einen Plan zurechtlegen sollen. Aber so etwas war noch nie in seiner Natur gewesen und nun wurde es ihm endgültig zum Verhängnis. Seth legte in der Zwischenzeit eine ungewöhnliche Geschwindigkeit an den Tag, als er unvermittelt neben Alec auftauchte. Dieser zuckte zusammen und wollte sich augenblicklich in Sicherheit bringen, doch seine Reflexe waren viel zu langsam, fast schon eingeschlafen. Er konnte nichts dagegen tun, als Seth seinen rechten Unterarm packte. Und plötzlich bestand für Alec die Welt nur noch aus Schmerzen. Er schrie vor Qualen auf, wie er es schon seit Tausenden von Jahren nicht mehr getan hatte, und sackte auf die Knie. Vor seinen Augen wurde alles schwarz und nur aufgrund höchster Konzentration schaffte er es, bei Bewusstsein zu bleiben. Seths Hand war wie aus glühenden Kohlen. Alec merkte, wie binnen eines kurzen Moments der Ärmel seines Mantels verkohlte. Und darunter war nur seine nackte Haut, die nun schutzlos dem Feuerteufel ausgeliefert war. Seine übermenschliche Macht, die vielen Jahrtausende, die er schon gelebt und getötet hatte – all das hatte plötzlich gar keine Bedeutung mehr. Er war von einem Moment zum anderen vom Jäger zur Beute geworden. Er war plötzlich nur noch eines von Seths unzähligen Opfern. Der Schmerz beschränkte sich jedoch nicht nur auf seinen Arm, sondern breitete sich auf seinen ganzen Körper aus. Seine Organe kochten, sein Kopf stand kurz vorm Explodieren. Selbst seine Haare schmerzten, als wären sie feurige Dornen, die sich erbarmungslos in seine Kopfhaut bohrten. Das Schlimmste jedoch war diese Hilflosigkeit, die Alec verspürte. In seinem Leben als Vampir hatte er nie etwas Ähnliches empfunden und es nun so völlig unvorbereitet zu spüren, war die schrecklichste Qual von allen. Er fühlte sich nicht mehr wie ein machtvoller Vampir– nein, da war plötzlich etwas anderes, das seinen Geist beherrschte. Er sah Bilder vor seinem inneren Auge, die er eigentlich nie wieder hatte sehen wollen. Er hatte sie in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses verbannt, um sie ein- für allemal zu vergessen. Er hatte damit abschließen wollen und dreitausend Jahre lang hatte das auch wunderbar funktioniert. Doch an diesem Tag kam alles wieder hoch. Erst Seths Erwähnung dieser alten Namen und nun auch noch das! Plötzlich erinnerte sich Alec nicht nur, er spürte es regelrecht. Er fühlte sich wieder wie ein Mensch. Wie ein hilfloses und schwaches Individuum. Ein kümmerliches Etwas. Er fühlte sich wieder wie jener Mensch, den er zu vergessen versucht hatte. Dieser Kerl, der schon lange tot war und gleichzeitig auch nicht. Der tief im Inneren Alecs lebte und den der Vampir verabscheute wie keinen anderen zuvor. Auch er war damals schwach und wehrlos gewesen und hatte weder sich selbst noch seine Liebsten retten können. Er hatte sich seinem eigenem Schmerz und seiner Verzweiflung hingegeben. Alec hasste ihn ... und gleichzeitig war er Teil seines Selbst. Ohne ihn war ein Leben nicht möglich. Würde er vollends sterben, wäre auch Alec des Todes. „Ihr werdet alle zugrunde gehen!“ In Seths Augen flammte plötzlich etwas auf, das stark an Wahnsinn erinnerte. „Ihr werdet dafür büßen, was ihr mir angetan habt! Ihr alle!“ Mit diesen Worten verstärkte er den Druck um Alecs Arm nur noch mehr. Der Vampir keuchte auf und versuchte, sich irgendwie aus seinem Griff zu winden, doch es schien völlig hoffnungslos. Alec fühlte sich nicht nur innerlich wie ein Mensch, er war auch noch genauso schwach. In diesem Zustand hätte er wahrscheinlich nicht mal eine Ameise zerquetschen können. Das Schicksal schien es offenbar so für ihn entschieden zu haben. „Du bist wirklich mächtig!“, nahm er irgendwo am Rande seines Bewusstseins Seths verächtliche Stimme wahr. „Aber du wirst dich mir nicht ewig widersetzen können. Irgendwann wirst du zerbrechen.“ Und Alec hatte das Gefühl, dass dies eher früher als später geschehen würde. Doch gerade in dem Moment, in dem er bereit war, den Tod zu akzeptieren, nahm er hinter Seth eine Bewegung im Schatten wahr. Es war nur ganz kurz, nicht mal einen Atemzug lang, sodass er sich schon fragte, ob sein Verstand ihm einen Streich spielte. Als jedoch eine Hand aus der Dunkelheit auftauchte und Seth am Nacken packte, wusste Alec, dass es sich doch nicht um eine Einbildung gehandelt hatte. Seth hingegen war viel zu überrumpelt, um auf die neue Bedrohung angemessen zu reagieren. Seine Augen waren vor Erstaunen aufgerissen, als er unsanft von Alec weggezogen wurde. Er taumelte mehrere Schritte nach hinten, seine Augen verblüfft auf den Neuankömmling gerichtet. „Du?“, stieß er wütend hervor, als er den Mann in der Finsternis schließlich erkannte. „Du hast nie gelernt, auf deine Rückendeckung zu achten.“ Die Stimme aus der Finsternis war kalt wie Eis. „Eine Schwäche, die dir vielleicht irgendwann einmal das Leben kosten könnte.“ Eine Gestalt schälte sich aus den Schatten und bedachte Seth mit einem zornigen Blick. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge waren verzerrt, in seinen roten Augen lag eine solche Wut, wie sie Alec bei ihm noch gesehen hatte. Selbst die Dunkelheit schien in Aufruhr zu sein und damit ihren Missmut zum Ausdruck zu bringen. „Asrim ...“, brachte Alec mühsam hervor. Nachdem der Kontakt mit Seth abrupt abgebrochen worden war, hatte sich der Vampir augenblicklich ein wenig kraftvoller gefühlt, dennoch war er noch weit davon entfernt, sich als munter zu bezeichnen. Er war sich nicht mal sicher, ob er es schaffen würde, sich aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu stellen. „Wie kannst du es wagen, meine Familie anzugreifen?“, zischte Asrim in einem unheilvoll leisen Tonfall. „Wie kannst du es wagen, mich überhaupt so etwas zu fragen?“, konterte Seth. Seine Körperhaltung schien völlige Gelassenheit vorzutäuschen, doch in seiner Stimme schwang nun ein Anflug von abgrundtiefen Hass mit. Es war mehr als offensichtlich, dass er Asrim am liebsten an Ort und Stelle in abertausende Stücke gerissen hätte, und wahrscheinlich allein die Erinnerung an die wahre Macht des Untoten hielt ihn nur davon zurück. „Geh lieber, Shadyn!“ Asrims Stimme war inzwischen zu einem bedrohlichen Zischen geworden. „Verschwinde, bevor ich mich vergesse!“ Alec runzelte kurz die Stirn, als er hörte, wie Asrim Seth mit einem anderen Namen ansprach, war aber gleichzeitig viel zu geschwächt, um sich großartig den Kopf darüber zu zerbrechen. Seth zumindest schien keineswegs überrascht, sondern verzog stattdessen sein Gesicht und machte für einen kurzen Moment den Eindruck, als wollte er spöttisch auflachen, doch er biss sich noch vorzeitig auf die Lippen, um diesen Impuls zu unterdrücken. Schließlich nickte er knapp. „Wir werden uns bald wieder sehen“, prophezeite Seth, bevor er sich einfach umdrehte und in einer dunklen Seitengasse verschwand. Sobald er außer Sichtweite war, erlosch sein heraufbeschworenes Feuer, als hätte es nie existiert. Asrim verharrte einfach an Ort und Stelle und schaute dem Feuerteufel hinterher. Alec versuchte, den Gesichtsausdruck seines Schöpfers zu entziffern, doch seine Augen ließen ihn nicht so recht gewähren. Seine Sicht war immer noch verschwommen und glich eher der eines Menschen, sodass es ihm zurzeit unmöglich war, die Dunkelheit der Nacht zu durchdringen. „Warum hast du das getan?“, erklang plötzlich eine zornige Stimme. „Wieso hast du ihn einfach gehen lassen?“ Alec horchte erstaunt auf, als er diese Stimme vernahm. Im ersten Moment war er viel zu verwirrt, um die Situation richtig zu erfassen, dann jedoch breitete sich auf seinen Lippen ein schwaches Lächeln aus. Er spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel und sich seine verkrampften Muskeln wieder etwas entspannten. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass er diese Stimme nie wieder würde hören können. Aber glücklicherweise hatte sich Sharif schon immer als besonders hartnäckig erwiesen. Der Ägypter tauchte aus den Schatten hervor und hockte sich neben Alec. „Alles in Ordnung?“, fragte er, in einem für ihn völlig untypisch besorgten Tonfall. Er hatte die Stirn gerunzelt und betrachtete mit finsterem Blick Alecs Verletzung am Arm. „Es ging mir schon mal besser“, meinte Alec. Er wollte gelassen mit den Schultern zucken, aber als erneut der Schmerz seinen Körper durchfuhr, unterließ er es lieber. „Ist eh egal. Viel wichtiger ist, was mit dir geschehen ist. Wie hast du überlebt?“ Alec schaute hinüber zu dem Lagerhaus, das nun mehr einem Gerippe ähnelte. Die Flammen hatten nicht allzu viel davon übrig gelassen. Sharifs Gesichtsausdruck blieb hart, als er antwortete: „Das habe ich dir zu verdanken. Als du Seths Aufmerksamkeit erregt hattest, hat er das Feuer auf dich gehetzt. Du hast mir das Leben gerettet.“ Bei diesen Worten strich der Vampir gedankenverloren über seine Wange. Erst in diesem Augenblick realisierte Alec, wie es wirklich um seinen Freund stand. Sein kompletter Hals war übel verbrannt, als hätte ihm Seth die Hände um seine Kehle gelegt. Besonders schlimm stand es jedoch um seine Hände und Arme, die er offenbar schützend vor sich gehalten hatte, als er von den Flammen umzingelt gewesen war. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte dies sicherlich schreckliche Nachwirkungen mit sich gebracht. Alec blickte hinab auf seine eigene Wunde. Er wollte sich gar nicht wirklich vorstellen, welche Schmerzen Sharif hatte erdulden müssen. Zwar waren sie Vampire und die Verbrennungen würden irgendwann verschwinden, ohne hässliche Narbe zu hinterlassen, dennoch würde die Heilung ein furchtbar schmerzhafter Prozess werden. Und im Gegensatz zu normalen Verletzungen konnte sich dies auch um einiges länger hinziehen, manchmal über Wochen oder gar Monate. So schlimm, wie Sharifs Wunden aussahen, würde er es bei ihm vielleicht sogar Jahre dauern. „Wieso hast du ihn laufen lassen?“, hatte sich der Ägypter in der Zwischenzeit wieder an seinen Schöpfer gewandt, der seinen Blick immer noch in die Richtung gerichtet hatte, in der Seth verschwunden war. „Du hättest ihn töten können.“ „Bist du dir da so sicher?“, hakte Asrim nach. Seine Stimme ließ keinerlei Emotionen erkennen, als er sich letztlich zu ihnen drehte. „Denk nicht, dass du begreifst, was hier vor sich geht.“ Alec merkte, wie Sharif vor Wut seine Hände zu Fäusten ballte. „Dann erklär es uns!“ Asrim musterte sie einen Augenblick mit einer undefinierbaren Miene. „Ihr werdet es schon bald verstehen.“ Und mit diesen Worten verschwand er so schnell in der Finsternis, wie er aufgetaucht war. Sharif knirschte daraufhin mit den Zähnen und stampfte wütend auf wie ein Jugendlicher, der seinen Willen nicht hatten durchsetzen können. Alec spürte in der Zwischenzeit, wie er einfach nur dankbar war, dass sein Bruder überhaupt noch lebte. „Dieser verfluchte Mistkerl!“, fauchte Sharif. „Irgendwann werde ich ihm noch den Hals umdrehen.“ Alec nickte zustimmend, auch wenn er momentan mehr damit beschäftigt war, die frische, rauchfreie Luft einzuatmen und seine Sinne wieder einigermaßen unter Kontrolle zu kriegen. Nur am Rande bekam er mit, wie der Ägypter sich entfernte und kurz darauf zurückkehrte, in seinen Armen ein fluchendes und um sich schlagendes Bündel. Alec schaute auf. Eve versuchte verzweifelt, sich aus Sharifs Griff zu befreien, doch dieser verzog keinerlei Miene. Er hielt die Jägerin an sich gedrückt, als wäre sie bloß eine leblose Puppe. „Lass mich los!“, brüllte Eve zornig. „Was soll das Ganze?“ Dies fragte sich Alec allerdings auch. „Was hast du mit ihr vor?“, wollte er wissen. Sharif warf Eve einen dermaßen eisigen Blick zu, dass diese ihre Befreiungsversuche augenblicklich aufgab und schnell ihren Kopf einzog. Sie mochte zwar ab und zu recht vorlaut sein, aber offenbar wusste sie, wann es Zeit war, den Mund zu halten. Und besonders gerade im Moment machte Sharif den Eindruck, als würde er beim nächsten falschen Wort seine eh schon sich selbst aufgezwungene Beherrschung völlig verlieren. „Das Feuer hat sie verschont“, erklärte der Vampir mit kalter Stimme. Man sah ihm an, welche Schmerzen es ihm bereitete, Eve festzuhalten, doch die Aussicht auf Antworten war ihm momentan wichtiger als seine eigene Gesundheit. „Seth ... – nein, wie hat Asrim ihn genannt?“ „Shadyn“, meinte Alec. „Shadyn“, wiederholte Sharif. „Wie viel willst du wetten, dass das sein wahrer Name ist?“ Er gab ein bedrohliches Knurren von sich, als Eve es wagte, sich wieder ein wenig in seinen Armen zu bewegen. „Bisher hat dieser Feuerteufel alles niedergebrannt, was ihm im Weg stand. Nur sie nicht! Und ich will den Grund dafür erfahren.“ „Ich habe auch keine Ahnung, was Seth in mir sieht“, schaltete sich Eve rasch ein. „Aber Asrim“, entgegnete Sharif. „Oder Necroma. Und wenn keiner dieser beiden mir eine Antwort geben will, werde ich dich an der Spitze der Tower Bridge aufspießen und dir ein lebenswichtiges Organ nach dem anderen herausreißen, bis Shadyn sich vielleicht irgendwann die Mühe macht, aufzutauchen.“ Er zwang Eves Gesicht näher an seines. „So oder so, dich als Geisel zu behalten, dürfte seinen Vorteil haben. Und selbst wenn es nur darum geht, Seth aufzuregen, wenn wir deine Einzelteile über ganz London verteilen.“ Eve war zunehmend blasser geworden, als sie Alec einen kurzen Blick zuwarf. Sie suchte sicherlich keine Hilfe von ihm, schien sich aber gerade wohl bewusst zu werden, dass sie in der Vergangenheit besser dran gewesen war, als nur Alec ihr Besuche abgestattet hatte. Alec konnte ihr derweil als Antwort nur ein Schulterzucken gewähren. Sharif war den Großteil der Zeit vernünftig und rational, aber auch er vermochte bisweilen sehr grausam zu sein. Zumindest erinnerte Alec sich noch gut, wie Sharif ihn bei ihrer ersten Begegnung beinahe in Stücke gerissen hätte. Sharif gab keine leeren Versprechungen. Er meinte jedes Wort absolut ernst. Und an Eves Miene sah man deutlich, dass auch sie allmählich begriff, dass der Vampir sie gnadenlos umbringen würde, wenn er nicht das bekam, was er begehrte. Kapitel 14: Gekennzeichnet -------------------------- „Aua! Verdammt noch mal, das tut weh!“ Sharif, der zuvor noch mit finsterem Blick aus dem Fenster gesehen und höchst aufmerksam das nächtliche London betrachtet hatte, drehte sich bei Alecs Ausruf um. Dieser saß auf einem Polstersessel mit Blümchenmuster und hatte eine grimmige Miene aufgesetzt. Grund für seinen Ärger war Oscar, der neben ihm auf der Lehne saß und gerade eingehend Alecs Wunde untersuchte, ohne den lautstarken Protest zu beachten. „Hm … das sieht nach einer schweren Verbrennung aus“, war Oscars fachmännische Meinung dazu. Mit dem Fehlen jedweden Feingefühls begann er, die Wunde abzutasten. Dass Alec bei seiner Berührung schmerzhaft das Gesicht verzog, kümmerte ihn dabei in keiner Weise. „Du hättest wirklich Mediziner werden sollen“, zischte Alec durch zusammengebissene Zähne. Sein mordgieriger Blick ließ vermuten, dass es ihm besonders schwer fiel, Oscar nicht an die Kehle zu springen. „Deine Auffassungsgabe ist auf jeden Fall einmalig. Uns wäre nie im Leben in den Sinn gekommen, dass Seth mich verbrannt haben könnte.“ Oscar schürzte die Lippen, entgegnete zu Sharifs Überraschung jedoch nichts. Er war schon seit ihrer Rückkehr auffällig still und ließ sich nicht mal durch Alecs bissige Kommentare provozieren. Offenbar hatte ihn der Schock, dass jemand dazu imstande war, Sa’onti ernsthaft zu schaden, ebenso hart getroffen wie all die anderen auch. Oscar holte eine Salbe hervor, die er schon zuvor Sharif hatte aufzwingen wollen. Anscheinend handelte es sich um irgendein Heilmittel, das er selbst zusammengemischt hatte. Er hatte damit Sharifs Wunden versorgen wollen, doch der Vampir sofort hatte abgelehnt und stattdessen Sorge dafür getragen, dass zunächst Alec behandelt wurde. Im Moment jedoch betrachtete dieser äußerst kritisch die Salbe in Oscars Händen. „Was soll das darstellen?“ „Eine uralte Rezeptur“, sagte Oscar nicht ohne einen gewissen Stolz. „Bei uns in der Familie von Generation zu Generation weitergegeben. Die Menschen von heute möchten vielleicht glauben, dass ihre Medikamente nicht zu überbieten sind, aber wenn man mich fragt, dann hatten wir damals viel mehr zu bieten als diese Pantoffelhelden von heute.“ Alec wirkte immer noch wenig angetan. „Und woraus hast du das Zeug gemacht?“ Durchaus eine berechtigte Frage, wie Sharif fand. Denn inzwischen hatte sich der penetrante Geruch der Salbe im ganzen Raum verbreitet und man musste sich unweigerlich fragen, was Oscar dort wohl alles hineingeschmissen hatte. Dem Gestank nach zu urteilen faule Eier, Affenurin und Wasser aus dem Abflusskanal. „Es mag vielleicht nicht besonders toll riechen, aber es wirkt“, meinte Oscar leicht pikiert. Ohne viel Federlesens schmierte er eine ganze Ladung davon auf die Brandstelle und versiegelte das Ganze danach mit einem fest umwickelten Verband. Alec, der sich wohl inzwischen dazu durchgerungen hatte, seine Beschwerden einzustellen und stattdessen den unerschütterlichen Mann zu spielen, verkniff sich jedwede Erwiderung. Mit leidvoller Miene, die er trotz größter Anstrengung nicht zu verbergen vermochte, ließ er die wenig zärtliche Behandlung über sich ergehen. Sharif musste sich eingestehen, dass es ihm wenig danach dürstete, als nächster von Oscar versorgt zu werden. Er wandte sich wieder dem Fenster zu und betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe. Als er diese Schmerzen verspürt hatte, dieses sengende Feuer, das seine Haut aufgefressen hatte, da war ihm schon bewusst gewesen, dass seine Verletzungen äußerst schlimm waren und die Heilung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Als er sich jedoch danach zum ersten Mal in einem Spiegel betrachtet hatte, war es für ihn ein Schock sondergleichen gewesen. Sein Hals sah geradezu furchterregend aus, mehr als deutlich erkannte man, wo Seth ihn gepackt hatte, als er schon zu Boden gesunken war. Eine stetige Erinnerung, die nicht so schnell verblassen würde. Und wäre Alec nicht aufgetaucht und hätte Seths Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, dann hätte sich das Feuer bis auf seine Knochen durchgefressen und seinem Leben ein Ende bereitet. „Es hätte schlimmer kommen können“, vernahm er hinter sich unvermittelt Oscars Stimme. „Immerhin kannst du dich noch bewegen. Mir ist einst vor langer Zeit passiert, dass es einem furchtbar lästigen Hunnen doch tatsächlich gelungen ist, mit seiner Keule mein Bein zu erwischen. Der ganze Knochen ist komplett zersplittert. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglaublich schmerzvoll –“ „Es hätte schlimmer kommen können?“, unterbrach ihn Sharif zischend. Er wirbelte herum und nahm Oscar scharf ins Visier. „Alec und ich hätten beinahe das Zeitliche gesegnet und du willst mir allen Ernstes weismachen, ich soll mich darüber freuen, dass ich nicht von einem Hunnen verprügelt worden bin?“ Sharif wusste sehr gut, dass Oscar nicht der Grund seines Zorns war, aber er konnte die heißen Gefühle, die in ihm hochschäumten, kaum zurückhalten. Es war lange her, dass er wirklich aus der Haut gefahren war, sodass er schon fast vergessen hatte, wie man seine aufwallenden Gefühle unter Kontrolle brachte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es in dieser Feuerhölle war“, meinte Sharif aufgebracht. „Du hast nicht mal den Hauch einer Ahnung. Ich habe mich gefühlt wie …“ Er hielt inne, war nicht imstande, dies laut auszusprechen. Er kam sich merkwürdig dabei vor, es war ihm sogar regelrecht peinlich. Und dennoch hatte er nichts dagegen tun können. Eine fremde Macht hatte von ihm Besitz ergriffen und ihn die Dinge fühlen lassen, die er eigentlich nie wieder hatte spüren wollen. „Du hast dich gefühlt wie was?“, hakte Oscar nach. Er hatte vorsichtshalber einen Sicherheitsabstand hergestellt und musterte Sharif nun mit Argwohn. „Wie ein Mensch.“ Die Antwort war nicht von Sharif, sondern von Alec gekommen. Dieser starrte fast schon wie hypnotisiert vor sich hin, als würde er sich in der Erinnerung verlieren. Sharif vermochte kaum seine Verwunderung zu verbergen. Er hatte gedacht, dass er sich das Ganze nur eingebildet hätte und auf seine alten Tage weich wurde, sodass schon ein Feuer Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit in ihm wecken konnte. Allerdings hatte er sich offenbar geirrt. Alec schien genau dasselbe durchlitten zu haben. „Ich verstehe nicht ganz“, gab Oscar seiner Verwirrung Ausdruck. Er schaute mit einem schon fast besorgt zu nennenden Blick hinab auf Alec, der bloß seine Lippen aufeinander gepresst hatte und vor sich hin starrte. „Ich verstehe es auch nicht“, gab Sharif zu. „Aber ich kenne jemanden, der unter Umständen weiß, was, bei Anubis und Isis, hier eigentlich vorgeht.“ Sharifs Miene verfinsterte sich. Bis jetzt war ihm Asrims Wortkargheit schlimmstenfalls lästig gewesen, nun aber staute sich eine Wut in ihm auf, wie er sie gegenüber seinem Schöpfer noch nie empfunden hatte. Asrim wusste weit mehr, als er bereit war, zuzugeben. Womöglich war ihm schon von vornherein klar gewesen, dass Seth in der Lage war, sie mit seiner Magie zu töten. Auch wenn diese Vorstellung alles andere als angenehm war. „Du denkst, er verheimlicht uns etwas, nicht wahr?“ Oscar hatte augenscheinlich erkannt, an wen Sharif gerade dachte. „Glaubst du wirklich, er hätte es soweit kommen lassen, wenn er Bescheid wüsste?“ Sharif konnte auf diese Frage keine befriedigende Antwort geben und allein diese Tatsache ängstigte ihn. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er Asrim bedingungslos vertraut, nun aber begann alles nach und nach zu bröckeln. Er erinnerte sich daran, wie Asrim und Seth sich angesehen hatten. Und entsann sich, wie er Seth Shadyn genannt und dieser nicht einmal gezuckt hatte. Das war der Name, unter dem Asrim diesen Mann, dieses Wesen, kennengelernt hatte. Vielleicht war es sogar sein richtiger Name und alles andere bloß Schall und Rauch. „Seth und er kennen sich“, erhob auch Alec wieder seine Stimme. Seinem Tonfall war anzumerken, dass er ebenso wie Sharif verärgert und verletzt war aufgrund Asrims Verhalten. „Und das sogar ziemlich gut, wie es scheint.“ Sharif konnte nur zustimmend nicken. „Zumindest schienen sie vertraut miteinander.“ Er verstummte kurz und sah abwechselnd zu Alec, dessen Miene sich inzwischen beim Gedanken an Asrim zusehends verdunkelt hatte, und Oscar, der offenbar heillos irritiert war und die Situation nicht richtig einzuschätzen vermochte. Sharif konnte es ihm sehr gut nachempfinden. Er selbst verstand auch noch nicht, was eigentlich vorging. Aber er war entschlossen, diesem Mysterium auf den Grund zu gehen. „Oscar, du musst mir einen Gefallen tun“, wandte sich Sharif an seinen langjährigen Freund. „Und der wäre?“ „Zunächst mal schmierst du mir deine Affenpisse auf meine Wunden, damit ich mich nicht mehr ganz so elend fühle. Und dann sorgst du dafür, dass wir morgen alle umziehen.“ „Umziehen?“ fragten Oscar und Alec gleichzeitig. „Ganz genau“, meinte Sharif nickend. „Wir sind überall in der Stadt verteilt. Wir beide quetschen uns hier in dieses kleine Appartement, Alec hat sich sonst wo eingenistet – wahrscheinlich in der Wohnung einer exotischen Tänzerin oder ähnlichem ...“ Sharif bemerkte aus den Augenwinkeln, wie dieser bei diesem Kommentar leicht schmunzelte. „Wir sollten nicht alle so weit entfernt voneinander sein. Necroma hat doch ein altes, verfallenes Herrenhaus irgendwo am Rand der Stadt besetzt, dorthin werden wir morgen alle umziehen.“ Oscar wirkte augenscheinlich wenig begeistert, den Komfort einer kleinen, bequemen Wohnung aufzugeben und sich in ein einsturzgefährdetes Haus zu begeben, doch er hielt sich mit jeglichen Protest zurück. Offenbar hatte er erkannt, wie ernst es Sharif war, und dementsprechend eingesehen, dass jedweder Widerstand sinnlos gewesen wäre. Alec jedoch runzelte die Stirn. „Wären wir nicht ein sehr viel leichteres Ziel, wenn wir uns alle an einem Ort versammeln?“ „Ich habe das sehr starke Gefühl, dass Seth so oder so weiß, wo wir uns aufhalten“, erwiderte Sharif. „Zusammen und noch zusätzlich mit Necromas Magie dürften wir ihm zumindest mehr entgegenzusetzen haben als alleine, denkst du nicht auch?“ Alec musste zugeben, dass es durchaus Sinn machte. Ob getrennt oder zusammen, wenn Seth sie tot sehen wollte, würde er einen Weg finden. „Und warum erst morgen?“, fragte Oscar nach. „Es schien mir, als hätte Asrim Seth ziemlich aufgewühlt“, entgegnete Sharif. „Ich bezweifle, dass er innerhalb der nächsten Stunden wieder etwas versuchen wird. Ich würde die Zeit gerne nutzen, um Alec noch etwas Ruhe zu gönnen.“ Der besagte Vampir verzog sofort sein Gesicht. „Ich brauche keine Sonderbehandlung“, bemerkte er pikiert. Aber Sharif schnaubte nur. „Hast du mal in den Spiegel geschaut? Wie gesagt, Necroma lebt zurzeit in einer Ruine und keiner von uns wird sie überreden können, den Wohnort zu wechseln. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es in ihrem süßen, kleinen Häuschen irgendwo gemütliche Betten mit weichen Matratzen gibt. Du etwa?“ Alec schüttelte den Kopf. Man sah ihm an, dass er dennoch protestieren und groß verkünden wollte, dass e selbst auf dem kalten Boden hätte schlafen können, aber er hielt sich zurück. Zum Teil, weil er keine Diskussion mit Sharif provozieren wollte, andererseits aber sicher auch, weil er sich im Moment wirklich nach einem warmen Bett sehnte. „Was ist mit Yasmine und den Zwillingen?“, hakte Oscar derweil nach. Man hörte deutlich die Sorge in seiner Stimme, als er die noch fehlenden Mitglieder ihrer Familie ansprach, die sich immer noch auf einer geheimnisumwogenden Mission in Deutschland befanden. Niemand hatte damals nachgefragt, sondern es einfach hingenommen, nun aber erschien es irgendwie seltsam, dass die drei ausgerechnet in solchen Zeiten zurückgeblieben waren, um „noch ein paar Dinge zu erledigen“, wie Yasmine es formuliert hat. „Wir sollten sie warnen“, meinte auch Alec. „Ehrlich gesagt bin ich dafür, dass sie nicht einmal in die Nähe von London oder gar England kommen.“ Oscar nickte sofort bestätigend, während Sharif bloß schnaubte. „Wirklich? Ihr denkt, sie würden wegbleiben?“ Er schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich, ich würde ihnen gerne sagen, dass sie ihre Hintern in irgendeiner deutschen Kneipe parken und erst wieder rauskommen sollen, wenn alles vorbei ist, aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass sie dies niemals tun werden. Ihr würdet euch doch an ihrer Stelle auch nicht verstecken, oder?“ Alec musste zugeben, dass er Recht hatte. Nichts auf dieser Welt würde die Obermutter Yasmine, den kampferprobten Elias und die gnadenlose Annis dazu bringen, einfach ihre Familie zurückzulassen. „Dann sollten wir die ganze Sache einfach schnell hinter uns bringen, bevor die drei überhaupt Gelegenheit hatten, englischen Boden zu betreten“, meinte Oscar entschieden. „Und ich würde sagen, dass wir mit Asrim anfangen.“ Sharif nickte knapp. Asrim war vielleicht der Einzige, der ihm endlich Antworten geben konnte, aber seit seiner Begegnung mit Seth schien er wie vom Erdboden verschwunden. Er hatte sich nicht mal nach dem Befinden der Verwundeten erkundigt. Es machte auf Sharif fast den Eindruck, als wollte er seinen Schöpfungen aus dem Weg gehen, um sich die unangenehmen Fragen zu ersparen. „Dir ist aber hoffentlich klar, dass du Asrim nur finden kannst, wenn er auch gefunden werden will?“ Oscar hob eine Augenbraue und betrachtete ihn eingehend. „Ich sollte gehen. Du siehst nämlich ehrlich gesagt genauso beschissen aus wie Alec.“ Alec zog daraufhin seine Mundwinkel nach unten. „Hey!“, widersprach er beleidigt, wurde aber von keinem der beiden weiter beachtet. „Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber ich werde gehen!“, meinte Sharif entschieden. „Ich bin nicht bereit, noch einmal das Leben eines anderen aufs Spiel zu setzen.“ Für einen kurzen Moment flackerte die Erinnerung an das knisternde, alles verzehrende Feuer auf und er erschauerte automatisch. „Bis auf weiteres bleibt ihr beide hier und rührt keinen Muskel. Und das ist ganz sicher keine Bitte.“ Obwohl es sowohl Oscar als auch Alec widerstrebte, irgendwelche Befehle anzunehmen, widersprachen sie auch dieses Mal nicht. „Und was ist mit diesem Mädchen?“ Oscar deutete in Richtung Schlafzimmer, in das Sharif zuvor die Jägerin äußerst ungalant hineingestoßen hatte. „Was hast du eigentlich genau mit ihr vor?“ Der Ägypter konnte darauf keine konkrete Antwort geben, es war vielmehr ein Impuls gewesen, der ihn dazu verleitet hatte, Eve Hamilton mitzunehmen. Er hatte gesehen, wie Seth sie angesehen, mit ihr gesprochen hatte und hatte gleich gewusst, dass sie für ihn mehr als bloß eine zufällige Passantin war. Er hatte sie nicht nur vor dem Feuer beschützt, sondern auch versucht, sein Tun vor ihr zu rechtfertigen. Irgendetwas war für Seth besonders an dem Mädchen. Und Sharif hoffte, dass sie das irgendwie zu ihrem Vorteil würden ausnützen können.     *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *     Alec liebte es, aus der Dunkelheit heraus Menschen zu beobachten. Wenn sie glaubten, alleine zu sein, taten sie bisweilen merkwürdige, skurrile, unappetitliche oder auch einfach nur amüsante Dinge, die sie sich in Gesellschaft niemals getraut hätten zu präsentieren. Eve Hamilton war im Moment wie ein rastloses Tier. Ständig stieß sie tiefe Seufzer aus, schaute beklommen über die Schulter in die Schatten und lief hin und her. Ab und zu schaffte sie es, sich selbst zu beruhigen und sich auf das Bett zu setzen, aber meistens war dies nicht von allzu großen Erfolg gekrönt, denn nur wenige Augenblicke später war sie bereits wieder auf den Beinen. Alec konnte sie durchaus verstehen. Sie befand sich in der Höhle des Löwen und wusste nicht, was sie erwartete. Wahrscheinlich malte sie sich gerade aus, was ihre Entführer alles mit ihr anstellen könnten. Und ihrer Miene nach, die von Minute zu Minute leidvoller erschien, waren ihre Gedanken alles andere als erheiternd. „Möchtest du vielleicht eine heiße Tasse Tee, um deine Nerven zu beruhigen?“, erhob er seine Stimme, sich diebisch darauf freuend, wie Eve zusammenzuckte und vor lauter Schock sogar beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. „Verdammt!“, stieß sie aus. Sie wich ein paar Schritte vor Alec zurück, der aus der Dunkelheit hervortrat, und bemühte sich konzentriert, eine düstere Miene aufzusetzen, doch das Entsetzen über das unerwartete Auftauchen schien sie nicht so einfach vertreiben zu können. „Hast du noch nie etwas von Höflichkeit gehört? Du hättest anklopfen sollen.“ Alec legte den Kopf schief. „Erstens: Du bist hier die Geisel und hast dich gefälligst nicht über mangelnde Höflichkeit zu beschweren! Ich hab dir gerade einen Tee angeboten, mehr Freundlichkeit wirst du von mir nicht erfahren.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Und zweitens: Ich bin kein Ritter aus Artus’ Tafelrunde. Ich bin in einer Zeit geboren, in der man Frauen nicht mit Samthandschuhen angepackt hat.“ Eve, die sich wohl allmählich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, verdrehte genervt ihre Augen. „Männer“, murmelte sie kopfschüttelnd. Sie öffnete erneut den Mund – zweifellos, um weitere böswillige Kommentare zum Besten zu geben –, als ihr Blick auf seinem bandagierten Arm fiel. Da er nur ein kurzärmliges Oberteil trug, konnte sie den schneeweißen Verband, der sich geradezu überdeutlich von seiner dunkleren Hautfarbe abhob, bestens erkennen. Es war wie ein Mahnmal, das einem direkt ins Auge sprang. „Ich hoffe, es tut sehr weh“, meinte sie, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkte. „Ich spüre es nicht mal“, sagte Alec schulterzuckend. In Wahrheit jedoch verursachte jede Bewegung mit dem Arm ungeheure Schmerzen. Es fühlte sich beinahe an, als hätte Seth ihn immer noch gepackt. Eve verengte ihre Augen zu Schlitzen und betrachtete ihn eingehend. „Du lügst“, stellte sie schließlich sachlich fest. „Aber ehrlich gesagt habe ich auch nichts anderes erwartet. Du würdest es nicht einmal zugeben, wenn du vor Schmerzen eingehst, nicht wahr? Zumindest nicht vor mir.“ Alec wollte aus reinem Reflex die Arme verschränken, hielt sich jedoch noch im letzten Augenblick zurück. Eve war die Geste dennoch nicht entgangen, was man deutlich an ihrem überheblichen Lächeln sah. „Du bist ganz schön leichtsinnig, ist dir das eigentlich klar?“, hakte er nach. „Dass wir dich nicht gefesselt und geknebelt haben, hast du allein unserer Großzügigkeit zu verdanken. Solltest du aber weiterhin so dämlich grinsen, werde ich mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen.“ Eve wollte zu einem entsprechenden Gegenargument ansetzen und wahrscheinlich vorrangig sich selbst überzeugen, dass sie sich von einem Vampir nicht einschüchtern ließ, aber schließlich siegte die Vernunft und sie schloss wieder ihren Mund. Offenbar hatte sie doch noch einen Funken Überlebensinstinkt im Leib. „Sehr gut“, lobte Alec sie, woraufhin sie ihn mit einem düsteren Blick bedachte. „Und jetzt sei so brav und beantworte mir eine Frage, dann lasse ich dich auch für den Rest des Abends in Ruhe.“ Eve musterte ihn argwöhnisch und schien abzuwägen, wie sehr sie seinen Worten trauen konnte. „Was willst du wissen?“, fragte sie. Alec zögerte einen Moment. Eigentlich hatte er es dabei belassen und nicht weiter darin graben wollen, doch es spukte ihm nun schon die ganze Zeit im Kopf herum und er vermochte es einfach nicht mehr zu ignorieren. „Woher kanntest du diese alte Namen?“ Alec betrachtete sie intensiv. „Seit fast dreitausend Jahren hat niemand je darüber gesprochen. Ich wusste nicht einmal, dass sich überhaupt jemand daran erinnert.“ Für einen Augenblick schien Eve ehrlich verwirrt, aber schnell hatte die Erkenntnis sie eingeholt. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ich habe meine Quellen“, sagte sie geheimnisvoll. Alec schnaubte. „Geht das auch präziser?“ „Ich habe es im Internet gefunden“, erwiderte sie schulterzuckend. „Unter www.die-wahrheit-über-alec.uk. Eine wirklich hübsche Seite mit sehr detaillierten Bildern und –“ Weiter kam sie nicht, denn bereits im nächsten Moment hatte Alec sie unsanft gepackt und gegen die Wand gepresst. Sie keuchte erschrocken auf und griff automatisch an die Waffe in ihrem Holster, die die Vampire schon bei der Entführung registriert, aber schlichtweg ignoriert hatten. Selbst mit dieser Waffe stellte sie keinerlei Bedrohung dar und dies war vermutlich auch Eve mehr als klar, da sie keine Anstalten erkennen ließ, die Pistole auch zu ziehen. „Ich würde an deiner Stelle die dummen Witze lassen!“, zischte Alec drohend. „Gerade habe ich nicht unbedingt die beste Laune und besserwisserische Sprüche könnten dir schneller eine gebrochene Rippe oder eine Gehirnerschütterung einbringen, als dir lieb ist.“ Eve bemühte sich daraufhin um eine gefasste Miene. „Ich habe nur ein bisschen in deiner Vergangenheit rumgewühlt“, versuchte sie zu erklären. „Du hast mich gedemütigt und ich wollte es dir einfach heimzahlen. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich tatsächlich die Goldtruhe finde.“ Alec knirschte mit den Zähnen. Ihre Beschreibung traf durchaus zu, sie hatte in der Tat genau die wunden Punkte entdeckt, die er eigentlich längst vergraben und vergessen gewähnt hatte. Seit Jahrtausenden hatte ihn niemand mehr darauf angesprochen, einmal ganz davon abgesehen, dass nur eine Handvoll überhaupt darüber Bescheid gewusst hatten. Und dann ausgerechnet bei dem erbitterten Kampf um sein Überleben diese alten Namen zu hören, hatte ihn fast noch mehr aus dem Konzept gebracht als Seths magisches Feuer. Er wollte nicht an ihn erinnert werden. An diesen schwachen Menschen, der nicht in der Lage gewesen war, diejenigen zu beschützen, die er liebte. Der so viele Fehler und Dummheiten in seinem Leben begangen hatte, dass es Alec schon aufregte, überhaupt darüber nachzudenken. Dieser Mensch, der tief in seinem Inneren vergraben war. „Du hast es von diesem Mann erfahren, nicht wahr?“, hakte der Vampir nach. „Den du besucht hast, als das Feuer ausbrach.“ Eve zuckte zusammen, als sie sich wahrscheinlich wieder daran erinnerte, dass Alec ihr versprochen hatte, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen. „Er ist nur ein Historiker. Er hat seine Theorien, aber niemand glaubt ihm.“ „Abgesehen von dir“, zischte Alec. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass dieser Mann seine düstersten Geheimnisse kannte und sie sorglos mit den Jägern teilte. Andererseits war er aber auch durchaus beeindruckt, dass er es geschafft hatte, etwas auszubuddeln, das Alec schon längst als verschollen und vergessen erachtet hatte. Dennoch würde er es sicherlich nicht zulassen, dass dieser Historiker in Zukunft weiter herumlief und seine Thesen unter den Massen verbreitete. „Er ist bloß ein Wissenschaftler, nicht dein Feind“, erwiderte Eve. Sie schien erkannt zu haben, was durch Alecs Kopf ging. „Ehrlich gesagt ist er sogar ein Bewunderer der Sieben.“ „Tatsächlich?“ Der Untote hob seine Augenbrauen. „Dann darf ich also annehmen, dass er über meine gesamte Familie interessante Informationen gesammelt hat, nicht wahr?“ Er wusste sehr gut, dass es unter ihnen einige gab, die es absolut nicht gerne gesehen hätten, wenn Details aus ihrem menschlichen Leben ans Tageslicht gekommen wären. Sharif beispielsweise würde wenig angetan sein und auch Yasmine würde äußerst empfindlich darauf reagieren. Für beide war ihr menschliches Leben hart und entbehrungsreich gewesen und keiner von beiden wollte sicherlich in alten Erinnerungen schwelgen. Ebenso wie Alec. Er wollte nicht an diesen Menschen, an diese Stadt voller Magier und ganz besonders nicht an sie denken. Er wollte es einfach begraben, als wäre es niemals geschehen. „Weißt du, es gefällt mir nicht, dass du diese alten Namen kennst“, stellte der Vampir ohne Umschweife kalt fest. „Ehrlich gesagt fördert es gerade den Drang in mir, dir die Kehle aufzureißen, damit du es niemanden erzählen kannst.“ Eve bemühte sich um eine unerschütterliche Miene, aber man sah deutlich die Angst in ihren Augen aufflackern. Es war ihr absolut klar, dass es zurzeit taktisch nicht gerade klug gewesen wäre, sie umzubringen, doch gleichzeitig hatte sie sicherlich genügend Geschichten über Alecs Unberechenbarkeit gehört, sodass sie es trotzdem nicht vollkommen auszuschließen vermochte. „Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann ganz gewiss“, zischte Alec. „Ich lege Wert darauf, dass meine Geheimnisse begraben bleiben, und ich habe keinerlei Problem damit, deine Gedärme und die deines Historiker-Freundes über die gesamte Stadt zu verteilen.“ Eve schluckte schwer, als sie sich wahrscheinlich bildlich vorstellte, wie der Vampir sie brutal auseinander riss. „Und wenn wir ... versprechen ... zu schweigen?“ „Weißt du, früher hätte ich das womöglich noch in Betracht gezogen“, gab Alec zu. „Damals gab es so etwas wie Ehre. Wenn mir jemand ein Versprechen gegeben und es auch ernst gemeint hat, dann konnte man sich sicher sein, dass derjenige es niemals brechen würde. Aber heutzutage sind die Menschen so launisch und wechselhaft wie das Wetter. Du schwörst mir heute auf dem Leben deiner Topfpflanze, dass du nie jemanden etwas verraten wirst, und zwei Tage später erzählst du es der ganzen Welt in den Spätnachrichten.“ Er setzte eine harte Miene auf. „Ich habe vor langer Zeit aufgehört, euch zu vertrauen.“ Eve wirkte aber noch lange nicht, als würde sie sich so einfach geschlagen geben. „Es sind doch nur alte Geschichten“, warf sie ein. „Was kümmert dich das überhaupt noch?“ Alec lehnte sich wieder näher zu ihr. „Hast du eine Ahnung, was manche mit diesen ‚alten Geschichten‘ alles anfangen könnten? Für dich sind Zeit und der Tod endgültig, aber für andere Wesen eben nicht.“ Es ging nicht nur um seinen verdammten Stolz. Selbstverständlich wollte kein Vampir gerne hören, dass er einst ein jämmerlicher Mensch gewesen war, doch alleine damit hätte Alec noch irgendwie zähneknirschend leben können. Nein, es ging um mehr. Um Namen, die eigentlich schon längst in Vergessenheit hätten geraten sollen. Um Magie, die selbst die Zeit überdauern konnte, selbst wenn man es nicht wirklich wahrnahm. Alec hatte einst ein schweres Verbrechen begangen. Und auch wenn er es damals wie heute niemals bereut hatte, so konnte es ihn immer noch einholen. Selbst nach all dieser Zeit. Und dieses Risiko war er sicher nicht gewillt, einzugehen. „Wenn all das vorbei ist, werde ich dich und deinen kleinen Historiker zum Schweigen bringen“, versprach Alec ihr warnend. „Auf die ein oder andere Weise.“ Denn wie hieß es so schön? Neugier war der Katze Tod. Kapitel 15: Shadyn ------------------ Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.): Jyliere hatte das Gefühl, der Rückweg zu seiner Villa wäre plötzlich doppelt so lang. Noch niemals zuvor war die Zeit dahin gekrochen wie in diesem Augenblick. Und dabei rannten die Pferde, die die Kutsche zogen, derart schnell, dass die Umgebung, an der sie vorbeizischten, nur schemenhaft zu erkennen war. „Ich wusste nicht, dass sie noch bei dir ist“, sagte Te-Kem, der Jyliere gegenüber saß und überaus besorgt aus dem Fenster blickte. „Ich dachte, sie wäre in ihren Gemächern. Ich dachte, sie wäre sicher. Ich konnte doch nicht ahnen ...“ Bereits seit Reanns magisch übertragender Hilferuf ihre Ohren erreicht hatte, war er nur noch ein nervliches Wrack. Alles war über ihm zusammengestürzt und er hatte sämtliche Fassung verloren. Es war allein Jyliere zu verdanken, dass so schnell eine bewaffnete Einheit Männer und geeignete Transportmittel zusammengetrommelt worden waren. Te-Kem selbst wäre wahrscheinlich allein barfuß im Nachtgewand zu Jylieres Villa gerannt. „Wie habe ich nur so einen Fehler machen können?“, fuhr der Obere fort. „Ich weiß doch ... Er ist hier ...“ Te-Kem war normalerweise eine ruhige und autoritäre Person, die stets den Überblick behielt. Vielerorts bewunderte man seine Gefasstheit, seine entspanntes Wesen. Aber wenn es um Reann ging, war all dies vergessen. Sie war seine einzige Tochter, sein größter Schatz. Allein die Aussicht darauf, sie zu verlieren, ließ ihn völlig wahnsinnig werden. Und das war den Kreaturen, die Reann angegriffen hatten, wahrscheinlich mehr als bewusst. Als sie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit bei Jylieres Haus ankamen, bemerkten sie sofort, dass offenbar keiner der Bewohner mehr in seinem Bett lag. Die Ankommenden wurden sofort bestürmt, regelrecht aus ihren Kutschen gezerrt und in Richtung der Bibliothek dirigiert, kaum dass sie Zeit hatten, überhaupt Luft zu holen oder auch nur eine einzige Frage zu den vorherigen Geschehnissen zu stellen. Reann sprang auf, kaum dass sie ihren Vater erblickte, und fiel ihm direkt in die Arme. Blass und zittrig vergrub sie ihr Gesicht wie ein kleines Kind in seiner Brust und schluchzte leise. Te-Kem währenddessen atmete erleichtert auf, augenscheinlich überglücklich, dass seine Tochter zumindest körperlich kein größeres Schaden zugefügt worden war. Von Neyo vermochte man dies nicht zu sagen, wie Jyliere bereits einen Moment später bemerkte. Er saß zusammengesunken auf dem Sofa, bleich wie der Mond, und hatte mehrere blutdurchtränkte Bandagen um seinen rechten Unterarm gewickelt. Catha, die neben ihm Platz genommen hatte und sogar besorgter aussah als alle anderen zusammengenommen, versuchte, ihn dazu zu überreden, etwas Flüssigkeit zu sich zu nehmen, während Neyo sie vollkommen ignorierte und offenbar all seine Konzentration dafür brauchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. „Oh Neyo“, murmelte Jyliere. Er trat an den jungen Mann heran und strich ihm kurz über die verschwitzte Stirn, ehe er einen Heilzauber aussprach, dem er schon von seinem Großvater gelernt hatte und selbst schwerwiegende Verletzungen zu lindern vermochte. Doch anstatt dass Neyos Gesichtszüge sich entspannten, ächzte er auf und entwand sich rasch Jylieres Berührung. „Das habe ich auch bereits versucht“, erklang daraufhin Reanns Stimme, die ihren Lehrmeister intensiv beobachtet hatte. „Magie nützt nichts. Sie scheint es sogar schlimmer zu machen.“ Jyliere seufzte schwer und schloss kurz die Augen. Er hatte einst davon gelesen, aber nicht angenommen, dass es wahr sein könnte. Auch Te-Kem wirkte angesichts dieser Neuigkeit wenig begeistert. „Welche Wunde kann denn ein Magier nicht heilen?“, verlangte Catha zu erfahren. „Ich habe noch nie von so etwas gehört.“ Jyliere verwunderte dies wenig, Rashitar war in dieser Hinsicht bisher ein unberührter und unschuldiger Ort gewesen. Bisher. Schweren Herzens entfernte er vorsichtig die Bandagen und betrachtete den Schaden. Alles war voller Blut, die Haut zerfetzt, als hätte er sich mit einem gefährlichen Raubtier angelegt. Catha wandte rasch ihren Blick ab und auch einige der anderen Anwesenden konnten den Anblick offenbar nicht ertragen, ohne zu befürchten, sich ihr Abendessen noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. „Kannst du deine Hand noch bewegen?“, wollte Jyliere derweil besorgt wissen. „Deine Finger?“ Neyo schien einen Moment zu brauchen, um zu realisieren, dass Jyliere mit ihm sprach. Schließlich machte er sich daran, eine Antwort auf die Frage zu finden, und ließ seine Finger kurz zucken. Es war zwar eine schwache Bewegung, aber trotzdem war Jyliere erleichtert. „Es wird alles wieder gut“, sagte er daraufhin und strich Neyo kurz übers Haar. „Das verspreche ich dir.“ An seine versammelte Dienerschaft gewandt, meinte er: „Bringt ihn in sein Zimmer. Und jemand mit einem starken Magen soll seine Wunde gründlich reinigen und verbinden.“ „Ich mach das“, ertönte Calvios Stimme. Er trat an Neyo heran, ergriff ihn an seinem gesunden Arm und half ihm mit einer Vorsicht, die man sonst nie bei ihm entdecken konnte, auf die Beine. Neyo stöhnte schmerzerfüllt, ließ sich aber widerstandslos von Calvio hinausführen. „Sorgt dafür, dass er viel Flüssigkeit zu sich nimmt“, wandte sich Jyliere derweil an Catha, die bereits aufgestanden war. „Versucht es vielleicht auch mit ein wenig Nahrung. Irgendetwas, was ihm wieder ein bisschen Farbe ins Gesicht zaubert.“ Catha nickte, ehe sie besorgt mit der restlichen Dienerschaft dem Verwundeten folgte. „Also, was ist geschehen?“, fragte Jyliere, bevor er den noch bei ihnen befindlichen Soldaten mit einigen Gesten bedeutete, auszuschwärmen und das ganze Haus zu überprüfen. „Ich ... ich weiß auch nicht“, begann Reann zögerlich, immer noch deutlich erschüttert von den Ereignissen. „Es war plötzlich so ... kalt. Dunkel.“ Man merkte ihr an, dass sie nicht genau wusste, wie sie es am besten beschreiben sollte. „Und dann war da dieser Mann ... Sharif ...“ Sie erzitterte, während sie sich enger an ihren Vater drückte und den Anschein erweckte, als würde sie all dies am liebsten sofort wieder vergessen. „Neyo ist aufgetaucht und hat mich gerettet“, murmelte sie. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er nicht ...“ Sie sprach nicht weiter, sondern presste bloß ihre Lippen zusammen und schüttelte ihren Kopf. „Er war kein Mensch. Er bewegte sich im Schatten und selbst als Neyo ihn verletzt hat, schien es ihm nichts auszumachen.“ Ihr Blick war auf eine Blutlache gerichtet, die sich auf dem Boden in der Nähe der großen Flügeltür befand. „Neyo hat es tatsächlich geschafft, ihn zu verletzen?“, hakte Te-Kem daraufhin erstaunt nach. Reann konnte nur mit den Schultern zucken, anscheinend ebenso überfragt wie alle anderen. „Glück ... vielleicht?“ Sie holte einmal tief Luft. „Es hat dieses ... dieses Wesen ... sowieso nicht lange aufgehalten!“ Jyliere merkte, dass Te-Kem dennoch kurz zögerte. Er, der sich mit den Fertigkeiten von Vampiren von den Anwesenden am besten auskannte, schien sich offensichtlich nicht so sicher, ob das Überraschungsmoment alleine wirklich ausreichte, um solch eine Kreatur verwunden zu können. Der Menge des Blutes nach zu urteilen war es Neyo zumindest durchaus gelungen, eine schwerere Verletzung herbeizuführen.  „Kann ich kurz zu ihm?“, erhob Reann wieder ihre Stimme. Ihr Blick lag auf Jyliere, der einen Augenblick benötigte, um zu begreifen, dass die junge Frau von Neyo sprach. „Ich möchte sehen, wie es ihm geht.“ Jyliere hätte nie gedacht, jemals diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Er lächelte leicht und nickte verständnisvoll, ehe sie sich von ihrem Vater löste und, in Begleitung von zwei Soldaten, verschwand. „Ich bin deinem Jungen zu großem Dank verpflichtet“, meinte Te-Kem, seiner Tochter hinterher schauend. „Ich werde dir alles zur Verfügung stellen, das du brauchst, um seine Genesung voranzutreiben.“ Jyliere lächelte gequält. „Vielen Dank.“ Te-Kem seufzte, eher er sich auf dem Sofa niederließ, auf dem zuvor noch Neyo gesessen hatte. „Kommt dir der Name Sharif bekannt vor?“ Jyliere schüttelte den Kopf. „Es würde mich aber nicht wundern, wenn er in irgendeiner Beziehung zu deinem alten Freund stünde.“ Der Obere erschauerte kurz. „Bitte nenn ihn nicht so.“ Jyliere massierte sich die Hände und erwog einen Augenblick, nichts dazu zu sagen, doch das Blut auf der schmalen Couch, die Erkenntnis, dass Neyo an diesem Abend hätte sterben können, war einfach zu viel, um weiter zu schweigen. „Ich weiß nicht, was zwischen dir und Asrim vorgefallen ist“, meinte er. Er versuchte, möglichst sachlich an das Ganze heranzugehen, merkte aber die unterdrückte Wut in seiner eigenen Stimme. „Aber diese Sache hier ist gewiss keine Kleinigkeit!“ Te-Kem zog seine Mundwinkel nach unten, als er den Vorwurf im Tonfall des anderen hörte. „Er ist ein Nachtwandler! Ich weiß, du hattest noch nie zuvor mit einem zu tun, aber glaube mir, selbst wenn du einem nur aus Versehen auf die Füße trittst, will dieser gleich deine ganze Familie auslöschen.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sind allesamt seelenlose Monster. Wenn man ihnen etwas antut, zahlen sie es tausendfach zurück.“ Jyliere verengte seine Augen zu Schlitzen. „Und was hast du ihm angetan, dass er es als gerechtfertigt ansieht, dein einziges Kind zu ermorden?“ Te-Kem wich erneut seinen Blick aus, so wie auch schon die Male zuvor, als sie über dieses Thema gesprochen hatten. Was auch immer zwischen ihnen vorgefallen war, es war dem Oberen mehr als nur unangenehm, darüber zu reden. Selbst seinem ältesten Freund vermochte er sich einfach nicht anzuvertrauen und Jyliere fand diese Tatsache zunehmend beunruhigend. Was konnte derart schlimm sein, dass Te-Kem es nicht in Worte zu fassen imstande war? „Im Grunde spielt es sowieso keine Rolle mehr“, erwiderte der andere letztlich.  „Wichtig ist im Moment nur, dass er es offenbar nicht nur auf mich abgesehen hat, sondern auch auf meine Familie. Er will mich leiden sehen.“ Er seufzte schwer, als spürte er die geballte Last der Welt auf seinen Schultern. „Und wir müssen irgendetwas dagegen tun, bevor noch jemand zu Schaden kommt.“ Jyliere wollte gerade darauf hinweisen, dass bereits jemand verletzt worden war, doch er hielt sich zurück. Te-Kem wirkte so oder so schon, als würde er sich für alles die Schuld geben. Er benötigte nicht noch daran erinnert zu werden, dass der Lebensretter seiner Tochter beinahe getötet worden wäre. „Was schlägst du vor?“, wollte Jyliere wissen. „Wie seid ihr das letzte Mal mit ihm fertiggeworden?“ Man sah Te-Kem daraufhin deutlich an, dass er nicht gewillt war, diesen Weg erneut zu beschreiten, ganz gleich, wie ernst die Situation auch sein mochte. „Die Opfer waren damals viel zu groß. Es sollte unser allerletzter Ausweg sein.“ Jyliere wollte erneut nachhaken, erkannte aber schließlich, dass es sinnlos sein würde. Te-Kem wollte nicht darüber sprechen, was einst vorgefallen war. „Aber Nachtwandler sind nicht unverwundbar“, erklärte Te-Kem mit Nachdruck. „Sie haben Schwächen und sie können auch vernichtet werden. Darauf sollten wir uns konzentrieren.“ Jyliere nickte zustimmend. „Außerdem sollten wir die Sicherheitsmaßnahmen extrem erhöhen und jeden, der dir etwas bedeutet, unter einen speziellen Schutz stellen.“ Te-Kem schnaubte, als er sich wahrscheinlich vorstellte, dass dies Reann und ebenso seiner Frau Tiama vermutlich wenig zusagen würden. Dennoch stand ihre Sicherheit für den Magier über allem anderen. „Haben wir denn eine Chance?“, fragte Jyliere plötzlich. Diese Frage schwirrte ihm schon seit Tagen durch den Kopf, aber bisher hatte er sie einfach noch nicht ausformulieren können. „Sharif zu töten? Asrim zu töten?“ Te-Kems Miene wurde unvermittelt vollkommen undefinierbar. Nicht einmal, wenn sein Leben davon abgehangen hätte, hätte Jyliere zu sagen vermocht, was der Obere in diesem Augenblick fühlte. „Sharif?“, fragte Te-Kem. „Vielleicht. Wenn er so ist wie die anderen seiner Art, dann wäre es möglich.“ Er zögerte einen Moment. „Aber Asrim? Selbst mein Vater hat es versucht und es hat ihn alles gekostet.“ „Willst du damit also sagen, dass wir völlig chancenlos sind?“ Te-Kem schüttelte sofort den Kopf. „Ich will damit sagen, dass wir von unseren üblichen Wegen abweichen müssen, wenn wir überleben wollen. Und wenn du dich auf Ehre und Moral versteifst, bist du innerhalb der nächsten Tage tot.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Und wir werden vermutlich die Hilfe von Mächten brauchen, die wir unter normen Umständen meiden würden wie den Tod.“       *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *       „Ich hatte sie fast“, drang Sharifs genervte Stimme an Asrims Ohr. „Du hättest mich nicht zurückpfeifen müssen.“ Es war zwar bereits mehrere Stunden her, dass Sharif Jylieres Villa ein wenig aufgemischt hatte, ehe er von Asrim zurückgerufen worden war, aber immer noch beklagte er sich unentwegt. „Jetzt sei nicht beleidigt“, erwiderte Asrim. Er saß auf einer unbequemen Steinbank im Hinterhof einer beliebten Taverne und hatte eigentlich nur ein wenig die Ruhe genießen wollen, bevor die ersten Menschen wieder aus ihren Betten stiegen. Doch Sharif hatte ihn aufgespürt, in seinen Armen die sich wehrende Tavernenbesitzerin, die der Vampir letztlich bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hatte. Erst kürzlich hatte Sharif einen herben Blutverlust hinnehmen müssen, den er nun rücksichtslos auszugleichen versuchte. Asrim starrte auf die tote Frau, die Sharif ohne jegliches Mitgefühl in eine Pfütze hatte fallen lassen, und dachte daran, dass er dem jungen Vampir unbedingt Diskretion beibringen musste. In einer Stadt wie Rashitar zumindest konnten ein paar Leichen nicht so leicht übersehen werden wie anderswo. „Beleidigt?“, zischte Sharif. „Dieser Bengel hat mir den halben Hals aufgerissen!“ Immer noch war er ganz durch den Wind, dass Neyo ihn hatte überrumpeln können. Sharif war zwar nie übermäßig stolz gewesen, aber dies hatte doch an seiner Ehre gekratzt. „Ich weiß, dass du denkst, dass dieser Mistkerl in nicht allzu ferner Zukunft einen perfekten Vampir abgeben wird, aber ehrlich gesagt möchte ich ihn lieber blutend auf dem Boden sehen!“, entgegnete Sharif mit Nachdruck. „Ich habe keine Lust mehr, sein Leben zu verschonen.“ Asrim blickte auf. Sharif schien gar nicht zu begreifen, dass Asrim ihn nicht zurückgerufen hatte, um Neyo zu retten. Vielmehr war ihm die Sicherheit eines anderen sehr viel wichtiger gewesen. Doch in seiner Wut erkannte Sharif dies nicht und darüber war Asrim durchaus dankbar. Das letzte, was er wollte, war, noch diese andere Tatsache zu erklären, von der er sich eigentlich geschworen hatte, sie dem jungen Vampir gegenüber niemals zu erwähnen. „Wenn es dir wirklich wichtiger ist, Neyo zu töten, als ihn zu uns zu holen, dann können wir gerne noch einmal darüber diskutieren“, meinte Asrim großzügig. „Ich will niemanden in unsere Familie holen, den du auf den Tod nicht ausstehen kannst. Solcherlei Zwistigkeiten brauche ich nicht.“ Nicht schon wieder, dachte er noch bei sich. „Aber wenn du dir die Mühe machst, dich in Neyo hineinzuversetzen, dann würdest du seine Taten womöglich verstehen. Wie würdest du denn reagieren, wenn jemand in dein Haus einbricht und mit dem Leben bedroht.“ Sharif schnaubte. „Ich habe nicht sein Leben bedroht“, erwiderte er. „Zumindest zunächst nicht.“ „Aber das Leben von Menschen, die ihm offenbar wichtig sind“, fügte Asrim an. „Wenn jetzt hier aus dem Nichts jemand auftauchen und mich angreifen würde, dann würdest du doch auch nicht einfach tatenlos danebenstehen, oder?“ Sharif zog seine Mundwinkel nach unten. „Ich hasse es, wenn du mir mit Logik und Vernunft kommst“, brummte er. „Ja, ich kann verstehen, warum er es getan hat. Darf ich aber trotzdem nicht wütend sein?“ Asrim hob seine Schultern. „Wenn du dich dadurch besser fühlst.“ Sharif schüttelte kurz seufzend den Kopf, ehe er schließlich kehrtmachte und sich in Bewegung setzen wollte. „Wo willst du hin?“, fragte Asrim nach und merkte, dass er wie ein strenger Vater klang, der es nicht guthieß, dass sich sein Sohn alleine irgendwo herumtrieb. „Ich habe tierischen Hunger!“, erklärte Sharif zähneknirschend. „Anscheinend tut es Vampiren nicht sonderlich gut, unzählige Liter an Blut zu verlieren. Wirklich eine interessante Information, für die ich mich eigentlich bei Neyo bedanken sollte, findest du nicht auch? Es ist wirklich grandios, dass ich das am eigenen Leib erfahren darf!“ Er legte seinen Kopf schief. „Ich habe gerade echt das Gefühl, ich müsste mindestens zehn fettleibige Politiker aussaugen, ehe es mir wieder was besser geht.“ „Sei vorsichtig!“, warnte ihn Asrim daraufhin mit einem demonstrativen Blick auf die tote Frau in der Pfütze. „Diese Stadt wimmelt nur so von Magiern. Und auch wenn uns ihre Macht nicht so viel ausmacht wie anderen, kann sie uns dennoch schaden!“ „Ich soll also diskret im Schatten agieren“, fasste Sharif zusammen. „Sei einfach ein Vampir und kein Trampeltier“, erwiderte Asrim. „Und ruf mich auf alle Fälle, wenn irgendetwas sein sollte!“ „Asrim ...“ „Ruf mich!“, wiederholte Asrim mit noch sehr viel mehr Nachdruck. Es war ihm gleichgültig, dass Sharif ihn erstaunt musterte, offenbar verwirrt angesichts Asrims neu entdeckten Beschützerinstinkts. Man sah dem Ägypter an, dass e weiter nachbohren wollte, es dann aber schließlich bleiben ließ und stattdessen ergeben nickte. „Ich werde vorsichtig sein und ich werde dich unter allen Umständen rufen, sollte ich in eine Situation geraten, aus der ich nicht rechtzeitig fliehen kann“, erklärte er nachgiebig. Daraufhin wartete er einen Moment, unsicher, ob sein Schöpfer noch irgendetwas hinzufügen wollte, und verschwand letztlich in der Dunkelheit, als Asrim weiterhin schwieg und damit deutlich machte, dass er alles gesagt hatte, was er hatte sagen wollen. Asrim seufzte nach mehreren Minuten auf, als er merkte, dass die Anspannung ihn verließ, von der zuvor nicht einmal bemerkt hatte, dass sie ihn gepackt hatte. Ihm war klar, dass Sharif sein Verhalten manchmal nicht verstand, ihn es sogar des Öfteren ziemlich frustrierte, doch Asrim war noch nie jemand gewesen, der sich ohne weiteres öffnen konnte. Nicht mehr zumindest. Er blickte kurz auf, als er einen Schatten bemerkte, der aus einer finsteren Nebengasse hervortrat. Beinahe, als hätte er dort nur darauf gewartet, dass Sharif sich zurückzog und er die Möglichkeit erhielt, mit Asrim allein zu sein. „Ich habe Gerüchte gehört“, begann der Mann, als befänden sie sich bereits mitten in einer lebhaften Konversation. „Erst dachte ich, es wäre nur wieder dummes Gerede, auch wenn ich ehrlich gesagt gespürt habe, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber die ganze Zeit fragte mein Verstand: Warum hier, warum jetzt?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber als dein Schoßhündchen in Jylieres Haus eingebrochen ist und beinahe Te-Kems Tochter in Stücke gerissen hätte, wurde mir klar, dass tatsächlich der große Asrim persönlich Rashitar einen Besuch abstattet.“ Vollkommen selbstverständlich setzte er sich neben dem Vampir auf die Bank und betrachtete die Leiche auf dem matschigen Boden, die die beiden Männer mit leblosen Augen anstarrte. Dabei verzog er nicht mal eine Miene, als wäre es etwas absolut Natürliches, neben toten Körpern eine harmlose Unterhaltung zu führen. „Ich mochte sie sowieso nicht“, erklärte Shadyn, als er Asrims Blick bemerkte. „Sie war hochnäsig und besserwisserisch. Außerdem hat sie ihre armen Kunden schamlos über den Tisch gezogen.“ Asrim musste lächeln. „Seit wann interessieren dich deine Mitmenschen?“ Shadyn schnaubte. „Na fein, sie hat mich schamlos über den Tisch gezogen. Ich war betrunken und leichtgläubig zu der Zeit, also zählt das nicht wirklich.“ Asrim kam nicht umhin, zu bemerken, dass sich sein Gegenüber erneut sehr verändert hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Ehre und Anstand das Wichtigste für ihn gewesen waren, und nun machte er eher den Anschein, als würde er mit einem Grinsen auf den Lippen Lebensmittel vom Boden essen. Shadyn war derart facettenreich, dass es unsagbar schwer war, seinen wahren Charakter zu greifen. „Also, willst du mir erzählen, was du hier machst oder darf ich raten?“, hakte Shadyn nach. „Ich bin hier, weil ich dich unbedingt wiedersehen wollte“, erklärte Asrim. „Du hast mir gefehlt.“ Für einen Augenblick zögerte Shadyn, dann aber runzelte er die Stirn. „Schlechte Antwort, mein Freund. Das würde ich dir nicht mal abkaufen, wenn du mit einem Blumenstrauß vor meiner Türschwelle auftauchen würdest.“ Er verengte seine Augen zu Schlitzen und betrachtete Asrim ausgiebig. „Es geht um Te-Kem, nicht wahr? Oder Neyo? Oder womöglich beide?“ Asrim schwieg und machte somit Shadyn deutlich, dass er durchaus auf der richtigen Fährte war. „Ich meine, Te-Kem kann ich noch verstehen“, fuhr der andere derweil fort. „Ihr beide habt eine komplizierte Vergangenheit, sodass es mich nicht allzu verwundert, dass du dich irgendwann entschieden hast, zurückzukommen. Aber Neyo? Wusstest du Bescheid, dass er hier ist oder war das alles nur ein gigantischer Zufall? Asrim musste unwillkürlich grinsen. Es war schon beinahe witzig, dass Shadyn tatsächlich annahm, irgendetwas, was er tat, wäre mit Zufall zu erklären. „Oder hast du dich vielleicht wieder als Hellseher versucht?“, begriff Shadyn sofort, was vor sich ging. „Oh, das solltest du nicht tun. Du weißt doch so gut wie ich, dass deine Prognosen nicht immer die besten sind. Zu verschwommen, zu ungenau. Und trotzdem hast du den weiten Weg auf dich genommen? Auf die Chance, Neyo zu treffen?! „Neyo und Te-Kem und dich“, korrigierte Asrim ihn. „Euch alle an einem Ort zu wissen, wie kann ich da widerstehen? Meine Neugierde ist einfach zu groß.“ Shadyn nickte verstehend. „Und jetzt willst du sicher wissen, warum ich hier bin, nicht wahr?“ Asrim sagte nichts und vertraute darauf, dass sein Blick Antwort genug wäre. In der Tat war er mehr als erpicht zu erfahren, was sein uralter Freund und Rivale an jenem Ort zu suchen hatte. Shadyn zuckte derweil bloß mit den Schultern. „Neugierde, würde ich sagen. Nach der Geschichte mit dir und Te-Kem war ich einfach interessiert, wie dieser große Mann wohl aussieht. Na ja, und dann traf ich Jyliere und irgendwie hat eins zum anderen geführt.“ „Und Neyo?“ Shadyn grinste breit. „Zufall?“, meinte er, belustigt, als er merkte, wie Asrim bei dem Wort schmunzelte. „Ich habe es wirklich nicht geplant, ganz ehrlich. Vielleicht war es einfach Schicksal oder vielleicht kommen mit fortschreitenden Zeit immer mehr Sa'onti zum Vorschein. Unter Umständen wäre ich in der nächsten Stadt auch einem begegnet.“ Er legte seinen Kopf schief. „Auf jeden Fall habe ich Jyliere überredet, ihn aus dem Kerker herauszuholen und bei sich aufzunehmen.“ „Überredet?“, hakte Asrim amüsiert nach. „Na ja, er weiß nicht, dass ich irgendetwas damit zu tun habe“, erwiderte Shadyn amüsiert. „Er denkt bis heute noch, dass er einfach irgendeiner irren Eingebung gefolgt ist.“ „Er denkt wahrscheinlich auch immer noch, dass du ein gewöhnlicher Mann bist“, fügte Asrim hinzu. Shadyn lächelte. „Ja, das auch.“ Er war schon immer ein Meister darin gewesen, Menschen zu manipulieren und sie das glauben zu lassen, was er wollte. Nur selten gab er die Wahrheit oder zumindest einen gewissen Teil davon preis. Stattdessen spielte er den Lebemann, den Soldat, den Freibeuter, den Gerechten und den Dieb, als wäre er dafür geboren. Als läge es nicht in seiner Natur, bloß ein einziges Leben zu leben. „Wirst du dich mir in den Weg stellen?“, wollte Asrim wissen. Shadyn legte seinen Kopf zur Seite, als würde er ernsthaft über diese Option nachdenken, zuckte dann aber mit den Schultern. „Warum sollte ich das tun? Te-Kem kann von mir aus blutend auf dem Boden liegen, das ist mir gleich. Nimm am besten gleich noch die ganze arrogante Magierbrigarde mit dir. Es ist traurig, was in den letzten Jahrhunderten aus unserer Sippe geworden ist.“ „Und Reann?“ Shadyn zuckte mit den Schultern. „Was kümmert mich das Mädchen? Sie ist selbstgefällig und arrogant und würde mich glatt hinrichten lassen, würde ich es wagen, ihre Frisur zu kritisieren. Ich werde sie sicher nicht vermissen.“ Asrim wägte seine Worte vorsichtig ab. „Neyo hat ihr das Leben gerettet“, gab er zu bedenken. Shadyn zog seine Mundwinkel nach unten, als würde er nicht gerne an diese Tatsache erinnert. „Ein Teil von mir hätte auf Leben und Tod geschworen, dass er sie einfach hätte sterben lassen“, gab er zu. „Allerdings ist er wahrscheinlich ein viel zu guter Kerl dafür. Wenn du mich fragst, glaube ich inzwischen sogar, dass er eine Schwäche für das Mädchen hat. Er hat schon immer das begehrt, was schwer zu erreichen ist.“ Asrim nickte. „Hätten wir sie demnach getötet, wäre er sicher nicht mehr besonders gut auf uns zu sprechen.“ Shadyn lachte höhnisch auf. „Nachdem, was dein bissiges Hündchen angestellt hat, ist er das inzwischen so oder so nicht mehr. Ich nehm’s ihn nicht mal übel.“ Asrim lehnte sich ein wenig zurück und badete im Mondlicht, als wäre es die Sonne. „Sharif ist jung und impulsiv. Er lernt es noch.“ Shadyn schnaubte. „Er ist leichtfertig und hätte Neyo beinahe umgebracht, hättest du ihn nicht zurückgepfiffen.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Was siehst du überhaupt in diesem Kerl?“ Asrim erkannte einen leichten Schimmer von Eifersucht in seinem Tonfall, was ihn auf eine gewisse Art zwar durchaus freute, aber ihn gleichzeitig einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz bescherte. Es erinnerte ihn an Erlebnisse, die gar nicht so lange zurücklagen und die es jedem anderen außer Shadyn schwer nachgetragen hätte. „Er ist nicht mein bissiges Hündchen, wie du es vielleicht glauben magst“, erklärte Asrim mit Nachdruck. „Er ist mein Sohn und mein Freund. Meine Familie. Er hat mich damals gebraucht, so wie ich ihn gebraucht habe.“ Shadyn erweckte den Eindruck, als hätte er sein Leben sehr gut fortführen können, ohne jemals diese Worte zu hören. „Wenn es euch beide glücklich macht“, entgegnete er durch zusammengebissene Zähne. „Mir soll’s gleich sein, solange ihr mir nicht die Quere kommt. Du hast zumindest gut daran getan, Sharif zurückzurufen, bevor er sich auf mich gestürzt hat. Ich hätte für nichts garantieren können.“ Das war auch Asrim mehr als bewusst gewesen. Er hatte jeden Schritt Sharifs in Jylieres Villa aufmerksam verfolgt, sowohl aus reinem Vergnügen als auch aus Vorsicht. Es war eine Freude gewesen, ihm dabei zuzusehen, wie er Reann zu Tode geängstigt hatte, und er hatte sogar tatenlos danebengestanden, als Sharif Neyo angegriffen hatte, im Glauben, dass der Vampir dennoch seine Grenzen kannte und sie diese Attacke in naher Zukunft vielleicht sogar zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten. Aber als sich Sharif Shadyn zugewandt hatte, vollkommen ahnungslos, welcher Macht er sich gegenübergesehen hatte, hatte Asrim sofort eingegriffen und ihn zurückgehalten. Sonst wäre es unter Umständen sein Ende gewesen. Shadyn stand in der Zwischenzeit wieder auf und warf noch einen letzten verächtlichen Blick auf die ehemalige Tavernenbesitzerin auf dem nassen Boden. „Es ist auf jeden Fall immer eine Freude, dich in der Nähe zu wissen, Asrim“, sagte er lächelnd. „Wenn du alle Magier getötet hast, gib mir Bescheid, sodass ich die Schatzkammer plündern kann.“ Er grinste schief und wollte sich bereits in Bewegung setzen, als Asrim fragte: „Warum nennst du dich eigentlich in dieser Stadt Calvio?“ Shadyn hielt inne. „Das ist der Name eines Piraten, den ich vor ein paar Jahren getroffen habe. Er war niederträchtig und unbarmherzig und ist am Ende an seinem eigenen Erbrochenem erstickt. Ein Bild von einem Mann!“ Asrim schüttelte seufzend den Kopf. „Wann wirst du wieder deinen Geburtsnamen verwenden?“, fragte er nach. Shadyns Miene verfinsterte sich daraufhin sofort. „Erst dann wieder, wenn ich ihn hören kann, ohne das Bedürfnis zu verspüren, mir die Gehörgänge zu verstümmeln.“ Er lächelte freudlos. „Also wahrscheinlich niemals.“ Kapitel 16: Necroma ------------------- London, England (2012): „Umziehen? Hierher? Die ganze verfluchte Bande?“ Necroma waren ihre sonst so harten Gesichtszüge entglitten, vollkommen fassungslos starrte sie Sharif an. Sie machte den Eindruck, als hätte er ihr vorgeschlagen, sich ins nächste Haifischbecken zu werfen. „Ganz genau“, meinte Sharif nickend. „Ich habe Alec angeordnet, sich noch ein bisschen zu erholen, aber sie werden schon bald hier sein.“ „Aber ...“ Necroma schüttelte den Kopf, als könnte sie es beim besten Willen nicht glauben. „Aber sie sind so furchtbar laut, sie hinterlassen überall ihren Dreck und sie werden das ganze Haus auf den Kopf stellen. Das Mauerwerk dieses Gebäudes ist nicht mehr das jüngste, weißt du? Wenn die anderen zu wild rumtoben, könnte glatt was einstürzen.“ Sharif runzelte die Stirn. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass wir von Vampiren und nicht von Kleinkindern sprechen, oder?“ „Natürlich weiß ich das!“, schnaubte Necroma. „Aber sie sind nun mal so furchtbar laut ...“ Sharif konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Necromas Marotten und Eigenarten hatten ihn schon des Öfteren zum Schmunzeln gebracht, sie war ganz und gar ein einzigartiges Geschöpf. Es gab wahrscheinlich niemanden sonst auf der Welt, der sich auch nur ansatzweise mit ihr vergleichen lassen könnte, wie sie sang und tanzte und lachte und Gebäude in die Luft sprengte, während sie sich gleichzeitig mit unsichtbaren Personen unterhielt, von denen niemand so genau wusste, ob sich Necroma diese einfach nur einbildete oder ob dort tatsächlich etwas war. Und Sharif kam nie umhin, wie vielleicht schon Millionen Male vorher zu bemerken, dass sie beileibe die seltsamste Frau war, der er je begegnet war. Man nannte sie ‚verrückt‘ und ‚irre‘. In vielen alten Texten wurde sie gar als ‚wahnsinnige Hexe‘ betitelt. Man beschrieb sie als unberechenbar, überaus gefährlich und der Realität entrückt. Ein Mönch aus dem 13. Jahrhundert hatte einst über sie geschrieben: „Es wirkt, als würde sie in ihrer eigenen Welt leben. Und dennoch scheint manchmal etwas durch, das erkennen lässt, dass sie vielleicht mehr von der Wirklichkeit versteht als alle anderen um sie herum.“ Und Sharif hätte es im Grunde nicht besser ausdrücken können. Als er ihr zum ersten Mal begegnet war, damals vor über zweitausend Jahren in Theben, hatte er ernsthaft an ihrem gesunden Menschenverstand gezweifelt. Sie hatte mit sich selbst oder imaginären Personen geredet, manchmal stundenlang einfach vor sich hin gesummt und war ab und zu ohne jeden erkennbaren Grund in schallendes Gelächter oder bittere Tränen ausgebrochen. Nichts, was sie gesagt oder getan hatte, hatte irgendeinen Sinn ergeben. Und er war fest überzeugt gewesen, dass diese junge und verwirrte Frau einfach schwachen Geistes gewesen war. Dass vielleicht eine schwere Krankheit in ihrer Kindheit oder auch irgendetwas anderes ihren Verstand zerstört und bloß eine Hülle mit verqueren Gedanken zurückgelassen hatte. Ein armes Opfer ohne Chance, jemals ein normales Leben führen zu können. Sharif hatte sie bemitleidet. Und nicht erkannt, dass sie ihn bemitleidet hatte. Weil er solch ein ‚beschränktes Weltbild‘ besaß, wie sie nie müde wurde, ihm mitzuteilen. Weil er ‚dumm‘ und ‚naiv‘ und ‚einfach nur ein blinder Trottel‘ war, der nicht das zu sehen vermochte, was ihr möglich war. Und mit der Zeit hatte er begriffen, dass es tatsächlich stimmte. Necroma mochte seltsam und anders sein, sie mochte sich wie jemand benehmen, der absolut nichts von Logik verstand, aber gleichzeitig war sie das wahrscheinlich faszinierendste Geschöpf auf dem ganzen Planeten. Denn sie konnte sehen. Manchmal machte es den Anschein, dass sie einfach alles wusste. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – nichts blieb ihr verborgen, nichts konnte sie überraschen. Sie wusste, wann es Erdbeben und Überschwemmungen geben würde, ebenso wie sie alle britischen Premierminister bis ins Jahr 2265 aufzählen konnte, ohne auch nur ein einziges Mal ins stocken zu geraten. Sie sah die Zukunft der Welt, alles war weit vor ihr ausgebreitet.  „Es ist nur eine Sicherheitsmaßnahme und wird hoffentlich nicht lange dauern“, versuchte Sharif, sie wieder ein wenig zu beruhigen. „Ich will sie nur in deiner Nähe wissen. Ist das wirklich zu viel verlangt?“ Necroma zog ihre Mundwinkle nach unten. „Weißt du, warum ich mir dieses Haus ausgesucht habe?“, zischte sie. „1896 ist der hier lebende Handelskaufmann grausam ermordet worden, genau in diesem Wohnzimmer. Und es war ein Kunstwerk sondergleichen, mit Folter, psychischen Terror und allem, was zu einem schönen Mord dazugehört. Und ich will mich so gerne mit diesem Mann unterhalten!“ Dabei sah sie kurz in eine Ecke und Sharif fragte sich unweigerlich, ob der geplagte Geist dieses Handelskaufmannes dort im Schatten lauerte und sie beobachtete. „Aber wenn die kleinen Kinderchen hier rumlaufen und so einen Lärm verursachen, wird ihn das nur verschrecken“, erklärte sie mit Nachdruck. „Alec und Oscar streiten die ganze Zeit und eher früher als später wird sich Annis auch noch einmischen und dann wird Peterson erst wieder rauskommen, wenn wir alle schon längst weg sind.“ Sie erweckte ehrlich den Anschein, als wäre dies momentan das allergrößte Problem auf der Welt. Sharif seufzte. Eigentlich hätte es ihn verärgern sollen, dass sie das Schicksal ihrer Geschwister scheinbar weniger interessierte als irgendein Kerl, der vor einem Jahrhundert gestorben war, aber er kannte sie inzwischen gut genug, um sich in keinster Weise beleidigt zu fühlen. Ganz im Gegenteil, solange Necroma noch so gelassen blieb, war die Situation vielleicht beileibe noch nicht ganz so dramatisch, wie es zurzeit aussah. „Und wenn ich dir verspreche, dass sie ganz leise sein werden?“, fragte Sharif. Necroma schnaubte jedoch bloß abfällig. „Oh bitte, als ob Alec und Oscar es überhaupt eine halbe Stunde aushalten, ohne irgendwie aufeinander herumzuhacken. Das wäre wirklich ein Weihnachtswunder!“ Sharif musste ihr durchaus zustimmen, bemühte sich jedoch um eine neutrale Miene. „Sie werden es tun, wenn es dir viel bedeutet. Du weißt doch, wie sehr sie dich vergöttern.“ Alec gab dies andauernd offen vor Necroma zu, während Oscar sie gerne als „Fall für die Irrenanstalt“ darstellte, aber auch tief in seiner Seele sehr viel Faszination und Bewunderung für diese Frau aufbrachte. Necroma wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Wenn sie mir Schokolade mitbringen, kann ich das vielleicht akzeptieren.“ Sharif lächelte erleichtert. Eine Sorge weniger.  „Du bist aber sicher nicht nur hier, um mir das zu sagen, oder?“ Necroma musterte ihn skeptisch. „Es ist zwar nett, dass du an mein seelisches Wohlbefinden denkst, doch normalerweise wärst du hier einfach mit dem ganzen Rudel reingeplatzt, sodass ich gar keine Chance gehabt hätte, nein zu sagen. Also, was willst du?“ Sharif seufzte. Vor ihr vermochte man nichts zu verbergen. „Ich suche Asrim“, gestand er. „Ich dachte, dass du mit deinen magischen Fähigkeiten vielleicht-“ „Den Flur runter, die dritte Tür rechts“, unterbrach ihn Necroma. Sharif blinzelte verdutzt. „Wie bitte?“ „Den Flur runter, die dritte Tür rechts“, wiederholte sie noch einmal, dabei jedes Wort betonend, als hätte sie es mit einem Zurückgebliebenen zu tun. „Dort findest du Asrim. Er schmollt schon die ganze Zeit in dem Zimmerchen rum. Ist mir auch ganz recht, er stank fürchterlich nach Rauch, als er hier ankam.“ Sharif war im ersten Moment völlig sprachlos. Er hatte mit einer langen, auszehrenden Suche gerechnet, die wahrscheinlich nicht mal von Erfolg gekrönt sein würde, und nun fand er ihn direkt beim ersten Vampir, den er fragte? Entweder war es ein großer Zufall oder auch so was wie Schicksal oder Asrim hatte sich keine besondere Mühe gegeben, spurlos zu verschwinden. Necroma hatte sich bereits wieder von Sharif abgewandt und mit einer Spinne zu sprechen begonnen, die es gewagt hatte, über den bequemen Polstersessel der Vampirin zu krabbeln. Während diese nun das Tier von der Sitzgelegenheit pflückte, drehte Sharif sich in die angegebene Richtung. Das Herrenhaus, das Necroma ausgesucht hatte, war in der Tat sehr alt und offenbar schon lange nicht mehr bewohnt gewesen. Es gab nur noch einige einzelne Möbelstücke, von denen der Großteil den Eindruck machte, sie könnten in der nächsten Sekunde zusammenbrechen. Staub, Spinnen und noch allerlei anderes Getier waren seit langer Zeit die einzigen Gäste in diesem Haus gewesen. Unweigerlich dachte er daran, dass die anderen Mitglieder seines Clans überhaupt nicht begeistert sein würden, sich an diesem Ort häuslich niederzulassen. Zwar waren sie eigentlich nie sonderlich wählerisch oder auf Luxus bedacht gewesen, aber im Laufe der Zeit hatten sie alle ein warmes Bett, fließendes Wasser und Elektrizität durchaus zu schätzen gelernt. Auch Sharif wollte dies im Grunde nur sehr ungern missen, auch wenn er noch vor Jahrtausenden in weitaus heruntergekommeneren Behausungen gelebt hatte. Sharif erreichte schließlich die von Necroma angegebene Tür. Eine Weile verharrte er davor, nicht sicher, was er als nächstes tun sollte. Wie sollte er sich verhalten, wenn er Asrim gegenüberstand? Im Grunde war Sharif stets ein ruhiger und besonnener Mann gewesen, aber im Moment war er nicht allzu sehr davon überzeugt, dass er bei Asrims Anblick nicht die Beherrschung verlieren würde. Letztlich aber öffnete er die Tür und trat in das dunkle Zimmer. Die schäbigen und schon stark mottenzerfressenen Vorhänge waren bis auf einen kleinen Schlitz zugezogen und tauchten den Raum in ein eigenartiges Licht. Reich an Mobiliar war auch diese Kammer nicht besonders, ein paar bedenklich anmutende Stühle und ein altes Bettgestell waren das Höchste der Gefühle. Asrim stand am Fenster und schaute aus dem Schlitz hinaus auf die Stadt. Bei Sharifs Auftauchen rührte er sich keinen Millimeter, dennoch war mehr als klar, dass ihm die Anwesenheit des anderen Vampirs nicht entgangen war. Wahrscheinlich hatte er seine Gegenwart schon längst gespürt, als sich der Ägypter noch mit Necroma unterhalten hatte. „Du warst wirklich erstaunlich leicht zu finden“, brachte Sharif das Gespräch in Gang, als Asrim auch nach mehreren verstrichenen Minuten keine Anstalten machte, sich auch nur ein kleines bisschen zu regen. Wie eine Statue starrte er aus dem Fenster. „Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest dich zurückziehen.“ „Hätte ich denn einen Grund dazu?“ Asrims Stimme klang schwer, müde. Sharif trat ein paar Schritte näher an seinen Schöpfer heran, während er gründlich über die Frage nachdachte. Seinen Zorn schluckte er derweil gewaltsam hinunter. „Vielleicht“, sagte er schließlich. „Dir muss klar sein, dass wir nicht allzu gut auf dich zu sprechen sind. Deine Verschwiegenheit hat uns alle in Gefahr gebracht.“ Asrim drehte sich langsam, fast wie in Zeitlupe, vom Fenster weg. Seine glühenden Augen fixierten Sharif und als sein Blick auf die bandagierten Arme und Brandverletzungen fiel, zeichnete sich auf seinen Zügen ein Ausdruck von tiefster Trauer und Reue ab. „Ich wollte nie, dass es soweit kommt“, meinte er flüsternd. „Dann hättest du es verhindern müssen.“ Sharif hatte alle Mühe, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Asrim wirkte zwar geknickt und schwer getroffen, dennoch reichte das nicht, um Sharifs Erbitterung abflauen zu lassen. Ganz im Gegenteil, sein mitleidvoller und melancholischer Blick machte den Ägypter nur noch rasender. „Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass so etwas geschehen könnte“, erwiderte Asrim. „Ich wusste, dass Shadyn … dass Seth sehr mächtig ist, aber ich hätte ihn niemals für eine akute Bedrohung gehalten. Ich wollte ihm nur Einhalt gebieten, damit er nicht in seinem Hass ganz London zerstört, und deswegen habe ich euch alle gebeten, mich zu begleiten. Ich habe nicht gewusst, über welche Macht er wirklich verfügt.“ Sharif erkannte keine Lüge in seinen Worten. Asrim hatte in der Tat keine Ahnung von Seths wahren Kräften gehabt. Im Grunde konnte man ihn keinen wirklichen Vorwurf machen … und trotzdem konnte sich Sharif nicht dazu überwinden, ihm so einfach zu verzeihen. „Dennoch ist das keine Entschuldigung dafür, dass du uns nicht gesagt hast, dass du Seth kennst“, meinte Sharif zähneknirschend. „Du hättest ehrlicher sein sollen. Vielleicht würden wir das Ganze dann besser verstehen.“ Er schwieg einen Moment und musterte Asrim ausgiebig. „Warum hast du Seth verschont? Wieso hast du ihn einfach entkommen lassen?“ Asrim seufzte schwer. „Es ist ... kompliziert.“ „Kompliziert?“, zischte Sharif. „Dieses Ding hätte uns beinahe getötet und du lässt ihn einfach gehen, als wäre nichts dabei. Wie kannst du ihn das einfach durchgehen lassen?“ „Sharif ...“ Asrims Stimme klang müde. Es war mehr als deutlich, dass er dieses Gespräch im Moment auf keinen Fall führen wollte, doch der Ägypter scherte sich nicht darum. „Er hat behauptet, er wäre in Behedet gewesen, um eine schwere Schuld zu begleichen“, fuhr er ungerührt fort. „Was soll das bedeuten? Hat er irgendetwas mit meiner Verwandlung zu tun?“ Asrims Blick wurde mit einem Mal so unglaublich leer, dass es Sharif fast schon erschreckte. Noch niemals zuvor hatte er seinen Schöpfer derart erlebt. Er wirkte plötzlich, als würden all die Jahre, die er gelebt hatte, mit einem Schlag auf ihn niederprasseln und ihn in die Knie zwingen. „Kennst du das Gefühl, wenn du einen gravierenden Fehler begehst und anderen die Schuld dafür gibt, obwohl eigentlich nur du allein es zu verantworten hast?“, fragte Asrim nach. „Shadyn ist solch ein Fehler und er wird es auch immer sein.“ Sharif wollte weiter nachhaken, wollte brüllen und toben und seinem Gegenüber für seine verdammte Verschwiegenheit den Kopf zurechtrücken, aber Asrim wirkte dermaßen mitleiderregend, dass sich Sharif wie der größte Mistkerl auf der Welt vorgekommen wäre, wenn er sich nun auf ihn gestürzt hätte. Er wollte zwar Antworten und das am liebsten sofort, doch Asrim schien, als würde er zusammenbrechen, wenn man ihm zu sehr bedrängen würde. Und Sharif kam nicht umhin, sich zu wundern, was solch einen Mann, der Kriege und Verzweiflung und Schmerz mit einem Lächeln überstanden hatte, der allein durch seine Anwesenheit die Mächtigsten der Welt zum zittern brachte, derart hatte erschüttern können. „Ich werde es dir erklären … aber nicht jetzt“, sagte Asrim schließlich. „Erst wenn die anderen hier sind.“ Sharif erfreute dieses Angebot zwar nicht sonderlich, besonders da niemand wusste, wann Yasmine und die Zwillinge aus Deutschland zurückkehren würden, aber es war besser als nichts. In dem Zustand, in dem Asrim sich zurzeit befand, war es ihm wahrscheinlich sowieso nur möglich, die Geschichte ein einziges Mal zu erzählen. „Du willst mir also nicht einmal erzählen, woher du diesen Kerl kennst?“, hakte Sharif dennoch nach. „Oder was er überhaupt ist?“ Asrim senkte den Blick. „Ich werde dafür sorgen, dass euch nichts mehr geschieht“, erwiderte er, ohne auf Sharifs Frage einzugehen. „Bring die anderen hierher. Ich kümmere mich darum, dass dieses Haus sicher ist.“ Sharif runzelte seine Stirn. Dachte an das magische Feuer, das Vampire bei lebendigen Leibe aufzufressen vermochte. Und er fragte sich, ob Asrim auch diese Macht besaß oder ob Seth ihm überlegen war. „Bist du überhaupt dazu imstande, uns zu beschützen?“, fragte der Ägypter geradeheraus. Asrim zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen, entgegnete jedoch nichts. Es war mehr als deutlich, dass er keine Antwort darauf hatte und ihm dieser Zustand erhebliche Sorgen bereitete. „Er wird uns verfolgen, wenn wir London verlassen, nicht wahr?“, hakte Sharif nach. „Er wird keine Ruhe geben, bis wir oder er tot sind.“ Sharif hatte es deutlich in Seths Blick gesehen. Diesen Wahnsinn, diese Besessenheit. Er war bereit, alles zu riskieren, auch sein eigenes Leben, nur um die Vampire zu vernichten. „Und du willst mir nicht einmal sagen, wieso?“ Sharif war erstaunt, als er merkte, dass sich in seiner Kehle ein Knoten bildete. „Ich könnte in der nächsten Sekunde von Seth getötet werden und du hast nicht einmal den Anstand, mir zu verraten, warum ich sterben soll?“ Asrim hatte bereits begonnen, sich tiefer in die Dunkelheit des Zimmers zurückzuziehen. „Du wirst mich hassen, wenn du die Wahrheit erfährst“, erklärte Asrim mit schwerer Stimme. „Ihr alle werdet mich abgrundtief hassen. Und ich möchte wenigstens noch ein paar kostbare Stunden oder gar Tage haben, in denen ihr in mir kein rücksichtsloses und kaltherziges Monster seht.“ Sharif wusste darauf nichts zu sagen. Er wusste im Grunde nicht einmal, was er fühlen sollte. „Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass ihr für mich das Wichtigste auf dieser Welt seid!“, meinte Asrim mit Nachdruck. „Ich werde alles tun, um euch zu beschützen. Einfach alles!“           *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *     Es war kurz nach zwölf Uhr mittags, als sich Eve zum ersten Mal traute, ihr kleines, von Sharif auferlegtes Gefängnis zu verlassen. Alec bemerkte von der Küche aus sofort die Helligkeit, die in den dunklen Flur strömte. Die Jägerin schien versucht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und tatsächlich hätten ihre leisen Schritte auf dem Teppichboden ein menschliches Ohr durchaus überlisten können, doch für Alec klang es, als würde sie direkt neben ihm mit eisenbeschwerten Springerstiefeln auf einem Fliesenboden steppen. Der Vampir hörte, wie sie kurz verharrte. Wahrscheinlich liebäugelte sie mit der Haustür und war am überlegen, ob sie eine Flucht wagen sollte. Unter Umständen hoffte sie, dass die Untoten an diesem recht sonnigen Mittag sich lieber in ihren Betten aufhielten, anstatt auf eine Jägerin zu achten. Alec konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Wenn sie wirklich so leichtfertig war, dies anzunehmen, dann hatte er die junge Frau völlig falsch eingeschätzt. Immerhin hatte er ihr letzte Nacht unmissverständlich klar gemacht, dass sie Tag und Nacht von äußerst wachsamen Augen beobachtet wurde. Eve schien diese Drohung jedoch nicht vergessen zu haben. Nach einem resignierten Seufzer ihrerseits wandte sie sich von der Haustür ab und verschwand im Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs. Alec hörte nur kurz darauf, wie das Wasser durch die Pumpen strömte. Er bezweifelte stark, dass sie sich unter die Dusche gestellt hatte – nicht im Wissen, von einer unbekannten Zahl von Vampiren ständig überwacht zu werden –, aber vermutlich hatte sie ihren Kopf unter das fließend kalte Wasser des Waschbeckens gehalten und versuchte auf diese Weise, wieder ein paar klare Gedanken zu fassen. Unter Umständen versuchte sie auch durch das Rauschen des Wassers gewisse menschliche Bedürfnisse zu übertönen. Bereits einige Minuten später hörte Alec, wie sich die wieder Badezimmertür öffnete. Eve trat – offenbar noch äußerst lebendig – auf den Flur hinaus. Und stieß kurz darauf einen spitzen Schrei aus. Wie von der Tarantel gestochen stürzte Eve in eine wahllose Richtung davon, um der unbekannten Gefahr zu entkommen. Sie kam in die Küche gestolpert und wäre dabei beinahe über einen Stuhl gestürzt, dermaßen aufgeschreckt war sie. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich fangen, um eine unbequeme Begegnung mit dem Fußboden zu vermeiden. „Guten Morgen, mein Engel“, begrüßte Alec sie fröhlich. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen?“ Eve hatte ihre Hand auf die Brust gedrückt, um ihre Atmung zu beruhigen, und starrte den Vampir einen Augenblick völlig fassungslos an. Seine gute Laune schien ihr vollkommen absurd vorzukommen. „Du scheinst mir ein bisschen durcheinander zu sein, Liebes“, meinte er, mit einem deutlich genüsslichen Unterton. „Sag bloß, da war eine Spinne im Bad? Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich albern, wie viel Angst manche Menschen vor diesen winzigen Krabbelviechern haben können. Viele sind nicht mal so groß wie ein Fingernagel ...“ Wäre Eves Adrenalinspiegel nicht dermaßen hoch gewesen, hätte sie Alec vermutlich für seinen Monolog mit einem vernichtenden Blick bedacht. Nun jedoch war sie viel mehr damit beschäftigt, zurück in Richtung Flur zu starren. „Da ... da waren Augen ...“, sagte sie leicht stockend. „So viele Augen.“ Sie machte den Anschein, als wäre sie gerade mit zehn Vampiren zusammengestoßen. Wahrscheinlich glaubte sie das sogar tatsächlich. Alec grinste breit. Außer ihm selbst, der hier in der Küche stand und versuchte, die Mechanik der hochmodernen Kaffeemaschine zu ergründen, befand sich nur noch Oscar in diesen Räumlichkeiten. Er hatte sich jedoch bereits vor einigen Stunden in ein Zimmer zurückgezogen, das angesichts der vielen Poster voller leicht bekleideter Damen sicherlich ursprünglich einem pubertierenden Teenager gehörte, und hatte sich hingelegt. Mochte draußen auch ein Irrer herumlaufen, der imstande war, Vampire in Flammen aufgehen zu lassen, so würde dies Oscar trotzdem niemals von seinem Schlaf abbringen. Selbst im Zweiten Weltkrieg hatte er in Luftschutzbunkern friedlich geschlummert wie ein Baby, das sich um nichts in der Welt Sorgen zu machen brauchte. „Du siehst Gespenster, was?“ Alec lächelte amüsiert. „Und ich dachte wirklich, dass ihr Jäger etwas härter im Nehmen wärt.“ Eve atmete immer noch tief durch, im Versuch, ihren Herzschlag wieder auf ein einigermaßen angemessenes Level zu bringen, warf dem Vampir jedoch gleichzeitig einen finsteren Blick zu. „Ich halluziniere nicht. Da war irgendetwas im Flur!“ „Witzig, was ihr Menschen euch immer wieder einbilden könnt.“ „Ich habe mir das nicht eingebildet!“, zischte Eve. Sie schien derart von ihren Worten überzeugt, dass Alec kurz stutzte. Er wusste ganz genau, dass sich Oscar immer noch in seinem Zimmer befand und darüber hinaus gab es nichts in dieser Wohnung, was auf Eves Beschreibung hätte zutreffen können. Waren es also wirklich bloß die Nerven gewesen oder hatte sie tatsächlich etwas gesehen? Alec war versucht, in den Flur zu treten und selbst einmal nachzusehen, doch schnell schob er den Gedanken beiseite. Sein Gefahrensensor meldete sich in keinster Weise. „Necroma hat wahrscheinlich ein kleines Präsent zurückgelassen“, meinte er schließlich schulterzuckend.  „Necroma?“ Eves Gesicht war bei der Erwähnung dieses Namens derweil zusehends bleicher geworden. „Sie spielt gerne ihre Spielchen, weißt du?“, erklärte Alec. „Ihre Magie ist zu erstaunlichen Dingen fähig. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sie ein paar Geister aus dem Jenseits holt und sie uns auf den Hals hetzt.“ Eve musterte ihn, als würde sie überlegen, ob er tatsächlich die Wahrheit sprach oder sie bloß auf den Arm nahm. Alec lächelte inzwischen versonnen.  „Ich … ich habe schon einige Geschichten über sie gehört“, ergriff Eve nach einer Weile wieder das Wort. „Angeblich ist sie eine Hexe, die die Herzen ihrer Opfer verschlingt.“ Alec musste auflachen. Er liebte die Gerüchte, die um Necroma im Umlauf waren. Es gab sogar ein hübsches Märchen, in dem erzählt wurde, dass sie fliegen könnte und allein mit ihrem Blick imstande wäre, jemanden zum Schmelzen zu bringen. Necroma war aber wahrlich keine normale Vampirin, das musste er zugeben. Genau wie Asrim war sie mit magischen Fähigkeiten geboren worden, die sich durch die Verwandlung in eine Untote noch zusätzlich verstärkt hatten. Sie besaß einige ausgesprochen beeindruckende Talente und war sicherlich eine der mächtigsten Magierinnen der Welt. Genau aus diesem Grund wollte Sharif sie auch alle unter ihrer Obhut wissen. Necroma hatte schon zuvor Seths Energie unterschwellig spüren können, möglicherweise würde sie es auch bemerken, wenn er sich ihnen näherte. Außerdem konnte sie einen Schutzbann um das Haus errichten, welcher sie – zumindest theoretisch – vor einem ungewollten Besuch seitens Seths beschützen sollte. Alec war sich zwar nicht wirklich sicher, ob das was bringen würde, aber er hatte es nicht gewagt, Sharif zu widersprechen. „Necroma steht nicht wirklich auf Herzen“, erwiderte Alec, während er eine Tasse von der Spüle nahm und sie unter den Schlitz stellte. Bereits im nächsten Moment verbreitete sich der betörende Geruch von Kaffee in der ganzen Küche. „Aber eine Hexe ist sie durchaus.“ Eve musterte ihn noch einen Moment, ehe sie sich schließlich nach anfänglichem Zögern einen Apfel aus der Obstschale nahm  und ihn hastig verspeiste. Im Grunde schon ein Wunder, dass sie sich erst jetzt dazu durchrang, etwas zu essen, wenn man bedachte, wie lange wohl ihre letzte Mahlzeit her war. „Es heißt, sie sei wahnsinnig“, setzte sie an, nachdem der Großteil des Apfels sich bereits in ihrem Magen befand und der erste Hunger gestillt war. „Wer, Necroma?“ Alec nippte kurz an seinem Kaffee und verzog das Gesicht, als er merkte, dass diese modernen Maschinen es meisterlich verstanden, mit Hitze umzugehen. „Oh ja, sie ist wahnsinnig.“ Bestätigend nickte er. „Verrückt und mächtig. Eine tolle Kombination, nicht wahr?“ In Wahrheit war sie eine tickende Zeitbombe, die seit den letzten Jahrtausenden eine stetige und allgegenwärtige Gefahr dargestellt hatte. „Und das findest du lustig?“, hakte Eve verständnislos nach. „Ich habe gehört, sie könnte eine Stadt auslöschen, wenn ihr der Sinn danach stände.“ „Sie hat ein Gewissen“, erwiderte Alec. „Gut, ich gebe zu, es ist schwer auszumachen und meldet sich wirklich nur in den allerseltensten Fällen, aber es ist da. Irgendwo. Tief in ihrem Inneren.“ Eve hob skeptisch eine Augenbraue. „Sie wird London also nicht in die Luft jagen?“ „Dazu ist sie sowieso nicht imstande“, protestierte der Vampir sofort. „Sie könnte höchstens irgendeine Seuche verbreiten, euer Grundwasser austrocknen, euch mit euren schlimmsten Albträumen foltern, sodass ihr allesamt freiwillig von der nächsten Brücke springt, …“ „Schon gut!“, unterbrach ihn Eve hastig. „Ich habe verstanden.“ Unruhig kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, als ihr wohl zum ersten Mal richtig bewusst wurde, welche Macht einzelne Geschöpfe auf diesem Planeten in sich trugen. Und vermutlich verspürte sie keinerlei Verlangen, Necroma irgendwann kennenzulernen. Nach dem Stand der jüngsten Begebenheiten würde sich dies jedoch kaum vermeiden lassen. Ein Gedanke, der Alecs Mundwinkel sofort wieder nach oben verzog. „Ist Sharif hier?“, fragte Eve nach einem kurzen Schweigen. Ihr Blick huschte hin und her, als würde sie den Vampir in irgendeiner dunklen Ecke vermuten. Ihr lagen die Ereignisse von vergangener Nacht offenbar noch schwer im Magen. „Vielleicht“, meinte Alec kryptisch. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, wo Sharif sich in diesem Moment befand. Immer noch aufgebracht, hatte er vor mehreren Stunden seine Jacke gepackt, irgendetwas von Veränderungen gemurmelt und war verschwunden. Er mochte nur an der nächsten Straßenecke stehen und dem Treiben der Menschen zusehen, aber ebenso gut konnte er sich am anderen Ende der Stadt aufhalten und finstere Rachepläne schmieden. Sharif war zwar beileibe nicht so unberechenbar wie manch anderer, doch dann und wann war selbst er nur schwer zu lesen. Und die Ereignisse hatten ihn aufgebracht. Mehr, als er sich eingestehen wollte. Er war dem Ende näher gewesen als irgendwann in den letzten dreitausend Jahren zuvor. Er hatte dem Tod ins Antlitz gesehen und wahrscheinlich bereits mit seinem Leben abgeschlossen gehabt. Vermutlich hatte er sich auch zum allerersten Mal gefragt, was mit Vampiren überhaupt geschah, wenn sie starben. Ob es einen Himmel, eine Hölle oder irgendetwas Vergleichbares für sie gab. Oder ob sie einfach im Nichts verschwanden. Zumindest waren Alec diese Fragen durch den Kopf geschossen, als das Feuer ihn attackiert, ihn umschlossen und beinahe getötet hatte. Niemals zuvor hatte er sich darüber Gedanken gemacht. Ihm war zwar stets bewusst gewesen, dass alles einmal enden würde, selbst seine eigene Existenz, dennoch war es ihm wie etwas weit entferntes und fast schon irreales vorgekommen. Warum hätte er sich darüber den Kopf zerbrechen wollen? „Sind … sind die anderen Vampire auch hier?“, vernahm er wieder Eves Stimme. Sie hatte sich in der Zwischenzeit einen weiteren Apfel genommen und ihn derart schnell verspeist, als gäbe es irgendjemanden in ihrer näheren Umgebung, der ihr das Stück Obst in der nächsten Minute aus den Händen reißen und es selbst essen würde. Alec legte ein Lächeln auf seine Lippen, als er ihr verunsichertes Gesicht betrachtete und die Bilder von Feuer und Tod für einen Moment aus seinem Gedächtnis streichen konnte. „Willst du das wirklich wissen?“ Eve kaute nervös auf ihrer Unterlippe, während ihre Augen hin und her huschten. „Ehrlich gesagt habe ich nie besonderen Wert darauf gelegt, die Sieben einmal persönlich kennenzulernen.“ „Wir sind lebende Legenden“, erklärte Alec belustigt. „Eher lebende Massenmörder“, entgegnete Eve zischelnd. „Ich bin doch bloß noch nicht tot, weil ich nützlich für euch bin. Sobald aber mein Wert verfällt …“ Sie sprach nicht weiter, sondern verzog nur ihr Gesicht und stellte sich wahrscheinlich bildlich vor, wie ihr von einem Vampir gewaltsam das letzte bisschen Blut aus den Adern gesogen wurde. „Ich gebe zu, du bist eine große Verführung, Eve Hamilton.“ Alec beobachtete amüsiert, wie ihr bei diesen Worten unweigerlich ein Schauer über den Rücken lief. „Dein rauschendes Blut, dein pochendes Herz, der Geruch von Angst und Unsicherheit – ein junger Vampir hätte schon längst seinen Verstand verloren und sich auf dich gestürzt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber wir sind da etwas anders, weißt du? Ich habe schon Tausend Frauen wie dich getroffen und mir fallen auf die Schnelle unzählige ein, die anregender sind als du, zumal du immer noch entsetzlich nach Asche stinkst, so leid mir das auch tut.“ Eve wirkte wenig begeistert, auch wenn sie eigentlich froh darüber hätte sein sollen, dass sie beileibe nicht solch eine Verlockung für ihn war, wie sie vielleicht befürchtet hatte. „Wie geht es jetzt weiter?“, hakte sie schließlich nach, ihren Ärger hinunterschluckend. „Wollt ihr mich als Köder für Seth benutzen?“ Man sah ihr deutlich an, dass sie nicht begriff, weswegen sie für diesen Pyromanen in irgendeiner Weise interessant sein könnte, ihr aber gleichzeitig keine andere Erklärung einfiel. „Als erstes werden wir umziehen“, informierte Alec sie mit einem Grinsen. „Necroma hat eine superschöne Ruine aufgetrieben, wo wir uns alle reinquetschen und wahrscheinlich darauf warten können, dass irgendwelche Geister auftauchen. Sie sucht sich gerne Immobilien aus, in denen es ordentlich spukt.“ Amüsiert beobachtete er, wie sie ein wenig blasser wurde, was wahrscheinlich weniger an der Aussicht, es sich in einem Geisterhaus gemütlich machen zu müssen, als vielmehr an der bevorstehenden Begegnung mit Necroma lag. Eine Weile schwiegen sie daraufhin, während Eve den Kaffeeautomaten begutachtete und abzuwägen schien, ob sie nach einer Tasse fragen sollte. Alec ließ sie noch eine Weile zappeln und wartete, ob sie den Mut dafür aufbrachte, seufzte aber schließlich und schob ihr einen Becher rüber, als sie immer noch keine Anstalten gemacht hatte, ihren Mund zu öffnen. Einen Augenblick zögerte sie, vermutlich in einem aberwitzigen Anfall von Stolz, aber letztlich siegte ihr Verlangen und sie nippte vorsichtig am heißen Kaffee. „Wusstest du, dass du meine Ururgroßmutter getroffen hast?“, lenkte sie das Thema plötzlich in eine ganz andere Richtung. Alec war zunächst überrascht, dass sie tatsächlich über so etwas Privates reden wollte, entschied dann jedoch, dass es sich bisher relativ harmlos anhörte. Solange sie nicht anfing, wieder zu tief in seiner Vergangenheit zu bohren wie am Abend zuvor, war alles in Ordnung. „Ach wirklich?“, meinte er belustigt. „Habe ich sie getötet?“ Eve war angesichts der Frage zuerst verwirrt. „Was? Nein, nicht dass ich wüsste.“ Sie räusperte sich kurz. „Sie war damals Jägerin, hier in London. Sie hat dich getroffen, als dieser Dämon in der Stadt war.“ Selbstredend erinnerte sich Alec noch sehr gut an diese Ereignisse. Es war ausgesprochen selten, dass man mit Dämonen in engen Kontakt kam und er hatte keine einzige Sekunde davon vergessen. „Mary Hopkins, darf ich annehmen?“, erkundigte sich Alec mit einem Grinsen. In der Tat erkannte man durchaus etwas von Mary in Eve. Sie war ebenfalls furchtlos und vorwitzig gewesen und hatte sich von einem Sa’onti wie ihm verhältnismäßig wenig einschüchtern lassen. „Sie war wirklich entzückend. Fast schon schade, dass ich mit ihr nicht so eng zusammengearbeitet habe wie mit dir. Ich hätte meine pure Freude daran gehabt.“ Eve runzelte ihre Stirn und schien augenscheinlich nicht genau zu wissen, wie sie diese Aussage einschätzen sollte. „Ich glaube, sie wäre ziemlich stolz auf dich, würde sie noch leben“, fuhr Alec derweil ungerührt fort. „Sie war dir durchaus ähnlich. Stur, vorlaut, unerschrocken. Und sie war ein ziemliches Miststück.“ Eve hob ihren Blick und musterte ihn argwöhnisch. „Trifft dieser Miststück-Part auch auf mich zu?“ Alec zuckte mit den Schultern. „So gut kenne ich dich ja noch nicht. Aber ehrlich gesagt hatte ich inzwischen schon mehr als einmal das Bedürfnis, dir die Gedärme herauszureißen, von daher liegst du gut im Rennen.“ Eve erwiderte nichts, offenbar nicht gewillt, durch irgendeinen herablassenden Kommentar Alecs Aussage zu bestätigen. Stattdessen trat sie unruhig von einem Fuß auf den anderen, in ihrem Kopf vermutlich unzählige Gedanken, angefangen von „Greif dir einfach ein Messer und ramm es ihm in die Halsschlagader!“ bis hin zu „Ich kann es echt nicht fassen, dass ich mich hier mit einem uralten Vampir über meine Vorfahren unterhalte!“ „Du bist in deinem Leben bestimmt schon vielen Menschen begegnet“, meinte Eve schließlich, der das Schweigen zwischen ihnen offenbar unangenehm geworden war. Alec grinste schief. „Was willst du hören? Dass ich mit Attila zusammen gebrandschatzt und Stalin zu meinen besten Freunden gezählt habe?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Ja, ich bin schon vielen begegnet. Einige wirst du vom Namen her wahrscheinlich kennen, aber die meisten werden dir nichts sagen.“ Eve kaute auf ihrer Unterlippe herum und schien es dabei bewenden lassen zu wollen, doch Alec merkte, dass es sie tatsächlich interessierte. Wahrscheinlich hatte sie in zahllosen Quellen gelesen, wie er in Kontakt mit Königen und Päpsten gekommen war, und fragte sich, inwieweit dies alles der Wahrheit entsprach. „Ich kenne Spartacus‘ wahren Namen, falls es dich interessiert“, meinte Alec grinsend. „Ich habe mir einige der Weltwunder angesehen und bedauere es immer noch, dass sie heutzutage verlorengegangen sind. Ich habe Imperien aufsteigen und wieder fallen sehen. Ich war damals in Gallien, als die ersten Gerüchte über einen Mann aus dem Osten aufkamen, den man gekreuzigt hatte und der kurz darauf wieder auferstanden war. Ich habe Männer und Frauen getroffen, die mich – trotzdem des offensichtlichen Makels, dass sie nur Menschen gewesen waren – durchaus beeindruckt haben. Leonardo Da Vinci war da beispielsweise ein ganz besonderer Fall. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können und ehrlich gesagt habe ich das auch des Öfteren getan. Anne Boleyn [1] zählte mich zu ihren engsten Freunden, da sie es sehr zu schätzen wusste, dass sie mir alles anvertrauen konnte, ohne zu befürchten, wegen Hochverrats geköpft zu werden. Und zu deiner Information, ich bin nicht daran schuld, dass es dann letztlich doch so gekommen ist. Oh, und dann war da noch Octavius, der spätere römische Kaiser Augustus [2]. Nicht umsonst wird seine Regierungszeit als die „goldenen Jahre“ angesehen. Und ich erinnere mich noch an das eine Mal, als er mir ins Ohr geflüstert hat, dass er mich reiten wollte wie ein Krieger den Hengst.“ Eve, die zuvor an ihrem Kaffee genippt hatte, verschluckte sich bei diesen Worten und hustete daraufhin derart lautstark, dass sie selbst Oscar hätte aufwecken können. Alec konnte derweil angesichts ihres Gesichtsausdrucks nur lachen. „Er ... er hat wirklich ...?“, brachte sie schließlich irgendwann japsend hervor. Alec zuckte mit den Schultern. „Es waren damals andere Zeiten, man hat nur selten ein Blatt vor den Mund genommen. Er wollte mich und das hat dann einfach ganz deutlich gesagt. Allerdings erzähle ich dir lieber nicht, wie es weiterging, ansonsten erstickst du mir hier noch.“ Sie sah einen Moment tatsächlich so aus, als wäre ihr dies absolut wert, nur um jedes schmutzige Detail zu erfahren, doch noch bevor sie ihren Mund öffnen konnte, wurde Alecs Aufmerksamkeit unvermittelt von etwas anderem beansprucht. Erst war es nur ein Kribbeln auf der Haut, fast wie ein kalter Schauer, dann jedoch spürte er ganz eindeutig, dass irgendwas nicht stimmte. Ein Geruch stieg ihm in die Nase, wie er ihn noch nie zuvor wahrgenommen hatte, während seine Sinne geradezu übernatürlich laut Alarm schrillten. „Was ist los?“, fragte Eve verwirrt nach. Alec antwortete hierauf nicht, sein Blick war voll und ganz auf eine Ecke in der Küche gerichtet, die vor einer Sekunden noch völlig normal gewesen und nun wie von Geisterhand in einen eigenartigen Nebel eingehüllt war. Dem Vampir stellten sich die Nackenhärchen auf, als er dieses seltsame Phänomen betrachtete. Wie eine Säule reichte der gräuliche Nebel vom Boden bis zur Decke und schien etwas zu verbergen, das sich in seinem Inneren befand. Zumindest glaubte Alec kurz, darin einen verschwommenen Schatten erkannt zu haben. Eve hatte den merkwürdigen Nebel inzwischen auch längst bemerkt. Unsicher wich sie einige Schritte zurück und fragte zögerlich: „Ähm … ist das normal?“ Alec konnte auf diese Frage nur den Kopf schütteln. Mitten in einer Küche war ihm solch eine Wettererscheinung bisher noch nie begegnet. Kurz schoss ihm Necroma und ihre manchmal eigenartige Spielchen durch den Kopf, aber er entsann sich nicht, dass sie etwas ähnliches bereits irgendwann einmal durchgezogen hätte. Er wusste einfach tief in seinem Inneren, dass es nicht mit Necroma zu tun haben könnte. Aber was war es dann? Schließlich trat die Gestalt, die Alec zuvor noch schemenhaft gesehen hatte, aus dem Nebel hervor. Es war scheinbar junge Frau mit langen, lockigen Haaren, aber abgesehen davon war sich der Vampir nicht wirklich sicher, was sie eigentlich darstellen sollte. Ihre leeren Augen starrten sie beide ausdruckslos an und ihre Haare und ihr Kleid flatterten, als stünde sie in einem Sturm. Ihr ganzes Erscheinungsbild war genauso grau und undurchsichtig wie der Nebel hinter ihr. Mal war ihre Gestalt bestens zu erkennen, dann wirkte sie fast wie unsichtbar. Ohne dass Alec es hätte verhindern können, wich auch er unbewusst vor diesem seltsamen Wesen zurück. „Ist das … ein Geist?“, fragte Eve, deren Hand auf der Waffe in ihrem Holster ruhte, als könnte sie tatsächlich damit irgendetwas gegen diese Gestalt ausrichten. Alec vermochte nur ahnungslos mit den Schultern zu zucken. Er hatte schon den ein oder anderen Geist gesehen – meist ruhelose Seelen, denen überhaupt nicht klar gewesen war, wo sie sich eigentlich befanden –, aber in der Nähe dieses speziellen Wesens fühlte er sich ausgesprochen eigenartig. Es erinnerte ihn ein wenig an die Begegnung mit Seth und seinem Feuer, auch wenn es bei weitem nicht so intensiv war. „Hat Seth dich geschickt?“, fragte Alec, während er seine Hände zu Fäusten verkrampfte. Eine Verbindung zwischen diesem merkwürdigen Geist und dem Feuerteufel schien auf jeden Fall zu bestehen, das spürte der Vampir sofort.. Die Geisterdame legte ihren Kopf schief und starrte ihn mit ihren weißen Augen einfach nur an. Dann aber öffnete sie den Mund und sagte: „Wir müssen uns unterhalten.“ Ihre Stimme war sogar noch seltsamer als ihr ganzes Erscheinungsbild. Es klang, als würden unzählige Stimmen gleichzeitig sprechen, manche ein wenig zeitverzögerter als andere. Für das empfindliche Gehör eines Vampirs war diese Erfahrung ausgesprochen unangenehm und Alec musste sich sehr beherrschen, sich nicht die Hände auf die Ohren zu pressen. „Und worüber?“, wollte er wissen, das Dröhnen in seinem Kopf vorerst ignorierend. „Über den, den ihr den Feuerteufel nennt.“ Nun war die Stimme einer Frau deutlich von den anderen zu unterscheiden, beinahe, als hätte sie die Führung übernommen. „Ich glaube, wir haben in ihm einen gemeinsamen Feind.“ Kapitel 17: Larva ----------------- Eve starrte wie gebannt auf die gespenstische Nebelgestalt, die sie ihrerseits mit ihren leeren Augen zu mustern schien. Ihr Blick verursachte der Jägerin eine unangenehme Gänsehaut, wie sie es noch nie zuvor im Leben verspürt hatte. Es war, als würde dieses Wesen sie nicht bloß ansehen, sondern tief in ihre Psyche eintauchen, sie von innen erforschen und sie lesen wie ein offenes Buch. Wahrscheinlich wäre jeder Gedanke, der ihr nur flüchtig durch den Kopf huschte, diesem Wesen mehr gewahr als ihr selbst. Doch es war dennoch keine Angst, die Eve verspürte, als sie diese sonderbare Kreatur betrachtete. Stattdessen war sie vielmehr von tiefer Verwirrung und Unglauben erfüllt. Geradezu fassungslos betrachtete sie die vor ihnen schwebende Frau, die so seltsam und unwirklich schien und dabei gleichzeitig so menschlich und von der Eve geglaubt hatte, sie nie wieder im Leben wieder zu sehen. Es war Rose, ohne jeden Zweifel! Rose McCanahan. Gebürtig aus Liverpool, Anwaltsgehilfin und bis vor zwei Jahren noch Eves Nachbarin. Sie hatte in der Wohnung unter der Jägerin gelebt und war eine stille und in sich gekehrte, junge Frau gewesen. Eve hatte nicht oft mit ihr gesprochen, höchstens wenn sie sich im Hausflur oder irgendwo anders zufällig getroffen hatten. Und diese Gespräche hatten sich meist auf die Erkundigung nach dem Befinden und auf das Wetter beschränkt. Und dann war Rose vor zwei Jahren von einem Auto angefahren worden und später an ihren schweren Verletzungen gestorben. Eve hatte sich oft gewünscht, sie näher kennengelernt zu haben, noch einmal mit ihr reden zu können. So gut wie nichts hatte sie über diese Frau gewusst, selbst über den Unfall hatte sie erst drei Wochen später ein anderer Nachbar aufgeklärt, als sie sich zufällig bei den Briefkästen begegnet waren. Hatte sie einen Freund gehabt, Geschwister oder wenigstens eine Katze? Was hatte sie gerne in ihrer Freizeit getan, was war ihr Lieblingsfilm gewesen und was hatte sie gerne gegessen? Keine dieser Fragen hätte Eve beantworten können und es hatte ihr in der Seele wehgetan, als ihr dies viel zu spät bewusst geworden war. Unter Umständen hätten sie gute Freundinnen oder zumindest enge Bekannte werden können. Doch stattdessen hatte sich Eve bloß auf ihre Arbeit konzentriert und diese Chance verpasst. Immer hatte sie es bereut, all die ganzen Jahre. Jedes Mal, wenn sie an Roses ehemaliger Wohnung vorbeiging, musste sie automatisch daran denken, wie dumm und blind manche Leute doch waren, um sich nicht mal die Zeit zu nehmen, das wahrzunehmen, was direkt neben einem geschah. Eve hatte angenommen, diesen Fehler niemals wiedergutmachen zu können. Stattdessen würde sie weiterleben und nie die Möglichkeit erhalten, etwas an der Tatsache ändern zu können, dass Rose für immer und ewig eine Fremde für sie bleiben würde. Und doch hatte sich das Schicksal offenbar anders entschieden. Nun war Rose hier. In der Küche von Vampiren. „Wer, bei Hades, bist du?“ Alecs Stimme klang wie das tiefe Knurren eines aufgebrachten Raubtieres, das unter allen Umständen sein Revier verteidigen wollte. Das Auftauchen dieses ominösen Wesens schien ihn hingegen nicht im Geringsten zu verunsichern. Als wäre er es gewohnt, dass unerwartet irgendwelche Geister bei ihm erschienen. Aber dennoch merkte man an seinen Augen, dass er von einer gewissen Unruhe erfüllt war. „Ihr Name ist Rose McCanahan!“, platzte Eve unvermittelt heraus. Alec warf ihr einen verwirrten Blick zu, doch sie achtete nicht weiter darauf. Intensiv beobachtete sie die Geisterfrau und wartete gespannt auf eine Reaktion, welche sich schließlich in der Form eines breiten Lächelns präsentierte. „Ja und nein“, sagte das Wesen amüsiert. „Du siehst in der Tat deine alte Freundin vor dir, aber es ist nicht so, wie es scheint. Ich habe mir Roses Antlitz nur ausgeliehen.“ Sie kicherte, während sie sich um ihre eigene Achse drehte, um sich von allen Seiten zu präsentieren. Gleichzeitig schwappte ein kühler Wind durch die Küche wie eine Welle. Eve erschauerte, als sie die Kälte spürte, die wie aus dem Nichts zu kommen schien. Es kam ihr vor wie ein eisiger und unsichtbarer Hauch, der sich wie ein Tuch über ihren Körper legte. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich ihr Unbehagen nicht allzu sehr anmerken zu lassen.  „Das heißt, du hast ihre Gestalt angenommen?“ Eve gefiel dieser Gedanke ganz und gar nicht. Sie musste an Rose denken, an ihr nettes Lächeln und ihre stets freundlichen Worte, an ihr sanftes und gutmütiges Wesen. Diese Kreatur jedoch schien gar nichts davon zu besitzen. Unwillkürlich wanderte ihre Hand zu ihrem Holster. Ihr war zwar durchaus bewusst, dass die Waffe wahrscheinlich keinerlei Nutzen auf ein Wesen haben würde, dass nicht mal über eine feste Materie zu verfügen schien, dennoch vollführte Eve die Bewegung wie von selbst. Es war ein Reflex, ein antrainierter Instinkt, der ihr in dieser Situation, die sich sicherlich in keinem Lehrbuch der Welt wiederfinden lassen würde, ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelte. „Ich habe mir ihren Körper nur geborgt“, erwiderte das Geschöpf. „Ich dachte, du würdest dich freuen, deine alte Freundin einmal wiederzusehen, Eve Hamilton.“ Eve verzog ihr Gesicht. Es hatte bestimmt nichts mit Freundlichkeit zu tun, dass dieses Wesen auf Roses Gestalt zurückgegriffen hatte. Allein ihr durchtriebenes Lächeln machte mehr als deutlich, dass ganz andere Intentionen hinter ihrer Entscheidung standen. Möglicherweise wollte sie Eve aus dem Konzept bringen oder auch einfach nur quälen. So oder so, als Gefallen konnte man dies sicher nicht bezeichnen. „Wer, bei den Feuern des Tartaros, bist du?“, wiederholte Alec derweil seine Frage mit Nachdruck. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf der Arbeitsplatte und schien augenscheinlich rasch eine Antwort zu erwarten. Das Rose-Imitat seufzte daraufhin übertrieben theatralisch. „Warum müsst ihr eigentlich alles und jedem einen Namen geben? Und das nicht nur Menschen und Tieren, sondern auch Straßen, Flüssen, Bäumen …“ Als jedoch Alecs erwartungsvoller Blick immer bohrender wurde, meinte sie resigniert: „Na fein, dann nennt mich einfach Larva, wenn euch das glücklicher macht.“ „Larva?“, hakte Alec auf diese Enthüllung hin verwundert nach. An dem Klang seiner Stimme merkte man, dass er den Namen wiedererkannte. „Sag bloß, du kennst sie?“, wollte Eve überrascht wissen. „Na ja“, er bedachte das Wesen namens Larva mit einem undefinierbaren Blick. „Larva ist lateinisch und bedeutet so viel wie ‚Geist‘ oder auch ‚Totenmaske‘.“ Das Geschöpf zuckte mit den Schultern. „Das seht ihr doch in mir, oder? Ein Name ist ein Name, nicht wahr? Ihr habt danach verlangt und dann bekommt ihr auch einen. Es soll doch niemand vor mir behaupten, ich sei unhöflich.“ Eve beäugte Larva skeptisch, während sie darüber nachdachte, ob ihr jemals im Leben ein seltsameres Wesen untergekommen war. Dieses Lächeln und gleichzeitig ihre wie tot erscheinenden Augen wollten einfach nicht zusammenpassen und erschienen überaus grotesk. Sie verliehen Roses wunderschönem Gesicht etwas derartig unheimliches, dass es Eve unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte. „Du sprachst gerade von einem gemeinsamen Feind“, nahm Alec derweil den Gesprächsfaden von vorhin wieder auf. „Ganz recht.“ Larvas Miene verfinsterte sich zusehends und das nicht nur im übertragenden Sinne. Es schien sich tatsächlich ein dunkler Schatten über ihre Gesichtszüge zu legen. „Shadyn ist uns ein schrecklicher Dorn im Auge, wie die Menschen es so gerne bezeichnen.“ Eve blinzelte verdutzt. „Shadyn?“, fragte sie verwirrt nach. „Ich dachte, es geht um Seth.“ „Geht es auch.“ Alec war ein Stück zu ihr gerückt und hatte seine Stimme etwas gesenkt. Eve behagte diese Nähe ganz und gar nicht. „Wir vermuten, dass Shadyn Seths ursprünglicher Name ist.“ „Sein Geburtsname“, bestätigte Larva nickend. „Schon damals hatte ich bei dem Knaben ein komisches Gefühl und jetzt – nach all diesen Jahrtausenden – wagt er es doch tatsächlich, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Eigentlich sollte er es besser wissen, aber offenbar hat er nach all der Zeit vollkommen den Verstand verloren.“ Eve verstand nicht wirklich, was dieses Geistergeschöpf von sich gab, aber bevor sie weiter nachfragen konnte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr eine weitere Gestalt auf, die sie unwillkürlich zurückschrecken ließ. Es war ein hochgewachsener, blasser Mann, der keinerlei Notiz von der Jägerin nahm, sondern stattdessen mit strengen Blick Larva taxierte. „Was soll das denn darstellen?“, fragte er in einem Tonfall, als hätte er soeben einen übelriechenden Misthaufen in seiner sterilen Küche gefunden. „Hat Necroma schon wieder irgendwelche Toten beschworen?“ „Ich glaube nicht –“, begann Alec, wurde aber sogleich wieder von dem Neuankömmling unterbrochen: „Langsam verliere ich wirklich die Geduld! Wusstest du, dass mich letztens beim Duschen die ganze Zeit über ein General aus dem Bürgerkrieg beobachtet hat? Oder was war mit diesem Samurai, der buchstäblich in unserem Kühlschrank gelebt hat?“ Hörbar knirschte er mit den Zähnen. „Ich werde diese Hexe umbringen und diesmal meine ich es wirklich ernst!“ Alec wirkte angesichts der missbilligenden Miene des anderen durchaus amüsiert. „Ich glaube, diesmal ist Necroma wirklich unschuldig, Oscar.“ Oscar schnaubte daraufhin nur verächtlich. „An dem Tag, an dem Necroma unschuldig ist, werde ich mir Blümchen ins Haar flechten und meine Fingernägel rosa lackieren.“ Alec lachte belustigt auf. „Das möchte ich echt zu gerne sehen!“ Oscar warf Alec daraufhin einen dermaßen vernichtenden Blick zu, dass Eve sofort klar wurde, dass die beiden sich wohl öfter in den Haaren lagen. Vage erinnerte sie sich, bei ihren Recherchen über die Sieben in irgendeiner Quelle gelesen zu haben, dass diese zwei Vampire eine außergewöhnliche Beziehung verband. Und wenn man sich ansah, wie die beiden allein durch Blicke und Mimik kommunizierten, bestand daran auch kein Zweifel mehr. „Also, was hast du hier verloren?“ Oscar hatte sich wieder an Larva gewandt, seine harte Miene wirkte unerschütterlich. Er war offenbar wirklich im festen Glauben, dass Necroma erneut irgendwelche Seelen aus dem Jenseits geholt hatte, die nichts von Privatsphäre oder Lebensmittelhygiene verstanden. „Wir haben diese Wohnung zuerst besetzt, also verschwinde gefälligst! Such dir ein anderes Haus, wo du rumspuken kannst.“  In Larvas Gesicht rührte sich kein Muskel, aber dennoch wurden ihre Züge von einer leichten Dunkelheit überzogen. „Du solltest besser auf deinen Tonfall achten, Germane. Ich habe zwar im engeren Sinne kein Gewissen oder Gefühle, aber trotzdem missfallen mir Kränkungen durchaus.“ Oscar hob eine Augenbraue, während er die Arme vor der Brust verschränkte und somit glatt noch ein Stück bedrohlicher wirkte. „Habe ich gerade wirklich deine kleine Geister-Ehre verletzt? Das tut mir ehrlich leid!“ Eve spürte, wie ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief, während Alec grinste, als wäre bereits Weihnachten. Es hätte Eve nicht verwundert, wenn er sich in der nächsten Sekunde eine Tüte Popcorn geschnappt und zurückgelehnt hätte, um die Show richtig zu genießen. Larvas tote Augen musterten Oscar derweil vollkommen ausdruckslos, bevor sich auf ihre grauen Lippen plötzlich ein unheimliches Lächeln legte. „Liegt es vielleicht an meinem Erscheinungsbild? Das kann ich gerne ändern, wenn dir das lieber ist. Wie wäre es mit jemanden, der dir sehr am Herzen lag?“ Und mit einem Mal löste sich die Gestalt Larvas regelrecht vor ihnen auf. Ihr Körper verwandelte sich in Nebelschwaden, die sich hektisch im Kreis drehten und wie Umherirrende erschienen, ehe sie sich wieder beruhigten und sich langsam erneut formierten. Nun schwebte vor ihnen wieder eine nebelhafte Gestalt, doch diesmal hatte sie nicht das Antlitz von Rose McCanahan, sondern das eines großen Mannes mit den gleichen leeren Augen. Eve betrachtete seine schummrige Erscheinung etwas genauer und stellte fest, dass er für die Zeit ziemlich untypische Kleidung trug. Zumindest glaubte sie, um seine Hüfte geschlungen das Fell eines Tieres zu erkennen. „Gefällt dir das vielleicht besser?“ Am Tonfall merkte man, dass es sich immer noch um Larva handelte, aber die dominierende Stimme war nun eindeutig männlich. Oscars Miene war inzwischen wie versteinert. Fassungslos betrachtete er die Gestalt vor sich, als hätte er niemals im Leben damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen. „Also mir sagt es durchaus zu“, meinte Larva, während sie an ihrem Oberteil zu zupfen begann. „Er war so ein großer, starker Mann. Eigentlich schade um ihn, dass er so jämmerlich krepieren musste.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Eve, dass auch Alecs Grinsen verschwunden war. Man sah ihm zwar an, dass er den Mann, den Larva sich als neue Hülle ausgesucht hatte, nicht erkannte, doch er fühlte deutlich die Unruhe des anderen Vampirs und verkrampfte sich ebenfalls. „Armer kleiner Wicht“, fuhr Larva fort. „Er war so ein ausgezeichneter Krieger und Stammesoberhaupt und dann musste er so einfach sterben. Wirklich tragisch!“ Das Wesen fuhr sich durch den gestutzten Bart und ließ ein höhnisches Grinsen erkennen. „Verrate mir, Oscar, was hast du gefühlt, als du deinen großen Bruder hast zugrunde gehen sehen? Ein hilfloser, kleiner Mensch bist du damals noch gewesen und gegen diese tückische Krankheit konntest du nicht das Geringste ausrichten. Sie hat ihn langsam von innen aufgefressen.“ Larva strich sich einmal über das Gesicht und wie aus heiterem Himmel floss plötzlich Blut aus ihren Mundwinkeln hinaus. Die rote Flüssigkeit wirkte bei dieser sonst gräulich-durchscheinenden Erscheinung noch alarmierender als sonst, es schien einen förmlich anzuschreien. Eve warf einen vorsichtigen Blick in Oscars Richtung. Wenn sie das Ganze richtig verstanden hatte, hatte Larva tatsächlich die Dreistigkeit besessen, die Gestalt seines bereits lange verstorbenen Bruders anzunehmen, dessen Tod Oscar immer noch tief in seinem Innern erschütterte. Zumindest das überaus bleiche Gesicht des Vampirs ließ darauf schließen, dass selbst all die Jahrtausende nichts daran geändert hatten. Und Eve musste sich eingestehen, dass sie mit solch einer Reaktion eigentlich nicht gerechnet hatte. Immer schon hatte sie angenommen, dass Vampire nach der Verwandlung ihrem menschlichen Leben den Rücken kehrten und nichts mehr damit zu tun haben wollten. Sie war zumindest in ihrer Laufbahn schon einigen Untoten begegnet, die groß und breit verkündet hatten, dass sie sich nicht mehr um die Menschheit scherten. Und hier war nun Oscar, der weit über zweitausend Jahre alt war und wahrscheinlich schon längst bei der Formung der Römischen Imperiums das Gesicht seines Bruders vergessen hatte. Eve selbst hatte zumindest nach nur fast zwanzig Jahren schon Probleme, sich an die Gesichtszüge ihrer verstorbenen Mutter zu erinnern. Es hätte Oscar eigentlich einerlei sein können. Aber das war es offensichtlich nicht. Ganz und gar nicht.  „Hör auf damit!“, zischte Alec plötzlich. Er ballte seine Hände zu Fäusten und hätte sich vermutlich sofort auf Larva gestürzt, hätte sie eine feste Form besessen. „Das ist wirklich nicht witzig!“ „Ach nein?“ Larva bedachte ihn mit einem Blick, den man als amüsiert hätte bezeichnen können, wenn diese leeren Augen das Ganze nicht in etwas Groteskes verwandelt hätten. „Also ich persönlich finde es furchtbar lustig. Ich habe nicht oft die Möglichkeit, die berühmten Sieben zu ärgern.“ Sie lachte auf. „Ich kann mir die Gesichter der Toten leihen und der Tod ist es, der euch seit Ewigkeiten unentwegt begleitet. Ich kann euch provozieren, ich kann euch zur Weißglut treiben, ich kann euch bis ins Mark erschüttern.“ Sie grinste breit und machte damit mehr als deutlich, dass sie nicht davor zurückschrecken würde. „Willst du womöglich deine Frau noch einmal wiedersehen, Oscar?“, hakte Larva nach. „Oder deine süßen Kinder? Du hast sie alle vor deinen Augen qualvoll sterben sehen und warst am Ende ganz allein, ehe Asrim dich fand. Willst du dich gerne wieder an dieses Gefühl erinnern?“ Oscar erweckte nicht den Anschein, als verspürte er große Lust, diese Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Er war aufs Äußerste angespannt und würde sicherlich in dem Moment explodieren, in dem Larva es wagte, ihre Worte in die Tat umzusetzen. „Und was ist mit dir, Alec?“ fuhr das Wesen ungerührt fort. „Würdest du gerne nochmal deine Mutter sehen? Weißt du noch, wie sie damals in einer dreckigen Seitenstraße im Schlaf gestorben ist, während sie dich, ihren kleinen Jungen, im Arm gehalten hat?“ Alec zuckte kurz zusammen, ehe seine Miene schließlich zu Eis wurde. In seinen Augen funkelte etwas auf, das dem, was Eve in seinem Blick gesehen hatte, als er sich Seth gestellt hatte, sehr nahe kam. „Oder was ist mit Reann? Ich bin mir sicher, dass dir besonders ihr Tod immer noch quer im Magen liegt.“ Eve wagte es inzwischen gar nicht mehr, Alec anzusehen, aus Angst, dass das, was sie zu sehen bekam, eine ungeahnte Furcht in ihr wecken würde. Er hatte schon überhaupt nicht gut darauf reagiert, als Seth ihn auf seine Vergangenheit angesprochen hatte, und nun würde es gewiss nicht anders sein. Auch wenn Eve trotzdem nicht umhin kam, sich zu wundern, wieso plötzlich jeder über Alecs menschliches Leben Bescheid zu wissen schien. Es hatte bei ihrem Gespräch am vorherigen Abend eigentlich den Eindruck gemacht, als wäre er schon seit Jahrhunderten oder sogar länger nicht mehr darauf angesprochen worden. Und nun gleich mehrere Male innerhalb weniger Stunden? Das war mehr als nur Zufall, dessen war Eve sich sicher. Dennoch war es momentan nicht an der Zeit, sich diesem Rätsel zu stellen, nicht mit zwei Vampiren direkt neben ihr, die kurz vor einer Kernschmelze standen. „Bitte“, flehte sie daraufhin. „Du bist doch hier, weil du ihre Hilfe suchst, nicht wahr? Auf diese Weise wirst du sie gewiss nicht erlangen.“ Larva musterte die Jägerin daraufhin einen Augenblick. Es war schwer zu erraten, was in ihrem Kopf vorging, doch Eve vermutete, dass sie die Aussage gar nicht so recht verstand. Offenbar war sie ein Wesen ohne Zugang zu signifikanten Emotionen und obwohl sie es meisterlich verstand, andere gerade damit zu quälen, begriff sie das Konzept dahinter wahrscheinlich nicht wirklich. Für sie war es vermutlich nur logisch, dass sie, da sie wichtige Informationen über Seth besaß, von den Vampiren problemlos die Erlaubnis erhalten würde, mit ihnen zusammenzuarbeiten, selbst wenn sie sie davor zu ihrem eigenen Vergnügen gepeinigt, gefoltert und in einen Vulkan gestoßen hätte.  „Vielleicht … vielleicht könntest du einfach wieder eine andere Gestalt annehmen“, schlug Eve vor. „Und dann reden wir. Über Seth und niemanden sonst!“ Sie bemerkte, wie Alec neben ihr lautstark mit den Zähnen knirschte. „Ich gebe kleinen Jägern eigentlich ungern Recht, aber an deiner Stelle würde auf sie hören. Ich kenne Wesen, die sich nicht daran stören, dass du keine Materie besitzt. Sie können dir unerträgliche Schmerzen bereiten. Larva war unbeeindruckt, Eve konnte dies deutlich erkennen. Es würde sie im Gegenteil wahrscheinlich noch mehr anspornen, die Vampire weiterhin leiden zu lassen. „Du willst mit uns reden? Fein!“ Alec verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sind ehrlich interessiert, besonders da sich Asrim in Schweigen hüllt. Aber solltest du es wagen, noch einmal die Gestalt von jemanden anzunehmen, den wir auch nur ansatzweise kannten, oder auch nur über ihn zu sprechen, werden wir einfach gehen! Ich habe nämlich absolut keine Lust auf deine Spielchen!“ Larva legte ihren Kopf schief. „Ihr braucht mich, wenn ihr den Kampf gegen Shadyn gewinnen wollt.“ „Na und?“, zischte Alec aufgebracht. „Wir haben es wirklich nicht nötig, dass du mit uns spielst, wie es dir gerade gefällt!“ Larva schien sich dies noch einen Moment durch den Kopf gehen zu lassen, blickte von Eve, die Stoßgebete Richtung Himmel schickte, dass dieses Wesen endlich Vernunft annahm, zu den mordlüsternen Vampiren und gab schließlich ein Geräusch von sich, dass wir ein Seufzen klang. Daraufhin änderte sie erneut ihre Gestalt. Oscars Bruder verschwand aus ihrem Blickfeld und Rose McCanahan kehrte wieder zurück. Eve musste zwar zugeben, dass ihr der Anblick ihrer ehemaligen Nachbarin nicht allzu behagte, aber sie hielt wohlweislich ihren Mund. Besser so, als dass die Vampire endgültig ihre Beherrschung verlören und alles zerstörten, was ihnen im Weg stand. Und eine etwaige Beschwerde hätte Larva unter Umständen nur wieder von neuem aufgestachelt. Somit ließ Eve es dabei bewenden und versuchte, das unangenehme Gefühl in ihrer Magengegend nicht zu beachten. „Also fein, ich werde mich bemühen, ein braves Kind zu sein“, erklärte Larva in einem Tonfall, der klarmachte, dass sie niemals ein Kind gewesen war. „Ihr braucht mich und ich brauche euch.“ Eve warf einen Blick zu den beiden Vampiren. Sie wirkten nun wieder ein kleines bisschen entspannter, nachdem Oscars verstorbener Bruder aus dem Blickfeld verschwunden war, aber sie waren noch weit davon entfernt, Larva mit offenen Armen zu empfangen. Alecs Augen funkelten bedrohlich, während Oscar unentwegt mit seinen Knöcheln knackste. „Ich bin hier, weil Shadyn sich uns in den Weg gestellt hat“, kam Larva schließlich auf den Punkt. „Er hat sich erdreistet, uns herauszufordern, und damit wissentlich in Kauf genommen, alle Gesetze auf den Kopf zu stellen.“ „Und mit uns meinst du wen?“, hakte Eve nach. „Mich und meinen …“ Larva zögerte, tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Ich weiß nicht genau, wie ich ihn bezeichnen soll, dass ihr kleingeistigen Kreaturen es auch versteht.“ Mit einem zuckersüßen Lächeln fügte sie noch hinzu: „Nichts für ungut.“ Eve schloss kurz ihre Augen. Larva verstand wirklich gar nichts davon, eine gesunde Allianz aufzubauen. „Man könnte As’kyp wohl am ehesten als meinen Meister bezeichnen“, meinte Larva schließlich. „Er hat mich geschaffen, ich bin ein Teil von ihm.“ „Furchtbar interessant!“, sagte Oscar trocken. „Und wieso kommt dein Meister nicht persönlich vorbei, sondern schickt seine verdammte Dienerin vor? Ihm muss doch klar sein, wer wir sind.“ „Natürlich ist ihm das klar. Er kann nur nicht kommen.“ „Und warum nicht?“, wollte Alec wissen. „Shadyn hat ihn in seiner Gewalt.“ Aus Larvas Stimme war unterdrückter Zorn herauszuhören, aber auch so etwas wie Zerknirschung. Offenbar schien sie sich für die Gefangennahme ihres Meisters die Schuld zu geben. Die Vampire musterten sie weiterhin ausgesprochen missbilligend und auch Eve vermochte es nicht über sich zu bringen, so etwas ähnliches wie Mitleid zu empfinden.  „Und was geht uns das Ganze an?“, zischte Oscar kalt. „Wenn dein kleiner Meister so dumm war, sich schnappen zu lassen, hat er es meiner Ansicht nach auch nicht anders verdient.“ Larvas weiße Augen schienen für einen Moment aufzuglühen. Eine Weile betrachtete sie Oscar schweigend, womöglich überlegend, ob sie ihn nun für seine Dreistigkeit bestrafen sollte oder nicht. Dann aber sagte sie, mit zusammengebissenen Zähnen und einem aufgezwungenen Lächeln: „Es geht euch sehr wohl etwas an. Was denkt ihr denn, woher Shadyn plötzlich die Macht hat, Vampire zu töten?“ Die beiden Untote wechselten einen Blick, der völlig undefinierbar wirkte, den zweien aber offenbar alles sagte, was sie zu wissen brauchten. Für einen kurzen Augenblick beneidete Eve sie glatt um diese Vertrautheit. Es war nicht gerade oft, dass man sich vollkommen ohne Worte oder wenigstens entsprechende Gesten verständigen konnte. Es machte fast den Anschein, als könnte der eine die Gedanken des anderen lesen … und vielleicht war es sogar wirklich so. Die beiden mochten sich hassen oder auch lieben, auf jeden Fall kannten sie sich in- und auswendig. „Wegen deinem Meister ist Seth also so mächtig geworden?“ Alec hatte seine Arme vor der Brust verschränkt, seine Miene blieb weiterhin unlesbar. „Und wie genau?“ Larva fuhr sich durchs Haar. „As’kyp ist … ein Wächter des Jenseits sozusagen. Es ist schwer, das in eurer Sprache zu artikulieren. Im Grunde ist es für euch nur relevant zu wissen, dass er sich um die verstorbenen Seelen kümmert.“ Eve spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Hals bildete. „Ist er etwa … der Tod?“ Larva warf ihr einen Blick zu, als wäre sie ein ungebildetes Kind, das eine ziemlich dumme Frage gestellt hatte. „Selbstverständlich nicht“, erwiderte sie verächtlich schnaubend. „Er kann zwar Leben nehmen, aber das ist nicht seine Aufgabe. Er ist vielmehr für die Zeit danach zuständig, wenn ihr versteht, was ich meine. Ach, und bevor du fragst: nein, er ist weder Gott, der Teufel, Petrus oder sonst irgendwer, dessen Name dir gerade einfällt. Er ist bloß ein Wächter. Einer von vielen.“ Eve war zwar weit davon entfernt, ihre Worte völlig zu begreifen, doch zu ihrer Erleichterung bemerkte sie, dass auch die Vampire einen zumindest leicht verwirrten Eindruck machten. Vielleicht war ihnen das, was Larva ihnen offenbart hatte, ebenfalls neu, möglicherweise aber fragten sie sich auch nur, welche Rolle Seth bei dem Ganzen spielte. „Und was bedeutet das nun?“, erkundigte sich Eve. „Shadyn hatte schon immer eine besondere Verbindung zum Totenreich“, erklärte Larva. „Aber nun kann er sich As’kyps Kräfte bemächtigen, zumindest zu einem gewissen Teil.“ Eve schluckte. Irgendwie hörte sich das gar nicht gut an. „Und wie sieht das nun genau aus? Hat er Macht über Geister?“ Eve wollte dieser Gedanke gar nicht gefallen. Allein die Vorstellung, er könnte über die verstorbenen Seelen gebieten, ließ sie erschauern. Doch zu ihrer großen Erleichterung schüttelte Larva den Kopf. „Über die Seelen kann er nicht gebieten – zumindest noch nicht. Seine Macht beschränkt sich zurzeit eher auf tote Körper. Er könnte beispielsweise die Leichen aus ihren Särgen steigen und sie durch die Gegend wanken lassen.“ Als sie Eves angewiderte Miene sah, lachte sie auf. „Keine Sorge, dazu wird er sich sicherlich nicht herablassen. Das Ganze wäre eine furchtbar eklige Angelegenheit, von der er im Prinzip überhaupt nichts hätte. Verwesende Leichen eignen sich höchstens, um ein paar Menschen zu erschrecken, zu mehr sind die auch gar nicht zu gebrauchen. Die fallen schon auseinander, wenn man die nur schief anschaut.“ Eve musste an alle Zombie-Filme denken, die sie jemals gesehen hatte, und war sich nicht wirklich sicher, ob diese tatsächlich so harmlos waren, dennoch hoffte sie aus tiefstem Herzen, dass Larvas Worte stimmten. Sich mit Vampiren und Dämonen anzulegen, war eine Sache, aber Zombies …? Da hörte der Spaß eindeutig auf! „Und was hat das nun mit uns zu tun?“, fragte Oscar mürrisch. „Was interessiert es uns, ob ein paar tote Menschen hier durch London torkeln?“ Larva lächelte gehässig. „Weil du, mein lieber Freund, und alle anderen Vampire auch zu dieser Kategorie gezählt werden. Gut, ich gebe zu, euch als Leichen zu bezeichnen, trifft nicht unbedingt den Kern der Sache, dennoch sind eure Körper auf eine gewisse Art und Weise tot. Shadyn kann euch zwar nicht völlig beeinflussen, aber trotzdem mehr als jemals ein anderer zuvor.“ Oscar‘ harte Miene verzerrte sich, als er begriff, was das bedeutete. Auch Alec machte keinen besonders erfreuten Eindruck. „As’kyps Macht gepaart mit Shadyns eigener Magie stellen eine enorme Bedrohung für euch dar“, fuhr Larva fort. „Er kann euch zwar nicht manipulieren, so wie es ihm mit normalen Toten möglich ist, aber er kann euch stark beeinflussen. Eure Körper verletzlich machen, sodass schon ein kleiner Messerstich euch töten könnte.“ „Oder ein magisches Feuer“, fügte Alec mit tonloser Stimme hinzu. Larva nickte zustimmend. „Er kann euch so verwundbar machen wie Menschen. Zwar nur in seiner unmittelbaren Nähe und nur für einen kurzen Zeitraum, dennoch reicht das ja schon aus, wie ihr gemerkt habt, nicht wahr? Und genau aus diesem Grund bin ich heute hier. Ich brauche eure Hilfe, um As’kyp zu befreien und die Naturgesetze wiederherzustellen.“ Ihre Augen blieben weiterhin leer, aber man merkte ihr an, wie angespannt sie war. Ungeduldig wartete sie auf eine Antwort. „Woher wissen wir, dass du nicht lügst?“, fragte Oscar. Das war beileibe nicht die Antwort, die Larva hatte hören wollen. „Ihr seid hochrangige Vampire, verdammt noch mal! Ihr merkt es doch, wenn euch jemand anlügt.“ Oscar schnaubte. „Wir sind uns ja nicht mal sicher, was du eigentlich bist.“ Larvas Gestalt wurde für einen Augenblick völlig unsichtbar, bis sich ihre Konturen wieder verdichteten und sie abermals etwas deutlicher zu sehen war. Erneut breitete sich Kälte im Raum aus, aber diesmal war es dermaßen eisig und unangenehm, dass Eve zu zittern begann und sich an den Armen rieb, um ihren Körper wenigstens ein bisschen aufzuwärmen. „Was ich bin, spielt überhaupt keine Rolle“, zischte Larva. „Ich bin bloß eine Erscheinung, ein Werk As’kyps, ein Beweis seiner Macht. Es gibt keine Bezeichnung für das, was ich bin, und ich habe auch nicht die geringste Lust, mir eine auszudenken.“ Sie holte daraufhin einmal tief Luft, um sich wieder ein wenig zu beruhigen. Eve bezweifelte jedoch stark, dass dieses Wesen Sauerstoff benötigte, es schien vielmehr einer theatralischen Geste gleichzukommen. „Shadyn ist entschlossen, ehrgeizig … und offenbar nach all den Jahren verrückt geworden. Mit ihm ist wirklich nicht zu spaßen und er wird nicht so leicht aufgeben, dessen könnt ihr euch sicher sein. Er scheint geradezu besessen davon zu sein, euch alle auszulöschen, und ich glaube zu wissen, wer ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Außerdem redet er die ganze Zeit von einer Frau, die er sich holen will.“ Eve schluckte unwillkürlich. Damit war sicherlich sie gemeint, nur zu genau erinnerte sie sich an die undefinierbaren Blicke, mit denen Seth sie bedacht hatte. Was, zur Hölle, wollte er nur von ihr? „Er ist in der Lage, euch alle zu töten, und er wird es tun, wenn ihr ihn nicht rechtzeitig aufhaltet“, fuhr Larva warnend fort. „Ihr müsst As’kyp befreien, euch bleibt kaum eine andere Wahl. Ich werde euch-“ Sie verstummte abrupt und wirbelte herum, sodass ein neuer Schwall Kälte durch die Küche schwappte und Eve kurz zum Aufstöhnen brachte. Larvas Blick war auf die Nebelwand hinter ihr gerichtet, in der sich, so erkannte Eve, ein undeutlicher Schatten zu bewegen schien. Sie glaubte, eine menschliche Gestalt im Inneren ausmachen zu können, deren Kopf sich hin und her drehte, als suchte sie etwas. „Verdammter Mist, er hat mich gefunden!“, fluchte sie. Sie stieß noch eine Verwünschung in einer anderen Sprache aus, die sehr nach Latein klang, ehe sie sagte: „Ich muss fort, bevor er mich findet. Ich werde versuchen, euch später noch einmal aufzusuchen.“ Und mit diesen Worten verschwanden sie und der eigenartige Nebel so schnell, wie sie gekommen waren. Selbst die Kälte verflüchtigte sich, als würde sie ihrer Herrin folgen. Eve konnte nicht umhin, erleichtert aufzuatmen, als sich allmählich wieder normale Zimmertemperatur einstellte. „Also das war seltsam“, meinte Oscar. Seine Stimme klang tonlos und vollkommen desinteressiert, aber in seinen Augen war die Anspannung deutlich zu erkennen. Eve konnte bloß knapp nicken, zu mehr Reaktion war sie kaum imstande. Irgendwie vermochte sie kaum zu realisieren, was gerade eigentlich geschehen war. Alec hatte derweil die Arme vor der Brust verschränkt und mit eisigem Blick jene Stelle fixiert, an der sich zuvor noch Larva befunden hatte. „Das war wirklich seltsam“, stimmte er Oscar zu. „Aber auf jeden Fall eine sehr interessante Information. Jetzt müssen wir nur noch rauskriegen, wer oder was dieser As’kyp ist und wo wir ihn finden können.“ Er warf einen Blick zu Oscar, der jedoch nur ahnungslos die Schultern hob und dabei irgendein grunzendes Geräusch von sich gab, das Eve schon öfters bei Männern gehört hatte und bis jetzt nicht eindeutig hatte identifizieren können. „Vielleicht sollten wir es einfach mal googlen“, schlug die Jägerin auf Geratewohl vor. Daraufhin sah sie in das Gesicht eines überaus verwirrt dreinschauenden Vampirs. „Was bitte sollen wir tun?“ Oscar musterte sie skeptisch, als wäre er am abwägen, ob sie noch über ihren gesunden Menschenverstand verfügte. Alec genehmigte sich ein kleines Lächeln. „Oscar, alter Freund, es ist wohl allmählich wieder an der Zeit, deinen Wissenstand ein bisschen aufzufrischen. Obwohl ich fast schon beeindruckt bin, dass dir überhaupt bewusst ist, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ist.“ Er klopfte ihm auf die Schulter. „Hamilton meint, dass wir mal im Internet nachschauen sollten.“ „Und was ist Internet?“ „Viel zu kompliziert, um dir das jetzt zu erklären“, erwiderte Alec abwinkend. „Außerdem bin ich mir so oder so nicht sicher, ob sich dort etwas finden lässt. Die übernatürliche Welt hat es echt gut drauf, sich vor eurer zu verbergen. Ich bezweifel, dass As’kyp auf facebook angemeldet ist.“ Eve musste ihm durchaus zustimmen. Das Internet bot unglaublich viele Antworten, aber ebenso auch einen Großteil von Gerüchten, Falschinformationen und Unsinn. Selbst über die Sieben fanden sich nur ein paar kleine Hinweise und diese waren so gut wie alle an den Haaren herbeigezogen. Es schien demnach unwahrscheinlich, dass sie zu solch einer spezifischen Frage eine Antwort finden würden.  Alec schaute derweil zu Eve hinüber und hatte plötzlich ein hinterhältiges Funkeln in den Augen. „Aber wir könnten in Londons einzigartiger Bibliothek fündig werden. Ich habe Gerüchte gehört, dass sich dort die wertvollsten Schätze befinden sollen. Unter Umständen können wir dort etwas finden.“ Im ersten Moment war Eve verwirrt. Er wollte in die Londoner Bibliothek, wieso? Dann jedoch fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er meinte ganz sicher nicht die öffentliche Bücherei, sondern die Bibliothek der Jäger. Mitten im Hauptquartier. Kapitel 18: Monster ------------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.):     Reann hatte sich in ihrem Leben noch niemals derart beobachtet gefühlt. Seit dem Angriff durch diesen gefährlichen Mann mit den übernatürlichen Kräften war es Te-Kem ein besonderes Anliegen, seine Tochter zu jeder Tages- und Nachtzeit beschützt zu wissen. Die Wächter, die Hausdiener und selbst die Magier, die im Herrscherhaus ein und aus gingen, schienen plötzlich keine andere Aufgabe mehr zu kennen, als Reann zu beobachten. Immer war sie in Begleitung, keine ruhige Minute hatte sie mehr für sich selbst. Anfangs war sie sogar in ihre Gemächer und ins Badezimmer verfolgt worden, aber nach einem Wutausbrach hatte sie allen verständlich gemacht, dass es trotz alledem immer noch gewisse Grenzen gab, die nicht überschritten werden sollten. Und Reann legte es wirklich nicht darauf an, von mehreren Augenpaaren begutachtet zu werden, wenn sie in der Badewanne lag oder gar andere Dinge verrichtete, die eigentlich privat bleiben sollten. Und ihr Vater war die ganze Zeit über ein nervliches Wrack. Er fürchtete, sie könnte in die Dunkelheit gezogen werden, wenn er nur ein einziges Mal blinzelte oder kurz seinen Blick abwandte. Mehr als jemals zuvor bestand er darauf, dass sie nicht von seiner Seite wich. Die Angst, sie möglicherweise zu verlieren, fraß ihn förmlich auf. Einzig wenn sie in der Obhut Jylieres war, entspannte er sich ein wenig. Zwar begleitete er sie stets persönlich zu seinem Anwesen, zusammen mit einer halben Armee an Leibwächtern, und begutachtete jedes Mal die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, die Jyliere und einige andere Magier nach dem nächtlichen Einbruch installiert hatten, doch immerhin vertraute er seinem alten Freund genug, um ihm seine Tochter zu überlassen. Zwar hätte er es noch lieber gesehen, dass Jyliere zu ihnen gekommen wäre anstatt umgekehrt, doch Jyliere hatte darauf bestanden, dass die wichtigen Hilfsmittel und Utensilien für ihre Studien alle bei ihm zu Hause wären und es ein großes, logistisches Problem dargestellt hätte, ihre Routine zu verändern. Reann wusste jedoch, dass er dies zum Teil nur behauptete, weil ihm sehr wohl klar war, wie sie unter der panischen Furcht ihres Vaters litt. Selbstredend liebte sie ihren Vater, doch sein Verhalten machte sie inzwischen einfach nur noch wahnsinnig und steigerte ihre eigene Angst ungemein. Deshalb genoss sie Jylieres Gesellschaft sehr, der trotz alledem immer noch so entspannt und ruhig blieb. In seinem Haushalt war einfach alles etwas gelassener, auch wenn die Ereignisse noch vielen sichtbar in den Knochen saßen. Das Fenster war repariert worden, die Bibliothek aufgeräumt, aber trotzdem vermochte Reann die Bilder nicht abzuschütteln. Hinzu kam noch, dass sich Neyos Zustand nicht wirklich besserte. Der Angriff war inzwischen sechs Tage her und immer noch hütete er das Bett. Niemand wusste genau, was ihm fehlte, aber allein die Tatsache, dass sich die Wunde nicht mit Magie hatte behandeln lassen, hatte deutlich gemacht, dass man es mit dunklen Mächten zu tun hatte. Reann hatte zumindest noch nie von etwas Vergleichbaren gehört. Somit hatte man zu primitiven Hilfsmitteln greifen müssen, hatte sich über Heilkräuter und alternativen Methoden informieren müssen, so wie es die Menschen außerhalb der Barriere tagtäglich taten. Es war wohl gelungen, einen Trank zuzubereiten, der die Schmerzen etwas linderte, und eine Salbe herzustellen, die eine Entzündung vermeiden sollte. Zwar waren die Reaktionen darauf bisher verhältnismäßig schwach ausgefallen, aber zumindest waren sie nicht negativ gewesen. Und Reann fühlte sich einfach nur unglaublich schuldig. Im Grunde war ihr klar, dass sie eigentlich nicht in erster Linie zu belangen wäre. Da hätte sie sich schon für ihre reine Existenz entschuldigen müssen. Aber trotzdem konnte sie dieses Gefühl einfach nicht abschütteln, dass sie jetzt in diesem Bett hätte liegen müssen und nicht er. Zumindest rasten ihr diese Gedanken ungefiltert durch den Kopf, als sie sich neben ihn setzte. Die Studien waren an diesem Tag lang und hart ausgefallen, sodass Reann irgendwann um eine Pause gebeten hatte. Als sie Jyliere darüber hinaus gefragt hatte, ob sie nach Neyo sehen könnte, hatte er bloß freudig gelächelt und ihr alle Zeit der Welt geschenkt. Und so saß sie nun, neben seinem Bett auf einem eher unbequemen Holzstuhl, und musterte seine schlafende Gestalt. Reann war sofort aufgefallen, wie blass und ausgemergelt er erschien. Offenbar hatten sie große Probleme, ihn mit Nahrung zu versorgen, da er das meiste davon verweigerte. Inzwischen musste man ihn offenbar sogar regelrecht zwingen, wenn man nicht dabei zusehen wollte, wie er an Ort und Stelle verhungerte. Auch jetzt stand auf dem Nachttisch eine Schüssel mit einem breihaltigen Inhalt, den eine Magd kurz vor Reanns Ankunft Neyo einzuflößen versucht hatte und mehr oder weniger gescheitert war. Sie hatte daraufhin Reann gebeten, einmal ihr Glück zu versuchen, und war wieder ihren Haushaltspflichten nachgegangen. Reann konnte einfach nur den Kopf schütteln angesichts dieser abstrusen Situation. Hätte man ihr vor einer Woche gesagt, dass sie an Neyos Bett Wache halten und ihn mit Brei füttern würde, wäre sie in schallendes Gelächter ausgebrochen. Und nun war es bittere Realität. Sie seufzte und schaute sich kurz in der kleinen Kammer um. Bis zur Nacht des Angriffs war sie noch niemals in seinem Zimmer gewesen. Es war recht klein und überschaubar, aber Reann war sich sicher, dass er sowieso nicht mehr benötigte. Ein Bett, ein Schrank, eine kleine Sitzmöglichkeit. Das einzig Überraschende war ein schmales Regal mit einigen Büchern, die unterschiedliche Themen behandelten, wie Reann nach einer kurzen Untersuchung festgestellt hatte. Einige erzählten Sagen und Legenden, andere waren historisch angehaucht und eins handelte sogar von der Aufzucht von Tieren. Sie hatte zwar immer bemerkt, dass Neyo durchaus über eine gewisse Bildung verfügte, aber eigentlich hätte sie nicht unbedingt erwartet, dass er es womöglich einmal vorzuziehen vermochte, abends ein gutes Buch zu lesen, anstatt sich in der lokalen Taverne mit willigen Frauen zu vergnügen. „Guten Morgen, Faulpelz“, begrüßte Reann Neyo mit einem schiefen Lächeln, als dieser fünf Minuten später schwerfällig seine Augen öffnete und sich zu orientieren versuchte. Neyo musterte sie einen Augenblick mit einer verwirrten Miene, als würde er tatsächlich überlegen, wer sie überhaupt wäre, ehe er mühevoll hervorbrachte: „Welch ... edler Besuch.“ Reann schnaubte, während sie sich bemühte, die nagenden Gewissensbisse irgendwie zu unterdrücken. Doch beim Klang von Neyos schwacher und gebrochener Stimme war dies kaum möglich. „Bilde dir nichts darauf ein“, sagte sie jedoch weiterhin so herrisch, wie sie sich auch sonst normalerweise ihm gegenüber gab. „Hättest du mir nicht das Leben gerettet, wäre ich sicher nicht hier.“ Neyo lächelte knapp. „Was für ein Zufall“, wisperte er. „Hätte ich dir nicht ... das Leben ... gerettet, wäre ich auch nicht hier.“ Reann zog ihre Mundwinkel nach unten und konnte es kaum fassen, dass er sie selbst halbtot noch aus dem Gleichgewicht zu bringen vermochte. „Neyo ...“, begann sie. „Gibt es schon ... was Neues?“, hakte er derweil nach. „Über diesen Sharif?“ Reann schüttelte augenblicklich den Kopf. Dieser Mann – dieses Wesen – war nach seinem kurzen Besuch wie vom Erdboden verschwunden. Keinerlei Spur hatte sich finden lassen. Bloß Gerüchte von finsteren Schatten, die durch die Straßen Rashitars zogen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzten. „Sie werden ihn schon finden“, meinte Reann jedoch und versuchte, einigermaßen zuversichtlich zu klingen. „Unseren magischen Augen entgeht nie etwas.“ Neyo wirkte angesichts dieser Aussage wenig überzeugt, er behielt seine Zweifel aber für sich. „Du solltest etwas essen“, lenkte Reann das Gesprächsthema wieder in eine andere Richtung. „Du siehst furchtbar aus.“ Neyo lächelte schwach. „Danke. So fühle ich mich auch.“ Reann spürte einen Stich tief in ihr Herz und musste einmal tief Luft holen, ehe sie die Schüssel mit dem Brei vom Nachttisch hochhob und ihm entgegenhielt. „Alle sind schon krank vor Sorge“, erklärte Reann mit Nachdruck. „Selbst Catha und Calvio sind ganz still und das sagt ja wohl mehr als alles andere.“ Neyo hingegen sah nur auf das Essen und verzog sofort seine Miene. „Ich habe keinen Hunger.“ „Willst du etwa verhungern?“, fragte sie warnend nach. Neyo bedachte sie daraufhin mit einem Blick, der derart mitleiderregend war, dass Reann sich stark zusammenreißen musste, um ihm nicht in den Arm zu nehmen und ihm zu beschwichtigen, dass alles wieder gut werden würde. „Ich will sicher gar nichts davon!“, meinte er mit zittriger Stimme. „Mein Körper ist schwach, ich habe unerträgliche Schmerzen, ich kann nicht richtig schlafen und wenn doch, dann habe ich Albträume. Und mein Kopf ... es tut so weh ... und diese Stimmen ...“ Reann runzelte die Stirn. „Stimmen?“ Neyo senkte seinen Blick. „Manchmal“, gab er zu. „Wahrscheinlich ... Echos aus meinen Träumen ... so laut ...“ Er zog seine Beine näher an seinen Oberkörper. „Und wenn ich dieses Essen schmecke oder auch nur rieche, dreht sich mir schon automatisch der Magen um. Von mir aus kannst du mich zwingen, es herunterzuwürgen ... aber es wird nicht lange in mir bleiben, das verspreche ich dir.“ Reann schwieg. Sie wusste, nichts, was sie sagte oder tat, würde es für ihn irgendwie besser machen, auch wenn sie sich dies von ganzen Herzen wünschte. Er war vielleicht ein Tunichtgut und hatte ihr gegenüber noch nie ein nettes Wort verloren, das hundertprozentig ernst gemeint gewesen war, aber dennoch hatte er es sicherlich nicht verdient, dies nun alles zu durchleiden. „Ich ...“, begann sie nach einiger Zeit der Stille. „Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt.“ Neyo, der kurz davor gewesen war, wieder in den Schlaf oder womöglich auch in die Bewusstlosigkeit zu gleiten, musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den man beinahe als überrascht hätte bezeichnen können. „Ich war ziemlich geschockt und durcheinander, es ging alles so furchtbar schnell“, fuhr sie ungebremst fort. „Und darum habe ich erst vor kurzem gemerkt, dass ich tatsächlich noch nicht Danke gesagt habe. Du hast mir immerhin das Leben gerettet. Ohne dich wäre ich jetzt tot.“ Sie sah wieder Sharif vor sich mit seinen glühenden Augen, hinter denen Mordlust geflackert hatte. Reann hatte in diesem Moment blanke Todesangst durch litten und hatte bereits mit ihrem Leben abgeschlossen gehabt. Und immer noch verfolgte dieses Wesen sie in ihren Albträumen, quälte sie Nacht für Nacht. Sie war sich nicht sicher, ob sie je wieder davon loskommen würde, selbst wenn es ihnen irgendwann doch gelingen sollte, Sharif zu töten. Manche Erlebnisse vermochte man einfach nicht zu vergessen. Neyo musterte sie einen Augenblick, als würde er tatsächlich wissen, was in ihrem Kopf vorging. Schließlich lächelte er leicht und meinte: „Die Tochter des Oberen bedankt sich ... bei mir? Dass ich das noch erleben darf.“ Reann kam nicht umhin, ihre Augen zu verdrehen. Selbst geschwächt und schwer verletzt war er immer noch derselbe. Und sie musste feststellen, dass es irgendwie etwas Tröstendes hatte. „Aber ... es ist nicht nötig.“ Neyos Augenlider wurden bereits wieder schwerer. „Du hättest das gleiche für mich getan.“ Reann war verblüfft, als sie die Überzeugung in seiner Stimme vernahm. Er bezweifelte keine Sekunde, dass sie ebenfalls ihr Leben riskiert hätte, um ihn zu retten. Und sie stellte erstaunt fest, dass es wirklich der Wahrheit entsprach. Als Sharif Neyo angegriffen hatte, hatte sie tatsächlich vorgehabt, sich wider besseres Wissens auf das Geschöpf zu stürzen, ohne großartig über die Konsequenzen nachzudenken. Ihr war es in diesem Moment nur wichtig gewesen, Neyo zu helfen. Letztlich war Sharif zwar kurz darauf sofort verschwunden und es war demnach für Reann nicht mehr nötig gewesen, in Aktion zu treten, aber die Tatsache, dass sie bereit gewesen wäre, ihr Leben für einen Diener aufs Spiel zu setzen, blieb weiterhin bestehen. Nein, nicht nur für einen Diener. Für ihn. Für diesen Mann, der sie schon seit Jahren mit seiner Dreistigkeit in den Wahnsinn trieb. Der augenscheinlich keinerlei Respekt für sie übrig hatte und sie unterschwellig mit seiner provozierenden Art vielleicht sogar mehr achtete als jeder andere, der sofort katzbuckelte und jede ihrer Aussagen befürwortete. Neyo gehörte zu einem sehr überschaubaren Personenkreis, der keine Angst davor hatte, ihre Meinung infrage zu stellen. Und eigentlich hätte ihn Reann schon längst dafür bestrafen müssen. Diesen Diener, welcher einfach nicht zu wissen schien, wo sein Platz war. Doch aus einem ihr unerfindlichen Grund hatte sie irgendwann, ohne es recht zu bemerken, begonnen, sein Verhalten als ungewöhnlich erfrischend anzusehen. Er war einer der wenigen, der ihr ungeschönt die Wahrheit sagte, und vor nichts und niemanden zurückschreckte. Und Reann hatte mit zunehmenden Alter begriffen, dass man solch eine Person in seinem Leben brauchte, wenn man auf dem Boden der Tatsachen bleiben wollte. Wie hätte sie es demnach mit guten Gewissen verantworten können, ihn sterben zu lassen, ohne wenigstens zu versuchen, irgendetwas dagegen zu unternehmen? Und somit lächelte sie leicht und flüsterte dem inzwischen wieder schlafenden Neyo zu: „Ja, ich hätte dasselbe getan. Und ich hoffe, ich kann mich irgendwann dafür revanchieren.“   *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *   Neyo hatte irgendwann vollkommen sein Zeitgefühl verloren. Es fiel ihm schwer, die Augen offenzuhalten und nicht andauernd sein Bewusstsein zu verlieren. Er gab zwar sein Bestes, aber oftmals war es nicht von Erfolg gekrönt. Ab und zu bemerkte er, dass jemand bei ihm saß. Besorgte Menschen, die ihm irgendetwas zuflüsterten, das er nicht verstand, ihm einen nassen Lappen auf die Stirn legten und ihm dann und wann durchs Haar strichen. Neyo ließ all dies geschehen, hatte gar nicht die Kraft, um es irgendwie zu verhindern. Manchmal erkannte er Gesichter. Catha schien beinahe ununterbrochen an seiner Seite, jedes Mal mit einem Lächeln auf den Lippen, wenn Neyo seine Augen öffnete und sie ansah. Von all denen, die sich um ihn kümmerten, war sie auch die beharrlichste, wenn es darum ging, dass er etwas Nahrung zu sich nehmen sollte. Er hasste es zutiefst, allein der Geruch des Essens ließ Übelkeit in ihm aufsteigen, aber selbst in seinem benommenen Zustand war auch ihm klar, dass er eher früher als später sterben würde, wenn er nichts zu sich nahm. Somit zwang er sich hin und wieder, wenn ihm nicht ganz so schlecht war wie sonst, ein paar Bissen herunter und war jedes Mal erleichtert, wenn sich das Essen entschied, in seinem Magen zu verweilen. Schmerzen verspürte er glücklicherweise eigentlich kaum. Wahrscheinlich waren das Fieber und sein allgemeiner Gesundheitszustand derart einnehmend, dass die Wunde an seinem Arm bloß noch nebensächlich war. Neyo merkte es nur, wenn er sich auf die Seite drehen und allgemein den Arm bewegen wollte, da ihn jedes Mal eine Welle des Schmerzes überrollte, die ihm nicht selten das Bewusstsein raubte. Neyo hasste es. Hasste es, derart schwach zu sein. Hasste es, nur darniederzuliegen und darauf zu hoffen, dass es ihm irgendwann wieder besser ging, auch wenn diese Hoffnung mit jedem Tag immer weiter schrumpfte. Irgendwann hatte Neyo schon längst vergessen, wie es sich überhaupt anfühlte, gesund zu sein. Wie es war, nicht ans Bett gefesselt zu sein und mit aller Macht dagegen anzukämpfen, wieder in tiefen Schlaf zu gleiten. Denn mit der Finsternis kamen die Albträume. Von Monstern mit glühenden Augen und scharfen Zähnen, die Neyo immer wieder aufs Neue grausam verstümmelten. Er kämpfte, er schrie, aber letztlich blieb es vollkommen sinnlos. Und irgendwann war Neyo an einem Punkt angekommen, wo er sich ehrlich fragte, ob der Tod nicht vielleicht eine Erlösung sein würde. Er sprach diesen Gedanken zwar nie aus, da es durchaus Menschen gab, die auf seine Weiterexistenz bauten, doch er wurde mit Mal zu Mal bestimmender. Er wusste auf jeden Fall, dass er nicht mehr lange so weiterleben konnte. Nicht für sich selbst, nicht für Jyliere, nicht für Calvio oder Catha. Nicht einmal für Reann, von der er wusste, dass es sie schwer treffen würde, wenn er aus dem Ganzen nicht lebend herauskam. Sie würde sich die Schuld dafür geben und das wahrscheinlich bis an ihr Lebensende. Denn auch wenn sie sich nach außen hin so hart und unnachgiebig zeigte, so hatte sie dennoch einen guten Kern. Und dabei zuzusehen, wie der Mann, der ihr Leben gerettet hatte, langsam zugrundeging, würde auch an ihr nicht spurlos vorbeigehen. Neyo fühlte sich deswegen unglaublich schlecht, aber gleichzeitig hatte er keine Ahnung, wo er noch die Energie hernehmen sollte, um weiterzumachen. „Du siehst furchtbar aus“, vernahm er irgendwann eine Stimme mitten in seinem Delirium. Erst dachte Neyo, es wäre ein Traum, aber kurz darauf bemerkte er, dass tatsächlich jemand bei ihm im Zimmer saß. Er versuchte mühevoll, die Gestalt auf dem Stuhl neben seinem Bett zu erkennen, doch der spärlich beleuchtete Raum ließ dies nicht zu. „Du stirbst, Neyo“, fuhr der Mann fort. „Ich kann dir helfen, zu überleben. Zu leben.“ Neyo gab sein Bestes, die Stimme irgendwo zuzuordnen, aber es gelang ihm nicht. Allerdings merkte er sogleich, dass sie etwas Beruhigendes an sich hatte. Ohne dass er es hätte verhindern können, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er ihr lauschte. Im nächsten Moment spürte er, wie eine Hand auf seine Stirn gelegt wurde. Es fühlte sich seltsam vertraut an, als hätte er dies bereits etliche Male erlebt. Er lehnte sich sogar, soweit es seine Kräfte zuließen, in die Berührung. Und bereits im nächsten Moment spürte er, wie seine Energie nach und nach zu ihm zurückkehrte. Im ersten Moment dachte Neyo, es wäre nicht real. Bloß ein grausamer Traum, eine Illusion, die ihn in falscher Sicherheit wiegen sollte. Ein schlechter Scherz. Aber als es ihm im einen Augenblick später möglich war, seine Augen aufzuschlagen und seinen Oberkörper aufzurichten, wusste er, dass es der Wahrheit entsprach. Zunächst war Neyo einfach nur verwirrt. Er schaute sich in seinem Zimmer um, in dem alles so war wie immer, und fragte sich, ob er sich womöglich das Ganze nicht nur eingebildet hatte. Als sein Blick jedoch auf seinen bandagierten Arm fiel, war ihm klar, dass tatsächlich ein übernatürliches Wesen versucht hatte, Reann zu töten. Und er war schwer verletzt worden und hatte vor einigen Sekunden noch ernsthaft darüber nachgedacht, ob der Tod nicht besser für ihn wäre als diese unentwegte Qual. Neyo richtete schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit seine Aufmerksamkeit auf die Gestalt, die es sich fast schon gelassen auf dem Stuhl neben seinem Bett gemütlich gemacht hatte. Es war mehr als seltsam, ihn anzusehen, als würde es alle Willensstärke erfordern, seinen Blick zu fokussieren, um jede Einzelheit zu erhaschen. Als würde es ihm irgendeine übermenschliche Macht schwermachen wollen, das Gesicht des Fremden richtig zu erkennen. Doch seine Augen stachen deutlich hervor. Diese roten, übernatürlichen Augen. „Wer ... wer bist du?“ Neyos Stimme zitterte, als er etwas vor dem Fremden wegrutschte, bis er mit seinem Rücken an die Wand stieß. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und Erinnerungen an Sharif stiegen in ihm auf, die ihm die Kehle zuschnürten. Gleichzeitig spürte Neyo aber auch eine seltsame Verbundenheit, welche er sich einfach nicht zu erklären vermochte. Ein Teil seines Selbst wollte gar nicht fort von diesem Mann, sondern ihm im Gegenteil ganz nahe sein. Wollte seine Hand nehmen und sich von ihm in eine Welt ohne Schmerzen und Sorgen führen lassen. Es war so unglaublich verführerisch, dass es Neyo fast den Atem raubte. „Man nennt mich Asrim“, stellte sich der Unbekannte mit einem Lächeln vor. Und erneut war da diese Stimme, die Neyo so in ihren Bann zog. Er wusste, dass er diesem Mann selbst mit Verzückung zugehört hätte, wenn er die Stammbäume der Magierfamilien vorgelesen hätte. Und Neyo war klar, dass ihn dies eigentlich hätte ängstigen sollen. Mehr als alles andere. „Du ... Sharif ...“ Mehr brachte er einfach nicht zustande, doch Asrim schien ohne Probleme zu verstehen. „Es tut mir sehr leid, dass er etwas grob zu dir war“, meinte er und schien es sogar tatsächlich ernst zu meinen. „Er hatte strikte Anweisung, dir keinen Schaden zuzufügen. Allerdings hat keiner von uns beiden damit gerechnet, dass du dich als so kämpferisch erweisen würdest.“ Neyo schluckte schwer und versuchte, das durcheinanderwirbelnde Chaos in seinem Kopf irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. „Reann ...“ „Ich will ehrlich sein“, fuhr Asrim fort. „Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen, wenn ich sie aus deinem Leben entferne. Mir war nicht klar, dass sie dir so viel bedeutet, dass du es sogar riskierst, getötet zu werden.“ Er schwieg einen Augenblick. „Hätte ich es gewusst, wäre mir nie in den Sinn gekommen, sie anzugreifen.“ Neyo wollte ihm glauben. Er wollte ihm so dringend glauben. Aber er konnte einfach nicht. „Was willst du von mir?“, schaffte er schließlich, einen vollständigen Satz zusammenzusetzen. Zwar zitterte seine Stimme und er klang wie ein verängstigtes Kind, aber es war immerhin besser als nichts. „Ich?“ Asrim legte seinen Kopf schief, als wäre er tatsächlich überrascht, dass Neyo solch eine Frage stellen konnte. „Ich will dir das Leben retten.“ Neyo hätte am liebsten spöttisch aufgelacht, doch er war einfach nicht in der Lage dazu. Asrim hatte ihm mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten wieder Kraft und Energie geschenkt. Wieso hätte er sich überhaupt die Mühe machen sollen, wenn er Neyo bloß tot hätte sehen wollen? „Meine Magie reicht nicht aus“, fuhr das Wesen fort. „Keine Magie der Welt reicht aus. Vorübergehend kann ich dafür sorgen, dass es dir etwas besser geht, aber im Grunde habe ich damit das Unvermeidliche nur aufgeschoben. Die Schlaflosigkeit, der quälende Durst, die Stimmen – das alles sind Anzeichen.“ Neyo runzelte die Stirn. „Anzeichen wofür?“ Asrim lächelte. „Dass du zu einem von uns wirst.“ Neyo spürte, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug, als er diese Worte vernahm. Er wollte lachen, er wollte spotten, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass dieses Wesen die Wahrheit sprach. Er wusste es unterbewusst schon seit Wochen, als sich der Koch an einem Messer übel geschnitten und Neyo beim Anblick des vielen Blutes etwas sehr Seltsames gefühlt hatte. Da war kein Ekel gewesen, kein Schock, sondern vielmehr ein Drang, sich zu nähern. Den Geruch in sich aufzunehmen, es vielleicht sogar zu schmecken ... „Komm mit uns“, flüsterte Asrim. „Wir können dir eine völlig neue Welt offenbaren. Die Mächtigsten dieses Landes werden vor dir erzittern und auf dem Boden kriechen. Niemand wird je wieder auf dich hinabsehen.“ Neyo musste zugeben, dass es verlockend klang. Er führte zwar ein vergleichsweise gutes Leben, aber es gab so vieles, was er noch begehrte. So vieles, was er eigentlich noch erreichen wollte, aber einfach nicht konnte, weil er nun mal nur ein Diener und Straßenjunge war. Aber war er dafür wirklich bereit, seine Seele zu verkaufen? „Verschwinde!“, zischte er somit und versuchte seine Stimme so gefasst wie möglich klingen zu lassen. „Und nimm deine dämonischen Versprechungen mit dir.“ Asrim jedoch schmunzelte bloß. „Du hast keine Ahnung vom Leben eines Nachtwandlers“, meinte er. „Was denkst du, wie es werden wird? Dass du dein Gewissen verlierst, deine Fähigkeit zu Fühlen? Dass du lediglich von dem Hunger nach Blut und dem Streben nach Macht angetrieben wirst? Dass du quälst und mordest und vögelst, wie es dir gefällt, ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen?“ Neyo schluckte schwer. Er zwang sich, nicht zu nicken, auch wenn es im Grunde genau das war, was er sich darunter vorgestellt hatte. Was er von allen Seiten gehört hatte. Überall hieß es, Vampire wären seelenlose Monster, die kein bisschen Menschlichkeit in sich trugen. Die sich für niemanden anderen interessierten außer sich selbst. Und Neyo wollte ganz sicher nicht so werden. „Ich gebe zu, einige Exemplare unserer Gattung verhalten sich tatsächlich wenig vorzeigbar“, entgegnete Asrim. „Aber das sind meist diejenigen, die schon als Menschen keinerlei Gewissen hatten. Denn eines ist gewiss, mein junger Freund, die Menschen sind die grausamsten Monster von allen. Weißt du, wie es dort draußen zurzeit zugeht? Es wird gemordet, gebrandschatzt, vergewaltigt. Menschen verkaufen andere Menschen rücksichtslos in die Sklaverei und fühlen sich nicht einmal ansatzweise schlecht deswegen. Sie töten wegen Nichtigkeiten, quälen und foltern. Kein anderes Wesen auf dieser Welt ist derart schrecklich.“ Neyo wollte widersprechen, wollte lautstark protestieren, aber zu seiner eigenen Überraschung merkte er, dass kein Wort über seine Lippen kam. „Ich will nicht sagen, dass alle Vampire liebevolle und mitfühlende Wesen sind“, erwiderte Asrim. „Wir sind alle unterschiedlich, so wie ihr auch. Ich kenne Nachtwandler, die es lieben, die Gedärme aus ihren Opfern herauszureißen, während diese noch bei Bewusstsein sind, und ich kenne welche, die gerne abends Kindern Gutenachtgeschichten vorlesen. Und wir fühlen, Neyo! Sehr viel mehr als ihr kleinen Menschen es jemals nachvollziehen könnt. Wir sind die Ewigkeit, Neyo. Wenn wir wirklich lieben oder hassen, dann vergeht dies nicht nach ein paar Monaten oder Jahren. Dann verläuft es sich nicht irgendwann im Sande wie bei euch. Dies kann zu Grausamkeit und sogar Wahnsinn führen, aber ebenso zu etwas derartig Tiefem, dass es einen gleichzeitig glücklich macht und verzweifeln lässt.“ Neyo wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er merkte nur, dass sich sein Herzschlag mit jeder Sekunde mehr beruhigt hatte und diesen Umstand fand er mehr als nur beunruhigend. „Du bist ein Mann, der seine Freiheit liebt und bereit ist, für jemand anderen zu sterben.“ Asrim musterte ihn wohlwollend. „Das wird sich nicht ändern, nur weil du zu einem Vampir wirst. Ganz im Gegenteil, es wird noch sehr viel stärker werden. Du wirst noch sehr viel stärker werden!“ Neyo schluckte schwer. Inzwischen lauschte er wie in Trance Asrims berauschender Stimme und ertappte sich dabei, wie er kurz davor war, zu nicken und sich diesem Wesen anzuvertrauen, ohne noch einen weiteren Gedanken zu verschwenden. Erst als er seinen Arm bewegte und ihn wieder eine Welle des Schmerzes ergriff, fühlte er sich, als wäre er von einem Bann gelöst. Er ersetzte Asrims Lächeln durch Sharifs leuchtende Augen und seine erbarmungslose Bereitschaft, Reann umzubringen, bloß weil Asrim es ihm aufgetragen hatte. Asrim mochte so viel von edlen Motiven und Gefühlen sprechen, wie es ihm passte, Neyo hatte die Zügellosigkeit in Sharifs Blick gesehen und wusste einfach, dass man dies nur bei einem Vampir finden würde. Und somit verhärtete er seinen Blick und meinte entschieden: „Ich will als Mensch sterben!“ Asrim wirkte wenig überrascht. Offenbar hatte er von vornherein nicht damit gerechnet, dass ein paar nette Worte ausreichen würden, um Neyo zu sich zu holen. „Dann sei dir gewiss, dass dies eher früher als später geschehen wird“, warnte er. „Dein Körper gibt allmählich auf. Du hast vielleicht noch wenige Monate oder möglicherweise sogar bloß noch Wochen. Und es wird ein qualvoller Tod werden. Das, was du gefühlt hast, bevor ich hier ankam, wird sich noch vertausendfachen.“ Neyo spannte sich bei diesen Worten automatisch an. Bevor Asrim ihn mit seiner Magie wieder etwas Energie beschert hatte, war er kurz davor gewesen, aufzugeben, da er die Pein nicht mehr ertragen hatte. Wie konnte es noch schlimmer werden? Asrim war in der Zwischenzeit wieder von dem Stuhl aufgestanden und beugte sich zu Neyo. Sanft strich er ihm kurz über das Haar und Neyo tat zu seinem eigenen Erstaunen absolut gar nichts, um der Berührung zu entgehen. „Ich bin hierhergekommen, um dich zu retten!“, erklärte Asrim mit Nachdruck. „Und ich werde nicht eher ruhen, bis es mir gelungen ist.“ Kapitel 19: Einbruch -------------------- London, England (2012): Richard lief unruhig in Liams Büro hin und her. Eigentlich versuchte er immer, seine Fassung zu bewahren und jede Situation mit kühler Gelassenheit zu analysieren, doch seit den Ereignissen von letzter Nacht war ihm dies nicht mehr möglich. Er hörte immer noch das Feuer knistern, spürte die beinahe unerträgliche Hitze und fühlte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er hatte gleich gemerkt, dass es sich um kein natürliches Feuer gehandelt hatte, während andere diesbezüglich noch am Debattieren gewesen waren. Vielleicht lag es daran, dass er Magier in seinem Familienstammbaum vorzuweisen hatte und, auch wenn er selbst keinerlei Talent dafür besaß, dennoch ein etwas feineres Gespür für diese Dinge hatte. Womöglich glaubte er inzwischen auch einfach nicht mehr, dass irgendetwas Zufall war. Den offiziellen Berichten nach war niemand zu Schaden gekommen, nur das Lagerhaus war bloß noch ein Haufen Asche. Die Feuerwehr war angehalten worden, keine große Sache aus dem Ganzen zu machen, mochte auch jeder einzelne Feuerwehrmann, der anwesend gewesen war, durchaus das Gegenteil behaupten können. Doch die Jäger arbeiteten schon seit vielen Jahrzehnten mit den Behörden zusammen und waren gerade angesichts dieser zunehmenden Brände sehr darauf bedacht, keine Panik aufkommen zu lassen. Niemand war verletzt worden und nur das brauchte die Öffentlichkeit zunächst zu wissen. Auch wenn es nicht wirklich der Wahrheit entsprach. Nachdem sich das Feuer wie von Geisterhand zurückgezogen hatte und die Jäger zum ersten Mal den Schaden hatten begutachten können, hatte man Seamus Heart gefunden, nicht weit entfernt vom Brandherd. Offenbar war er den Flammen gefährlich nahe gekommen. Er hatte zwar keine äußerlichen Verletzungen davongetragen, aber dafür eine Menge ungesunden Rauch eingeatmet. Als sie ihn entdeckt hatten, hatte er sie gerade noch mit letzter Kraft warnen können, dass Eve von den Sieben entführt worden war, ehe er das Bewusstsein verloren hatte. Und seitdem bestand Richard im Grunde aus nichts anderem mehr als Anspannung. Er hatte seine Männer ausschwärmen lassen, um nach Eve oder zumindest irgendwelchen Hinweisen zu suchen, auch wenn ihm bewusst gewesen war, dass Wesen wie diese Vampire niemals irgendwelche Spuren hinterließen, wenn sie es nicht selbst darauf anlegten. Währenddessen hatte er persönlich dafür gesorgt, dass Seamus in ihren Krankenflügel verlegt wurde. Ihr medizinisches Personal bestand aus einer Ärztin, deren Familie seit Generationen für die Jäger arbeitete und inzwischen so gut wie jede natürliche und übernatürliche Verletzung kannte, und aus einer Pflegerin, die gleichzeitig Magierin war und einige ausgesprochen nützliche Talente besaß. Es war für sie ein leichtes, Seamus zu behandeln, auch wenn es ein wenig Zeit in Anspruch nahm. Nun saß er in Liams Büro auf einem Sessel, immer noch etwas blass und hin und wieder hustend, aber ansonsten soweit unbeschadet. „Ich glaube, sie haben Miss Hamilton mitgenommen, weil sie gemerkt haben, dass dieser Seth irgendeine Verbindung zu ihr hat“, erklärte der Historiker gerade auf Liams Frage hin, wieso die Vampire Eve überhaupt entführt hätten. „Das Feuer hat sie nicht angegriffen und allein die Art, wie er mit ihr geredet hat ...“ „Konnten Sie irgendwie heraushören, woher diese Verbindung kommt?“, hakte Liam interessiert nach. Seamus konnte bloß mit den Schultern zucken. „Ich glaube, das war abgesehen von Seth niemanden klar.“ Liam nickte verstehend, ehe er sich etwas zurücklehnte und intensiv darüber nachgrübelte, was das alles nur zu bedeuten hätte. Richard kannte diesen in sich gekehrten Blick nur zu gut, nur dieses Mal bezweifelte er, dass Liam mit einer zufriedenstellenden Antwort auffahren würde. „Es war sowieso alles ... sehr seltsam“, formulierte Seamus es vorsichtig. „Dieser Seth ... er wusste über Sharifs und Alecs Vergangenheit Bescheid.“ Richard runzelte daraufhin die Stirn. „Wirklich?“ Seamus nickte enthusiastisch. „Und zwar nicht das, was sich in irgendwelchen Quellen wiederfindet, sondern das, wonach sich ein Historiker wie ich die Finger leckt. Er kannte Sharifs Geburtsort, wusste um die genauen Umstände seiner Verwandlung. Und das habe ich noch nirgendwo niedergeschrieben gesehen! Außerdem hat er Alec mit seinem Geburtsnamen angeredet!“ Richard wechselte einen Blick mit Liam, der mit jeder neuen Information glatt eine Spur älter zu werden schien. „Alec kannte ihn überdies, auch wenn er sich offenbar nicht wirklich daran erinnert hat, woher“, fuhr Seamus mit seinem Bericht fort. „Und Asrim hat ihn Shadyn genannt.“ Richard spürte, wie er automatisch zusammenzuckte, und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass es Liam nicht viel anders erging. Beide Männer starrten den Historiker mit großen Augen an. „Asrim?“, fragte Liam schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Er war dort?“ Seamus nickte. „Und Sie haben ihn gesehen?“ „Na ja, nicht ganz deutlich“, gab Seamus zu. „Aber ja, irgendwie schon.“ Richard sog scharf die Luft ein. Damit hatte Seamus allen Jägern auf diesem Planeten etwas voraus. Niemand hatte Asrim je zu Gesicht bekommen, der danach noch davon hatte berichten können. Es gab kein Foto, keine Personenbeschreibung, kein Phantombild. Selbst die vereinzelten Quellen, die auch auf sein äußeres Erscheinungsbild eingingen, beschränkten sich bloß auf rotglühende Augen und dunkle Haare. „Asrim ist demnach auch in der Stadt“, meinte Liam und atmete einmal tief durch. „Nun, ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin, aber ehrlich gesagt hatte ich immer noch Hoffnung, dass er nicht in London sein würde.“ Richard fand persönlich, dass die Situation so oder so schon schlimm genug war und Asrims Anwesenheit im Grunde keinen großen Unterschied mehr machte, aber dennoch hätte er sehr gut darauf verzichten können, ihm jemals zu begegnen. Seamus versuchte, gelassen zu wirken, als würde ihn all dies nicht sonderlich beeindrucken, aber man merkte deutlich, dass er aufgewühlt war und das Treffen mit Asrim, von dem gesagt wurde, dass alleine seine Präsenz bei allen Anwesenden Wahnsinn und Verzweiflung auslösen würde, trug sicherlich seinen Teil dazu bei. „Shadyn?“, hakte Liam derweil nach. „So hat Asrim ihn also genannt?“ Seamus nickte bestätigend. „Wir haben unter dem Namen ‚Seth‘ nichts über diesen Mann finden können“, meinte Liam und rieb sich nachdenklich am Kinn. „Vielleicht sind wir mit ‚Shadyn‘ erfolgreicher.“ Seamus richtete sich sofort etwas auf. „Ich kann gerne helfen. Ich bin gut im Recherchieren.“ Er räusperte sich. „Ich kenne Alecs Geburtsnamen schon seit Jahren, nur wollte mir nie jemand glauben.“ Ein leichtes Lächeln umspielte Liams Lippen, als er den anderen Mann beinahe wohlwollend musterte. „Ich glaube, das dürfte sich in Zukunft sehr stark ändern, Mr. Heart.“     *  *  *  *  *  *  *  *  *  *     „Aber warum nur? Warum ins Hauptquartier?“ Eve schien der Verzweiflung nahe zu sein. Nervös streifte sie in der Küche hin und her. Alec beobachtete sie belustigt, während Oscar die Jägerin äußerst missbilligend musterte und offenbar zu überlegen schien, ob er sie nicht lieber aus dem Fenster werfen sollte, einfach um sich den ganzen Ärger zu ersparen. „Weil es im Fachbereich Okkultismus die am besten ausgestattete Bibliothek der ganzen Welt ist, höchstens noch vergleichbar mit New York oder Berlin“, erklärte Alec in einem Tonfall, als würde er ein begriffsstutziges Kleinkind belehren. Er selbst hatte die Bibliothek der Jäger nie betreten, dennoch waren ihm genügend Gerüchte darüber zu Ohren gekommen. Originale und Abschriften unschätzbar wertvoller Schriften sollten sich dort angeblich tummeln wie die Fische im Meer, zugänglich nur für sehr wenige Menschen. Selbst der Präsident der Vereinigten Staaten hätte dort nicht einfach so ohne weiteres hereinmarschieren können, ohne nicht mindestens fünf Anträge gestellt, mehrere Sicherheitsprotokolle durchlaufen und sein Erstgeborenes geopfert zu haben. Alec hatte sich schon lange für diesen streng gehüteten Schatz interessiert, bis jetzt aber nie Gelegenheit gehabt, ihn näher zu erkunden. Das letzte Mal war er vor rund hundert Jahren in London gewesen und damals war er mit einigen wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen, um es sich mal einen Tag oder auch gleich eine ganze Woche in der Bibliothek gemütlich zu machen. „Aber ihr könnt dort nicht einfach reinspazieren“, erwiderte Eve. „Es ist das Hauptquartier der Dämonenjäger, verdammt noch mal! Es gibt Sicherheitsmaßnahmen, Fallen … Selbst für einen Vampir ist es nicht einfach, sich dort ungesehen reinzuschleichen.“ Oscar schnaubte bloß verächtlich. „Du unterschätzt uns, meine Kleine. Denkst du wirklich, wir wären nicht imstande, uns Zutritt zu verschaffen, auf die ein oder andere Weise?“ Eve wurde ein wenig blass um die Nase. Wahrscheinlich stellte sie sich gerade lebhaft vor, wie die beiden Vampire die Jäger niedermetzelten, die das Hauptquartier zu verteidigen versuchten. „Wir haben keine Lust auf ein großes Blutbad“, meinte Alec beschwichtigend. „Wir werden einfach hineingehen, ich sehe da kein Problem. Im Grunde könnten wir lässig an den Menschen vorbeigehen und sie wie selbstverständlich grüßen, sie würden gar nichts merken und uns für ihresgleichen halten.“ Eve schüttelte entschieden den Kopf. „Wir haben spezielle Sensoren!“, erklärte sie mit Nachdruck. „Ich weiß ja nicht, wann ihr das letzte Mal in einem Jäger-Stützpunkt wart, aber gerade in den letzten zehn Jahren hat sich bei der Sicherheit und Früherkennung einiges getan. Die Geräte bemerken es, wenn sich ein Untoter nähert.“ Alec hob eine Augenbraue. „Selbst wenn wir im Schatten sind?“ Eve verstummte daraufhin und gab damit im Grunde ihre Antwort. Offenbar war es der modernen Technik bisher noch nicht möglich, Vampire zu erkennen, wenn sie eins mit der Dunkelheit waren. „Aber –“ „Ich weiß, dass dir das Ganze nicht gefällt!“, fiel ihr Alec ins Wort. „Und ich bin derzeit offen für Vorschläge. Hast du irgendeine bessere Idee, wie wir Informationen über diesen As’kyp sammeln könnten?“ Eve zog ihre Mundwinkel nach unten. „Vielleicht ... vielleicht warten wir einfach, bis Larva zurückkehrt.“ Alec schnaubte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sehr gut damit leben können, dieses Wesen niemals wiederzusehen. „Ich verlasse mich sehr ungern nur auf eine Quelle“, erwiderte er vehement. „Und erst recht nicht auf eine, die offenbar keinerlei Gewissen besitzt. Es ist sehr gut möglich, dass Larva uns von vorne bis hinten angelogen hat, womöglich sogar mit Seth zusammenarbeitet und uns irgendwie in die Falle locken will. Ich traue diesem Ding nicht über den Weg!“ „Falls sie euch wirklich um den Finger wickeln wollte, ist sie nicht besonders geschickt vorgegangen“, entgegnete Eve. Alec zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist sie einfach nicht gut darin. Oder möglicherweise war genau das ihre Intention. Wer würde sie des Verrats bezichtigen, wenn sie sich wie ein Miststück verhält?“ Eve verschränkte die Arme vor der Brust, erwiderte jedoch nichts. Wahrscheinlich war sie tief in ihrem Inneren auch nicht bereit, ihr Schicksal alleine in Larvas Hände zu legen. Alec genehmigte sich ein siegessicheres Lächeln, das jedoch sogleich verschwand, als ihn Oscar unsanft am Oberarm packte und ins nächstgelegene Zimmer bugsierte. „Was denn?“, zischte Alec. „Erinnerst du dich noch, was Sharif uns gesagt hat?“, fragte Oscar nach. „Was er uns befohlen hat?“ Alec schnaubte. „Sharif hat mir nichts zu befehlen!“ Oscar konnte daraufhin nur seine Augen verdrehen. „Ich weiß, du bist ein Freigeist, und normalerweise interessiert es mich einen Scheißdreck, wo du dich herumtreibst. Aber hast du in der letzten Zeit mal in den Spiegel geschaut? Du siehst immer noch schrecklich aus. Alles andere als bereit, in das Hauptquartier von erfahrenen und schwerbewaffneten Jägern zu schleichen!“ Alec setzte ein schiefes Lächeln auf. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“ Oscar wirkte im ersten Moment, als wollte er protestieren, als wollte er schimpfen und zetern, aber schließlich holte er einmal tief Luft und antwortete: „Natürliche mache ich mir Sorgen.“ Alec war derart überrascht, dass es ihm glatt die Sprache verschlug. Er hätte es an einer Hand abzählen können, wann Oscar ihm in den letzten drei Jahrtausenden gegenüber solch Worte verlautet hatte. „Hör zu, ich will auch rausfinden, ob dieses Larva-Miststück die Wahrheit gesagt hat oder nicht“, fuhr Oscar fort, sich unter Alecs erstaunten Blick offenbar ein wenig unwohl fühlend. „Ich hasse den Gedanken, dass dieser Seth euch beinahe getötet hätte! Aber du bist nicht auf der Höhe und Sharif hatte Recht damit, dass wir besser hier warten sollten.“ „Denkst du wirklich, dass wir hier sicherer wären als irgendwo sonst?“, fragte Alec, nun durchaus etwas sanfter. Jedes Mal, wenn Oscar ihm gegenüber auch nur ein kleines bisschen von Gefühlen offenbarte, hatte er plötzlich das dringende Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen und nie wieder loszulassen. Es war so ein seltenes Gut, so unglaublich rar, dass es Alec stets für immer und ewig festhalten wollte. „Nein, aber ...“ Oscar seufzte. „Sharif war absolut deutlich. Was, wenn er zwischendurch wieder zurückkommt, und wir nicht hier sind?“ Alec winkte ab. „Ach, der flirtet gerade mit Necroma, der ist bestimmt noch eine Weile beschäftigt. Außerdem können wir ihn anrufen, wenn du unbedingt willst.“ Oscar schüttelte den Kopf. „Er wird uns umbringen, wenn wir ihm Bescheid sagen!“ „Dann schreiben wir ihm eben einen Zettel“, schlug Alec vor. „Wenn wir vor ihm wieder zurück sind, vernichten wir ihn einfach und Sharif braucht nie etwas davon zu erfahren. Falls er aber zuerst hier ist ... na ja, dann kann er wenigstens nicht behaupten, wir hätten ihm nicht Bescheid gegeben.“ Oscar schloss kurz die Augen. Ihm war wohl mehr als bewusst, dass er Alec nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen könnte. „Na fein, aber du bleibst die ganze Zeit über in meiner Nähe, verstanden?“, grummelte er. „Und sollte es zu einem Kampf kommen, überlässt du es mir! Du bleibst schön im Hintergrund und erfreust dich daran, wie ich ein paar Jägern die Haut von den Knochen reiße, okay?“ Alec lächelte. „Weißt du eigentlich, wie sehr mir das Herz aufgeht, wenn du den besorgten Bruder gibst? Wenn ich nicht wüsste, dass du mir die Leber rausreißen würdest, würde ich dich jetzt glatt umarmen!“ Oscar knurrte aus tiefster Kehle und wollte zu einem Gegenargument ansetzen, als Eves Kopf um die Ecke lugte. Die junge Jägerin musterte die beiden Vampire mit einem genervten und gleichzeitig besorgten Blick, der Alec absolut nicht gefallen wollte. Er mochte es gern, wenn Menschen wie sie Wesen wie ihn fürchteten. Wenn sie katzbuckelten und zitterten und keinen klaren Satz mehr hervorbringen konnten. Eve hingegen wirkte, als wäre sie mit allem schon viel zu vertraut. „Seid ihr bald fertig, euch gegenseitig eure Gefühle zu gestehen?“, zischte sie. „Ich würde die Sache nämlich gerne noch vor der nächsten Jahrhundertwende geklärt haben.“ Alec hob eine Augenbraue. „Du willst also, dass wir uns beeilen, damit wir schneller in dein süßes Hauptquartier einbrechen können?“ Eve zuckte bei diesen Worten sofort zusammen. „Nein, das meine ich natürlich nicht!“, erwiderte sie vehement. „Es ist nur ... wenn ihr wirklich plant, das zu tun, dann ...“ „Dann nehmen wir dich auf jeden Fall mit, kleines Mädchen“, beendete Oscar ihren Satz mit einem teuflischen Lächeln, das Eve sogleich einen Schritt zurückweichen ließ. „Keine bange, wir lassen dich schon nicht zurück. Ein Navigator ist immer von Nutzen, warum diese Möglichkeit also verschwenden?“ Eve wusste im ersten Moment nicht, was sie darauf hätte sagen sollen. Oscar sprach von ihr, als wäre sie bloß ein Gegenstand, ein Werkzeug, und viel mehr war sie in seinen Augen auch kaum. Er hatte schon sehr lange aufgehört, ein Menschenfreund zu sein. „Also ... okay“, meinte Eve nach einer Minute des Schweigens. Sie räusperte sich, während sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. „Aber könnten wir dann vielleicht … bitte … auf die normale Art reisen?“ Alec blinzelte verdutzt. „Was?“ „Na, als ihr mich hierhergebracht habt, habt ihr diese … Vampire-Schwebe-Reise-Technik benutzt“, versuchte sie zaghaft zu erklären. „Ich fand das ehrlich gesagt nicht besonders erquickend. Beim nächsten Mal werde ich vielleicht jemanden auf die Schuhe kotzen.“ „Wir sollten ein Auto nehmen“, schlug Oscar daraufhin eilig vor. Auch Alec hatte wenig Lust, den Mageninhalt eines Menschen in seiner näheren Umgebung zu wissen. „Ja, das sollten wir wirklich.“ Eve atmete erleichtert auf, nur um im nächsten Moment überrascht aufzukeuchen, als Alec sie am Arm packte und hinter sich in den Flur zog. Oscar folgte ihnen einen Augenblick später, nachdem er die Wagenschlüssel aufgelesen hatte. Unten angekommen, stieß Alec Eve demonstrativ in die Richtung eines silbernen Mercedes. „Ich würde dir raten, dich während unseres kleinen Ausflugs brav zu verhalten und nichts Dummes zu versuchen. Ansonsten werden wir jeden verdammten Jäger in dieser verfluchten Stadt die Kehle aufschlitzen, verstanden?“ Eve erweckte den Eindruck, als würde sie diese Drohung nicht eine Sekunde lang bezweifeln. Somit nickte sie hastig und gab ihm zu verstehen, dass er sich deswegen nicht zu sorgen brauchte. Ihren Blick richtete sie anschließend auf den Mercedes. „Habt ihr den legal erstanden?“ Alec lachte auf. „Was willst du hören? Dass wir den ehemaligen Besitzer ausgeweidet und hinterher seinen hübschen Wagen gestohlen haben?“ Er legte seinen Kopf schief. „Ich gebe zu, diese Geschichte wäre wirklich sehr viel interessanter, aber nein. Das ist leider nur ein stinklangweiliger Leihwagen.“ Eve hob eine Augenbraue. „Den ihr mit eurem Geld bezahlt habt?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Wir haben kein großes Interesse an Geld, aber es kann nützlich sein, also warum nicht? Wenn man eine Schwester hat, die die Zukunft vorhersagen kann, und dieses Talent zum Beispiel bei Pferderennen einsetzt und das gewonnene Geld dann über sehr viele Jahrzehnte auf diversen Sparbüchern hortet, kommt einiges zusammen.“ Eve musterte ihn ungläubig. „Und wie viel?“ Alec grinste. „Also Donald Trump machen wir noch keine Konkurrenz. Obwohl wir es natürlich könnten, wenn wir es darauf anlegen würden.“ Eve machte den Anschein, als wollte sie das Thema noch weiter vertiefen, doch letztlich trat Oscar dazwischen und drückte Alec die Wagenschlüssel in die Hand. „Hier“, knurrte er. „Ich werde dieses Monstrum nicht fahren.“ Alec schnaubte. „Ich würde dich auch überhaupt nicht fahren lassen. Das letzte Mal, als du hinter dem Steuer eines Wagens gesessen hast, haben alle noch gezwitschert: ‚Oh, vor diesem Hitler haben wir nichts zu befürchten, der ist absolut harmlos!‘ Und du hast das Auto dann auch noch in einen Graben gelenkt und anschließend aus lauter Frust angezündet.“ Oscars Miene blieb hart. „Ich bereue nichts.“ Alec lächelte. „Ich weiß, Bruder.“ Die Straßen waren relativ leer, sodass sie ungestört vorankamen. Oscar vermochte es zwar noch, sich über die lange Ampelschaltung zu beschweren und dabei gleichzeitig kopfschüttelnd die verschiedenen Verkehrsschilder zu mustern, aber abgesehen davon geschah nichts Ereignisreiches. Das Hauptquartier konnte Alec schon von Weitem erblicken. Es war ein altehrwürdiger Herrensitz, auf einem Hügel gelegen, sodass man von der Erhöhung bestens die Stadt überblicken konnte. Jeder Vampir, Werwolf und sonstiger Feind der Jäger wusste, wo sich der Hauptsitz der Organisation befand, aber kaum einer kam dem Gebäude zu nahe. Diejenigen, für die die Jäger wirklich gefährlich werden konnten, mieden den engeren Kontakt, um unangenehmen Überraschungen zuvorzukommen, und die mächtigeren Wesen interessierten sich nicht mal annähernd genug für sie, um ihnen einen Besuch abzustatten. Alec parkte das Auto hinter einem dichtbewachsenen Waldstück, sodass sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Nur ein paar Tauben beobachteten neugierig, wie die zwei Vampire und die Jägerin sich zu Fuß weiter in Richtung Hauptquartier machten. Alec analysierte jedes Detail, während sie sich dem hohen Sicherheitszaun näherten. Mindestens drei bis vier Meter hoch war die Vorrichtung, gespickt mit jeder Menge Stacheln und aufmerksamen Kameras, die genauestens die Umgebung überprüften und sich offenbar nach dem Zufallsprinzip in die verschiedenen Richtungen drehten. „Ich rieche Hunde“, meinte Oscar plötzlich. Alec nickte zustimmend. Sogar eine ganz Menge Hunde. „Natürlich. Was denkt ihr denn?“ Eve seufzte. „Technik hin oder her, so ein paar gute, altmodische Wachhunde sind auch noch heutzutage ihr Geld wert. Sie können aufmerksamer sein als so manche Kamera.“ Oscar bedachte sie mit einem beinahe wohlwollenden Blick. „Offenbar ist die Menschheit noch nicht völlig verloren.“ Alec suchte währenddessen das Grundstück nach den Hunden ab, konnte sie aber nirgends entdecken. Ihr Geruch war jedoch dermaßen stark, dass sie ganz in der Nähe sein mussten. „Vielleicht solltet ihr es einfach sein lassen“, versuchte Eve es erneut. „Oder ihr schickt mich alleine dort rein, ich kann euch problemlos die Informationen besorgen.“ „Und uns danach schmählich im Stich lassen“, brummte Oscar. „Das würde dir wohl so passen, nicht wahr?“ „Hört auf, zu streiten“, befahl Alec. „Das bringt uns nicht weiter.“ Bevor einer der beiden irgendetwas auf diese rüde Unterbrechung erwidern konnte, hatte Alec Eve gepackt und an sich gepresst. Die Jägerin stieß einige äußerst unflätige Verwünschungen aus und wollte sich mit aller Macht befreien, doch der Vampir spürte ihre armseligen Versuche kaum. Stattdessen schätzte er noch einmal kurz die Höhe ein, stieß sich vom Boden ab und sprang mit einem einzigen Satz über den Sicherheitszaun. Eve, zuvor noch so widerspenstig, schrie kurz überrascht auf und krallte sich nun an ihm fest, um nicht unsanft zu Boden zu stürzen. Kaum dass sie die Erde berührt hatten, zerrte Alec sie hinter das nächstgelegene Gebüsch, ihre Flüche weiterhin ignorierend. Nur einen Augenblick später folgte ihnen Oscar. „Pass auf die Kameras auf“, ermahnte Alec seinen Freund. Wahrscheinlich wusste Oscar nicht mal genau, wozu dieser Geräte eigentlich gut waren. „Ihre Bewegungen kann man nur schwer vorhersehen. Lass dich nicht von ihnen einfangen.“ Oscar brummte irgendetwas – vermutlich freute es ihn eher weniger, dass Alec die Führung übernahm – und schaute skeptisch zu den Kameras. Alec währenddessen hatte einige der Hunde entdeckt, die sich in der Nähe des Hauses aufhielten und mehr oder minder interessiert die Gegend betrachteten. Einige von ihnen gähnten herzhaft, wohl von ihrer eintönigen Lebensaufgabe etwas gelangweilt, während andere wiederum extrem aufmerksam erschienen und wahrscheinlich selbst das Eindringen einer Fliege bemerkt hätten. Einen Moment erwog Alec, einfach auf die Hunde zuzugehen, aber den Gedanken verwarf er recht schnell. Tiere reagierten zwar in der Regel positiv auf Vampire und kamen nur sehr selten auf die Idee, einen Untoten anzugreifen, doch schon ein einziges Bellen, Knurren oder Jaulen hätte sicherlich ausgereicht, um die Jäger zu alarmieren. Somit zog Alec Eve wieder näher an sich heran und wurde eins mit dem Schatten. Es gab zwar an diesem sonnigen Tag nicht viele dunkle Stellen, aber dennoch reichten sie allemal, um unerkannt voranzukommen. Auch die übernatürliche Geschwindigkeit eines Vampirs tat ihr übriges. Die Hunde bemerkten höchstens eine leichte Brise, als die Eindringlinge an ihnen vorbeizischten und eine offene Terrassentür ansteuerten. Ohne dass es jemand registrierte, waren die Vampire auch schon im Haus. Auch dieses Mal analysierte Alec innerhalb weniger Millisekunden die gesamte Lage. Sie befanden sich in einem kleinen, leeren Büroraum, der angeschaltete Computer ließ allerdings vermuten, dass schon bald jemand zu seinem Arbeitsplatz zurückkehren würde. Kameras schien es auf den ersten Blick keine zu geben, doch Alec spürte unterschwellig, dass der Raum unter Beobachtung stand. Offenbar waren ein oder sogar mehrere Aufnahmegeräte gut versteckt, und solange sie nicht im Sichtfeld der Vampire waren, war es für alle Beteiligten das Beste, im Schatten zu verharren und unsichtbar zu bleiben. Zumindest war es für die Vampire das Beste. Eve hingegen gab einige charakteristische Geräusche von sich, die ihre Übelkeit symbolisieren sollten. „Hab ich euch nicht gebeten, diese Vampir-Reise-Nummer zu lassen?“, beschwerte sie sich, etwas grün um die Nase. „Stell dich nicht so an!“, entgegnete Alec schnaubend. „Ich bin extra vorsichtig. Also wag es bloß nicht, mich anzukotzen.“ Eve warf ihm einen giftigen Blick zu. „Du bist wirklich ein Gentleman, weißt du das? Zu deiner Beruhigung, ich hab heute noch nicht viel gegessen. Wenn ich mich also doch entscheiden sollte, dir mein Innerstes zu präsentieren, dann ist es wenigstens –“ „Still!“, zischte Alec. Blitzschnell presste er Eve die Hand auf den Mund, gerade noch rechtzeitig. Die Tür Richtung Flur ging auf und ein älterer Herr in einem piekfeinen Anzug trat in den Raum. Er murmelte gedankenverloren vor sich hin, während er einige Dokumente betrachtete, die er in der Hand hielt. Ohne aufzublicken ging er mit mechanischen Bewegungen um seinen bulligen Schreibtisch herum und setzte sich auf seinen protzigen Bürostuhl. Die Anwesenheit der Vampire nahm er überhaupt nicht wahr. Alec grinste vor sich hin, während Eve den Mann mit großen Augen anstarrte und Oscar augenscheinlich am überlegen war, ob er sich einen Zwischensnack gönnen sollte. Schließlich aber verzog er das Gesicht und schüttelte den Kopf. Der Kerl im Anzug schien wohl nicht gerade seinem erlesenen Geschmack zu entsprechen. Sie bewegten sich langsam in Richtung Tür, dabei immer den Mann im Auge behaltend. Im Moment bemerkte er zwar nicht, dass er nicht allein im Zimmer war, aber das hätte sich jederzeit ändern können. Besonders da sie einen Menschen im Schlepptau hatten, der ein unkalkulierbares Risiko darstellte. Eve hätte nur zu niesen brauchen und sofort wären sie aufgeflogen. Aber der Mann war viel zu sehr in seine Akten vertieft, wahrscheinlich hätte er sie nicht mal gesehen, wenn Eve sich dazu entschieden hätte, sich vor ihm auszuziehen. Auch als Alec vorsichtig die Tür öffnete, schaute der Mann nicht mal hoch. „Ein aufmerksames Kerlchen, was?“, meinte Oscar flüsternd, als sie sich weit genug vom Büro entfernt hatte. Eve schnaubte daraufhin verächtlich. „Zu deiner Information, das war unser Pressesprecher. Er ist nicht für den Kampf ausgebildet, also war euer verdammtes Versteckspiel gerade keine große Kunst.“ Oscar wirkte, als wollte er etwas erwidern, aber bevor sich die beiden wieder in irgendwelchen Argumentationen verloren, trat Alec rasch dazwischen: „Keinen Streit bitte! Führ uns einfach in diese gottverdammte Bibliothek.“ Eve grummelte zwar weiterhin, tat aber, wie geheißen. Sie führte sie durch Flure und Gänge, die Alec stark an das 18. Jahrhundert erinnerten und ihn unbewusst daran denken ließen, wie sehr er die alten Zeiten doch vermisste. Auf ihrem Weg entdeckte er auch keine weiteren Kameras, aber er spürte sie ganz deutlich. Um den Menschen, die dort arbeiteten, wenigstens die Illusion von Privatsphäre zu gewährleisten, hatte man wohl alle Geräte versteckt. Womöglich wusste nicht mal ein Großteil der Mitarbeiter, dass jeder ihrer Schritte aufgezeichnet wurde. Auch trafen sie auf einige Jäger oder zumindest Angestellte der Organisation, wobei niemand die Eindringlinge bemerkte. Sie fühlten sich in ihrer Hauptzentrale offensichtlich sehr sicher und vor jeglichen Angriffen geschützt. Bloß ein einziger Jäger blieb stehen, als er an ihnen vorbeikam, und sah sich argwöhnisch um. Sein Begleiter jedoch, jener Akademiker, den Alec schon an Eves Seite gesehen hatte und der so dreist gewesen war, viel zu tief in Alecs Vergangenheit zu graben, trieb ihn zur Eile an. Eve schaute den beiden sehnsüchtig hinterher. Alec sah ihr an, dass sie sich liebend gern bemerkbar gemacht hätte, ihren Freunden in die Arme gefallen wäre, aber andererseits war ihr nur allzu bewusst, dass sie damit das ganze Haus in Gefahr gebracht hätte. Somit schwieg sie und wandte sich seufzend vom Anblick der zwei Männer ab. „Wenn du brav bist, darfst du bald wieder mit ihnen spielen“, sagte Alec mit einem schiefen Lächeln. Eve schnaubte. „Vielen Dank, Papi.“ Es dauerte nicht mehr lange, da hatten sie die Bibliothek erreicht. Alec warf zunächst einen Blick hinein und überprüfte, ob sich jemanden im Inneren befand, doch er konnte keine Menschenseele erkennen. Somit zog er Eve und Oscar in den Raum und verschloss die Tür hinter sich. Beeindruckt schaute Alec sich daraufhin um. Der Raum war riesig und über und über mit Büchern und Schriftrollen gefüllt. Schon immer hatte der Vampir Bibliotheken geliebt, aber schon lange hatte er keine mehr erblickt, die ihn dermaßen fasziniert hatte. Heutzutage im Computerzeitalter wusste kaum einer noch den Wert eines Buches zu schätzen, aber den Zuständigen dieser Bibliothek war ihre Liebe zu den literarischen Werken deutlich anzusehen. „Nicht schlecht“, musste auch Oscar zugeben. „Zwar nicht so beeindruckend wie Alexandria, aber gar nicht mal so übel.“ Und aus dem Munde eines Mannes wie ihm, der sonst nie ein gutes Wort für die Menschen und ihre Errungenschaften übrig hatte, war solch ein Zugeständnis schon eine Menge wert. Ein größeres Kompliment hätte man kaum von Oscar kriegen können. Alec lächelte. Er freute sich schon richtig darauf, diese alten Wälzer zu durchforsten. Wissbegierig war er schon immer gewesen, aber in den letzten Jahrhunderten war dies irgendwie etwas abgeflaut. Nicht viel hatte ihn mehr reizen können. Nun aber spürte er einen kaum zu unterdrückenden Tatendrang. „Dann lasst uns die Informationen rasch auftreiben und wieder verschwinden.“ Unsicher warf Eve einen Blick zur Tür. „Sonst erwischt uns noch jemand.“ Und somit begann die Suche. Kapitel 20: Ignis ----------------- Eve fühlte sich extrem unwohl in ihrer Haut. Die Ebenen, auf denen sich Vampire bewegten, mochten zwar faszinierend sein, bescherten Eve aber ein permanentes Schwindelgefühl. Ihr Magen begann allmählich zu rebellieren, mit aller Macht versuchte sie, ihr Unwohlsein irgendwie zu unterdrücken. Alec jedenfalls machte nicht den Anschein, als wollte er sie in nächster Zeit von ihren Qualen erlösen. Warum auch? Hätte er sie losgelassen, wäre sie aus dem Schatten geglitten und für die Kameras in der Bibliothek mehr als sichtbar gewesen. Deswegen hielt Alec weiterhin ihre Hand und war sehr erpicht, den Körperkontakt nicht abbrechen zu lassen. Diese Nähe zu einem Vampir war der zweite Grund, warum Eve sich so unwohl fühlte. „Also, wo sollen wir anfangen?“, vernahm sie Oscars Stimme. Wirklich genau erkennen konnte sie ihn kaum, er war mehr ein verschwommener Schemen. Einzig und allein seine glänzenden Raubtieraugen stachen hervor. „Nun, ganz genau weiß ich das auch nicht“, gab Eve zu. „Ich bin nur ab und zu hier. Aber vielleicht fangt ihr einfach dort drüben an.“ Sie deutete auf eine überfüllt wirkende Regalreihe. „Die Texte dort sind uralt. Und in dem großen, roten Buch dort sind alle Namen und Orte aufgelistet, die in irgendeinem der Berichte vorkommen.“ Oscar tat, wie ihm geheißen. Er nahm das Buch heraus und begann, darin herumzublättern. Dass die Oberfläche bei seiner Berührung kurz aufgeleuchtet hatte, schien er überhaupt nicht bemerkt zu haben. Eve war wenig überrascht, dass der Selbstschutzmechanismus des Buches nicht in Kraft getreten war. Jedes einzelne Schriftstück dieser Bibliothek war mit einem Zauber versehen, der einerseits vor äußeren Einflüssen wie Staub und Feuchtigkeit schützen sollte, sodass selbst den ältesten Werken bei ständiger Benutzung nichts geschehen konnte. Sogar die alten Papyrusrollen, die einen recht bröckeligen Eindruck erweckten, vermochte man ohne Probleme anzufassen, was ohne Magie niemals möglich gewesen wäre. Andererseits aber sollte der Zauber auch vor fremden Händen schützen. Die Magie war auf diejenigen ausgerichtet, die schon lange in der Organisation arbeiteten und denen man uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachte. Sie konnten die Bücher ohne Schwierigkeiten benutzen. Alle anderen hingegen wurden von der mächtigen Magie abgeblockt und nicht selten sogar von den Füßen gerissen, wie einige Jahre zuvor der Polizeipräsident von London auf unangenehme Weise hatte erfahren müssen, als er sich ohne zu fragen ein Buch in die Hand hatte nehmen wollen. Aber die Magie des Selbstschutzzaubers hatte offenbar auf Vampire keinerlei größere Auswirkungen, was jedoch wenig erstaunlich war. Oscar konnte ungestört die Seiten umblättern, unter Umständen fühlte er vielleicht nur ein winziges Kribbeln. Alec ließ seinen Blick inzwischen über die Bücherrücken schweifen, von denen ein Großteil einen Titel in einer für Eve unbekannten Sprache vorzuweisen hatten. Unwillkürlich fragte die Jägerin sich, ob der Vampir auch wirklich alle dieser alten Sprachen zu lesen vermochte. „Kannst du das etwa alles entziffern?“, stellte sie ihre Frage laut. Alec warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Natürlich“, meinte er. „Ich bin mit diesen Sprachen aufgewachsen. Ich spreche Altgriechisch und Sumerisch sogar besser als Englisch.“ Eve vermochte darauf nichts zu erwidern. Sie selbst beherrschte ihre Muttersprache, hatte bescheidene Französischkenntnisse und sprach noch einige Brocken Spanisch, aber mehr auch nicht. Für sie waren Sprachen kaum von Bedeutung gewesen, nur selten war sie außerhalb Englands gewesen. Alec hingegen und auch viele seiner Artgenossen waren richtiggehend Nomaden, es hielt sie nur selten an einem Ort. Sie hatten schon Städte und Länder in den unterschiedlichsten Epochen besucht, von denen Eve zum Teil sicher noch nie etwas gehört hatte. Wahrscheinlich wäre es für ihn wesentlich einfacher gewesen, aufzuzählen, welche Sprachen er nicht beherrschte als umgekehrt. „Ich hab hier was“, meldete sich Oscar. Das Buch in seiner Hand wirkte nun genauso verschwommen wie er selbst. Eve warf einen unauffälligen Blick zu der versteckten Kamera an der Westwand und fragte sich, ob die Herrschaften an den Monitoren bemerkt hatten, dass von einem Moment auf dem anderen plötzlich ein Buch verschwunden war. „Hier.“ Oscar tippte auf eine vollgeschriebene Seite, die Eve aufgrund der Schatten um sie herum kaum zu entziffern vermochte. „As’kyp. Klar und deutlich. Jetzt müssen wir nur herausfinden, was diese Buchstaben- und Zahlenkombinationen hinter dem Namen zu bedeuten haben.“ „Das sind Nummerierungen, damit man die Bücher schneller findet“, erklärte Eve. „Na fein“, meinte Oscar. „Dann brauchen wir B56 und Jh890.“ Alec musste nicht lange suchen, relativ schnell fand er das erste Buch. Es war ein großer Wälzer, offenbar noch aus dem Mittelalter, der einen lateinischen Titel trug. Alec zog ihn – trotz seiner Größe und dem damit verbundenen Gewicht – mühelos hervor, wobei er eine Spinne aufschreckte, die es sich wohl in der Nähe des Buches gemütlich gemacht hatte. Als das erschrockene Tier blitzschnell davon krabbelte, zuckte Eve überrascht zusammen und wich einen Schritt zurück, wobei sie ihren Kontakt mit Alec verlor. Es war ein extrem seltsames Gefühl, als die Verbindung so plötzlich unterbrochen wurde. Beinahe, als würde sie unvorbereitet mit einem Schwall eiskalten Wasser übergossen werden. Alec stieß einen Fluch aus und packte sie sofort wieder am Arm. Das Ganze hatte nicht mal einen Sekundenbruchteil gedauert. „Verdammt, was soll das?“, zischte er. „Hast du tatsächlich solche Angst vor diesen Krabbelviechern?“ „Ich habe keine Angst vor ihnen“, erwiderte Eve zähneknirschend. „Ich habe mich nur erschreckt, das ist alles.“ Ihre Nerven waren im Moment dermaßen angespannt, sie wäre sogar sicherlich vor einer Fliege zurückgeschreckt. Im Augenblick wünschte sie sich kaum etwas sehnlicher, als endlich zu verschwinden, um die Menschen, die sie liebte, wieder in Sicherheit zu wissen. Ihr Blick schweifte erneut zur Kamera. Das Ganze mochte vielleicht nur eine Millisekunde gedauert haben, aber die empfindlichen Sensoren hatten die Anomalie sicherlich bemerkt. Die Chancen standen denkbar schlecht, dass niemand diesen kleinen Ausrutscher registriert hatte. Oscar stellte derweil das Buch seufzend wieder zurück an seinen Platz. „Wunderbar. Ich hatte eigentlich gedacht, wir könnten das Ganze ohne ein Massaker hinter uns bringen. Ich habe keinen Bock, mich mit pubertierenden Amateur-Jägern zu prügeln.“ Eve spürte, wie ihr das Herz in die Hose rutschte. Sie musste an Richard und Seamus denken, die ihnen zuvor im Flur begegnet waren, und große Sorge stieg in ihr hoch. Zwar war ihr Hilfe in solch einer vertrackten Situation normalerweise herzlich willkommen, aber diesmal war es etwas vollkommen anderes. Selbst alle schwerbewaffneten Jäger in diesem Haus hätten es nicht mit diesen speziellen Jägern aufnehmen können. „Wir nehmen einfach die Bücher mit und verschwinden“, schlug Oscar vor. „Ich habe nicht viel geschlafen und ein Kampf mit diesen Schmeißfliegen wird mich wahrscheinlich nur noch missmutiger stimmen.“ Alec aber schüttelte den Kopf. „Hast du nicht gemerkt, dass die Bücher mit Magie versehen sind? Man kann sie nicht so einfach aus der Bibliothek entfernen.“ Magie, die gegen sie gerichtet war, machte Vampiren meistens nur bedingt etwas aus, aber dennoch waren sie nicht dazu imstande, die magischen Ströme aufzulösen und einfach irgendwelche Zauber zu brechen. Auch sie konnten nicht ohne weiteres ein Buch aus einer Bibliothek entfernen, das magisch an jenen Ort gebunden war. Während die beiden Vampire heftig in einer anderen Sprache weiterdebattierten, wanderte Eves Blick zu der Tür an der Westwand, die zu Liams Büro führte. Sie hoffte inständig, dass ihr Boss irgendwo anders war oder wenigstens so vertieft in seine Arbeit, dass er die Stimmen der Vampire nicht hörte und somit auch nicht kommen würde, um nachzusehen, was los war. Er war nicht mehr in der Lage, sich anständig gegen einen Untoten zu verteidigen, geschweige denn gegen einen Sa’onti, und ihn sterben zu sehen, wäre eindeutig zu viel für Eve an diesem schon sehr bescheidenen Tag gewesen. „Sie haben unsere Anwesenheit bemerkt“, stellte Alec unvermittelt fest. Er lauschte in die Ferne, als würde er die Gespräche in der Sicherheitszentrale am anderen Ende des Hauses bestens verstehen können. Oscar gab daraufhin ein Geräusch von sich, das beinahe wie ein spöttisches Auflachen klang. „Du hast also das Schicksal der Londoner Jäger aufgrund einer Spinne besiegelt, kleines Mädchen? Möchtest du, dass wir das auf deinem Grabstein verewigen?“ Eve kaute auf ihrer Unterlippe. Sie hätte gerne zu einem passenden Kommentar angesetzt, aber zum Teufel, er hatte Recht! Die Vampire waren nicht mit der Absicht, einen Kampf anzuzetteln, hierhergekommen, aber würden die Jäger sie provozieren, dann würden sie sich unter allen Umständen verteidigen. Vielleicht würde es nur auf ein paar Verletzte hinauslaufen, womöglich auch einige Tote, aber im schlimmsten Fall würde der gesamte Stützpunkt vollkommen ausgelöscht, wenn die Anspannung auf beiden Seiten tödlich genug wäre. Und das alles nur, weil Eve sich selbst nicht unter Kontrolle hatte halten können.        *  *  *  *  *  *  *  *     Mit schwerem Geschütz und etwa zehn weiteren Jägern stand Richard vor der Tür der Bibliothek. Jedermann war sofort in Alarmbereitschaft gewesen, als die Nachricht sich blitzschnell verbreitet hatte. Man hatte die effektivsten und gefährlichsten Waffen aus den Schränken hervorgeholt, während die Analytiker und die Strategen ihre Köpfe hatten rauchen lassen, um möglichst einen Ausweg aus dieser verzwickten Situation zu finden. Feinde in ihrem allerheiligsten Rückzugsort! Man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, dass es sich nicht bloß um irgendwelche zufälligen Vampire handelte, die plötzlich das Bedürfnis verspürt hatten, die Jäger ein bisschen aufzumischen. Auch ohne die Tatsache, dass man Eve für eine Millisekunde auf der Kameraaufnahme gesehen hatte, von der man genau wusste, dass sie sich zurzeit unter der Obhut der Sieben befand, wäre es eine absolut logische Schlussfolgerung gewesen, diese speziellen Untoten hinter dieser dreisten Tat zu vermuten. Richards Puls hatte sich gleich verdoppelt, auch wenn er mühsam versuchte, sich von außen nichts anmerken zu lassen. Es war im Grunde stets eine Möglichkeit gewesen, den Sieben früher oder später zu begegnen, sodass er eigentlich darauf hätte vorbereitet sein sollen. Er war es zwar nicht wirklich, wie er in diesem Moment bemerkte, aber dennoch musste er sich äußerlich wenigstens so geben, als wäre dies ein Einsatz wie jeder andere auch. Waffengewalt war jedoch keine Lösung, wie man sich sofort geeinigt hatte. Die Sieben waren zu stark, zu mächtig, um sich von ihrem Arsenal bedrohen zu lassen. Außerdem hatten sie keine Ahnung, wie viele sich überhaupt im Gebäude befanden. War es bloß einer oder sogar alle sieben? Sollten sie es demnach aus schierem Glück schaffen, einen von ihnen in die Knie zu zwingen, dann könnten immer noch andere im Schatten lauern und ihnen innerhalb eines Wimpernschlages die Kehlen aufreißen. Nein, Verhandlung schien zurzeit die einzige Basis zu sein, auf der man aufbauen konnte. Zumindest war dann die Chance, dass der gesamte Stützpunkt dem Erdboden gleichgemacht wurde, wenigstens um zwei Prozent kleiner. Das mochte zwar nicht besonders viel erscheinen, aber für Richard reichte es allemal aus, um sein Glück zu versuchen. Im Moment war er der dienstälteste, aktive Jäger, der sich im Hauptquartier befand, sodass automatisch ihm die Führung übertragen worden war. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er in Ausbildung, er war aus allen Prüfungen mit Bravour hervorgegangen und er hatte schon so manche ausweglose Situationen gemeistert. Allerdings hatte er es auch noch nie mit den Sa’onti zu tun bekommen gehabt. Während er die Tür anstarrte, versuchte er, sein wild pochendes Herz zu beruhigen. Oft schon hatte er sich mit Vampiren angelegt und viele von ihnen hatte er mithilfe seiner Kollegen besiegt oder wenigstens verscheucht, aber das nun war etwas völlig anderes. Er musste an all die Geschichten und Gerüchte denken, die über diese speziellen Vampire im Umlauf waren, und von denen eine unheilvoller und grausamer war als die andere. „Hey, Richie, mach nicht so ein Gesicht“, feixte Avery, ein etwa vierzigjähriger, riesengroßer Hüne, der sich ihrer Organisation vor zwei Jahren angeschlossen hatte. Er war ein Kämpfer, wie er im Buche stand, und Richard war mehr als froh darüber, dass er an seiner Seite war. „Das sind doch nur ein paar Vampire, mit denen werden wir locker fertig.“ Richard zwang sich zu einem Lächeln. „Das sagt sich so leicht, aber ich fürchte, diesmal wird’s etwas schwieriger.“ Avery schwieg einen Moment, ehe er erwiderte: „Da hast du vermutlich Recht.“ Er rieb sich am Kinn und setzte ein verschmitztes Lächeln auf. „Kriege ich deine Stereo-Anlage, wenn du draufgehst?“ Nun musste Richard wirklich lächeln. „Tut mir leid, die habe ich schon Simmons versprochen. Aber du kannst gern meinen Toaster bekommen.“ Avery zuckte mit den Schultern. „Besser als gar nichts.“ Das Rauschen des Funkgeräts unterbrach ihr Gespräch. „Davis, wir sind in Position. Alle Ausgänge sind gesichert.“ Richard gab kurz eine Bestätigung durch. Mehrere Männer und Frauen hatten sich draußen vor den Fenstern der Bibliothek positioniert, während einige andere über die Veranda in Liams Büro eingedrungen waren und dort Stellung bezogen hatte. Richard hatte mit ihrem Boss zwar noch nicht sprechen können, doch er konnte sich geradezu bildlich vorstellen, wie Liam sicher zunächst überrascht gewesen war, dass plötzlich schwerbewaffnete Jäger in sein Büro gestürmt waren, und nun, da man ihm aufgeklärt hatte, seine Kampfeslust zu unterdrücken versuchte. Er war zwar schon länger nicht mehr im aktiven Dienst, doch er verspürte ab und zu immer noch das alte Feuer. Und gerade das Eindringen in seine heißgeliebte Bibliothek musste ihn sicherlich richtig schön kämpferisch werden lassen. „Wir gehen jetzt rein“, meinte Richard, seinen wilden Herzschlag ignorierend. „Ihr bleibt dicht hinter mir. Und passt um Himmels Willen auf! Keine Provokation, keine unnötige Waffenbenutzung! Ich will keinen Krieg in Gang setzen, den wir vielleicht mit einem kühlen Kopf hätten verhindern können.“ Einen kurzen Moment zögerte er noch, dann aber stieß er die Tür zur Bibliothek auf und trat mit angeschlagener Waffe hinein, dicht gefolgt von seinen Kollegen, die sofort ausschwärmten und die Mündungen durch den ganzen Raum schweifen ließen. Auf den ersten Blick wirkte alles völlig verlassen, doch Richard war schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass der Schein bisweilen trog. Vampire konnten sich im Schatten verstecken, sich völlig unsichtbar machen, aber wenn man sich genügend anstrengte und es jahrelang trainierte, vermochte man ihre Anwesenheit wenigstens ansatzweise zu spüren. Richard kam hierbei auch zugute, dass sein Großvater ein Magier gewesen war und er als sein Nachkomme ein paar Ausläufer seiner Fähigkeiten geerbt hatte, wie etwa ein überaus sensibles Gespür. Sie waren hier, keine Frage. Die Luft war kalt und roch irgendwie ein wenig falsch. Richard konnte es nicht genau erklären, aber es jagte ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Er glaubte, förmlich den Atem der Vampire auf seiner Haut zu fühlen. „Wir wissen, dass ihr hier seid“, sagte er mit bemüht beherrschter Stimme in den scheinbar leeren Raum. „Und wir würden gerne einen Kampf vermeiden, wenn das möglich wäre.“ Stille antwortete ihm. Entweder waren die Vampire noch unentschlossen, was sie als nächstes tun sollten, oder es machte ihnen einfach Freude, die Jäger etwas zappeln zu lassen. Auf jeden Fall war dieses Schweigen nervenzerreißender als alles andere. „Ihr seid doch sicherlich nicht ohne Grund in die Bibliothek eingebrochen, nicht wahr?“, versuchte Richard es erneut. „Vielleicht können wir –“ Er unterbrach sich jäh, als er eine kalte Brise auf seiner Haut spürte. Ihm war so, als würde plötzlich jemand sehr nah neben ihm stehen. Und ganz sicher keiner der Jäger. Richard drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite. Im ersten Moment vermochte er nichts Außergewöhnliches zu erkennen, dann aber bemerkte er, dass alles ein bisschen verschwommen wirkte. Beinahe ein wenig, als würde er durch ein Glas schauen. „Ihr hättet nicht komme sollen“, flüsterte ihm eine Stimme in sein Ohr. Richard blieb keine Zeit, irgendwie darauf zu reagieren. Nicht mal Angst konnte in dieser winzigen Zeitspanne in ihm aufsteigen. Er spürte nur, wie etwas, das sich wie eine kalte Hand anfühlte, sein Handgelenk umklammerte und ihm blitzschnell den Arm auf dem Rücken verdrehte. Vor lauter Schmerz stiegen ihm Tränen in die Augen, aber er unterdrückte einen Schrei und ebenso den Drang, die Waffe in seiner anderen Hand fallen zu lassen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie die anderen Jäger sich wie eine geölte Maschine bewegten und mit ihren Gewehren und Schusswaffen in seine Richtung zielten. Avery zog aus seiner Jackentasche hastig einen Beutel hervor, öffnete ihn mit den Zähnen und warf einen Teil des Inhalts in die Luft. Ein spezielles Pulver, das auf den ersten Blick aussah wie Mehl, allerdings von ihren Wissenschaftlern in langer Arbeit entwickelt worden und sicher nicht zum Backen geeignet war, verteilte sich im Raum und rieselte auf den Boden. Es landete in Richards Haaren und verdreckte auch seine teure Jacke, aber ebenso der Vampir kam nicht ungeschoren davon. Zuvor noch unsichtbar machte nun das Pulver seine Gestalt erkennbar. Zumindest die Konturen seines Kopfes und seiner Schultern waren nun zu erahnen. „Was, beim Tartaros …?“, stieß der Untote zornig aus. Er fluchte ungehalten, während er das Pulver abklopfen wollte, nur um daraufhin festzustellen, dass dies unmöglich war. Richard konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Das Pulver war extrem anhänglich und würde sich nur durch eine lange Dusche und eine Wäsche für die Kleidung wieder entfernen lassen. Im Moment hatte der Vampir keine andere Möglichkeit als sichtbar zu bleiben oder unter die nächste Dusche zu springen. „Verfluchtes Pack!“, zischte er ungehalten. Grob schubste er Richard von sich, sodass dieser ins Stolpern geriet und hart gegen ein Bücherregal stieß. Er stöhnte auf, als ein stechender Schmerz sein Handgelenk durchfuhr, mit dem er irgendwie versucht hatte, den Aufprall etwas weniger unangenehm zu gestalten. Einen kurzen Augenblick sammelte sich der Jäger und atmete einmal tief durch, ehe er sich wieder umdrehte. Seine Kollegen hatten ihre Waffen auf den Vampir gerichtet, der inzwischen vollkommen aus dem Schatten getreten war. In seinen dunklen Haaren hingen Unmengen des weißen Pulvers, was Richard vermuten ließ, dass er selbst auch nicht viel besser aussah. Man hätte über den Anblick des gepuderten Untoten lachen können, wäre die Situation nicht dermaßen verzwickt gewesen. Richard versuchte, den großen Mann mit dem zornigen Blick anhand der Fotos der Sa’onti, die er sich immer wieder angesehen hatte, zu identifizieren, aber es gelang ihm nicht wirklich. Viele der Bilder waren von mäßiger bis schlechter Qualität und dieser Mann hätte zu dem ein oder anderen Foto sicher zumindest vom Schemen her gepasst, doch wirklich festlegen konnte Richard sich nicht. Der Vampir grummelte, als auch er schließlich begriff, dass er dieses Pulver nicht ohne weiteres loswerden würde. Er wandte sich den Jägern zu und stieß ein tiefes Knurren aus, das an einen wütenden Wolf erinnerte, als er in Richtung Avery stürzte. Hastig stolperten alle ein paar Schritte zurück, während sie gleichzeitig ihre Waffen sprechen ließen. Mehrere Schüsse durchschnitten die gespannte Atmosphäre und veranstalteten in dem geschlossenen Raum einen enormen Geräuschpegel. Der Vampir hielt in seiner Bewegung inne und brauchte nur eine Millisekunde, um sich aus dem Gefahrenbereich zu begeben. Er schien für einen Augenblick wieder unsichtbar zu werden – bis auf das Pulver selbstverständlich –, nur um dann einen Wimpernschlag später gleich einige Meter von den Kugeln entfernt wie aus dem Nichts wieder aufzutauchen. Die Patronen schlugen schließlich auf der magischen Barriere der Bücher auf, die sich direkt hinter dem Vampir in einem Regal befunden hatten, und fielen zu Boden. Der Untote starrte auf die Kugeln und wandte sich schließlich mit einem zornigen Gesichtsausdruck den Waffenträgern zu. Offenbar schien es ihm wenig zuzusagen, dass die Menschen sich zur Wehr setzten. Richard umfasste sein eigenes Gewehr fester, während er sich in seinem Kopf bereits schlimme Szenarien ausmalte. Eigentlich hatte er ja gehofft, das Ganze irgendwie friedlich über die Bühne bringen zu können, aber anscheinend schienen die Vampire nicht gerade empfänglich für irgendwelche Gespräche. Dann hieß es wohl, sich mit den Sa’onti anzulegen. Auch wenn das höchstwahrscheinlich einen schnellen Tod bedeutete. Doch plötzlich war ein Lachen zu hören. Verwirrt schaute Richard zu seinen Kollegen, nur um festzustellen, dass diese ebenso erstaunt waren. Ein Teil von ihnen richtete ihre Waffen in die Richtung, aus der das Geräusch ertönt war. „Du siehst aus, als wärst du mit Puderzucker bestreut“, meinte die Stimme aus der Dunkelheit amüsiert. „Vielen Dank!“, knurrte der sichtbare Vampir. „Und du wirst gleich aussehen wie durch den Fleischwolf gedreht, wenn du nicht deine gottverdammte Klappe hältst!“ „Du hast wirklich keinen Sinn für Humor, Oscar.“ Aus der Dunkelheit schälte sich ein Schatten, der nach und nach Kontur und Farbe annahm. Grinsend betrachtete er den anderen Vampir und schien die auf sich gerichteten Waffen überhaupt nicht wahrzunehmen. Richard erkannte ihn auf Anhieb, zahlreiche Fotos von ihm gab es in ihrem Archiv. Er war wohl mitunter der mächtigste und gefährlichste der Sieben, von dem jeder Jäger sich wünschte, ihm niemals im Leben zu begegnen. Alec! Und der andere war also Oscar? So wie es aussah, hatte sich hoher Besuch in ihrem Hauptquartier eingefunden. Gerade als er darüber nachdachte, wie man nur solch ein Pech haben konnte, bemerkte er die Gestalt, die direkt neben Alec stand. Ihr Blick war besorgt, aber abgesehen davon machte sie einen recht gesunden und passablen Eindruck. Offenbar war sie nicht schlecht behandelt worden oder aber sie verstand es meisterlich, es zu vertuschen. Richard ging das Herz auf, als er sie erblickte. Er hatte sich bereits ausgemalt, dass er sie das nächste Mal als Leiche in irgendeinem Straßengraben wiedersehen würde. „Eve!“ Ein irrationaler Teil seines Selbst wollte ohne Rücksicht auf die derzeitige Situation einfach zu ihr hinstürmen und sie in den Arm nehmen. Einfach fühlen, dass sie wirklich noch da war, wirklich noch am leben war, und sich nicht bloß als Einbildung seiner Fantasie entpuppte. Aber im letzten Moment konnte er sich noch zurückhalten. Vampire mochten es sicher nicht sehr gerne, wenn man ihre Geiseln ohne vorheriges Fragen einfach umarmte. „Geht es dir gut?“, fragte er stattdessen, Alecs interessierten Blick auf ihn so gut wie möglich ignorierend. „Mir geht es bestens“, meinte Eve trocken. Ihre Stimme war fest, nur eine leichte Anspannung war daraus zu hören. Sie war schon immer gut darin gewesen, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Sie mochte mehr oder weniger gefasst wirken, aber Richard wusste, dass sie sich große Sorgen um ihr aller Leben machte. „Das Familienwiedersehen ist wirklich rührend“, höhnte Alec. „Allerdings sind wir nicht hierhergekommen, um zuzusehen, wie ihr euch gegenseitig gesteht, wie lieb ihr euch doch habt.“ Er packte Eve am Oberarm und stieß sie in Oscars Richtung. „Wenn ihr ganz brav seid und wieder verschwindet, dann kommt niemand zu Schaden. Mein Ehrenwort darauf!“ Richard hätte am liebsten laut geschnaubt. Er bezweifelte, dass diese Vampire überhaupt wussten, was Ehre war. „Was wollt ihr hier?“, ertönte plötzlich Liams Stimme, woraufhin Richard all seine Beherrschung zusammennehmen musste, um nicht zusammenzufahren. Er hatte gar nicht bemerkt, wie der alte Mann, flankiert von zwei Jägern, aus dem Nebenzimmer gekommen war. Alec musterte Liam mit einem undefinierbaren Blick. „Nur ein bisschen Lektüre, sonst nichts. Wir müssen bloß etwas über einen bestimmten Kerl herausfinden und dann sind wir auch schon wieder weg.“ Liam nickte langsam. Seine Augen huschten kurz hin und her, schienen die ganze Lage innerhalb eines Sekundenbruchteils zu analysieren, ehe er seinen Blick wieder direkt auf Alec richtete. „Und wir haben euer Ehrenwort?“ Alec schmunzelte, als er sagte: „Wir schwören es bei Taranis[1], Zeus, Ra und wer euch sonst noch so alles einfällt!“ Richard gab nicht viel auf das Wort eines Vampirs, aber Liam schien sich damit zufriedenzugeben. Auf seinen Lippen zeichnete sich sogar ein Lächeln ab. „Und über wen genau sucht ihr Informationen?“, hakte er nach. Alec lachte spöttisch auf. „Bei aller Liebe, aber das geht euch wirklich nichts an. Ich kann euch bloß sagen, dass es bei der Vernichtung von Seth helfen wird.“ Liam kniff die Augen zusammen. Das tat es immer, wenn er nicht so einfach aufzugeben bereit war. „Dieser Feuerteufel ist unser gemeinsamer Feind. Womöglich können wir euch helfen.“ Alec grinste, während er lässig an einer Regalreihe entlang schlenderte und dabei mit seinen Fingern über die Bücherrücken fuhr. Man konnte förmlich hören, wie die Magie, die die Bücher beschützte, unter seiner Berührung zu knistern begann. „Was schlägst du vor?“, wollte der Vampir wissen. „Etwa eine Art … Waffenstillstand?“ Liam straffte seine Schultern und richtete sich etwas auf, als er antwortete: „Solange Seth noch am leben ist, warum nicht? Er ist uns beiden ein Dorn im Auge. Er löscht eure Sippe aus und vernichtet nach und nach unsere Stadt. Ich bin nicht gewillt, das länger hinzunehmen, doch alleine haben wir kaum eine Chance gegen Seth. Aber zusammen …“ Während Alec Liam nachdenklich musterte, schnaubte Oscar bloß verächtlich. „Wie kommst du auf die Idee, dass kleine Menschen uns nützen würden?“ Liams Mundwinkel zuckten kurz. „Wärt ihr sonst hier, wenn ihr es alleine, ohne das Wissen oder die Hilfe anderer, schaffen würdet?“ Oscar wirkte wenig begeistert, dass Liam sie auf diesen Punkt ansprach, aber Alec legte seinem Freund beruhigend eine Hand auf die Schulter. „So unrecht hat der junge Hüpfer gar nicht.“ Während Liam es offenbar ziemlich amüsant fand, noch mal von jemanden als ‚junger Hüpfer’ bezeichnet zu werden, flüsterten die beiden Vampire miteinander. Obwohl ihr Gespräch augenscheinlich zu einer heftigen Diskussion ausartete, vermochte Richard kein einziges Wort zu verstehen. Eve währenddessen suchte seinen Blick und wollte ihn mit ihrem Lächeln wohl dazu bringen, nicht allzu besorgt zu sein. Allerdings hätte sie auch hier und jetzt Polka tanzen oder einen Sketch aufführen können, es hätte die Anwesenheit dieser zwei Vampire nicht weniger gefährlich gemacht. „Nun gut“, erhob Alec wieder seine Stimme. Das Gespräch war offenbar beendet und augenscheinlich zu Alecs Gunsten ausgegangen, betrachtete man Oscars mürrischen Gesichtsausdruck. „Dein Vorschlag ist passabel, Menschlein. Es ist zwar bis jetzt selten vorgekommen, dass Sa’onti und kleine Würmer so etwas ähnliches wie zusammenarbeiten, aber besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.“ Richard war mehr als überrascht, wie schnell der Vampir dazu geneigt war, nachzugeben. Eigentlich hatte er mit schweren Verhandlungen gerechnet und mit einem starken Widerwillen der Untoten, einen Waffenstillstand oder etwas in der Art auch nur in Erwägung zu ziehen. Schaute man aber in Alecs selbstzufriedene Miene, war klar, dass er wohl schon so etwas wie einen Frieden auf Zeit in Planung gehabt oder es zumindest im Bereich des Möglichen gesehen hatte. Womöglich versprach er sich sogar mehr davon, als es auf den ersten Blick erschien. Richard traute ihm mehr als jedem anderem Wesen auf dieser Welt irgendwelche Hintergedanken zu, die im Moment nicht wirklich ersichtlich waren und sich wahrscheinlich erst im Laufe der Zeit zu erkennen geben würden. Das roch irgendwie alles sehr nach einer Falle. Und auch wenn Liam sicher schon dasselbe vermutet hatte, konnte er nun nicht so einfach einen Rückzieher machen, ohne eins der mächtigsten Wesen auf Erden zu beleidigen. „Dann ist es also abgemacht?“, erkundigte sich Liam. „Wir beschaffen euch Informationen und helfen euch, Seth zu erledigen, und ihr werdet im Gegenzug davon absehen, die Londoner Jäger zu töten, sowohl jetzt als auch in Zukunft?“ Alec lächelte hinterhältig. „Solange Seth am leben ist, bleibt der Waffenstillstand bestehen“, versprach er. „Und nach dem harten Kampf mit diesem Feuerteufel werden wir wohl kaum große Lust dazu haben, euch auszulöschen. Also wenn ihr euch brav verhaltet und alles tut, was wir euch sagen, werdet ihr womöglich mit einem blauen Auge davonkommen.“ Irgendwie klang das in Richards Ohren dennoch nach einer Versprechung, sie alle nach der Erledigung Seths erbarmungslos umzubringen. Und auch wenn das Ganze nicht wirklich verlockend erschien, war es immer noch besser, auf diesen Handel einzugehen, als hier und jetzt einen sinnlosen Tod zu sterben. „Also schön“, meinte Liam. „Und was ist mit Miss Hamilton?“ Alec grinste schief. Er trat zu Eve heran und strich ihr sanft über die Wange, als würde er in ihr so etwas wie ein Haustier sehen. Sie ließ die Berührung ohne eine Regung über sich ergehen, während Richard nicht umhin kam, zusammenzuzucken und den Vampir mit einem zornigen Blick zu bedenken. „Miss Hamilton wird uns für die Jagd auf Seth sehr von Nutzen sein“, erklärte Alec. „Ihr wird kein Haar gekrümmt werden, dafür werden sowohl wir als auch Seth sorgen.“ Richard verstand diese Aussage zwar nicht wirklich, aber er wollte lieber nicht nachfragen. „Danach ist sie nur noch Freiwild und für uns so interessant wie ein Staubfussel“, meinte der Vampir schulterzuckend. Eve schien dieser Vergleich offenbar nicht besonders zuzusagen, doch sie hielt den Mund. „Wenn es nach mir geht, könnt ihr sie dann gerne wiederbekommen. Im Grunde ist die Kleine sowieso ziemlich nervig, wir werden mehr als froh sein, sie wieder loszuwerden.“ Oscar gab ein zustimmendes Geräusch von sich, was Eve dazu verleitete, leise zu schnauben. Unter normalen Umständen hätte sie nun ihrem Missmut Luft gemacht, doch glücklicherweise schien sie in der Anwesenheit der Sa’onti ihr sonst so überschäumendes Temperament einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Richard konnte nur hoffen, dass sie sich weiterhin so benahm, ansonsten würden die Vampire sie trotz des Waffenstillstands sicher früher oder später von einer Brücke schmeißen oder ihr die Kehle aufschlitzen. „Nach was also sucht ihr?“, fragte Liam. Furchtlos trat er einen Schritt näher auf die Vampire zu. Alec legte kurz seinen Kopf schief und musterte den ehemaligen Jäger intensiv. Entweder bewunderte er den Wagemut des alten Mannes oder aber er hielt ihn für größenwahnsinnig. Vielleicht war es auch von beidem etwas. „Sein Name ist As’kyp“, sagte Alec schließlich. „So eine Art Totenwächter oder Seelenwächter. Keine Ahnung, wie man das genau beschreiben soll.“ Liam machte nicht den Eindruck, als würde ihm dieser Name irgendwie bekannt vorkommen. Und auch bei den anderen Jägern, die gerade erst langsam begannen, zögerlich ihre Waffen zu senken, schien sich keinerlei Wiedererkennung einzustellen. „Und dieser As’kyp kann helfen, Seth zu besiegen?“, hakte Liam nach. Alecs Miene verfinsterte sich. „Sagen wir einfach, er ist der Grund, warum unser kleiner Feuerjunge so gefährlich geworden ist.“ Liam schien immer noch nicht ganz zu begreifen, dennoch nickte er. „Nun gut. Wir werden alles über diesen Kerl zusammentragen, was wir finden können. Hier in dieser Bibliothek befinden sich Schätze, die sind sogar älter als ihr. Wenn wir noch unsere Experten einschalten, müsste es möglich sein … Hallo? Hört ihr mir überhaupt zu?“ Die Vampire schienen ihre Aufmerksamkeit bereits auf etwas anderes gerichtet zu haben. Zunächst schauten sie sich um, als würden sie etwas Bestimmtes suchen, dann schließlich ging Oscar zum Fenster und blickte hinaus. Die dort befindlichen Jäger, die dort als Verstärkung Stellung bezogen hatten, ignorierte er jedoch, sein Blick glitt weiter in die Ferne. Alec und Oscar begannen daraufhin, in einer anderen Sprache zu diskutieren. Oscar wirkte angriffslustig, während Alec einen etwas vorsichtigeren Eindruck machte. Richard brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass die beiden sich auf Lateinisch unterhielten. Angestrengt an seinen frühen Unterricht denkend versuchte er, ein paar Sätze oder wenigstens einige Worte zu verstehen, aber das gestaltete sich schwieriger als zunächst angenommen, da die beiden ausgesprochen schnell sprachen. Jedoch glaubte er herauszuhören, dass sie irgendetwas Außergewöhnliches gerochen hatten. Und noch ein Wort verstand er: ignis! Es war zwar schon lange her, dass er sich das letzte Mal mit Latein beschäftigt hatte, aber er erinnerte sich noch, dass ignis ‚Feuer’ bedeutete. Demnach rochen die beiden Feuer … und das war gerade in diesen Zeiten sicherlich kein gutes Zeichen. Kapitel 21: Puppenspieler ------------------------- Der Geruch des Feuers war zwar nur schwach, im Grunde kaum wahrnehmbar, aber Alec fraß er sich regelrecht durch Mark und Bein. Er erinnerte sich wieder an die schier unerträglichen Schmerzen, die Seth ihm zugefügt hatte. Unbewusst strich er sich über seinen verletzten Arm, der in der Zwischenzeit zu prickeln begonnen hatte. „Er ist hier, nicht wahr?“ Oscars Stimme war fest und beherrscht. Immer noch sah er aus dem Fenster, konnte jedoch nichts erkennen, dass auf Seth hingedeutet hätte. Nur dieser Geruch hing in der Luft und machte deutlich, dass sich der Feuerteufel ganz in der Nähe aufhielt. Möglicherweise auf dem Grundstück oder sogar schon im Haus. Alecs Hände verkrampften sich zu Fäusten. Eine Mischung aus unbändiger Kampfeslust und vorsichtiger Zurückhaltung überschwemmte ihn und machte es ihm schier unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Urinstinkte schrien danach, Seth auseinanderzureißen, bis nur noch ein paar Stückchen von ihm übrig sein würden, doch sein Verstand warnte ihn vor einer übereilten Tat. Das letzte Mal war der Vampir unachtsam vorgegangen und hatte Seths Macht unterschätzt, was ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Was auch immer geschehen sollte, Alec wollte nichts überstürzen und somit riskieren, ein zweites Mal von den Flammen verschluckt zu werden. Und vor allen Dingen wollte er sich nicht wieder so hilflos fühlen wie ein Mensch. „Was ist denn los?“, hörte er Eves Stimme.  Sie stand direkt neben ihm und starrte ihn irritiert an, ebenso wie die anderen Jäger. Nur derjenige, den Oscar zuvor gegen das Regal geschubst hatte, schien zu ahnen, was los war. Entweder verfügte er ebenfalls über einen außergewöhnlichen Geruchssinn oder aber – was Alec eher vermutete – er war der lateinischen Sprache mächtig. „Wir bekommen Besuch von einem Freund, fürchte ich“, meinte der Vampir zähneknirschend. Eve sah ihn einen Moment noch verwirrt an, dann aber schien sie seine Worte zu begreifen. Schnell eilte auch sie zum Fenster und schaute hinaus. „Wo ist er?“ „Keine Ahnung“, gab Alec zu. „Wir können ihn im Augenblick nur riechen.“ Der Führer der Jäger, nach Eves Aussage noch vor ihrem Aufbruch zur Bibliothek ein Mann namens Liam McCoy, blickte von einem zum anderen, in seinen Augen ein wacher Geist, wie man es nur selten bei Menschen antraf. Alec gab es zwar ungern zu, aber dieser Mann gefiel ihm. Er war ein intelligenter und gewitzter Bursche, der sich selbst von den Sa’onti nicht einschüchtern ließ. Für den Untoten war es nicht sonderlich schwer zu erraten, von wem sich Eve ihre Furchtlosigkeit abgeschaut hatte. „Geht es um den Feuerteufel?“, fragte Liam nach. Er schien die Situation wohl ebenfalls durchschaut zu haben. „Ist er etwa wirklich hier?“ Oscar gab ein Grunzen von sich, welches signalisierte, dass er sich nicht dazu herablassen würde, einem kümmerlichen Menschen eine Frage zu beantworten, woraufhin Alec ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Ob nun Jäger oder nicht, Sturheit war im Moment eher kontraproduktiv. „Er ist zumindest in der Nähe“, erklärte Alec. „Ich schätze mal, er ist uns gefolgt.“ Er warf einen Seitenblick auf Eve und fügte in Gedanken hinzu: Oder ihr. Liam verlor daraufhin keinen Moment Zeit. „Mr. Davis, nehmen Sie Ihre Männer und lassen Sie von Ihnen das komplette Grundstück durchsuchen. Mindestens Zweiergruppen. Schicken Sie auch ein paar Männer hinunter zu den Wissenschaftlern. Und ebenfalls auf die Kameraaufnahmen sollte ein Blick geworfen werden, vielleicht haben die Geräte irgendwas eingefangen.“ Die Männer nickten unisono und machten sich sofort an die Arbeit. Bis auf zwei Jäger, die Liam weiterhin mit grimmigen Mienen schützend flankierten, stürmten sie in alle Himmelsrichtungen davon. „Kennt ihr zufällig einen bestimmten Trick, wie man diesen Bastard ausschalten kann?“, fragte der Anführer nach. „Einen speziellen Zauber oder auch möglicherweise einfach nur eine Dusche mit einem Wasserschlauch?“ Alecs Mundwinkel zuckten kurz. Die Vorstellung, Seth mit so etwas Banalem wie einem Schwall Wasser in seine Schranken zu verweisen, hatte durchaus was Amüsantes. Allerdings bezweifelte der Vampir, dass es so einfach sein würde. „Wir vermuten, dass es sich bei ihm um einen Magier handelt“, erklärte er. „Um einen ziemlich mächtigen und ausgesprochen alten Magier.“ Liam musterte ihn einen Augenblick mit einem undefinierbaren Blick, dann aber nickte er verstehend. „Nun gut, das könnte womöglich von Vorteil sein. Magier mögen vielleicht über große Kräfte verfügen, aber ihre Körper sind verwundbar. Zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer.“ Er murmelte vor sich hin, ehe er sich umdrehte und gedankenverloren in sein Büro zurückkehrte. Die zwei Jäger, die zurückgeblieben waren, schauten ihm kurz hinterher, beschlossen dann aber, lieber die Sa’onti im Auge zu behalten. Alec konnte ob dieser Entscheidung nur lächeln. Als ob die beiden irgendetwas gegen zwei uralte Vampire hätten ausrichten können. Als ob die gesamte Jägerschar in diesem Gebäude es hätte schaffen können. Aber Seth … nun, der war ein ganz anderes Kaliber. Von draußen waren plötzlich aufgeregte Stimmen zu vernehmen. Es sprachen zwar viele durcheinander, aber Alec konnte heraushören, dass sie eine verdächtige Gestalt auf dem Gelände ausgemacht hatten. Einige stürmten in die angegebene Richtung los, begleitet von bellenden Hunden. Eve schaute ihnen besorgt nach und auch Oscar wirkte alles andere als begeistert. Allerdings bezog sich seine Sorge weniger auf die Menschen. „Wenn dieser Feuerteufel es wagt, auch nur einem der Hunde etwas anzutun, werde ich ihm eigenhändig das Herz herausreißen“, zischte er. Mit einer Geschwindigkeit, der selbst Alecs Auge nur schwer folgen konnte, öffnete er das Fenster und sprang hinaus in den Garten. „Oscar!“, zischte Alec warnend. „Du bleibst genau da, wo du jetzt bist!“, ordnete Oscar an. „Du überlässt mir das Kämpfen, erinnerst du dich noch? Ich schaue nur einmal nach, was dort draußen los ist.“ „Oscar ...“ „Wenn du es wagst, dich töten zu lassen, während ich weg bin, werde ich dir das niemals verzeihen, haben wir uns verstanden?“, meinte er mit Nachdruck. „Also tu ausnahmsweise mal das, was man dir sagt, und bleib an Ort und Stelle!“ Seine Gestalt verschwamm daraufhin, als er in den Schatten versank. Alec stieß schnaubend Luft aus. Er hasste es, wie ihn in letzter Zeit alle herumkommandierten, als wäre er ein verletztes Vögelchen, das Aufmerksamkeit und Pflege brauchte. Allerdings kam es zum großen Teil von Oscar und Alec wollte diese so seltene Gefühlsregung eigentlich nicht in den Dreck ziehen, indem er sie einfach ignorierte. Eve trat währenddessen neben ihm nervös von einem Fuß auf den anderen. „Ist Seth wirklich dort draußen?“ Im ersten Augenblick war Alec verlockt, diese Frage zu bejahen, dann aber hielt er inne. Immer noch nahm er den Geruch des Feuers wahr … nun aber viel stärker als noch vorhin. „Nein“, sagte er schließlich. „Ich glaube, er ist im Gebäude.“ Eve verzog ihr Gesicht, als sie vom Fenster wegtrat und die Tür ansteuerte, die hinaus in den Flur führte. „Dann soll sich der Kerl auf eine Abreibung gefasst machen. Niemand wagt es, ungefragt in mein Zuhause einzudringen!“ Bevor sie jedoch hinaus in den Gang stürmen konnte, ergriff Alec ihren Arm. Sie stieß einen Fluch aus und wirbelte zu ihm herum. „Was soll das?“, fauchte sie. „Du bleibst schön bei mir, verstanden?“, befahl er streng. Eve musterte ihn einen Augenblick, ehe sie spöttisch auflachte. „Was, willst du dich hier verkriechen, nur weil dein herzensguter Bruder, der, soweit ich informiert bin, jünger ist als du, dir gesagt hat, du sollst hierbleiben?“ „Es geht bei uns nicht ums Alter“, entgegnete Alec vehement. „Um was geht es dann?“, zischte sie. „Hast du Angst vor Seth?“ Alec knirschte mit den Zähnen. Er war sich eigentlich nie zu stolz gewesen, zuzugeben, wenn er sich vor etwas fürchtete. Wenn es beispielsweise um Dämonen ging, machte er stets einen Rückzug, besonders nach den Ereignissen hier in London vor gut einem Jahrhundert, und war sich nie zu schade dafür gewesen. Es war einfach ein Überlebensinstinkt, vor etwas zurückzuweichen, das einen töten konnte, und man brauchte sich deswegen eigentlich nicht zu schämen. Im Gegenteil, es war hochgradig fahrlässig und dumm, ihn einfach zu ignorieren. Und Seth hatte so viel Dämonisches an sich, sein Feuer war derart übermächtig, dass es Alec bis ins Mark erschüttert hatte. Und er war letztes Mal so närrisch gewesen, sich ihm alleine ohne den geringsten Plan entgegenzustellen. Aber gleichzeitig sah Alec Seths Gesicht vor sich. Dieses überhebliche Grinsen, der Wahnsinn in seinen Augen und er spürte immer noch diese Vertrautheit, die ihn schier wahnsinnig machte. In seinem Inneren schrie alles auf, er kannte diesen Mann einfach, aber aus irgendeinem Grund erinnerte er sich nicht daran. „Du kannst dich ja gerne hier verkriechen, aber ich werde gehen!“, erklärte Eve entschieden. „Er wird mich ja sowieso nicht umbringen, habe ich nicht Recht?“ Sie schien tatsächlich zu erwägen, ihm die Zunge herauszustrecken, unterließ es dann aber im letzten Moment noch. Stattdessen setzte sie sich erneut in Bewegung. Alec jedoch packte sie mit übermenschlichen Geschwindigkeit am Oberarm und riss sie zu sich. „Hast du etwa schon vergessen, dass du unsere Geisel bist?“, zischte er ihr ins Ohr. „Ich lasse dich hier gewiss nicht herumlaufen, wie es dir gefällt.“ Eve sog scharf die Luft ein, als Alecs starker Griff ihr die Blutzufuhr abschnürte. „Du willst also einfach hier ausharren und hoffen, dass alles spurlos an dir vorbeigeht?“ Alec grub seine andere Hand in ihre Haare und riss ihren Kopf zurück, sodass ihre Kehle blank vor ihm lag. Sie wimmerte vor Schmerz auf und versuchte, sie irgendwie zu befreien, ohne ein großes Büschel Haare herauszurupfen. „Wie kann es eigentlich sein, dass du bei deinem frechen Mundwerk überhaupt noch am Leben bist?“, hakte er nach. „Ich verspüre im Moment gerade so eine gottverdammte Lust, dir das Herz aus der Brust zu reißen, dass ich gar nicht genau weiß, wie ich das kontrollieren soll!“ Eve gab ein klagendes Geräusch von sich, erwiderte jedoch nichts. Selbst ihren erbärmlichen Widerstand hatte sie aufgegeben, sich offenbar bewusst, dass es absolut sinnlos war. „Du solltest vielleicht nicht so vermessen sein, anzunehmen, uns zu kennen“, entgegnete er derweil zähneknirschend. „Nur weil ich dir einen Kaffee angeboten und ein bisschen mit dir geplaudert habe, heißt das noch lange nicht, dass du mich oder Vampire im Allgemeinen irgendwie verstehst. Also sei bitte so gut und behalt deine dummen Kommentare für dich, ansonsten sehe ich mich gezwungen –“ Er ließ den Satz unvollendet im Raum stehen und runzelte verwundert die Stirn. Irgendwas Merkwürdiges geschah unvermittelt und er konnte es zu seinem Leidwesen nicht genau bestimmen. Zunächst war ihm, als würde die Außentemperatur plötzlich sinken – nicht besonders viel, aber dennoch auffällig – und schließlich erwachte auch in seinem Inneren eine unangenehme Kälte. Was passierte gerade? Bevor er eine zufriedenstellende Antwort erhalten konnte, spürte er, wie sein Adrenalinspiegel von einem Moment auf den anderen plötzlich in die Höhe schoss. Bereits im nächsten Augenblick riss ihn eine unsichtbare Macht von den Füßen und schleuderte ihn erbarmungslos gegen die nächste Wand. Ein stechender Schmerz schoss durch seine Schulter, als sein Schlüsselbein beim Aufprall ein unheilvolles Knacksen von sich gab. Ächzend sank der Vampir zu Boden, leise auf Babylonisch vor sich hinfluchend. Trotz seiner zunächst etwas verschwommenen Sicht bemerkte er, wie Eve, die offenbar von dem Ganzen vollkommen unberührt geblieben war, ihn schockiert ansah. Ein eisiges Lachen erfüllte plötzlich den Raum, welches die Jägerin zusammenzucken ließ. Auch Alec hätte sicherlich eine überraschte Reaktion gezeigt, wenn er nicht viel zu sehr mit seinem Schlüsselbein beschäftigt gewesen wäre. Der Vampir spürte zwar, dass dank seiner Regenerationsfähigkeiten der gebrochene Knochen bereits wieder verheilte, dennoch lief das nicht völlig schmerzlos ab. „Tja, mein Freund, es ist sicher lange her, dass du so direkt mit Magie konfrontiert worden bist, nicht wahr?“ Seths Stimme schien von überall zu kommen und hallte in der großen Bibliothek wie in einer Schlucht. „Und es ist wohl schon lange her, dass dir irgendjemand beigebracht hat, was Manieren sind“, entgegnete Alec zischend. „Haben dir Mummy und Daddy nicht gesagt, dass es unhöflich ist, anderer Leute Knochen zu brechen?“ Seth tauchte wie aus dem Nichts direkt neben Eve auf, was die Jägerin dazu brachte, eilig ein paar Schritte zurückzuweichen und ihre Waffe hochzureißen. Der Magier warf ihr ein Lächeln zu, ehe er sich mit einem spöttischen Blick wieder Alec zuwandte. „Meine Macht wird mit jedem Tag stärker“, erklärte Seth herablassend. „Bald schon habt ihr keinerlei Chance mehr gegen mich. In meiner Gegenwart seid ihr keine Sa’onti mehr, sondern nur schwächliche Menschen.“ Alec knirschte mit den Zähnen. Das war wirklich das Letzte, was er hatte hören wollen. „Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall“, knurrte er. „Du wirst schon sehen, Shadyn.“ Seth zuckte bei der Erwähnung seines alten Geburtsnamen kurz zusammen, aber schnell hatte er wieder eine höhnische Miene aufgesetzt. „Glaubst du wirklich, mich zu kennen, Neyo? Nur, weil du einen alten Namen aufgeschnappt hast, macht dich das noch lange nicht zu einem Experten.“ Alec schnaubte. Er versuchte, sich wieder aufzurichten, merkte aber, dass sich dies äußerst schwierig gestaltete. Als würde ihn eine unsichtbare Hand auf den Knien halten. „Ehrlich gesagt würde ich dir gerne alles erzählen“, fuhr Seth fort. „Das Gebilde aus Lügen, auf dem dein Leben aufgebaut ist, vollends zerstören. Aber ich bin nicht so grausam, dir das Herz zu brechen.“ Seth schenkte dem Vampir noch ein überhebliches Grinsen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Eve. Diese hielt mit beiden Händen ihre Schusswaffe umklammert und machte den Anschein, als würde sie jeden Moment auf den Abzug drücken. „Warum so feindselig, mein Schatz?“, fragte er nach. „Ich will dir wirklich nichts tun.“ Eve schnaubte. „Und was willst du dann von mir? Was ist so besonders, dass du hinter mir her bist? Wir kennen uns doch gar nicht.“ „Das stimmt“, sagte Seth in einem bedauernden Tonfall. „Zumindest oberflächlich betrachtet. Aber tief in deinem Inneren erkennst du mich bestimmt, oder?“ Eves Miene war deutlich zu entnehmen, dass sie nicht genau wusste, was sie denken sollte. Verwirrt schaute sie Seth an, offenbar intensiv darüber nachdenkend, ob sie ihn nicht vielleicht doch irgendwo schon mal gesehen hatte. Als das ganze Grübeln anscheinend nichts half, warf sie einen kurzen Blick zu Alec, wohl in der Hoffnung, auf diese Weise die langersehnte Antwort irgendwie zu finden. Alec hatte im Moment jedoch ganz andere Sorgen, als die Fragen einer lästigen Jägerin zu beantworten. Stattdessen fletschte er bloß seine Zähne und gab ihr zu verstehen, dass sie sich nicht an ihn wenden brauchte. „Was willst du nur von mir?“, stellte Eve ihre Frage erneut an Seth, nachdem sie Alec einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hatte. „Das erzähle ich dir sehr gerne später“, sagte Seth lächelnd. „Erst einmal muss ich den hier zurechtweisen.“ Und mit diesen Worten wirbelte er herum und sah sich direkt mit Oscar konfrontiert, der hinter ihm aus dem Schatten getreten war und gerade den Arm ausgestreckt hatte, um Seth zu packen. Einen Moment war der Vampir verblüfft, dass Seth ihn bemerkt hatte, dann aber stahl sich ein Schmunzeln auf seine Lippen. „Nicht schlecht, kleiner Magier“, gab Oscar zu. „Nur die wenigsten können unsere Präsenz so genau spüren. Aber das wird dir nicht viel nützen.“ Oscar holte zum Schlag aus, doch Seth hob noch im letzten Moment abwehrend seine Hände. Alec konnte von seinem Standpunkt zwar nicht genau sehen, was passierte, aber offenbar hatte er noch schnell eine magische Barriere errichtet, auf die nun Oscars Faust mit voller Wucht traf. Der Vampir brüllte vor Schmerz und Wut kurz auf. „Wie ich eben schon deinem älteren Bruder erklärt habe, wird meine Macht von Tag zu Tag stärker“, meinte Seth grinsend. „Eure kleinen, dummen Schlägertechniken wirken bei mir nicht.“ Oscar völlig ignorierend, der nun abgeschirmt hinter einer unsichtbaren magischen Wand stand, wandte sich Seth wieder Alec zu. „Und ich werde es euch beweisen. Ihr werdet sehen, wozu ich alles fähig bin.“ Er lachte auf und wirkte dabei wie ein wahnsinniger Bösewicht aus einem übertriebenen Hollywood-Film. „Wie wär’s, wenn ich euch eine Fähigkeit vorführe, die ich erst vor kurzem entdeckt und erlernt habe? Das wird bestimmt ein Heidenspaß.“ Er drehte sich zu Oscar, sprach ein paar Worte in einer Sprache, die Alec noch nie gehört hatte, und vollführte einige hochkompliziert erscheinende Fingerübungen. Ob diese zu seinem Zauber dazu gehörten oder ob er einfach die Blutzufuhr in seinen Händen fördern wollte, vermochte Alec nicht zu erkennen. Auf jeden Fall murmelte er weiter vor sich hin, Oscar intensiv fixierend. Auch der Vampir seinerseits starrte Seth tief in die Augen, allerdings weitaus hasserfüllter. Schließlich, so bemerkte Alec an der geringfügigen Änderung in der Umgebung, verlor die magische Barriere an Kraft. Offenbar genauso, wie von Seth beabsichtigt, da er in keiner Weise überrascht darauf reagierte. Stattdessen streckte er seinen Arm aus und platzierte seine Hand auf Oscars Brust. Und Oscar … unternahm gar nichts. Er stand einfach nur regungslos da und starrte Seth weiterhin eindringlich an. „Oscar!“, rief Alec. Er richtete sich nun wieder vollends auf, da Seth offenbar nun alle Energie auf Oscar verwendete. Den inzwischen nur noch dumpfen Schmerz in seiner Schulter beachtete er derweil nicht weiter. Bilder schossen dem Vampir durch den Kopf. Erinnerungen daran, wie Seth ihn vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls gepackt und beinahe bei lebendigen Leibe verbrannt hätte. Aber bevor auch nur das erste Anzeichen von Feuer auftauchen konnte, nahm Seth seine Hand wieder weg. Und sein Lächeln war unerträglich selbstgefällig. „Oh ja, das ist perfekt“, sagte Seth zufrieden. „Mehr als perfekt.“ Oscar erwiderte darauf gar nichts, immer noch rührte er sich nicht. Sein Blick, der plötzlich merkwürdig leer erschien, glitt ins Nichts. „Was hast du mit ihm gemacht?“, zischte Alec. „Was hast du ihm angetan, du Dreckskerl?“ Seth lachte auf. „Ist dir das nicht klar? Erinnere dich doch einfach daran, was euch As’kyps kleiner Diener erzählt hat. Hat er euch nicht darüber aufgeklärt, woher ich die Macht nehme, euch mit Magie zu schaden? Nun, im Grunde habe ich diese Fähigkeit einfach ein bisschen perfektioniert.“ „Was soll das heißen?“ Auch Eve schien alles andere als begeistert. Vorsichtig wich sie ein Stück zurück, während sie Oscar beunruhigt musterte. „Durch As’kyp besitze ich die Macht, Einfluss auf die Toten zu nehmen“, meinte Seth grinsend. „Ich kann die Körper der Vampire so manipulieren, dass sie wieder denen eines Menschen ähneln. Und inzwischen habe ich auch gelernt, ihren Geist zu kontrollieren.“ Alec schnappte nach Luft, als er begriff, was das bedeutete. „Du … du hast …?“ „Nett, nicht wahr?“ Seths breites Lächeln ähnelte dem eines völlig Wahnsinnigen. „Ich gebe zu, es hat lange gedauert, bis ich diese Fähigkeit entwickeln konnte. Ich habe viele Wochen an unbedeutenden, schwachen Vampiren geübt. Und inzwischen habe ich genug Macht, um mich auch mal an einem Sa’onti zu probieren.“ Alec konnte einfach nur angewidert das Gesicht verziehen. Schon immer hatte er Manipulatoren, die auf den Willen von anderen Einfluss nahmen, mehr als alles andere gehasst. Und Seth war nun die Perfektion eines Puppenspielers. So wie es aussah, hatte er sich Oscar gefügig gemacht. Seinen Geist weggesperrt oder sogar ausgelöscht und stattdessen etwas zurückgelassen, das nur Befehlen gehorchen konnte. Alec hatte schon gehört, dass es einige mächtige Magier gab, die diese Fähigkeit besaßen, aber es war ihnen strengstens verboten, jene auch anzuwenden. Aber Seth hielt sich bekanntlich an keinerlei Spielregeln … „Ich hätte euch beide auch hier und jetzt einfach töten können, das wäre kein Problem gewesen“, sagte Seth. „Es wäre ein furchtbarer und erniedrigender Tod für euch gewesen. Aber auf diese Weise gefällt es mir sehr viel besser.“ Sein sadistisches Grinsen wurde immer breiter. „Gibt es schließlich etwas Schlimmeres, als von seinem eigenen Bruder getötet zu werden? Und gibt es auf der anderen Seite etwas Schrecklicheres, als zu erkennen, dass man jemanden umgebracht hat, den man liebt? Ihr beide werdet fürchterliche Qualen leiden und ich muss dabei nur zuschauen.“ Seth lehnte sich etwas zur Seite, in Richtung Oscar, und sagte: „Töte ihn, mein Freund.“ Oscars leeres Gesicht wandte sich Alec zu. Und dann setzte er sich in Bewegung. Kapitel 22: Verflucht --------------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.): Die nächsten Tage gab Neyo sein Bestes, den Eindruck eines langsam Genesenden immer weiter zu festigen. Er lächelte, er scherzte und er täuschte vor, dass es mit seiner Gesundheit langsam bergauf ging. Die komplette Dienerschaft schien über alle Maßen erleichtert zu sein, dass er endlich in der Lage war, wieder sein Bett zu verlassen, sodass es Neyo unter keinen Umständen übers Herz gebracht hätte, ihre aufkeimende Hoffnung, dass bald alles wieder so sein würde wie früher, zu zerschmettern. Er zeigte nicht, wie ausgelaugt er eigentlich war. Er sagte niemanden, dass die nächtliche Schlaflosigkeit weiterhin unbarmherzig anhielt und langsam aber sicher immer mehr von seiner Energie fraß. Stattdessen bemühte er sich, die Augenringe irgendwie zu vertuschen und zu forschenden Blicken rasch auszuweichen. Ebenso sein Appetit war immer noch nicht zurückgekehrt, doch seiner Freunde willen zwang er in ihrer Gegenwart stets ein wenig Essbares herunter und tat so, als wäre nichts Großartiges dabei. Keiner schien zu bemerken, dass es für ihn eine Qual war und alles, ob nun ungenießbarer Brei oder der saftigste Braten, nach nichts schmeckte. Er hätte auch Sand oder Gras essen können, es hätte für ihn keinen Unterschied gemacht. Im Gegensatz dazu verspürte er jedoch inzwischen einen schier unstillbaren Durst. Er trank mehrere Liter Wasser täglich und trotzdem schien es niemals genug zu sein. Auch Säfte, Wein oder etwas anderes verschaffte ihm keinerlei Befriedigung. Als verlangte sein Körper nach etwas anderem, etwas sehr viel Nahrhafteren, auch wenn sich Neyo strikt weigerte, näher darüber nachzudenken, was dies sein könnte. Und zunächst schien niemand etwas zu bemerken. Zwar sah er überall immer noch Besorgnis in den Augen der anderen, aber ebenso Erleichterung. Sie vermochten nicht hinter seine Maske zu blicken, wollten es vielleicht sogar teilweise auch gar nicht. Schon sehr schnell ging alles wieder seinen normalen Gang und nur die wenigstens hatten überhaupt Zeit, zu bemerken, dass Neyo trotz alledem noch lange nicht seine alte Form erreicht hatte. Es gab selbstredend Ausnahmen. Calvio beispielsweise verlor kein einziges Wort über seine plötzliche Wunderheilung, aber seine Blicke sprachen Bände. Er glaubte Neyo kein einziges Wort, wenn er immer wieder betonte, es ginge ihm besser. Er schnaubte bloß stets abfällig und versuchte, Neyo mit seinen Augen zu durchbohren, als würde er ihn damit irgendwie drängen können, die Wahrheit auszusprechen. Und ebenso Jyliere schien Neyo auf Dauer nichts vormachen zu können. Er war schon angesichts der unerwarteten Genesung Neyos erstaunt und auch skeptisch gewesen und Neyo ertappte ihn immer wieder dabei, wie der Magier ihn aus der Ferne aufmerksam musterte, als wäre er ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt. Als wüsste er ganz genau, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Und Neyo war mehr als klar, dass er es ihm über kurz oder lang nicht würde verschweigen können. Dass er es auch gar nicht wollte. Jyliere war immer gut zu ihm gewesen, seit diesem Tag vor über zehn Jahren, als er Neyo aus dem finsteren Kellerloch befreit hatte. Nie hatte er verraten, was ihm damals zu dieser Tat getrieben hatte – manchmal machte es sogar den Anschein, als wüsste er dies selbst nicht –, aber im Grunde hatte es für Neyo sowieso nie eine Rolle gespielt. Jyliere war der erste gewesen, der ihm ein Dach über dem Kopf geschenkt und ihn mit Respekt behandelt hatte. Neyo verdankte ihm derart viel, vermutlich sogar sein eigenes Leben, sodass er es mehr als verdient hatte, alles zu erfahren. Und somit schlüpfte er eines Abends, als sich Jyliere in seinem Studierzimmer aufhielt und augenscheinlich einige Briefe aufsetzte, leise durch die Tür und nahm auf einem Sessel Platz, darauf wartend, dass der Magier seine Arbeit beendete. „Kann ich dir helfen, Neyo?“, fragte Jyliere schließlich nach, als er den Federkiel zur Seite legte und den Besucher interessiert musterte. Neyo senkte daraufhin seinen Blick. Er merkte plötzlich, wie ihn der Mut verließ, als er in die wachen Augen des Magiers schaute. Er wusste, wenn er erst einmal ausgesprochen hatte, was ihm auf der Seele lag, würde Jyliere ihn auf eine ganz andere Weise ansehen. „Fühlst du dich nicht wohl?“, hakte Jyliere nach, als Neyo immer noch keine Anstalten machte, zu antworten. „Du brauchst dich nicht meinetwegen zu verstellen. Ich habe sehr wohl gemerkt, dass du beileibe nicht so munter bist, wie du den Anschein erwecken willst.“ Er seufzte und betrachtete Neyo verständnisvoll. „Du lebst nicht mehr auf der Straße, das weißt du doch? Hier wird dich niemand ausnutzen, nur weil du krank bist. Ganz im Gegenteil, wir wollen dir alle helfen.“ Neyo schüttelte augenblicklich den Kopf. „Darum geht es nicht“, erwiderte er. „Sondern?“ Neyo holte einmal tief Luft. „Ich ... ich wollte dir das eigentlich schon viel früher sagen“, gab er zu. „Eigentlich hätte ich schon in der Minute, als ich aufgewacht bin, sofort zu dir stürmen sollen. Es tut mir leid.“ Jyliere kräuselte seine Stirn, ließ jedoch keine Anstalten erkennen, Neyo zu bedrängen. Er war schon immer ein ruhiger und geduldiger Mann gewesen, der anderen Menschen stets immer die Zeit gab, die sie für sich persönlich brauchten. „Ich glaube, ich hatte Angst“, fuhr Neyo fort. „Und ehrlich gesagt habe ich mir auch eine ganze Zeit einzureden versucht, dass das alles nur ein Traum war, auch wenn ich es im Grunde besser wusste.“ Neyo massierte sich nervös die Hände. Es wäre alles so viel leichter gewesen, wenn er sich das tatsächlich alles bloß eingebildet hätte. Diese rotglühenden Augen, diese Stimme, die so unglaublich verführerisch gewesen war ... „Es war nicht die Medizin, die mir Besserung verschafft hat“, erklärte er. „Er ist es gewesen!“ Jyliere blinzelte einige Male verdutzt und schien zu überlegen, wer wohl gemeint sein könnte. „Ich verstehe nicht“, sagte er verwirrt. „Ich auch nicht“, gab Neyo zu. „Ich weiß nicht, warum er plötzlich in meinem Zimmer stand ... und ...“ Er rieb sich die Schläfen und versuchte, die aufsteigenden Kopfschmerzen irgendwie einzudämmen. „Ich weiß nicht mal, wie er überhaupt hier hereingekommen ist. Eigentlich sollten doch die ganzen Sicherheitsmaßnahmen Geschöpfe wie ihn fernhalten, nicht wahr?“ Ein Verdacht schien Jyliere allmählich zu beschleichen, als er glatt eine Nuance blasser wurde und Neyo einen Augenblick schockiert musterte, ehe er aufstand, zu ihm trat und neben ihm in die Hocke ging. „Er hat gesagt, er hieße Asrim“, fuhr Neyo fort. „Und ... und er ...“ Seine Stimme wurde brüchig, als er sich wieder an ihre Begegnung erinnerte. Diese Angst, diese Abscheu und gleichzeitig diese unerklärliche und groteske Anziehung. Es hatte Neyo verwirrt und unglaublich aus der Fassung gebracht. Jyliere schienen derweil tausend Fragen auf der Zunge zu brennen, doch er mahnte sich zur Ruhe und bat Neyo, ihm alles Schritt für Schritt zu berichten. Und das tat dieser dann gleich darauf, auch wenn er den Aspekt über das sonderbare Gefühl der Verbundenheit außen vor ließ. „Er hat mich nicht geheilt“, erklärte Neyo schließlich. „Er sagte, dass es nur temporär wäre. Dass ich ... so oder so dem Tode geweiht bin.“ Jyliere wirkte, als wüsste er gar nicht, was er denken und fühlen sollte. Er brachte nicht mal einen Ton zustande, was Neyo unweigerlich einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er hatte den Magier zuvor noch niemals sprachlos erlebt. „Und ich ... ich glaube, es ist wahr“, entgegnete Neyo. „Ich meine, ich kann mich wieder aus dem Bett erheben, ohne das Bewusstsein zu verlieren, aber im Grunde ist das auch schon alles. Ich kann immer noch nicht schlafen, ich kann immer noch nicht essen ...“ Jyliere ergriff seine Hand und strich vorsichtig über die Stelle, wo Sharif ihn verletzt hatte. „Es ist der Biss“, meinte er mit schwerer Stimme. „Er macht dich krank.“ Auch Neyo hätte dies gerne geglaubt, aber er war einfach nicht dazu imstande. Und somit schüttelte er entschieden den Kopf. „Du verstehst nicht“, erwiderte er. „Ich hatte das alles schon davor.“ Jyliere stutzte. „Davor?“ Neyo atmete einmal tief ein, sich mental darauf vorbereitend, was er als nächstes offenbaren würde. Er hatte es all die ganze Zeit über als Geheimnis gehütet und war eigentlich absolut erpicht gewesen, es nie auch nur einer Menschenseele zu verraten. Aber nun konnte er einfach nicht mehr schweigen. „Ich kann schon seit Monaten nachts nicht mehr schlafen“, erklärte er mit Nachdruck. „Und wie sich Appetit und Heißhunger anfühlt, weiß ich schon gar nicht mehr. Stattdessen habe ich diesen quälenden Durst und es wird immer schlimmer.“ Er schloss kurz die Augen. „Und wenn ich allein bin und es ganz ruhig ist, dann höre ich manchmal ein Flüstern. Es klingt, als würden viele Menschen durcheinanderreden. Und ich kann einfach nichts dagegen tun.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Handinnenflächen. „Ich habe das alles schon seit Monaten. Es hat rein gar nichts mit dem Biss zu tun.“ Neyo widerstrebte es sehr, die Sorge in Jylieres Gesicht zu sehen. Liebend gern hätte er bessere Neuigkeiten gehabt und das ganz gewiss nicht nur um seinetwillen. „Warum hast du mir nicht vorher etwas gesagt?“, wollte der Magier daraufhin wissen. „Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst. Ich würde dich niemals fortschicken.“ Neyo war dies nur allzu gewahr. Er hatte auch immer wieder darüber nachgedacht, sich Jyliere anzuvertrauen, aber jedes Mal hatte er einen Rückzieher gemacht. Er wollte keine Schwäche zeigen, er wollte keine Angst zeigen. „Ich habe gedacht, ich werde verrückt“, erklärte Neyo mit leiser Stimme. „Als ich noch auf der Straße gelebt habe, war da dieser Mann. Er fing an, irgendwann Stimmen zu hören, redete mit sich selbst, schrie ohne einen ersichtlichen Grund und verletzte sich. Ich habe einmal gesehen, wie er seinen Kopf immer wieder gegen eine Steinmauer gehämmert hat.“ Neyo holte tief Luft, als er an dieses Bild dachte, dass ihn damals als kleinen Jungen ziemlich verstört hatte. Der Kranke hatte nicht einmal aufgehört, als ihm das Blut in Strömen aus der Wunde gelaufen war. „Und irgendwann lag er dann tot in einer Seitenstraße. Vollkommen ausgemergelt, als hätte er ab einem gewissen Punkt einfach vergessen, Nahrung zu sich zu nehmen. Und ich ... ich hatte einfach Angst, dass ich so werde wie er, verstehst du?“ Zumindest hoffte Neyo, dass Jyliere dies irgendwie nachvollziehen könnte, auch wenn er sich dies eigentlich nicht sicher war. Jyliere war in einem behüteten Umfeld aufgewachsen und hatte sich nie mit Armut und Krankheit herumschlagen müssen. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, Tag um Tag um sein Leben zu kämpfen. „Und Asrim ... er ist zu dir gekommen?“ Man erkannte an Jylieres Tonfall sehr wohl, dass er diesen Namen bereits schon zuvor gehört hatte. Wahrscheinlich auch bereits vor dem nächtlichen Angriff durch Sharif. „Du weißt, wer er ist, nicht wahr?“, hakte Neyo nach. Jyliere seufzte. „Ich bin ihm nie persönlich begegnet“, gab er zu. „Das sind die wenigsten, soweit ich weiß. Aber es gab vor gut einem Jahrhundert eine unschöne Auseinandersetzung zwischen ihm und einigen Magiern, die böse geendet hat. Wir vermuten, dass er deswegen zurückgekehrt ist.“ „Aus Rache?“ Neyo sah wieder dieses dämonische Gesicht vor sich und vermochte sich sehr gut vorzustellen, dass der Wunsch nach Vergeltung ihn zu schrecklichen Taten führen würde. Jyliere nickte bestätigend. „Er hat uns zwar bisher keinen detaillierten Plan zukommen lassen, aber sein Angriff auf Reann spricht eine deutliche Sprache.“ Neyo runzelte die Stirn. „Was ist denn passiert?“ Jyliere strich ihm immer noch geistesabwesend über die Hand, als wollte er ihm damit versichern, dass jemand für ihn da war. „Ich weiß es nicht genau“, gestand er ein. „Ich war zu jener Zeit nicht in Rashitar und habe nach meiner Rückkehr bloß Gerüchte gehört. Te-Kem ist dabei gewesen, aber er war noch recht jung, etwa in deinem Alter. Und er möchte unter keinen Umständen darüber reden. Ich weiß nur, dass Unarc, Te-Kems Vater und damaliger Obere, und Asrim nicht besonders gut miteinander auskamen. Vielleicht war es eine normale Antipathie, vielleicht ist irgendetwas vorgefallen – niemand weiß es genau, nicht einmal Te-Kem, soweit ich das beurteilen kann. Auf jeden Fall ist irgendetwas geschehen, das dann das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Und die Magier haben es geschafft, Asrim zu überrumpeln.“ Neyo wollte sich gar nicht so genau vorstellen, was nötig sein musste, um dieses Wesen in die Knie zu zwingen. „Frag mich bitte nicht, wie genau ihnen das gelungen ist“, meinte Jyliere. „Te-Kem ist auf jeden Fall überzeugt, dass wir es kein zweites Mal auf diese Weise versuchen sollten. Wahrscheinlich würde es sowieso nicht funktionieren, Asrim ist vermutlich darauf vorbereitet.“ Neyo beobachtete, wie Jyliere sanft über seinen bandagierten Arm strich, auf seinem Gesicht einen Ausdruck, als hätte er alles dafür gegeben, um Neyo sein Leid irgendwie nehmen zu können. „Es hieß überall, Asrim wäre tot“, erzählte Jyliere weiter. „Te-Kem war bis vor wenigen Wochen auch felsenfest davon überzeugt. Unarc zumindest hat ihm und auch uns berichtet, dass der Vampir ausgelöscht wäre.“ „Warum?“, fragte Neyo verwirrt nach. Jyliere zuckte kurz mit den Schultern. „Unarc war vieles, aber kein Lügner. Ich glaube einfach, er war überzeugt, dass Asrim tatsächlich tot war! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so leichtfertig gewesen wäre, es vor uns zu verheimlichen.“ Er senkte seinen Blick. „In letzter Zeit denke ich auch viel darüber nach, wie Unarc damals vor gut achtzig Jahren gestorben ist. Es hieß, es wäre ein Unfall gewesen – ein schrecklicher, magischer Unfall –, aber inzwischen ...“ Neyo holte einmal tief Luft. „Du glaubst, dass Asrim seine Hände im Spiel hatte?“ „Es wäre immerhin möglich“, gab der Magier zu. „Grund genug hätte Asrim sicherlich dafür gehabt.“ Neyo konnte nur zustimmen. Für eine mächtige und stolze Kreatur wie Asrim musste es ausgesprochen demütigend gewesen sein, von ein Magiern übertrumpft zu werden. „Aber warum ist er dann wieder zurück?“, wollte Neyo wissen. „Wieso jetzt, nach all dieser Zeit? Um auch noch Rache an Te-Kem und all den anderen Magiern zu nehmen? Das hätte er schon vor Ewigkeiten tun können, oder nicht?“ Jyliere schloss kurz seine Augen. „Wie gesagt, niemand weiß, was Unarc genau mit ihm angestellt hat. Vielleicht war er aus irgendeinem Grund damals nicht in der Lage dazu. Oder möglicherweise ...“ Er verstummte, sein Blick auf Neyo gerichtet, als wäre dies all die Antwort, die er benötigte. Und Neyo spürte, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete. „Möglicherweise ist er meinetwegen hier“, beendete er den Satz mit schwerer Stimme. „Es kann kein Zufall sein“, gab Jyliere nickend zu. „Und da er schon mal hier ist, hat er sich wahrscheinlich auch noch gedacht, dass es ganz amüsant werden würde, Te-Kem und alle anderen in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Neyo spürte, wie die Übelkeit in ihm hochstieg. Er erinnerte sich wieder an Sharif, an sein dämonisches Lächeln. Er hatte Neyos Namen gekannt und mit ihm gesprochen, als wären sie bereits alte Bekannte. Als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Neyo sich ihm und Asrim anschließen würde. „Heißt das ... wäre ich nicht hier ...?“ Neyo konnte den Gedanken kaum ertragen. Reann und Calvio wären in jener Nacht beinahe gestorben. „Asrim wäre so oder so irgendwann zurückgekehrt“, sagte Jyliere mit solcher Entschlossenheit, dass es schwerfiel, ihm nicht zu glauben. „Vielleicht erst in einem Jahr oder einem Jahrzehnt, aber irgendwann wäre es soweit gewesen! Unarc war damals nicht der einzige, der ihn tot sehen wollte, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Asrim dies ungesühnt hätte sein lassen.“ „Aber ... es ist so lange her ...“ Jyliere lächelte leicht. „Vampire sind Wesen der Ewigkeit. Für sie ist das Konzept von Zeit etwas völlig anderes als für uns. Ein Jahrhundert vergeht für sie wie ein Wimpernschlag. Es macht für Asrim absolut keinen Unterschied, ob es nur einen Tag oder hundert Jahre her ist.“ Unwillkürlich musste Neyo wieder an Asrims Worte denken. „Wir sind die Ewigkeit, Neyo. Wenn wir wirklich lieben oder hassen, dann vergeht dies nicht nach ein paar Monaten oder Jahren.“ Für Asrim fühlte es sich wahrscheinlich noch an, als wäre es erst gestern geschehen. Der Verrat, die Demütigung. Er hasste aus tiefster Seele und würde vielleicht erst wieder Frieden finden können, wenn die Verantwortlichen und deren Kinder und Kindeskinder in ihren Gräbern lagen. „Und .. was machen wir jetzt?“ Neyo hörte, wie dünn seine Stimme war. Er fühlte sich plötzlich ganz schwach und unsicher. Jyliere strich ihm einmal kurz über die Schläfe, eine Geste, die er stets bei Menschen, die ihm nahestanden, anwendete, um sie zu beruhigen. Neyo merkte sofort, wie sich sein Herzschlag wieder ein wenig verlangsamte. Er wusste nicht, ob es Magie war oder einfach nur die Berührung, aber es spielte im Grunde keine Rolle. Neyo war bloß dankbar, dass er nach all den Jahren in der Dunkelheit endlich jemanden gefunden hatte, der ihm so nahe war. „Wir finden einen Weg, wie wir dich retten können“, versicherte Jyliere ihm. „Magie ist schier grenzenlos und hier in dieser Stadt befinden sich die klügsten Köpfe und die größten Experten. Ich lasse nicht zu, dass dieses Monster dich mitnimmt.“ Neyo zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn er wusste, dass dies ein schwieriges und vielleicht sogar unmögliches Unterfangen werden würde. Und er konnte nur hoffen, dass Jyliere dies nicht irgendwann bitter bezahlen würde.       *  *  *  *  *  *  *  *  *  *       „Neyo ist was?“ Reann spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, als sie den Worten ihres Lehrmeisters lauschte, der mit besorgter Miene von Nachtwandlern und gefährlichen Bissen erzählte und dabei keinen Zweifel ließ, dass die Situation mehr als bedrohlich war. „Heißt das ... Neyo wird zu einem ... Vampir?“ Reann schüttelte ihren Kopf, während sie gleichzeitig wusste, dass es wahr war. Sie sah es in Jylieres Blick, in seinen tottraurigen Augen, und fühlte, wie sie selbst die Hoffnung verließ. Nachdem sie gehört hatte, dass sich Neyos Gesundheit wieder auf einem stetigen Weg der Besserung befand, war sie erleichtert gewesen, aber nun brach dies alles wieder zusammen. „Er befindet sich nicht in Verwandlung“, erklärte Jyliere sofort mit Nachdruck. „Aber ich denke, er ist schon von Geburt an dafür prädestiniert, wenn ich es einmal so formulieren darf. Ich habe von sogenannten Sa’onti bereits gehört. Irgendwann setzt bei ihnen ein bestimmter Prozess ein und wenn sie dann nicht das Blut eines Nachtwandlers trinken, dann ...“ Reann holte einmal tief Luft. „Dann was?“ Jyliere schloss kurz seine Augen, als könnte er sich so nur für einen Moment vor der Wahrheit verstecken. „Er stirbt, Reann. Gerade jetzt, in diesem Augenblick. Jede Minute, die wir vergeuden, ist er dem Tod einen Schritt näher.“ Reann wusste nicht, was sie darauf hätte antworten sollen. Sie dachte bloß an den breit grinsenden Neyo, der stets mehr Lebensfreude ausgestrahlt hatte als sonst irgendjemand, und vermochte sich einfach nicht vorzustellen, dass seine Zeit bald abgelaufen war. „Wie lange?“, wollte sie wissen. Jyliere seufzte. „Ich bin mir nicht sicher“, gab er zu. „Vielleicht sogar nur noch Wochen.“ Reann schnappte nach Luft. Als sie an diesem Morgen zu Jylieres Villa gefahren war, hatte sie eigentlich mit einem gewöhnlichen Tag gerechnet, mit Studien und belanglosen Diskussionen, die sie davon ablenken sollten, wie sehr ihr Vater unter der Sorge für seine Familie litt. Sie hatte einfach nur fliehen wollen und hatte sich auf Normalität gefreut. „Und wenn wir ihm das Blut eines Nachtwandlers besorgen, verwandelt er sich, habe ich das richtig verstanden?“, hakte sie mit einem Schaudern nach. „Er würde dann wie ... er?“ Ihr war absolut bewusst, dass Jyliere genau wusste, dass sie von Sharif sprach. „Es muss doch irgendeine Alternative geben. Irgendein Spruch oder Zauber oder irgendwas.“ Sie war zwar nicht allzu optimistisch, als sie daran dachte, dass Magie rein gar nichts bei der Bisswunde bewirkt hatte außer Schmerzen für Neyo, aber dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie sich an etwas klammern musste. Neyo war gewiss niemand, den sie als Freund bezeichnen würde, aber trotzdem hatte er es nicht verdient, auf diese Art und Weise zu sterben. „Ich habe bisher von nichts derartigem gehört“, gab Jyliere zu. „Allerdings ist die Forschung in dieser Hinsicht auch noch nicht weit fortgeschritten. Es gibt wirklich nur sehr wenig bekannte Fälle. Und der letzte, von dem ich in alten Aufzeichnungen gelesen habe, ist schon fast siebzig Jahre her.“ „Es wäre also möglich?“, hakte Reann nochmal nach. „Es muss nicht zwangsläufig das Ende bedeuten?“ Jyliere zögerte kurz, als wäre da noch etwas, das er gerne ausgesprochen hätte, es aber auf irgendeinem Grund nicht über die Lippen brachte. Schließlich aber nickte er. „Ich will die Hoffnung gewiss nicht aufgeben. Und wenn du mir helfen würdest ...“ „Natürlich“, meinte Reann sofort. Neyo hatte ihr Leben gerettet. Das mindeste, was sie tun konnte, war zu versuchen, dies zu erwidern. Jyliere schien ihren schnellen Zuspruch sehr zu begrüßen. Einen Moment später setzte er jedoch eine ernste Miene auf, als er mit Nachdruck sagte: „Aber wir erzählen nichts deinem Vater. Sobald er auch nur glauben sollte, dass Neyo in irgendeiner Verbindung mit den Vampiren steht, wird er nicht besonders erfreut reagieren.“ Reann vermochte nicht zu widersprechen. Te-Kem benahm sich seit dem Angriff ausgesprochen unberechenbar. Sollte er je von Neyos Zustand erfahren, würde er vor keinen Mitteln zurückschrecken, um seine Tochter zu schützen. „Dein Vater ist ein guter Mann“, meinte Jyliere, als hätte er trotz alledem irgendwie das Bedürfnis, Te-Kem vor Reann zu rechtfertigen. „Und er tut das, was er für das Beste hält. Ich will ehrlich gesagt nicht einmal ausschließen, dass ich nicht ähnlich handeln würde, wäre ich an seiner Stelle.“ Er verstummte kurz und holte einmal tief Luft. „Er braucht nicht noch mehr Kummer und Sorgen.“ Reann nickte zustimmend. „Er hat schon mehr als genug, mit dem er sich herumschlagen muss.“ Jyliere setzte ein trauriges Lächeln auf, ehe er sich schließlich straffte und begann, ihr seinen bisher groben Plan zu schildern. Er sprach von alten Büchern und Schriftrollen, die sich in seinem Besitz befanden und irgendwie auf die ein oder andere Weise Vampire behandelten oder zumindest erwähnten, und ebenso von anderen Magiern und Freunden, die ebenfalls eine gewisse Kenntnis über diese spezielle Spezies hatten. Er schlug sogar vor, einige Schriftstücke aus Te-Kems privater Sammlung auszuleihen, da sich dort vielleicht ein entscheidender Hinweis finden könnte. Reann nickte ergiebig und lauschte ihm, wie er von all den Quellen erzählte, die es auszuschöpfen galt. Nichts wollte er übersehen, nicht einmal eine winzige Kleinigkeit. Er überlegte sogar, sich hinter die Barriere Rashitars zu begeben und herauszufinden, ob die Barbaren womöglich etwas wüssten, was ihnen bisher entgangen war, da sie in der Regel öfters mit Untoten zu tun hatten als die bisher sehr behüteten Bewohner der Magierstadt. „Und ... wie geht es Neyo mit dem Ganzen?“, erkundigte sich Reann schließlich, nachdem Jyliere verstummt war. Der alte Magier seufzte daraufhin. „Was denkst du denn? Er fühlt sich körperlich elend und nun auch noch emotional. Die letzten Monate hat er angenommen, er würde allmählich verrückt und irgendwann desorientiert und vollkommen allein in einer Gasse verhungern. Und nun hat er zwar eine Erklärung für das alles, aber das macht das Ganze auch nicht besser.“ Reann blickte auf. „Das geht schon seit Monaten?“ „Es ist ein schleichender Prozess“, erklärte Jyliere. „Der Körper und seine Bedürfnisse verändern sich nach und nach. Es fängt mit Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit an und geht bis zu einem Punkt, wo seine menschliche Hülle nicht mehr imstande ist, es zu ertragen.“ Er schwieg und schloss kurz die Augen. „Ich habe gehört, es soll ein grauenvoller Tod sein.“ Reann biss sich auf die Unterlippe, ehe sie versuchte, sich dies vor Augen zu führen. Sie erinnerte sich daran, wie Neyo in der Nacht von Sharifs Angriff in der Bibliothek aufgetaucht war, als wäre nichts dabei, um diese Uhrzeit noch durch die Gänge zu streifen, und wie er lustlos auf etwas herumgekaut hatte, das seinem Gesicht nach zu urteilen wie Dung geschmeckt hatte. Ebenso hatte er es sofort vernommen, als Sharif in der Ferne die Fensterscheibe eingeschlagen hatte, während Reann rein gar nichts gehört hatte. Reann war all das zu jener Zeit merkwürdig vorgekommen, doch der Angriff des Vampirs und alles, was danach geschehen war, hatte sie dies wieder vergessen lassen. Nun jedoch fragte sie sich, wie sie derart blind hatte sein können. „Wo ist er?“, fragte sie nach. „Auf der Westterrasse“, wies Jyliere die Richtung, seine Aufmerksamkeit bereits auf ein nahegelegenes Buchregal gerichtet. Reann zögerte kurz und erwog, ob Neyo überhaupt ihre Gesellschaft gutheißen würde, entschied aber letztlich, dass er sich damit abfinden müsste. Sie fand ihn auf einer Bank sitzend, wie er reglos den Sonnenuntergang betrachtete. Er schaute nicht einmal auf, als Reann sich stillschweigend neben ihn setzte. Vielleicht war er gefesselt von dem Naturschauspiel, unter Umständen war es aber auch seine eigenen Gedanken, die ihn gefangen hielten. „Du weißt Bescheid, nicht wahr?“, fragte Neyo schließlich, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten. Reann musste angesichts seines Tonfalls leicht erschauern. Er klang so resigniert, so absolut. Als hätte er bereits aufgegeben und würde sich im Grunde nicht ansatzweise dafür interessieren, wer alles davon erführe, da es sowieso keinen Unterschied mehr machte. „Wir finden einen Weg“, sagte sie zuversichtlich. „Hier sprudelt nur alles so vor Magie. Du hättest dir keinen besseren Ort aussuchen können für dein ... Problem.“ Das letzte Wort sprach sie dabei sehr zögerlich aus und bereute es sofort, kaum dass es ihre Lippen verlassen hatte. Neyo schnaubte bloß. „Und warum hilfst du mir?“, hakte er nach. „Weil Jyliere dich mit großen Kulleraugen darum gebeten hat? Weil du das Gefühl hast, du würdest mir etwas schulden?“ Reann verschränkte die Arme vor der Brust. „Weil ich nicht will, dass du stirbst.“ Neyo schien diese Antwort zu überraschen und Reann fragte sich unweigerlich, ob er ihr kleines Gespräch damals in seinem Zimmer, als er sich in einem Schwebezustand zwischen Bewusstsein und Ohnmacht befunden hatte, bereits vergessen oder sich gar niemals daran erinnert hatte. Er war so sicher gewesen, dass sie ihr Leben für seines riskieren würde. So überzeugt, dass ihr sein weiteres Schicksal nicht vollkommen gleichgültig wäre. Doch nun wirkte er, als würde es ihn verblüffen und irritieren, dass sie sich überhaupt um seine Situation scherte. „Du bist wirklich ein Idiot, Neyo“, meinte sie kopfschüttelnd. „Denkst du, ich wäre ein kaltherziges Miststück? Es stimmt, wir sind nicht gerade die besten Freunde auf der Welt, aber das heißt noch lange nicht, dass ich einfach die Hände in den Schoß lege und nichts tue, während ich dir dabei zusehe, wie es dir immer schlechter geht. Ich bin gut, in dem, was ich tue, und ich bin vielleicht imstande, dir zu helfen. Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich das einfach ignoriere?“ Neyo musterte sie eine Weile schweigend, ehe er seinen Blick senkte. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „Es ist nur ... ich fühle mich einfach ...“ Er beendete den Satz nicht, sondern rieb sich stattdessen die Schläfen, als würde er aufsteigende Kopfschmerzen bekämpfen. „Hörst du immer noch die Stimmen?“, wollte Reann wissen. Als Neyo sie daraufhin erstaunt ansah, erklärte sie rasch: „Du hast mir davon erzählt. Erinnerst du dich noch?“ Neyo runzelte die Stirn. „Vielleicht“, meinte er letztlich zögernd. „Ich ... ich hab manchmal Probleme, Realität von Traum zu unterscheiden. Ich hab dir also davon erzählt?“ Er wirkte gequält, als hätte er eigentlich nicht beabsichtigt, dies irgendjemanden anzuvertrauen. „Ich habe es nicht weitererzählt, wenn dir das Sorgen bereitet“, entgegnete Reann. „Es war zu jenem Zeitpunkt sowieso nicht das drängendste Problem.“ Daraufhin blieb Neyo eine Weile stumm, ehe er schließlich flüsterte: „Manchmal ... höre ich sie noch. Aber ich weiß, dass es keine Einbildung ist. Kein Anzeichen von Wahnsinn.“ Ihm schien es sehr wichtig zu sein, dies klarzustellen. Reann nickte verstehend. „Dein Körper ... verändert sich. Und Vampire sind bekannt für ihre ausgesprochen scharfen Sinne. Das, was du hörst, sind Stimmen und Geräusche, die andere Menschen nicht mehr wahrnehmen können.“ Neyo schien überrascht, dass sie gar keine Erklärung benötigte. Und dass es sie offenbar nicht großartig kümmerte. „Wäre die Situation nicht so drastisch, wäre das Ganze eigentlich ziemlich faszinierend“, meinte sie, in einem halbherzigen Versuch, die Stimmung wieder ein wenig aufzulockern. „Stell dir nur vor, was du alles hören könntest. Wen du alles belauschen könntest.“ Neyo lachte auf, offenbar trotz alledem amüsiert, dass einer Frau wie Reann solche Gedanken zu kommen vermochten. „Ich könnte wichtige Staatsgeheimnisse mithören“, sagte er lächelnd. „Oder ich könnte Calvio belauschen, wie er liebevoll mit seinen Puppen spricht.“ Reann runzelte die Stirn. „Calvio hat Puppen?“ Neyo grinste. „Nicht, dass ich wüsste. Aber es wäre schon irgendwie witzig.“ Reann kicherte bei dem Gedanken, aber schnell hatte sie wieder eine ernste Miene aufgesetzt, als ihr Blick auf Neyos bandagierten Arm fiel. Es war so surreal und gleichzeitig so erschreckend. „Ich würde dir gerne sagen, dass alles wieder gut wird“, meinte sie unvermittelt. „Aber du weißt selbst, dass das bloß eine Lüge wäre, nicht?“ Neyo musterte sie mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. „Du denkst also, es ist zum Scheitern verurteilt.“ Sofort schüttelte sie energisch ihren Kopf. „Nein, natürlich nicht!“, erwiderte sie. „Jyliere ist ein Genie und wenn dich jemand retten kann, dann ist er es.“ Sie holte einmal tief Luft. „Aber selbst, wenn du geheilt wirst und diese Vampire auf die ein oder andere Weise aus Rashitar verschwinden, heißt das nicht automatisch, dass alles wieder gut wird, nicht wahr? Ich meine ...“ Sie hielt inne, sich überhaupt nicht sicher, worauf sie eigentlich hinauswollte. „Das Schicksal hat dich dafür auserkoren, ein Unsterblicher zu werden. Und wenn wir dies eben verhindern, wirst du dich womöglich bis an dein Ende fragen, ob irgendetwas Entscheidendes in deinem Leben gefehlt hat. Ob ... ob du etwas verpasst hast.“ Neyo runzelte die Stirn. „Du meinst, ich würde es eines Tages bereuen?“ Reann blickte auf. „Ich glaube, du würdest es bereuen, wenn du das Angebot der Vampire annimmst. Und ich glaube ebenso, dass du es bereuen würdest, es ausgeschlagen zu haben.“ Sie hob ihre Schultern. „Ich denke einfach, dass es für dich kein Richtig oder Falsch gibt.“ Neyo schnaubte abfällig. „Ich bin demnach verflucht, ganz gleich, wie ich mich entscheide?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist ehrlich gesagt nichts Neues. Ich bin schon seit dem Tag meiner Geburt verdammt.“ „Neyo ...“ „Nein, ist schon in Ordnung“, unterbrach er sie. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht darüber nachgedacht habe. Die Verlockung ... sie ist einfach ziemlich groß. Alles würde so viel einfacher werden.“ Er atmete einmal tief durch. „Aber ich habe die Angst in deinen Augen gesehen, als Sharif dich festgehalten hat. Und ich will auf keinen Fall so werden. Da fühle ich liebe Reue bis zum Rest meines Lebens, als für solch einen Ausdruck auf dem Gesicht eines anderen verantwortlich zu sein.“ Reann merkte, wie ernst es ihm war. Aber sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wie überzeugt er davon noch sein würde, wenn der Tod ihn fest in seinem Griff hatte und das Ende nahte. Kapitel 23: Entschlossenheit ---------------------------- London, England (2012): Alec wich einen Schritt zurück, als sich Oscar ihm langsam näherte, und hob beschwichtigend die Hände. „Nur nicht so eilig, du Narr“, sagte er, zu seinem eigenen Erstaunen in einem leicht zittrigen Tonfall. „Streng doch dein Hirn an. Erkennst du mich denn wirklich nicht?“ Oscars Blick schien direkt durch ihn hindurchzugehen. Seine leeren Augen zeigten nicht im Geringsten, ob Alecs Worte irgendwie zu ihm durchgedrungen waren. Er wirkte wie eine willenlose Puppe. Alec spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. Was hatte Seth nur mit ihm gemacht? Hatte er etwa vollkommen Oscars Geist ausgelöscht und lediglich eine Hülle zurückgelassen, die man bedienen konnte wie eine Marionette? Alec schüttelte bei diesem Gedanken energisch den Kopf. Zugegeben, Seth schien momentan die völlige Kontrolle über Oscar zu haben, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sein alter Freund und Bruder endgültig verschwunden war. Seth besaß vielleicht bisher ungeahnte Kräfte, aber niemals war es ihm möglich, derart schnell einen Sa’onti auszuschalten. Zumindest hoffte Alec dies. „Wach endlich auf, du Volltrottel!“, warf er Oscar entgegen. „Lässt du dich wirklich von so einem kümmerlichen und manisch depressiven Magier kontrollieren? Wo ist deine gottverdammte Ehre geblieben?“ Alec glaubte, in Oscars Augen kurz ein Funkeln gesehen zu haben, doch er erhielt keine Zeit, dies näher zu analysieren. Der ferngesteuerte Vampir holte bereits zum Schlag aus und Alec ging rasch in die Knie, um diesen zu entgehen. Somit traf Oscar stattdessen die Wand hinter ihm und hinterließ dort ein großes Loch, als er mit Leichtigkeit durch den Stein drang. Staub und Mörtel rieselte auf Alec hinab, der im nächsten Augenblick hastig zur Seite auswich, um dem Tritt Oscars zu entkommen. Auch dieser traf nicht das gewünschte Ziel. Oscar war schon immer ein gradliniger und zerstörerischer Typ gewesen, während Alec stets auf seine Schnelligkeit gesetzt hatte. Auf diese Weise war er Oscar zumindest immer entwischt, wenn dieser mal wieder vorgehabt hatte, ihn aus irgendeinem banalen Grund zu erwürgen. Alec kaute unruhig auf seiner Unterlippe, während er dabei zusah, wie sich Oscar ihm wieder zuwandte. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Mit solch einer Situation hatte er einfach nicht gerechnet. Oscar umzubringen kam selbstverständlich überhaupt nicht in Frage. Ihn in seine Schranken zu weisen schon eher, aber das würde sich wahrscheinlich als sehr schwierig erweisen, vielleicht sogar als unmöglich. Wenn Oscar erst einmal in Fahrt war, konnte nichts ihn aufhalten – außer dem Tod selbst. Und diesen Schritt war Alec keinesfalls bereit zu gehen, um sein eigenes Leben zu retten. Lieber ließ er sich hier und jetzt töten, als Oscar irgendetwas anzutun. Alec warf einen Blick zur Seite. Dort stand Seth, triumphierend lächelnd und ganz offensichtlich der Ansicht, dass er schon längst gewonnen hätte. Mit seinen Fingern vollführte er immer noch eigenartige Bewegungen, die in der Tat den Anschein erweckten, als würde ein Puppenspieler seine Marionette lenken. Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. Nicht Oscar war es, auf den er seine Energien konzentrieren musste, sondern Seth! Er hatte das ganze Chaos zu verantworten und nur wenn er aus dem Spiel ausschied, konnten sich die Verhältnisse wieder normalisieren. Der Vampir verlor keine Zeit. Hastig einem weiteren Schlag von Oscar ausweichend wirbelte er herum und stürmte direkt auf Seth zu. Er ließ sich weder von dem aufbrüllenden Oscar noch von der Schwadron anrückender Jäger, die entgeistert die Szene vor sich betrachteten, ablenken. Immer sein Ziel vor Augen. Und obwohl Seth trotz des Angriffs seinen unbekümmerten Eindruck beibehielt, verspürte Alec doch seine aufsteigende Unsicherheit. Er wich sogar unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Sa’onti setzte ein Lächeln auf. Offenbar musste Seth all seine Kraft auf Oscar richten, um ihn zu kontrollieren, und hatte somit keine Reserven mehr, um sich anderweitig zu verteidigen. Zumindest war weder ein Anzeichen des von Seth so geliebten Feuers noch andere magische Aktivität zu spüren. Er hatte nur Oscar … und dieser war, obwohl mächtig, trotzdem eine Spur langsamer als Alec. „Lass es lieber sein!“, stieß Seth hervor, gerade als Alec kurz davor stand, seine Hände um dessen Hals zu legen. „Du wirst deinen Freund damit nur töten.“ Alec hielt in der Bewegung inne, leise fluchend. „Was willst du damit sagen?“ „Wenn du den Kontakt zwischen mir und Oscar so abrupt abbrichst, wird das seinen Geist vollends vernichten.“ Seths breites Lächeln wirkte teuflischer als das so manches Dämons. „Also solltest du deine Finger lieber bei dir behalten, wenn du seinen Tod nicht verantworten willst.“ Alecs Knöchel knackten hörbar, als er seine Hand zur Faust ballte. „Bastard!“ Für weitere Beleidigungen hatte er keine Zeit mehr, denn er spürte, wie Oscar sich ihm blitzschnell näherte. Alec hatte durch die kurze Ablenkung keine Gelegenheit, dem Angriff auszuweichen. Somit stellte er sich dem heransausenden Vampir entgegen und versuchte, ihn so gut es ging abzublocken. Oscar hatte aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit eine enorme Kraft, als er Alec seine Faust in die Magengrube graben wollte. Dieser konnte zwar Oscars Arm noch rechtzeitig abwehren, musste sich dann aber damit abfinden, dass der ferngesteuerte Sa’onti, wie es nun mal seine Art war, nicht stehenblieb, sondern Alec mit voller Breitseite rammte. Alec wurde von den Füßen gerissen und wäre wahrscheinlich mit einem großen Aufprall gegen die Steinwand hinter sich geschmettert, hätte er sich nicht noch frühzeitig gefangen und seinen unfreiwilligen Flug abgebremst. Er schlitterte über den Boden, ehe er kurz vor der Mauer zum Stehen kam. Alecs Hand wanderte zu seiner Schulter, die Seth vorhin arg in Mitleidenschaft gezogen hatte. Zwar war der gebrochene Knochen innerhalb kürzester Zeit wieder geheilt gewesen, aber dennoch hatten seine Regenerationskräfte noch keine Möglichkeit gehabt, die Verletzung komplett zu beheben. Und so wie es den Anschein machte, würde sich diese Gelegenheit in nächster Zeit auch nicht unbedingt ergeben. Ebenso die Brandverletzung, die Seth ihm zugefügt hatte, machte ihm zu schaffen. Sie prickelte, als würden tausend Nadeln tief in seiner Haut stecken, und machte es dem Vampir somit zusätzlich schwer, sich richtig zu konzentrieren. Alec knirschte mit den Zähnen. Seine Chancen sahen nicht allzu gut aus. Oscar – oder besser gesagt: sein manipulierter Geist – war wild entschlossen, ihn zu töten, während Alec selbst kaum eine andere Wahl blieb, als seinen Angriffen aus dem Weg zu gehen. Jede Konfrontation hätte tödliche Folgen für sie beide haben können. Und Seth war, solange er Oscar kontrollierte, unantastbar. Zumindest hatte keine Lüge in seiner Stimme gelegen, als er behauptet hatte, dass sein Tod auch Oscars nach sich ziehen würde. Alec saß in der Falle. Und da er das Ableben seines Bruders nicht verantworten wollte, konnte er sich auch nicht ohne weiteres daraus lösen.   *  *  *  *  *  *  *   Sie bewegten sich unglaublich schnell. Jenseits dessen, was ein menschliches Auge wahrzunehmen vermochte. Alec und Oscar waren kaum mehr als verschwommene Schemen. Wie dunkle Schatten, die man kurz aus den Augenwinkeln bemerkte und bei denen man sich nicht sicher war, ob man sie nun wirklich gesehen oder ob es sich doch nur um Einbildung gehandelt hatte. Einzig Oscar war ein wenig besser zu erkennen, da noch immer das weiße Pulver an ihm klebte. Aber bei der unmenschlichen Geschwindigkeit, die er an den Tag legte, konnte man seinen Bewegungen trotzdem nur noch schwer bis gar nicht folgen. Eve lief ein jäher Schauer über den Rücken, als sie ihren Blick auf Seth richtete. Fasziniert sah er aus, während er lächelnd den Kampf der Vampire beobachtete, dem Eve nicht folgen konnte. Er schien jede Bewegung erkennen zu können, seine Augen zuckten in einer unglaublichen Geschwindigkeit hin und her. Eve wusste nicht, was sie als nächstes tun sollte. Sie spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Hand, gleichzeitig mit der bitteren Erkenntnis, dass sie ihr in dieser speziellen Situation wohl kaum vom Nutzen würde sein können. Die Sa’onti zu töten wäre reiner Wahnsinn gewesen, da man damit automatisch den unendlichen Groll der verbleibenden Sieben auf sich gezogen hätte. Und sich gegen Seth zu wenden, erschien auch keine gute Idee, weil man somit auch – zumindest nach der eben getätigten Aussage Seths – Oscar geschadet hätte. Konnte sie nichts weiter tun, als hier herumzustehen und darauf zu warten, dass sich die Situation entschied? Waren ihr wirklich die Hände gebunden? „Was sollen wir nur tun?“, vernahm sie Richards Stimme neben sich. Eve spürte, wie er ihre Hand ergriff, offenbar trotz der verfahrenen Lage mehr als froh, sie wieder an seiner Seite zu wissen. „Ich weiß nicht“, flüsterte Eve. Ihr Blick wanderte zu den anderen Jägern, die das Schauspiel aus sicherer Entfernung verfolgten und ebenfalls nicht zu wissen schienen, wie sie sich verhalten sollten. Etwas Vergleichbares hatte noch niemand von ihnen je erlebt. Unvermittelt vernahm Eve, wie Richard seine Waffe entsicherte. Sie drehte sich zu ihm hin und fragte verwirrt: „Was hast du vor?“ „Ist nicht alles, was wir brauchen, eine Ablenkung?“ Seine Augen ruhten auf Seth. „Sieh nur, wie fixiert er ist. Ich vermute, er muss sich ziemlich konzentrieren, um Oscar kontrollieren zu können. Wenn wir Seth nun ins Bein schießen …“ Keine schlechte Idee, wie Eve fand. Aber trotzdem viel zu riskant. „Vielleicht schadest du Oscar dadurch dennoch“, entgegnete sie. „Und ich will ehrlich gesagt nicht den Hass von Asrim und den anderen Sieben auf mich ziehen.“ Richard seufzte. „Und was schlägst du dann vor? Sollen wir einfach zusehen, wie die beiden sich gegenseitig umbringen?“ Er verstummte kurz und meinte dann nachdenklich: „Na ja, das wäre vielleicht gar nicht mal so übel. Zwei Vampire weniger auf der Welt und man könnte nicht uns für ihren Tod verantwortlich machen.“ Eve verstand selbst nicht genau, warum, aber sie verspürte einen unterschwelligen Widerwillen, als sie Richards Worte hörte. Normalerweise hätte sie einfach zugestimmt und den Dingen ihren Lauf gelassen, doch nun hatte sie Zweifel. Sie gab es zwar ungern zu, als sie wollte nicht, dass die beiden Sa’onti starben. Sie musste an Oscars Liebe für Hunde denken und an seine entglittenen Gesichtszüge, als Larva die Gestalt seines längst verstorbenen Bruders angenommen hatte. Ebenso entsann sie sich an das Gespräch mit Alec über seine Vergangenheit und an sein schelmisches Lausbubengrinsen. Sie war zwar noch weit davon entfernt zu behaupten, dass sie die beiden mochte, aber es war dennoch so etwas wie Sympathie vorhanden. Zumindest genug, um ihnen keinen grausamen Tod zu wünschen. Ohne groß darüber nachzudenken, setzte sie sich in Bewegung und trat auf Seth zu. Sie hörte Richard hinter sich schockiert protestieren, aber darum kümmerte sie sich nicht. Ihr Blick war einzig und allein auf Seth gerichtet, der nun auch seine Aufmerksamkeit ihr zuwandte. „Warum tust du das?“, wollte Eve wissen. „Was haben sie dir getan, dass sie solch ein Schicksal verdient haben?“ Seth lächelte traurig, während er ohne Unterlass seine Finger bewegte. „Sie haben es dir nicht erzählt, nicht wahr? Kein großes Wunder. Würdest du es wissen, würdest du mich anfeuern, anstatt mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen.“ Eve schaute kurz zur Seite, als ein Schatten knapp an ihr vorbeirauschte. Sie glaubte, Alec erkannt zu haben, aber hundertprozentig sicher war sie sich nicht. „Alec und Oscar haben sicher viele schreckliche Dinge in ihrem Leben getan“, versuchte Eve es erneut. „Aber warum hasst du sie so sehr, dass du sie dermaßen leiden lässt?“ Seths Miene wirkte mit einem mal extrem leidlich, sodass in Eve unfreiwillig Mitleid aufwallte. „Sie haben sie umgebracht!“ Eve wusste zwar nicht, von wem er sprach, aber offenbar hatte ihm dieser spezielle Jemand eine Menge bedeutet. Trauer über den Verlust und auch Hass für die Mörder blitzten in seinen Augen auf. „Alec und Oscar?“, hakte Eve nach. „Sie alle!“, meinte Seth zischend. „Alec, Oscar, Asrim, Sharif … sie alle sind daran schuld! Sie alle haben es zu verantworten!“ Bevor Eve näher darauf eingehen konnte, ließ ein lauter Knall sie zusammenfahren. Als sie herumwirbelte, bemerkte sie, dass eine Vase, die in der Bibliothek auf einem Tischchen gestanden hatte, zu Bruch gegangen war. Offenbar waren die Vampire daran gestoßen, auch wenn zuvor keiner von ihnen wirklich zu erkennen gewesen war. „Tut mir leid“, sagte Seth daraufhin. „Die zwei nehmen wirklich keinerlei Rücksicht auf ihre Umgebung. Wäre es dir lieber, wenn sie ihre kleine Auseinandersetzung draußen fortführen würden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er: „Hey, Oscar! Kämpft draußen weiter!“ Bei diesen Worten trat Oscar aus dem Schatten. Sein leerer Blick starrte ins Nichts und ließ Eve unwillkürlich frösteln. Mit seiner Hand hielt er Alecs Unterarm umklammert. Offenbar war es ihm irgendwie gelungen, den verletzten Arm seines Gegners zu fassen zu kriegen und ihn somit aus dem Konzept zu bringen. Eve konnte Alec zwar nicht genau sehen, da er zum Teil noch in der Dunkelheit versunken war, aber das kurze schmerzvolle Stöhnen sprach Bände. Oscar scherte sich nicht großartig darum. Er nickte Seth kurz zu – wohl um deutlich zu machen, dass er seinen Befehl verstanden hatte –, wirbelte blitzschnell herum und schleuderte Alec von sich fort. Bereits im nächsten Augenblick war ein lautes Rumpeln und Poltern zu hören, als der Vampir quer durch die dicke Wand krachte und draußen auf dem Grundstück landete. Eve starrte entsetzt auf das große Loch in der Mauer und selbst Seth wirkte überrascht. „Oh“, sagte er. „So hatte ich das eigentlich nicht gemeint.“ Oscar kümmerte sich nicht weiter um die geschockten Gesichter der Anwesenden. Unbekümmert trat er hinaus in den Garten und blinzelte einmal kurz in die hell strahlende Sonne. Für einen Augenblick geblendet nutzte der am Boden liegende Alec die Gelegenheit, wieder in die Schatten zu tauchen, eine Sekunde später gefolgt von Oscar. „Er hat einfach ein Loch in die Wand geschlagen“, hörte Eve Avery hinter sich entgeistert murmeln. Auch die anderen Jäger blinzelten ungläubig, schienen es nicht fassen zu können. Seth jedoch schien es nicht sonderlich zu stören, dass er den altehrwürdigen Sitz der Dämonenjäger beschädigt hatte. Er lächelte bloß amüsiert und meinte, gespielt entschuldigend: „Tja, so ist das leider mit willenlosen Puppen. Sie haben nicht besonders viel Grips und nehmen Befehle zum großen Teil sehr wörtlich. Ich hätte vielleicht erwähnen sollen, dass er durch die Tür zu gehen hat, dann hätte er euch sicher keinen zweiten Ausgang beschert.“ Er zuckte bloß mit den Schultern. „Na ja, ihr könnt dort ja jetzt ein schönes Fenster einbauen.“ Ohne weitere Worte zu verlieren stieg er durch das Loch, den beiden Vampiren hinterher. Nach einem kurzen Blick auf Richard, der eindringlich den Kopf schüttelte und sie ganz offensichtlich zum Bleiben bewegen wollte, folgte auch Eve, entgegen Richards inständiger Bitte, Seths Beispiel und kletterte in den Garten. Hier nun, so bemerkte sie, waren die Vampire ein wenig besser zu erkennen. Im Gegenteil zur doch recht dunklen Bibliothek, wo sich die Sa’onti zwanglos in der Dunkelheit hatten bewegen können, war nun draußen der Großteil in Sonnenlicht getaucht. Regelmäßig sah man die Vampire kurz aus den Augenwinkeln. Immer noch übernatürlich schnellen Windböen gleich, aber trotzdem waren sie ein wenig deutlicher auszumachen. „Wen haben sie umgebracht?“, nahm Eve den Gesprächsfaden wieder auf. Erneut trat sie nahe an Seth heran. „Deine Mutter, deine Frau, deine Geliebte? Wen denn?“ „Sie haben meine Welt getötet“, sagte er bloß. Seine Stimme klang merkwürdig brüchig. Offenbar schmerzte es ihn, über das Thema zu reden, auch wenn es gleichzeitig sein wichtigster Antrieb zu sein schien. Eve runzelte die Stirn. Wieso nur musste diese ganze Gemeinschaft so dermaßen wortkarg sein? Sie wollte nichts mehr als eine kurze, klare Antwort. War das wirklich zu viel verlangt? Seth starrte sie noch einen Augenblick mit traurigen Augen an, ehe er sich wieder dem Spitzengeschwindigkeitskampf zuwandte. Eve bemerkte, dass ihm einige Schweißperlen die Stirn herunter rannen und er allgemein betrachtet einen etwas schwächlicheren Eindruck erweckte als noch vor fünf Minuten. Sein Gesicht wurde zusehends blasser, die Fingerfiguren schienen immer mehr Kraft zu erfordern. Offenbar kostete es eine Menge Energie, den Geist eines anderen zu beherrschen. Außerdem handelte es sich gleichzeitig nicht um irgendwen, sondern um einen fast dreitausend Jahre alten Vampir, der unter anderem spielend leicht eine dicke Steinmauer zertrümmern konnte. Kein Wunder, dass Seth allmählich müde wurde. „Du solltest es aufgeben“, riet Eve ihm. „Die beiden können noch Ewigkeiten so weiterkämpfen, bis du irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrichst.“ „Da irrst du, Schatz“, erwiderte Seth. „Oscar hat etwas, was Alec fehlt.“ „Und das wäre?“ „Entschlossenheit!“ Seths Miene wurde hart. „Alec weicht nur aus und hat Angst davor, seinen Bruder zu verletzen. Aber Oscar nimmt keinerlei Rücksicht, wie du ja vielleicht schon bemerkt haben dürftest. Und das wird ihm letztlich den Sieg bringen.“ Langsam verlor Eve wirklich ihr letztes bisschen Geduld. Sie verspürte wenig Lust, darauf zu warten, bis die beiden Vampire sich gegenseitig niedergemetzelt hatten. So ein Schicksal hatten sie trotz ihrer zahllosen Verbrechen sicher nicht verdient. Niemand hatte solch ein Schicksal verdient. Somit entschloss sich Eve, zu handeln. Sie riss ihre Waffe hoch und richtete sie direkt auf Seth. „Hör endlich auf mit deinem sadistischen, kleinen Spielchen! Lass Oscar frei und verschwinde einfach von hier, das wäre das Beste für uns alle und ganz besonders für dich. Mein Gott, weißt du denn nicht, was du anrichtest, wenn du nur einen der Sieben töten würdest? Nicht nur die Vampire würden dich bis an dein Lebensende jagen. Du würdest existieren mit der schrecklichen Gewissheit, dass du jeden Moment einen grausamen Tod sterben könntest. Ist es wirklich das, was du willst?“ Seth schaute ihr tief in die Augen. „Machst du dir etwa Sorgen um mich, Liebes?“ Eve knirschte mit den Zähnen. Langsam hatte sie es satt, dass ihr alle irgendwelche Kosenamen gaben. „Ich mache mir ganz sicher keine Sorgen um dich! Es geht mir nur um das Gleichgewicht. Wenn du einen der Sieben tötest, stellst du alles auf den Kopf. Ich fürchte mich schon davor, mir überhaupt vorzustellen, was dann passieren wird.“ Seth seufzte schwer. „Dann tut es mir wirklich leid, dass ich dir Angst bereiten muss.“ Er hob plötzlich seine Hand und vollführte damit eine kurze Bewegung. Eve spürte, wie sie im selben Moment jegliche Kontrolle über sich selbst verlor. Anstatt ihre Waffe weiterhin auf Seth zu richten, wurde ihr Arm nach links gerissen und zielte somit mitten ins Herz des Gartens. Und dann löste sich ein Schuss. Eve fuhr bei dem unerwarteten Knall zusammen. Ihr Finger hatte gezuckt, bevor sie es überhaupt registriert hatte, und den Abzug betätigt. Die Kugel zischte blitzschnell davon. Und bereits im nächsten Augenblick war ein schmerzvolles Stöhnen zu hören. Einer der Vampir tauchte aus den Schatten hervor. Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen taumelte er nach hinten, die Hand auf seine Brust gepresst, aus der ein großer Schwall Blut hervor floss. Entsetzt starte er zu Eve hinüber, die noch immer die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Eve ließ vor Schreck die Pistole fallen. Sie schaute kurz zum breit grinsenden Seth, ehe sie sich wieder dem blutenden Alec zuwandte. Dieser war bereits ächzend auf die Knie gesunken, nach Luft schnappend wie ein Fisch an Land. Eve konnte es einfach nicht fassen. Niemals im Leben wäre es ihr möglich gewesen, einen Vampir zu treffen, der sich außerhalb ihrer Sphäre bewegte. Die Chancen standen gleich null. Aber Seth war es offenbar gelungen, die Grenze zu überschreiten und die Kugel direkt in Alecs Brust eindringen zu lassen. Auch Oscar kam nun aus der Dunkelheit hervor. Seine wie tot wirkenden Augen waren auf dem am Boden kauernden Alec gerichtet. Er hatte nun jede Gelegenheit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.   *  *  *  *  *  *  *  *   Eve hatte ihm damals in ihrer Wohnung erzählt, dass die speziell angefertigte Munition der Jäger einem Vampir höllische Schmerzen bereiten würde. Alec hatte geglaubt, dass sie bloß übertreiben würde, aber sie hatte tatsächlich die Wahrheit gesprochen. Es tat wirklich unbeschreiblich weh. Zwar nicht zu vergleichen mit den Qualen, die Seth ihm bei dem brennenden Lagerhaus zugefügt hatte, aber dennoch schlimm genug, um ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Ein inneres Feuer schien sich in seiner Brust auszubreiten, nicht mal mehr klar denken konnte er. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien und wäre in den nächsten kalten See gesprungen, um die quälende Glut in seinem Inneren zu löschen. Die Menschen hatten im Laufe der Zeit wahrlich wirksame Waffen erschaffen. Alec konnte nicht umhin, trotz alledem beeindruckt zu sein. Dass es ausgerechnet die Kugel einer Jägerin sein würde, die ihm den Tod bringen würde, hatte er nun wirklich nicht gedacht. Als Oscar direkt vor ihm auftauchte, wusste Alec, dass es vorbei war. Mit dieser Wunde war er nicht mehr imstande, seinen Vorteil gegenüber Oscar, seine Schnelligkeit, weiterhin auszunutzen. Auch ein Gegenangriff kam nicht in Frage. Alec spürte, wie er mit jedem verlorenem Tropfen Blut immer schwächer wurde. Die Kugel hatte direkt sein Herz getroffen. Ein perfekter Schuss, um einen Vampir das zu nehmen, was ihn am leben hielt: Blut. Seth war nun wirklich kein Narr, er wusste ganz genau, wie er ihnen am meisten schaden konnte. „Tut mir … leid, Oscar, … dass ich dich … immer so … genervt habe“, brachte Alec mühevoll hervor. „Ich hoffe, … du vergibst mir.“ Oscar zeigte keinerlei Reaktion. Stattdessen stürzte er sich mit einer übernatürlichen Geschwindigkeit, mit der Alec nicht mehr mithalten konnte, auf den geschwächten Vampir. Alec versuchte zwar noch ein letztes Ausweichmanöver, aber er war nun einfach zu langsam. Alec spürte nur noch, wie Oscar seine Hände, schärfer als die schärfsten Messer, in seinen Brustkorb rammte. Mit einem Mal waren die von der Kugel verursachten Schmerzen vergessen und machten weitaus größeren Qualen Platz. Alec entwich ein letztes Aufstöhnen, bevor sich seine Lungen mit Blut füllten. Seine Knochen knackten, das Brustbein gab schließlich unter der Belastung völlig nach. Der Geruch seines eigenen Blutes stieg Alec demonstrativ in die Nase. So also fühlte sich der Tod an. Alec merkte bereits, wie seine Sicht verschwamm. Seine Sinne gaben dem Dienst auf, selbst die Schmerzen wurden mit einem Mal weniger und machten einer noch erschreckenderen Lähmung Platz. Innerhalb eines Sekundenbruchteils spürte er plötzlich so gut wie gar nichts mehr. Dennoch konnte sich Alec eines schwachen Lächelns nicht erwehren, als er in Oscars Augen sah. Zuvor noch leer wie eine tiefe, dunkle Schlucht, zeigte sich nun ein Funkeln. Es kam wieder Leben in seinen Blick, als er erkannte, was er getan hatte. Entsetzen zeichnete sich auf seiner Miene ab. Entsetzen … etwas Vergleichbares hatte Alec bei seinem langjährigen Freund nur extrem selten gesehen. Unter anderen Umständen hätte es ihn geängstigt oder auch amüsiert, nun aber war er bloß froh. Froh darüber, dass Seth offenbar die Kontrolle verloren hatte. Wenigstens ein kleiner Sieg, den sie errungen hatten. Es war der letzte Gedanke, der durch seinen Kopf schoss, bevor es um ihn herum finster wurde.   Kapitel 24: Rot-weiß-karierte Schweine -------------------------------------- „Du bist ein Narr, Sharif!“ Necromas Stimme war weder schneidend noch vorwurfsvoll, als sie diese Worte aussprach, sondern vielmehr amüsiert. Als wäre es eine reizende und liebenswerte Eigenschaft, die es zu hegen und zu pflegen galt. „Und du bist wie immer sehr taktvoll, Necroma!“, entgegnete Sharif brummend. Stundenlang war er nun für sich gewesen, hatte in dem leeren Wohnzimmer auf einem ausgebeulten Sessel gesessen und hatte seinen sehr düsteren Gedanken nachgehangen, als die Vampirin völlig ungeniert hereingekommen war und ihn statt mit einer netten Begrüßung gleich mit einer Beleidigung beglückte. „Und darf ich auch erfahren, warum ich ein Narr bin?“ „Sicher.“ Necroma lächelte, als sie sich auf der Couch neben ihm niederließ, ihre Stiefel abstreifte und die Beine anzog. „Ich bin doch nicht unhöflich.“ Sharif schnaubte. „Doch, das bist du.“ Sie schmunzelte weiterhin und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Als wäre sie mit sich und der Welt völlig im Reinen.  „Warum bin ich ein Narr, Necroma?“, hakte Sharif noch einmal nach. „Lass mich raten! Du hast schon längst vorhergesehen, wie das hier alles ausgeht, nicht wahr? Die Sache mit Seth und dem magischen Feuer … Du weißt wahrscheinlich auch, wo er sich gerade aufhält, stimmt’s? Aber anstatt irgendetwas zu sagen oder uns auch nur ein bisschen zu helfen, lässt du uns lieber im Dunkeln stochern.“ Necroma legte ihren Kopf schief. „Du klingst irgendwie feindselig.“ Sharif musterte sie mit einem harten Blick. „Weil ich es leid bin, Nec! Ich bin es sowas von leid, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“ Necroma lächelte verständnisvoll, ehe sie sich von der Couch erhob und sich halb auf seinem Schoß und halb auf dem Sessel niederließ, als hätte er sie freudig dazu eingeladen. „Du machst mich ganz wuschig, wenn du wütend bist“, meinte sie amüsiert. „Und warum ich nichts sage? Bist du je auf den Gedanken gekommen, mich einfach mal zu fragen?“ Darauf wusste Sharif im ersten Moment keine Antwort. Stattdessen starrte er sie einfach ungläubig an, während sie anfing, ihre Finger durch sein Haar zu fahren. „Ich habe dich in der Vergangenheit sicher Hunderte Male nach deiner Meinung gefragt und alles, was ich gekriegt habe, waren kryptische Antworten“, entgegnete er zähneknirschend. „Meine Antworten sind niemals kryptisch.“ „Ach nein?“ Sharif holte einmal tief Luft. „Na fein. Also, wo befindet sich dieser Seth?“ Necroma lächelte verträumt, während sie weiterhin mit seinen Haaren spielte, als wäre es momentan das Wichtigste auf der Welt. „Er ist dort, wo der Mond und die Sonne zusammen ihre Kekse backen.“ Sharif schnaubte daraufhin, war aber keinesfalls überrascht. Sie war noch nie jemand gewesen, der klar und deutlich gesagt hatte, was Sache war. Während der eine von Gefahr von Zerstörung sprach, redete sie im selben Atemzug von Pflaumenkuchen und Zwergen. In ihrem Kopf mochte dies alles einen Sinn ergeben – einen unerschütterlichen und absolut unumstößlichen Sinn –, aber für jeden anderen war es bloß ein verworrenes Rätsel, das man einfach nicht lösen konnte, sosehr man es auch zu versuchen vermochte. Selbst Asrim wusste den Großteil der Zeit nicht, was Necroma von sich gab. „Ist es dir eigentlich dermaßen egal, ob wir irgendwann deinetwegen sterben werden?“, erkundigte sich Sharif. Necroma rückte noch etwas näher und ging dazu über, seine Schläfen zu massieren, als würde sie irgendwelche potenziellen Kopfschmerzen vertreiben wollen. „Du stellst seltsame Fragen, Wüstenmann. Der Tod ist ein Abenteuer, wenn einem das Leben nichts mehr bietet. Warum sollte ich ihn also fürchten oder gar abwenden wollen? Spielen wir also lieber im Regen Bingo und verkaufen unsere Fingernägel an gierige Trolle.“ Sharif schnalzte mit der Zunge. „Manchmal hasse ich dich wirklich, Necroma.“ Sie lächelte. „Nein, das tust du nicht.“ Sie hatte zwar Recht, aber Sharif war im Moment nicht bereit, dies auch einzugestehen. Er war dem Tod so derart nahe gekommen, er wäre beinahe gestorben und Necroma sprach weiterhin in Rätseln, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. „Du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn du mir einfach sagst, was du weißt“, meinte er, trotz alledem immer noch ruhig. In Necromas Gegenwart die Fassung zu verlieren, hatte noch niemals etwas gebraucht außer Frust und Verzweiflung. „Ich habe es verdient, denkst du nicht auch?“ Necroma überlegte einen Moment. „Ich weiß, dass die Spinne dort hinten in der Ecke Rosemarie heißt und sechzig Kinder hat“, sagte sie und deutete zur Garderobe. Im ersten Augenblick war Sharif tatsächlich kurz davor, einen Blick auf die besagte Spinne zu werfen, doch rasch besann er sich eines Besseren. „Necroma, komm schon!“ „Was willst du von mir?“, hakte sie nach. „Dass ich dir Seth auf einem Silbertablett liefere? Wo wäre denn da der Spaß?“ Sharif verzog missbilligend das Gesicht und wollte zu einem Gegenargument ansetzen, als er bemerkte, wie sie seinem Blick auswich und stattdessen zur kinderreichen Spinne hinübersah. Normalerweise eigentlich nichts Besonderes, sie driftete gerne einmal ab, doch in ihren Augen war etwas aufgefunkelt, das er schon lange nicht mehr gesehen hatte. „Bei allen Göttern, du hast keine Ahnung, oder?“, stellte er fassungslos fest, nur um sich direkt daraufhin von Necroma einen Klaps einzufangen. „Sag das nicht so abwertend“, zischte sie. Tatsache war jedoch, dass Sharif über alle Maßen überrascht war. Necroma wusste immer, was geschehen würde. Er erinnerte sich noch, wie sie ihm zur Zeit des Westfälischen Friedens vom Zweiten Weltkrieg und der Ermordung John F. Kennedys erzählt hatte, als wäre es längst Geschichte und nicht eine weit entfernte Zukunft. Sie hatte bereits von Hochhäusern, Telefonen und Automobilen gesprochen, als die Hunnen ins Römische Reich eingefallen waren. Aber das alles hatte sie nicht kommen sehen? „Das ist schon vorher passiert“, entsann sich Sharif. „Und das war niemals gut.“ Necroma zog ihre Mundwinkel nach unten. Auch sie wurde nicht gerne daran erinnert. „73 v. Chr., Capua, Italien, der Spartacus-Aufstand“, meinte sie wenig begeistert. „Dieser gottverfluchte Dämon ist aufgetaucht und hat mir die Tour vermasselt. 1890, London, England: Derselbe Dämon hat sich wieder blicken lassen.[1] 1345, Lille, Frankreich: Dieses Kontingent aus größenwahnsinnigen Magiern hat sich sehr dunkler Mächte bedient und seine wahren Absichten verschleiert. 1943, Köln, Deutschland: Diese Gruppe unsympathischer Nazi-Gestalten hat durch Zufall ein uraltes Zauberbuch gefunden und schrecklichen Schabernack damit angestellt.“ Stets hatte Necromas Blindheit in Verbindung mit finsteren Kräften gestanden. Und wenn Sharif sich vor Augen hielt, welche Mächte Seth entfesselt hatte, war es im Grunde keineswegs verwunderlich, dass sie diese Vorgänge nicht hatte vorhersehen können. Aber besonders beruhigend war es ehrlich gesagt auch nicht. Sharif lehnte seinen Kopf zurück und schloss seine Augen. Mit einem Mal fühlte er sich unfassbar müde. Im Grunde hatte er schon, seit er vor ein paar Tagen hier in London angekommen war, keine wirkliche Entspannung mehr gefunden. Und er hatte das ungute Gefühl, dass er erst wieder zur Ruhe kommen würde, wenn Seth vom Antlitz der Erde verschwunden war. „Wusstest du eigentlich, dass heute rot-weiß-karierte Schweine umherwandeln?“, vernahm er plötzlich wieder Necromas Stimme. Sie saß immer noch halb auf seinem Schoß und blickte verträumt in die Ferne. Sharif fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und seufzte schwer. „Wovon, bei Osiris, sprichst du?“ Necroma stand langsam auf und trat an eines der Fenster. Ihre Finger ließ sie einmal kurz über den recht ramponierten Rahmen gleiten, während sie wie üblich wieder leise vor sich hinmurmelte. Nach einer Weile drehte sie sich schließlich zu Sharif und meinte: „Rot-weiße Schweine. Wolken, die schwarzen Regen bringen. Ampeln, die alle drei Farben gleichzeitig anzeigen. Menschen, die auf ihren Händen durch die Gegend spazieren.“ Sharif stöhnte. Er hatte wirklich keine Nerven für ihre unverständlichen Argumentationen. Er war viel zu erschöpft und außerdem schmerzten die von Seth verursachten Verbrennungen erneut wie die Hölle auf Erden. So wie es den Anschein machte, brauchte er wohl noch mehr von Oscars Spezialsalbe. „Dir ist schon klar, dass ich kein einziges Wort verstehe, oder?“, hakte der Ägypter nach. „Alec und Oscar“, sagte Necroma. „Sie bekämpfen sich gegenseitig.“ Darum ging es also? „Das ist doch nun wirklich keine Seltenheit“, meinte Sharif achselzuckend. „Die beiden liegen sich seit ihrer ersten Begegnung andauernd in den Haaren.“ „Aber jetzt ist es anders.“ Ihre Stimme kam glatt einem Säuseln gleich. Sie schien wieder in ihrer eigenen, merkwürdigen Welt zu sein. „Ich spüre es ganz deutlich.“ „Die beiden sind einfach unverbesserlich“, meinte Sharif bloß. „Erinnerst du dich noch, wie Oscar beinahe den Apollon-Tempel in Delphi zum Einsturz gebracht hätte, als er Alec erwürgen wollte? Ist es wieder so was in der Art?“ Necroma wiegte ihren Kopf hin und her. „Apollon ist diesmal nicht in Gefahr“, bestätigte sie. „Na also“, sagte der Vampir. „Dann kann es auch nicht so schlimm sein.“ Necroma starrte ihn mit einem undefinierbaren Blick an, dann wandte sie sich wieder weg, schaute verträumt aus dem Fenster und summte vor sich hin. Sharif schüttelte daraufhin bloß seufzend den Kopf und rappelte sich auf. Ächzend streckte er seine Glieder und musste dabei frustriert feststellen, dass der alte Sessel nicht gerade der beste Ort gewesen war, um es sich darauf gemütlich zu machen und seinen Gedanken nachzuhängen. Sein ganzer Körper war völlig verspannt, er hörte es überall knirschen. Gerade als er dabei war, seinen schmerzenden Arm zu massieren, zuckte Necroma plötzlich aus heiterem Himmel zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie nach draußen, ehe sie auf Sharif zustürzte und sich in seine Arme flüchtete. Sharif war viel zu überrumpelt, um sie in irgendeiner Weise davon abzuhalten. Verwundert blinzelte er, während sich Necroma an ihn klammerte und ihr Gesicht in seinem Hemd vergrub. „Ähm … alles in Ordnung?“, fragte er verwirrt. Zunächst redete sie wieder irgendwelches Unverständliches vor sich hin, dann aber hob sie ihren Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre sorgenvollen Augen machten Sharif ausgesprochen unruhig. „Spürst du das denn nicht?“, fragte sie. „Die rot-weißen Schweine. Die dreifarbigen Ampeln. Die Welt spielt verrückt.“ Sie drückte sich erneut an seine Brust und murmelte: „Alec ...“ Sharif spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er begriff zwar immer noch nicht so recht, worauf Necroma eigentlich hinauswollte, aber offenbar hatte irgendetwas in Bezug auf Alec sie mächtig aufgeschreckt. Dieser mochte sich zwar gut mehrere Kilometer entfernt befinden, aber das war für eine solch mächtige Magierin wie Necroma keinerlei Hindernis. „Was ist denn los?“, wollte Sharif wissen. „Was ist mit Alec?“ Er musste daran denken, wie er Alec und Oscar in der Wohnung zurückgelassen hatte. Er hatte sich diesbezüglich keine großen Sorgen gemacht, war im Gegenteil viel zu erpicht gewesen, Asrim aufzuspüren, und war überzeugt gewesen, dass sie für den Tag sicher waren, ehe sie hierhinkommen würden, unter Necromas Obhut. Hatte er sich geirrt? „Wir können Alec nicht mehr spüren“, erklang eine Stimme, die ganz gewiss nicht Necroma gehörte. Sharif wandte seinen Kopf nach rechts und erblickte Asrim, der im Türrahmen stand und mit besorgter Miene aus dem Fenster blickte. „Und was hat das zu bedeuten?“, fragte der Ägypter drängend. „Was ist denn passiert?“ Asrim trat zu ihm und strich Necroma beruhigend über den Kopf, die sich noch immer in Sharifs Umarmung vergraben hatte und weiter vor sich hinmurmelte. Leise flüsterte er der Vampirin einige Worte ins Ohr, woraufhin diese kurz aufschluchzte und schließlich vollends verstummte. „Ich kann dir nicht sagen, was passiert ist“, richtete sich Asrim nun an Sharif. „Es hat irgendetwas mit Seth zu tun. Alec und Oscar … sie sind bei ihm.“ Sharif fuhr der Schock durch sämtliche Glieder. Wieder sah er die alles zerstörende Feuerwand vor sich. „Seth ist bei ihnen? In der Wohnung?“ Sharif wurde plötzlich ganz schlecht und er benötigte all seine Willenskraft, um Necroma nicht von sich zu stoßen und sofort loszustürmen. „Nein, nicht in der Wohnung“, erwiderte Asrim jedoch. „Alec und Oscar sind alleine aufgebrochen. Irgendwohin … wo es zahlreiche Menschen mit Waffen gibt. Und dort hat Seth sie aufgespürt.“ Zunächst war Sharif verwirrt, dann spürte er leichten Ärger, dass sich die beiden Vampire offenbar über seinen Befehl, an Ort und Stelle zu verweilen, hinweggesetzt hatten. Und einen Augenblick später erinnerte er sich wieder daran, dass all dies absolut bedeutungslos war. „Was ist nun mit Alec?“ „Ich kann ihn nicht mehr spüren“, sagte Asrim. Sein Blick erschien mit einem mal völlig leer. „Das könnte bedeuten, dass er tot ist.“ Sharif erstarrte. Alec … tot? Das konnte doch alles nicht wahr sein! „Ich muss zu ihnen“, sagte er entschlossen. Er wollte Necroma sanft von sich wegschieben, aber die Vampirin hatte sich mit einer erstaunlichen Kraft an ihm festgekrallt. „Nein, das wirst du nicht!“, entgegnete Asrim entschieden. Sharif warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ich soll sie einfach im Stich lassen, ja? Hier herumsitzen und den Spinnen dabei zusehen, wie sie ihre Netze weben? Ist es wirklich das, was du von mir verlangst?“ „Ich werde mich um Alec und Oscar kümmern!“, erklärte Asrim. Sharif konnte daraufhin nur nach Luft schnappen. „Und das soll mich jetzt beruhigen? Vor ein paar Stunden hast du noch gesagt, dass du uns alle beschützen würdest, und jetzt ... und jetzt ...?“ Er war nicht imstande, es auszusprechen. Er war im Grunde nicht mal in der Lage, es zu glauben. „Es kommt alles wieder in Ordnung“, versprach Asrim und es klang so leer und hohl, dass Sharif verbittert auflachte. „Es muss einfach so sein.“ Sharif wusste nicht, was er darauf hätte sagen sollen. Er fühlte sich bloß aufgewühlt und wie durch den Fleischwolf gedreht und wollte einfach nur dringend zu Alec und Oscar. „Du musst mir in der Zwischenzeit einen Gefallen tun“, meinte Asrim einen Augenblick später, seine Augen intensiv auf den Ägypter gerichtet. „Einen Gefallen?“, zischte dieser. „Hör zu, ich weiß ja nicht –“ „Es geht um Annis und Elias“, unterbrach ihn Asrim jäh. Sharif verstummte sofort, als er die Namen der Zwillinge hörte. Er zwang sich, seine Wut für einen Moment herunterzuschlucken, und fragte: „Was ist mit ihnen?“ „Sie sind auf den Weg nach London“, erklärte Asrim. „Ihre Maschine landet schon bald in Heathrow. Ich will nicht, dass sie allein und ahnungslos durch die Stadt laufen.“ Sharif knirschte mit den Zähnen. Er wollte so dringend zu Alec, sich davon überzeugen, dass das zerstörte Band zwischen ihm und Asrim nicht das zu bedeuten hatte, was alle vermuteten. Es zerriss ihn förmlich, nicht sofort loszustürzen und alles hinter sich zu lassen. Aber andererseits war der Gedanke, Annis und Elias womöglich unwissentlich in ein Messer laufen zu lassen, ebenso unerträglich. „Ich kümmere mich um Alec und Oscar!“, wiederholte Asrim seine Aussage, nun mit deutlich mehr Nachdruck. „Und du kümmerst dich um die Zwillinge!“ Sharif schluckte. „Was ist mit Yasmine?“ Immerhin waren alle drei zusammen in Deutschland zurückgeblieben, aus welchen Gründen auch immer. „Sie wird später ankommen“, erklärte Asrim, offenbar in keinster Weise erpicht, dies weiter auszuführen. Sharif war es sowieso einerlei. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Yasmine problemlos in Deutschland bleiben können. Sie alle hätten weit fortbleiben sollen. „Warum hast du uns nur hierhergebracht?“, zischelte er. Er spürte, wie sich Necroma bei diesen Worten in seinen Armen verkrampfte. „Warum?“ Asrim wirkte, als hätte Sharif ihn mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Einen Moment war er sprachlos, um die richtigen Worte ringend, wie es der Ägypter zuvor noch nie bei seinem Schöpfer erlebt hatte. Schließlich jedoch, nach einer halben Ewigkeit, räusperte er sich vernehmlich und erwiderte: „Du weißt, was du zu tun hast!“ Und gleich darauf verschwand er mit solch einer Geschwindigkeit, dass dem nicht einmal Sharif ansatzweise hätte zu folgen vermocht. Der Zurückgelassene knirschte mit den Zähnen, durcheinander, der Verzweiflung nahe und dennoch bemüht, die Kontrolle nicht zu verlieren. Er verabscheute die gesamte Situation absolut dermaßen und er wusste nicht einmal, wen er mehr hassen sollte. Seth, der erpicht schien, sie nach und nach systematisch auszurotten. Oder Asrim, der sie alle wortlos in ihr Verderben rennen ließ.     *  *  *  *  *  *  *  *     Seth hatte ganz offensichtlich die Kontrolle über Oscars Körper verloren. Nachdem er den Vampir dazu gebracht hatte, Alec regelrecht aufzuspießen, war Oscar wohl endlich wieder zu vollem Bewusstsein gekommen. Mit schreckgeweiteten Augen war er zurückgetaumelt, entsetzt auf seine blutigen Hände starrend. Eve warf einen Blick zu Seth. Er schien redlich darum bemüht, Oscar wieder zu beherrschen, aber diesmal gelang es ihm nicht. Der Vampir hatte offenbar eine Blockade aufgebaut, die der inzwischen ziemlich geschwächte Magier nicht mehr zu durchbrechen vermochte. Seth musste sich eingestehen, dass das Spiel vorbei war. Ein Vampir war zwar am Boden, aber für den zweiten hatte er nicht mehr genügend Energie. Er wirkte mit einem mal dermaßen ausgelaugt, dass es Eve verwunderte, dass er nicht vor Erschöpfung zusammenbrach. Anscheinend kostete die Beherrschung eines Sa’onti mehr Kraft, als er sich vorgestellt hatte. Die Jäger waren inzwischen langsam aus ihrer Lethargie erwacht. Einer nach dem anderen kam aus dem von Oscar geschaffenen Loch hervorgeklettert, ihre Waffen bis auf Anschlag auf Seth und Oscar gerichtet. Richard diskutierte derweil mit Liam über das Funkgerät. Eve konnte ihr Gespräch zwar nicht Wort für Wort mit verfolgen, aber offenbar ging es um die Frage, ob sie Seth gefangen nehmen oder lieber ausschalten sollten. Im Moment wäre wohl das eine oder auch das andere kaum ein Problem gewesen. Zumindest erschien es so. Eve blieb aber mit dieser Einschätzung vorsichtig, Seth hatte sie schon des Öfteren mit schier Unglaublichem überrascht. „WAS HAST DU GETAN?“ Oscars Stimme glich einem aufgebrachten, brüllenden Löwen. Hasserfüllt funkelte er Seth an. „Wozu hast du mich getrieben?“ Er wollte losstürmen, musste aber feststellen, dass er mindestens genauso ausgezehrt war wie Seth. Anstatt in der Dunkelheit zu versinken und dem Feuerteufel an den Hals zu fallen, strauchelte er. Sein Gesicht war vor Überraschung verzerrt, als seine Beine einknickten. Offenbar hatte er nicht bemerkt, was Seth seinem Körper alles zugemutet hatte. Und Oscars sicher ständiges Kämpfen gegen die unfreiwillige Übernahme hatte bestimmt auch einen Teil zu seiner Kraftlosigkeit beigetragen. Eve spürte, wie Mitgefühl sie ergriff. Es musste furchtbar sein, keine Kontrolle über seinen Körper zu haben und bloß dabei zusehen zu können, wie jemand, den man liebte, von seinen eigenen Händen getötet wurde. Und dann hatte man hinterher noch nicht mal die Energie, denjenigen, der für all das verantwortlich war, zur Strecke zu bringen. „Im Namen der Organisation der Dämonenjäger von London bist du mit sofortiger Wirkung festgenommen.“ Richards Stimme riss Eve aus ihren Gedanken. Dieser war auf Seth zugetreten und musterte ihn mit harter Miene. Seth lachte daraufhin auf. Es war zwar recht kläglich, aber der Spott war daraus deutlich herauszuhören. „Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich bändigen? Ich mag geschwächt sein, aber für euch mickrige Menschen reicht meine Macht noch allemal.“ Als seine Augen kurz aufleuchteten und aus seinen Fingerspitzen kleine Feuerschlieren hervortraten, wusste Eve, dass es an der Zeit war, zu handeln. Sie durfte nicht zulassen, dass Seth ihren Freunden etwas antat. Somit stürmte sie eilig auf sie zu und stellte sich beschützend vor Richard. „Bitte!“, sagte sie flehentlich. „Tu es nicht!“ Seths Kampfgeist erlosch sofort, als er ihren Tonfall vernahm. Ein gütig zu nennendes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er meinte: „Ganz wie du willst, Eve. Ich will dir nicht noch mehr Kummer bereiten.“ Mit diesen Worten stieg plötzlich unvermittelt Rauch aus dem Boden hervor und hüllte Seths Gestalt völlig ein. Er nickte Eve noch kurz zu, ehe er durch den dichten Qualm nicht mehr zu sehen war. Hustend traten die Jäger einen Schritt zurück. Innerhalb eines Sekundenbruchteils verzog sich der Rauch auch schon wieder. Und wie nicht anders zu erwarten, war Seth verschwunden. Als hätte es ihn nie gegeben. Die Jäger schauten verwundert drein, während Richard hinter Eve leise fluchte. Sie drehte sich um und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, was ihn aber nicht wirklich aufzuheitern schien. „Wir waren so nahe dran“, meinte er zähneknirschend. Eve aber schüttelte den Kopf. „Er war uns selbst in diesem Zustand noch überlegen. Hast du es nicht in seinen Augen gesehen?“ Richard verzog missmutig das Gesicht. „Doch“, gab er widerwillig zu. „Aber trotzdem ist es ärgerlich.“ Avery stellte sich neben ihn. „Ist es jetzt nicht sowieso die viel wichtigere Frage, was wir mit den beiden anstellen?“ Und damit deutete er auf die zwei Vampire, die ebenfalls von einer großen Schar Jäger umstellt waren. Eve fühlte einen dicken Knoten im Hals. Der Anblick der beiden war einfach nur furchtbar. Wie Oscar auf dem Boden kauerte und auf seine blutverschmierten Hände starrte. Um sich herum schien er gar nichts mehr wahrzunehmen. Und Alec … er machte wahrlich keinen besonders guten Eindruck. Aus seiner aufgerissenen Brust war dermaßen viel Blut ausgetreten, wie es Eve noch nie zuvor gesehen hatte. Kein Mensch hätte solch eine Attacke auch nur ansatzweise überleben können. Und ein Vampir? „Ist er tot?“ Eine Jägerin – Penny war ihr Name, ein junges und schockierend unerschrockenes Ding – trat einen Schritt vor und stieß dem am Boden liegenden Alec vorsichtig mit der Stiefelspitze an. Alle Anwesenden sogen scharf die Luft ein und warteten gespannt, was als nächstes kommen würde. Aber es geschah nichts. „Er kann nicht tot sein“, erwiderte Avery. „Immerhin kann man Vampire nur umbringen, wenn man sie verbrennt oder ihnen den Kopf abschneidet.“ Als keine Bestätigung folgte, fragte er etwas kleinlaut: „Oder nicht?“ „Unter normalen Umständen würde ich Ihnen zustimmen, Mr. Avery.“ Der unerwartete Klang von Liams Stimme ließ einige, die fasziniert Alecs leblosen Körper gemustert und nicht weiter auf ihre Umgebung geachtet hatten, erschrocken zusammenzucken. Eve hingegen hatte ihn bereits aus den Augenwinkeln näherkommen sehen. „Aber wir haben es hier ganz sicherlich nicht mit normalen Verhältnissen zu tun“, erwiderte Liam. Er betrachtete Alec mit solch einer Intensität, dass sich Eve unwillkürlich fragte, wie er es schaffte, dermaßen lange diese entsetzliche Wunde anzuschauen, ohne dass ihm übel wurde. „Es gibt keinerlei Präzedenzfall für diese Situation. Vampire bekriegen sich normalerweise nicht untereinander, ganz besonders die großen Sa’onti nicht. Aber jeder weiß, dass die Letztgenannten wirklich außerordentliche Kräfte besitzen. Es würde mich nicht allzu sehr verwundern, wenn sie auch die Macht hätten, sich gegenseitig umzubringen, ohne Feuer oder eine Axt zu benutzen.“ Eve musste ihm da zustimmen. Hätte jemand anderes, ein Mensch beispielsweise, Alec diese Verletzung zugefügt, wäre diese sicherlich nicht tödlich für ihn gewesen. Schmerzhaft und unangenehm, aber bestimmt nicht gefährlich. Wahrscheinlich hätten binnen weniger Sekunden sogar schon seine Regenerationskräfte eingesetzt, wie es bei Vampiren so üblich war. Aber die Wunde, die Oscar ihm zugefügt hatte, zeigte keinerlei Anzeichen einer bereits begonnenen Heilung. Nicht mal annähernd. „Also ist er wirklich tot?“, fragte Penny nach. „Das kann man schwer sagen“, meinte Liam zögerlich. „Er atmet nicht und sein Herz … nun ja, sein Herz und viele weitere Organe sind zerfetzt, aber für einen Vampir ist das nicht unbedingt ein Todesurteil. Solange er noch Blut im Körper hat, ist es möglich, dass er immer noch lebt.“ Liam kniff kritisch die Augen zusammen. „Allerdings sieht es nicht so aus, als wäre noch besonders viel Blut übrig.“ Rein äußerlich wäre Eve jede Wette eingegangen, dass Alec tot war. Nicht nur die fürchterliche Verletzung deutete darauf hin, sondern auch sein kalkweißes Gesicht. Er sah einfach aus wie der Inbegriff einer Leiche. Aber andererseits musste sie Liam Recht geben, in solch einer Situation durfte man nicht zu vorschnell urteilen. Die Sa’onti besaßen eine Macht, die sich ein gewöhnlicher Mensch nur schwer vorzustellen vermochte. „Wenn wir uns nicht sicher sind, sollten wir den beiden Vampiren einfach den Kopf abhacken“, schlug Simmons, ein Jäger mit ausgeprägter Zerstörungsliebe, vor. „Dann wären wir immerhin nicht mehr im Ungewissen.“ Bei diesen Worten warf Eve einen Blick auf Oscar, doch dieser schien wirklich nichts mehr wahrzunehmen. Ihr war zwar nicht ganz klar, ob sie seinen Zustand ruhigen Gewissens als Schock hätte bezeichnen können, aber auf jeden Fall schien er wie paralysiert. Absolut gelähmt von den Ereignissen. „Bist du des Wahnsinns?“, schaltete sich nun Richard ein. „Wenn wir die beiden töten, können wir wirklich froh sein, wenn die restlichen Sieben uns nur umbringen, ohne uns vorher wochen- oder gar monatelang bis an unsere Schmerzgrenze zu foltern und zu quälen, wieder und wieder, bis wir sie irgendwann verzweifelt anbetteln, uns endlich zu töten!“ „Wir behaupten einfach, es war Seth“, meinte Simmons, während er mit den Schultern zuckte. „Das wäre doch gar nicht mal so falsch.“ „Aber trotzdem gelogen“, erwiderte Richard. „Und die Vampire erkennen eine Lüge, wenn man sie ihnen auftischt.“ Simmons seufzte frustriert. Offenbar hatte er sich schon sehr darauf gefreut, ein paar Köpfe abzuschlagen. „Und was machen wir dann, Mr. Neunmalklug?“ „Wir bringen sie runter in die Zellen“, wies Liam an. „Sperren sie ein. Und dann sehen wir weiter.“ Die umstehenden Jäger wirkten wenig angetan von der Idee, was Eve durchaus zu verstehen vermochte. Schon seit Urzeiten hatten sie im hinteren Bereich des Kellers eine Art kleines Verlies mit einigen verstärkten Zellen, die extra für die Beherbergung übernatürlich starker Wesen entwickelt worden waren. Früher hatte man dort regelmäßig Vampire, Wölfe und andere Geschöpfe untergebracht, um ihre Verhaltensweisen zu studieren, Experimente an ihnen durchzuführen und die neusten Waffen an ihnen zu testen. Aber schon länger waren die Zellen kaum noch benutzt worden. Besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es vielen unangenehm geworden, lebende Wesen, selbst wenn es sich um Übernatürliche handelte, für grausame Versuchsreihen zu missbrauchen. Nichtsdestotrotz waren die Zellen noch so stabil wie am ersten Tag, selbst der Einsturz des Hauses direkt über ihnen hätte sie vermutlich nicht zerstören können. Und dennoch war sich Eve nicht sicher, ob sie der Macht eines Sa’ontis würden standhalten können. Und Oscar mochte vielleicht gerade im Moment wie ein gebrochener Mann am Rande der Verzweiflung wirken, doch irgendwann würde er sich wieder erholen und es vermutlich nicht besonders gutheißen, im feuchten Keller der Jäger gastieren zu müssen. Über kurz oder lang könnte es ihnen zum Verhängnis werden. Allerdings hatte Eve zurzeit auch keinen Alternativplan parat. Sie konnten Oscar und Alec nicht einfach sich selbst überlassen, umbringen durften sie sie aber auf alle Fälle auch nicht. Es war momentan wirklich die einzige Übergangslösung, mit der alle einigermaßen würden leben können. Auch wenn Eve das ungute Gefühl nicht loswurde, dass sie es schon sehr bald bereuen würden.   Kapitel 25: Zwillinge --------------------- Es war fast schon unerträglich hell im Keller. Normalerweise war höchstens eine minimale Beleuchtung vonnöten gewesen, da die Räumlichkeiten sowieso nur noch sporadisch und meist für eine begrenzte Zeit genutzt wurden. Nun aber war jedes noch so kleine Licht angeschaltet worden, es kam einem fast wie die Flutbeleuchtung in einem Fußballstadion vor. Man wollte offenbar, was die Sa’onti betraf, keinerlei Risiko eingehen. Je weniger Schatten es gab, umso besser. Eve massierte sich die Schläfen. Das grelle Licht tat ihr in den Augen weh und verursachte ihr Kopfschmerzen. Wie mochte es da erst für einen Vampir sein? Oscar zumindest, der in seiner kleinen Zelle auf den Boden hockte, hatte seinen Blick nach unten gerichtet und schien sehr bedacht, nicht direkt in die Lichtquellen zu blicken. Zumal er sowieso viel zu erschöpft war, um seinen Kopf großartig zu heben. Er hatte sich kaum auf den Beinen halten können, als die Jäger ihn mehr schlecht als recht in die unterirdischen Gefilde bugsiert und geschleppt hatten. Seth hatte ihm offenbar das letzte bisschen Energie ausgezehrt. Und dennoch weigerte er sich standhaft, seine Augen zu schließen und Entspannung zu suchen. Ein paar Stunden Schlaf hätten wahrscheinlich Wunder für ihn bewirkt, doch stattdessen hockte er neben der Pritsche, auf der sie Alec abgelegt hatten, wie ein Wachhund, der seinen verletzten Menschen unter keinen Umständen alleine lassen wollte. Die Jäger hatten zunächst erwogen, sie in unterschiedlichen Zellen unterzubringen, weit entfernt voneinander, doch Eve hatte sie schnell eines Besseren belehren können. Oscar war vielleicht momentan schwach und kaum dazu imstande, einen ernstzunehmenden Kampf vom Zaun zu brechen, doch er hätte ohne Zweifel getobt, hätte er nicht an Alecs Seite bleiben dürfen, und hätte womöglich schwere Schäden an dem Gebäude oder auch an den Bewohnern anrichten können. Er hätte seine letzten Kraftreserven dafür aufgebraucht, um bei Alec sein zu können, und dabei keine Rücksicht auf irgendetwas oder irgendjemanden genommen. Oscar mochte vielleicht wie ein kaltherziger Eisbrocken erscheinen, aber Eve hatte deutlich gesehen, wie besorgt er die ganze Zeit über um seinen Bruder gewesen war. Und sein entsetzter und verzweifelter Gesichtsausdruck, als Alec blutend vor ihm im Gras gelegen hatte, hatte Bände gesprochen. Eves Blick richtete sich auf Alec, den die Jäger zuvor fast schon vorsichtig in den Keller getragen hatten. Einige Ärzte waren hinzugezogen worden und mehr schlecht als recht hatte man seine riesige Wunde verbunden. Weniger, um es Alec angenehm zu gestalten, als vielmehr, um allen Anwesenden den Anblick dieser fürchterlichen Verletzung zu ersparen. Seit etwa einer halben Stunde lag er nun auf der Pritsche und hatte sich seitdem keinen Zentimeter mehr bewegt. Die Jäger hatten bereits im Stillen heiße Wetten am Laufen, ob der Sa’onti überhaupt noch am leben war oder nicht. Die meisten, so hatten die Wetteinsätze gezeigt, waren felsenfest davon überzeugt, dass der Vampir endgültig tot war. Aber Eve war sich dessen nicht so sicher. „Es war nicht deine Schuld.“ Sie wusste selbst nicht, warum ihr diese Worte über die Lippen kamen, aber als sie sah, wie Oscar vorsichtig durch Alecs Haar strich und der andere nicht einmal eine winzige Reaktion erkennen ließ, wurde ihr das Herz schwer. Oscar musterte sie daraufhin mit einer düsteren Miene. „Soll ich mich dadurch jetzt besser fühlen?“ Man hatte ihm zuvor eine Schale mit Wasser in die Zelle gestellt und er hatte auch keine Sekunde gezögert und sich Alecs Blut abgewaschen, aber das schien beileibe nicht genug gewesen zu sein. Er scheuerte und scheuerte über seine Haut, als wären immer noch Reste vorhanden, die ihn schier wahnsinnig machten. Mehrere Stellen hatte er sich bereits blutig gekratzt, die aber innerhalb eines Sekundenbruchteils auch schon wieder verheilt gewesen waren. Dennoch musste er es noch so deutlich riechen, als würde er regelrecht darin schwimmen. „Ist er ...?“, hakte sie nach, während sie nervös ihre Hände massierte. Richard, der neben ihr stand, bewegte sich unruhig, als fürchtete er die Antwort. Oscars Blick war derweil schwer, als er erwiderte: „Ich weiß es nicht.“ Er schloss kurz seine Augen. „Ich habe schon davon gehört, dass Sa’onti sich gegenseitig umgebracht haben. Es passiert nicht sehr oft, aber ...“ Er verstummte wieder. Wahrscheinlich fragte er sich gerade, ob er bis an sein Lebensende mit dieser Schuld leben könnte. Technisch gesehen war er zwar für Alecs Zustand nicht verantwortlich, aber Eve bezweifelte, dass er das genauso sah. Er hasste sich wahrscheinlich momentan über alle Maßen, dass er zu schwach gewesen war, um Seths Gedankenkontrolle zu überwinden, und keine Worte der Welt, mochten sie nun von einer Jägerin kommen, für die er keinerlei Respekt hegte, oder gar von Asrim persönlich, würden etwas an seinen Gefühlen ändern können. „Ihr müsst ihm etwas Blut geben“, meinte Oscar unvermittelt. „Wenn noch ein Funken Leben in ihm steckt, wird er darauf reagieren.“ Richard schnaubte verächtlich. „Aber natürlich! Wir Dämonenjäger machen nichts lieber, als Vampire mit Blut zu füttern. Das ist unser aller Lebensaufgabe.“ Er schüttelte vehement den Kopf. „Hältst du uns wirklich für so unvernünftig? Das Risiko –“ „Was glaubst du, wird geschehen, wenn ihr Alec hier unten sterben lasst?“, fiel ihm Oscar scharf ins Wort. „Kannst du dir überhaupt vorstellen, was alleine Asrim mit euch anstellen wird?“ Richard zuckte bei der Nennung dieses Namens unwillkürlich zusammen und auch Eve spürte, wie sich ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend ausbreitete. „Es gibt einen Grund, warum so wenige berichten können, ihn getroffen und überlebt zu haben“, zischte Oscar. „Und er würde euch nicht einfach nur töten, oh nein! Er würde euch tagelang quälen und foltern. Er würde euch Stückchen für Stückchen die Haut von den Knochen reißen, bis der Schmerz euch wahnsinnig macht. Und er würde es sehr wahrscheinlich nicht nur bei euch belassen, sondern auch eure Familien aufsuchen. Eltern, Geschwister, Kinder, euer gottverdammter Postbote!“ Eve fuhr sich seufzend durch ihr Haar und wurde sich einmal mehr bewusst, dass sie dringend eine Dusche benötigte. „Okay, okay“, sagte sie. „Wir können das mit Liam besprechen und wenn er nichts dagegen hat, bekommt Alec etwas Schweineblut.“ Oscar verzog das Gesicht. „Tierblut?“ „Was, ist das dem feinen Herr nicht gut genug?“, hakte Richard nach. „Ist das unter seinem erlesenen Geschmack?“ „Zunächst einmal schätzen wir das Leben eines Tier weitaus höher als das eines Menschen“, erwiderte Oscar schnaubend. „Und darüber hinaus trinken wir Menschblut nicht, weil wir es bevorzugen, sondern weil wir es brauchen. Wir sind nicht mehr in der Lage, eigenes Blut zu produzieren, also müssen wir uns anderer Quellen bedienen. Und wenn ihr Menschen eine Bluttransfusion braucht, bedient ihr euch doch auch nicht an Schweinen, oder?“ Richard knirschte mit den Zähnen und schien ernsthaft zu erwägen, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, doch Eve stieß ihm mit ihrem Ellbogen sanft in die Seite und sagte: „Los, geh zu Liam und frag nach dem Blut.“ Richard machte nicht den Eindruck, als wäre er von ihrem Befehlston besonders erfreut, doch nachdem Eves Blick sich zunehmend verfinsterte, seufzte er bloß auf und marschierte davon. Es dauerte zwanzig Minuten, bis er wieder zurückkehrte. Eve hatte sich derweil auf einen Stuhl gesetzt und die ganze Zeit über die Zelle im Auge behalten, stumm und wachsam. Sie überlegte, irgendein Gespräch in Gang zu bringen, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, worüber sie mit Oscar hätte reden sollen. Der Vampir schien allgemein kein Freund von vielen Worten zu sein und sich dann auch noch ausgerechnet mit einer Jägerin über Wichtiges und Unwichtiges zu unterhalten, wäre wahrscheinlich unter seine Würde gewesen. Stattdessen saß er neben Alecs Pritsche, strich ihm hin und wieder über den Arm oder die Stirn und wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. Man spürte förmlich, wie es ihn innerlich zerriss, und irgendwann wandte Eve ihren Blick ab und richtete ihre Aufmerksamkeit lieber auf ihr Smartphone, ihre Fingernägel oder irgendetwas anderes. Sie wusste, wäre sie an Oscars Stelle gewesen, hätte es ihr sehr missfallen, von jemanden beobachtet zu werden, erst recht, wenn es sich dabei eigentlich um einen erklärten Feind handelte. Und somit sah sie davon ab, allzu neugierig zu sein, und wartete lieber stillschweigend ab. Als Richard schließlich zurückkam, hielt er in seiner Hand einen Blutbeutel, den er vermutlich aus dem Krankenflügel mitgenommen hatte. Seine Miene war düster, als er zu Eve trat, anscheinend immer noch wenig angetan von der Idee, einem Vampir Blut zu verabreichen. Liam hingegen hatte das Ganze offenbar etwas anders gesehen. „Wie ich sehe, hattest du Erfolg“, stellte Eve fest. Sie bemühte sich redlich, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken, aber ganz gelingen wollte es ihr nicht. Richard grummelte übellaunig vor sich hin. „Liam fand das Argument des Blutsaugers leider ausgesprochen überzeugend. Er will gleich auch selbst herunterkommen, um das Ergebnis zu begutachten.“ Eve schnappte sich den Beutel und fragte sich, ob dies tatsächlich ausreichen würde, Alec wieder zum Leben zu erwecken. Oscar beobachtete unterdessen jede ihrer Bewegungen. „Frisches Blut wäre effektiver“, erwiderte er brummend. Richard verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. „Was hattest du denn gedacht? Dass wir ein paar Jäger zur Ader lassen? Oder uns irgendeinen Passanten von der Straße schnappen und ihn in eure Zelle schubse?.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist alles, was wir mit unserem Gewissen zurzeit vereinbaren können. Und sollte es Erfolg haben, dann sehen wir weiter.“ Oscar wirkte immer noch wenig begeistert, aber schließlich trat er an die Gitterstäbe und hielt Eve erwartungsvoll seine Hand entgegen. Es war ihm wohl klar, dass dies momentan das Beste war, was er aus dem Ganzen herauszuschlagen vermochte. Eve überreichte ihm vorsichtig den Beutel und sah aufmerksam dabei zu, wie Oscar neben der Liege in die Hocke ging und mit dem Verschluss zu kämpfen begann. Alec nahm dies derweil überhaupt nicht wahr. Immer noch sah er aus wie eine Leiche, die man nicht mehr zu retten vermochte. Seine Haut hatte alles von ihrer bronzenen Färbung verloren, er erinnerte nun vielmehr an eine weiße Marmorstatue. Das einzige bisschen Farbe, das sie noch aufwies, war das zum Teil verwischte Blut auf seinem Gesicht und an seinen Händen. Ebenso seine Kleidung war blutgetränkt und machte mehr als deutlich, wie viel von dieser lebensnotwendigen Flüssigkeit er bei Oscars Angriff verloren hatte. Auch der Verband, den man ihm provisorisch um die fürchterliche Wunde geschlungen hatte, hatte sich bereits wieder rot gefärbt. Eve hatte keinen blassen Schimmer, ob so etwas wie Hoffnung überhaupt noch angebracht war. Oscar schien es zumindest zu glauben, auch wenn man sich unweigerlich fragen musste, ob er sich nicht bloß selbst etwas vorlog, um mit der Wahrheit besser fertigzuwerden. Als Oscar Alec schließlich das Blut behutsam einflößte, verkrampfte sich Eve zusehends. Im ersten Moment rechnete sie irrsinnigerweise damit, dass der Vampir sofort aufspringen und wieder kerngesund sein würde. Im nächsten Augenblick war ihr klar, wie lächerlich diese Vorstellung war, und wie naiv sie war, zu glauben, dass selbst ein Wesen wie Alec den Tod austricksen konnte. Und so warteten sie. Mehrere Minuten. Völlig bewegungslos und still. Aber nichts geschah. Eve wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Erleichtert, dass Alec sich nicht rührte? Oder doch eher frustriert, dass ein Mann wie Seth es geschafft hatte, ein so stolzes und mächtiges Wesen vollends zu vernichten? Sie bemühte sich, es aus dem Standpunkt einer Jägerin zu sehen, die jeden toten Vampir als persönlichen Sieg verbuchte. Aber recht gelingen wollte es ihr nicht. Immer wieder, wenn sie sich selbst zur Emotionslosigkeit ermunterte, sah sie Alec in der Küche stehen, wie er mit der Kaffeemaschine kämpfte und grinsend von Leonardo Da Vinci und Kaiser Augustus erzählte. Und wieder und wieder erblickte sie vor ihrem inneren Auge seinen geschockten Gesichtsausdruck, als Larva auf seine vor so lange Zeit verstorbene Mutter und auf Reann zu sprechen gekommen war. Für einen kurzen Moment hatte er extrem menschlich und verletzlich gewirkt. Alec war gewiss nicht irgendein Vampir, den Eve auf einer Liste hätte abhaken können. Er war deutlich mehr. Und diese Erkenntnis beunruhigte die Jägerin zutiefst. „Entweder ist da wirklich nichts mehr zu machen oder aber der Vampir hatte Recht und das nicht ganz so frische Blut zeigt kaum eine Wirkung.“ Richards Stimme klang gefasst, aber Eve kannte ihn inzwischen lang genug, um seine Anspannung zu bemerken. Das ungewisse Warten hatte offenbar sehr an seinen Nerven gezehrt. „Vielleicht sollten wir einfach –“ Er hielt inne und weitete die Augen, seinen Blick auf Alec gerichtet. Er schluckte schwer und brachte mehrere Minuten kein Wort heraus. Letztlich aber schüttelte er bloß seufzend den Kopf und meinte: „Na toll. Jetzt hab ich die blöde Wette verloren.“ Und auch Eve war das Spektakel nicht entgangen. Ebenso deutlich wie Richard hatte sie gesehen, wie Alecs Finger kurz gezuckt hatte. Im Grunde nichts Weltbewegendes und obendrein dermaßen schnell wieder vorbei, dass man sich hinterher fragen konnte, ob das Ganze nicht bloß Einbildung gewesen war. Aber es war keine Illusion gewesen. In Alec steckte tatsächlich noch Leben. Und eine Menge Jäger hatten gerade sehr viel Geld verloren.      *  *  *  *  *  *  *  *  *     Der Flughafen von Heathrow war ein einziges Meer an Menschen. Von überall dröhnte Lärm auf einen ein. Der Geräuschpegel von Tausenden Gesprächen, Lüftungen, klappernden Geschirrs, unzähliger ratternder Gepäckwagen und natürlich, nicht zu vergessen, der großen Flugzeuge draußen auf der Landerampe. Sharif fühlte sich, als würde er sich mitten in einem Krieg befinden. Er hasste solche Ansammlungen über alle Maßen und hätte wahrscheinlich auf der Stelle wieder kehrtgemacht, wäre es ihm möglich gewesen. Doch stattdessen hatte er sich von Necroma führen lassen, die sich gekonnt durch die Massen bewegte und offenbar genau wusste, wo sie hinmussten, ohne auch nur ein einziges Mal auf irgendein Hinweisschild zu schauen. „Die Menschen sind so blind“, sagte sie, nachdem sie schließlich bei einer großen Sitzgruppe stehengeblieben war und durch ein breites Fenster hinaus auf ein Flugzeug sah, dass gerade gelandet war und von dem Personal gecheckt und begutachtet wurde. „Sie kommen wie die Fliegen nach London, obwohl sie eigentlich lieber wegrennen sollten.“ Sharif seufzte. „Die Menschheit war noch nie besonders intelligent“, gab er zu bedenken. „Schon traurig, dass wir einst dazugehört haben.“ Er blickte in all die Gesichter – diese glücklichen, gelassenen, gehetzten und genervten Gesichter – und fühlte sich einfach nur unsagbar schlecht. Er wollte zu Alec und Oscar, wollte mit eigenen Augen sehen, ob Alec tatsächlich ... Doch stattdessen war er hier und durfte Taxiservice spielen. „Wow, was für ein beeindruckendes Begrüßungskomitee“, erklang plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihnen. „Wenn Asrim noch irgendwo mit Luftballons steht, fall‘ ich glatt tot um.“ Sharif konnte sich trotz alledem eines Lächelns nicht erwehren, als er sich umdrehte und sich Annis gegenübersah, die ihn mit einem Schmunzeln musterte. Sie wirkte so nett und so unschuldig, dass man fast zu vergessen vermochte, dass sie eigentlich ein gefühlskalter Dickschädel war, vor dem man sich höllisch in acht nehmen musste. „Wir hätten wirklich ein paar Luftballons mitbringen sollen“, meinte Necroma, offenbar tatsächlich enttäuscht, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte. „Tut uns sehr leid.“ Elias, der hinter seiner Zwillingsschwester auftauchte, grinste breit. „Wir verzeihen dir, Nec.“ Beide sahen unerhört gutgelaunt und frohen Mutes aus, offenbar in keinster Weise erschöpft von ihrem Flug und ganz augenscheinlich auch absolut nicht gewahr, was in London gerade vor sich ging. Sharif zumindest hatte die beiden bisher nicht über die Ereignisse der letzten Tage unterrichtet, im Grunde hatte er nicht einmal mit ihnen gesprochen. Aber auch Asrim, der ganz eindeutig Kontakt mit ihnen gehabt hatte, hatte ihnen anscheinend nichts gesagt. Unwissend waren sie ihrem Verderben nähergekommen. Und Sharif hatte das beinahe unbändige Verlangen, sie wieder in ein Flugzeug zu setzen und zurück nach Deutschland oder gleich noch sehr viel weiter weg zu schicken. „Ihr beiden seht aus, als wäre jemand gestorben“, bemerkte Annis, sich überhaupt nicht bewusst, wie Recht sie damit hatte. „Okay, was ist los?“ „Bist du verletzt?“, erhob nun Elias seine Stimme, als er Sharifs bandagierte Unterarme und die Verbrennung am seinem Hals registrierte. Sorge legte sich auf seine Gesichtszüge, als er von einem zum anderen blickte. Sharif seufzte. Er hätte die beiden wirklich gerne wieder fortgeschickt! Einfach, um zu wissen, dass wenigstens irgendjemand aus ihrer Familie sicher war. „Oh, Sharif hat mit dem Feuer gespielt“, erklärte Necroma unangemessen heiter. „Und er hat sich böse verbrannt. Aber keine Sorge, das wird schon wieder. Oscar hat irgendein spezielles Heilmittel, das nach Erbrochenem riecht.“ Lächelnd klopfte sie ihm auf dem Arm und kümmerte sich dabei nicht großartig, dass sie ihm damit Schmerzen bereitete und er qualvoll aufstöhnte. Stattdessen musterte sie ihn vorwurfsvoll und meinte: „Stell dich nicht an wie ein Baby.“ Sharif knirschte mit den Zähnen, sah aber von einem entsprechenden Kommentar ab. Er hatte weder die Zeit noch die Energie, sich über sie aufzuregen oder gar mit ihr zu streiten. Außer Kopfschmerzen und dem kaum zu widerstehenden Drang, irgendjemand oder irgendetwas mit bloßen Händen zu töten, um sich ein bisschen besser zu fühlen, hatte es ihm noch nie etwas gebracht. „Wie kommt es, dass Yasmine nicht bei euch ist?“, lenkte Sharif das Gesprächsthema wieder von seinen Verletzungen ab. „Asrim hat nur gesagt, dass sie später ankommt.“ Wenn es nach mir ginge, sollte sie sowieso dort bleiben, wo sie gerade ist, schoss es ihm durch den Kopf. Aber er wusste auch, selbst wenn er Yasmine noch erreicht hätte, wäre sie trotzdem ins nächste Flugzeug gestiegen. Nichts auf der Welt hätte sie dazu gebracht, als einzige zurückzubleiben. „Oh, wir mussten uns aufteilen“, erklärte Elias. „Sie war irgendwo in der Nähe von Düsseldorf.“ Sharif runzelte die Stirn. „Und warum habt ihr euch aufgeteilt?“ Elias und Annis wechselten einen Blick, der deutlich machte, dass sie dies bestimmt nicht zu ihrem Privatvergnügen so entschieden hatten. Stattdessen meinten sie unisono: „Wegen den verfluchten Amerikanern!“ Und mit diesen Worten setzten sie sich in Richtung Ausgang in Bewegung. Sharif blickte ihnen kurz hinterher und kam nicht umhin, zu bemerken, in welchem Einklang die beiden sich bewegten. Es war, als würde man ein Wesen beobachten, das nur zufällig zwei Körper besaß. Und er fand es immer wieder aufs Neue faszinierend. Es gab wahrlich kein anderes Paar auf der Welt, das dermaßen eng miteinander verbunden war. Sie konnten nicht bloß die Gedanken des anderen lesen und dessen Sätze zu Ende sprechen, selbst in ihrem ganzen Gebärden und Verhalten waren sie sich erschreckend ähnlich. Sie schienen wie eine unzertrennbare Einheit zu sein, wenn sie zur gleichen Zeit niesten, sich an der Nase kratzten oder aus Albträumen hochschreckten, die selbstredend bei ihnen immer völlig identisch waren. Selbst ihre Bewegungen, ihre Sprechweise und alles weitere, was ein Individuum ausmachte, ähnelten sich auf beinahe schon beunruhigende Art und Weise. Dabei wirkten sie äußerlich eigentlich recht verschieden. Annis war sehr klein und schmächtig, sie machte einen geradezu zerbrechlichen Eindruck. Ihre hübschen, dunkelbraunen Augen erschienen sanft und verständnisvoll und ihr Lächeln konnte selbst den ungehobelsten Grobian in ein sanftes Lämmchen verwandeln. Rein vom Äußeren zumindest hätte niemand diese dezente Schönheit für eine ‚manipulierende und skrupellose Gewitterziege’ gehalten, wie es Elias immer wieder gerne zu bezeichnen pflegte. Ihr Bruder hingegen war ein Stück größer als sie und wirkte zumindest physisch eher wie ein ferner Verwandter von Annis und nicht etwa wie ihr Zwilling. Er hatte etwas Kumpelhaftes an sich, wie ein Mann, mit dem man gerne nach dem Feierabend ein Bier trank und sich über Gott und die Welt unterhielt. Im Gegensatz zu seiner Schwester suchte er sogar gerne den Kontakt zu Menschen und baute Freundschaften auf. Er machte beileibe nicht so einen Unterschied zwischen den Normalsterblichen und den Übernatürlichen wie viele andere ihrer Art. Ein Umstand, den Annis zwar nie verstanden, aber zumindest im Laufe der Jahrhunderte zu akzeptieren gelernt hatte. Wenigstens hatte sie inzwischen davon abgesehen, Männern und Frauen, die Elias durchaus ernsthaft als seine Freunde betrachtete, den Hals umzudrehen. Man merkte diesen Gegensatz auch, wie sie durch die große Flughafenhalle schritten. Annis schubste gewisse Individuen aus dem Weg, sobald sie ihr in die Quere kamen, während Elias jedem auswich und sich stattdessen amüsiert an den zahlreichen Wiedersehensszenen erfreute, die ein Umschlagspunkt wie ein Flughafen so mit sich brachten. Allerdings durfte man sich auch von Elias nicht täuschen lassen. Er war in eine wohlhabende walisische Familie hineingeboren worden und hatte schon von früh an die verschiedensten Kampftechniken erlernt und perfektioniert. Er hatte während seines menschlichen Lebens wahrscheinlich mehr Männern den Bauch aufgeschlitzt als Sharif in den letzten dreitausend Jahren zusammengenommen. Elias kannte derart viele Methoden, um einen Mann zu paralysieren, zu lähmen oder zu töten, dass einem fast schwindelig werden konnte und Sharif immer wieder erleichtert aufatmen ließen, dass er kein Feind Elias‘ war. Auch Annis hatte sich stets für solcherlei Dinge interessiert, aber während Elias viel Wert auf Taktik und auch eine gewisse Eleganz legte, stürmte sie gerne mit der Tür ins Haus und nahm jeden aufs Korn, der sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte. Sie waren wahrlich ein ungleiches Paar, das sich zur selben Zeit vermutlich enger stand als irgendjemand sonst auf dieser Welt. „Dürfen wir vielleicht erfahren, was die verfluchten Amerikaner damit zu tun haben, dass ihr euch aufteilen musstet?“, hakte Sharif schließlich nach, als sie sich Richtung Parkplatz bewegten. „Oder zuallererst, was habt ihr überhaupt noch in Deutschland gemacht?“ Elias griff in die Innenseite seiner Jackentasche und holte etwas hervor, das verdächtig nach einem Dolch aussah. „Wir haben das hier gesucht.“ Er überreichte Sharif die Waffe, welcher diese sofort aufmerksam musterte. Der Dolch war recht einfach verarbeitet und wenig spektakulär, ebenso wie die Scheide, die die Klinge schützte. Zumindest konnte Sharif auf den ersten Blick absolut nichts Außergewöhnliches daran feststellen. Das einzige, was auffiel, war ein leichter Geruch nach Magie, aber es war derart schwach, dass es sich wahrscheinlich bloß um einen simplen Schutzzauber handelte, der die Waffe vor dem allmählichen Verfall bewahren sollte. Zwar recht ungewöhnlich für etwas, das augenscheinlich keinen großen Wert hatte, aber beileibe nichts, das irgendwie Sharifs Interesse großartig geweckt hätte. „Keine Ahnung, wie alt das Teil ist“, meinte Elias. „Könnten Jahrhunderte oder gar Jahrtausende sein. Es macht so oder so nicht viel her.“ Annis zog ihre Mundwinkel nach unten. „Wirklich unglaublich enttäuschend, bedenkt man, welche Mühen wir auf uns genommen haben, um dieses Ding zu finden.“ Sharif hatte immer noch das Gefühl, etwas Entscheidendes verpasst zu haben, während Necroma fasziniert den Dolch in die Hand nahm und leise vor sich hin summte. „Und warum habt ihr danach gesucht?“, wollte er wissen. Elias und Annis zuckten gleichzeitig mit den Schultern. „Asrim hat uns darum gebeten“, meinte Elias. „Ich weiß zwar nicht, wofür er das braucht oder warum gerade jetzt, aber hey, bei Asrim bringt es manchmal echt nichts, irgendwelche Fragen zu stellen, habe ich nicht Recht?“ Dem vermochte Sharif unglücklicherweise nicht zu widersprechen. „Na ja, Asrim hatte den Dolch bei einem alten Freund gelagert, einen Kerl namens Goldberg, Ende der Zwanziger“, erklärte Elias. „Keine Ahnung, wie die beiden in Verbindung miteinander standen, wir konnten den Mann auch nicht mehr fragen. Wie der Name vielleicht schon andeutet, ist der werte Herr nämlich eine Jude gewesen, was, wie wir ja wissen, ein paar Jahre später nicht gerade unbedingt sehr günstig war, wenn man in Deutschland gelebt hat. Auf jeden Fall ist er irgendwann deportiert worden und man hat nie wieder von ihm gehört. Ich glaube, man kann sich gut denken, was mit ihm geschehen ist.“ Sharif setzte eine harte Miene auf. Er war nie ein großer Menschenfreund gewesen, aber auch er hatte die Wege der Nationalsozialisten in keinster Weise gutheißen können. „Seine Besitztümer fielen daraufhin in die Hände der Nazis“, fuhr Elias fort. „Unter anderem auch der Dolch. Na ja, und dann später hatten die besagten Amerikaner ihre Hände im Spiel. Und während die Deutschen wenigstens noch Aufzeichnungen hinterlassen haben und man alles gut nachvollziehen konnte, waren die Alliierten leider nicht so gründlich.“ Annis schnaubte. „Wir haben gefühlte Ewigkeiten gebraucht, bis wir überhaupt ansatzweise eine Ahnung hatten, was die Amis mit den ganzen konfiszierten Gütern angestellt haben. Und ich hänge wirklich nicht gerne in irgendwelchen Archiven rum und grabe mich durch Papierkram.“ Sharif vermochte sich sehr gut vorzustellen, dass sie wahrscheinlich schon nach gut einer Stunde bestimmt keine herzhafte Gesellschaft mehr gewesen war. Und Sharif fragte sich unweigerlich, ob er in dieser Hinsicht mit Seth ein so viel schlechteres Los gezogen hatte. „Letztlich hatten wir dann zwei mögliche Aufenthaltsorte“, meinte Elias. „Darum haben wir uns aufgeteilt.“ „Und wir haben das gottverdammte Teil schließlich gefunden“, sagte Annis mit einem aufgezwungenen Lächeln. „Ist das nicht toll?“ Sie erweckte den Eindruck, als würde sie den nächsten, der einen dummen Kommentar abließ oder ihr einen Keks anbot, erbarmungslos das Genick brechen. Sharif richtete derweil seinen Blick wieder auf den Dolch und wunderte sich, was Asrim wohl damit vorhatte. Ganz offensichtlich hatte er sich ja schon in Deutschland entschieden, dass es jetzt, neunzig Jahre, nachdem er die Waffe zum letzten Mal gesehen hatte, plötzlich wichtig wäre, wieder danach zu suchen. Steckte vielleicht mehr hinter dem Dolch, als es auf den ersten Blick vermuten ließ? „Also, könnte uns vielleicht irgendjemand einen Statusbericht geben?“, wollte Annis wenig erfreut wissen. „Warum sind alle in Aufruhr? Wieso bist du verletzt? Und warum werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas Schreckliches passiert ist?“ Ihre Intuition war ungebrochen. Unter Umständen standen die Ereignisse Sharif aber auch überdeutlich im Gesicht geschrieben. Er holte einmal tief Luft, merkte aber sofort, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Er hatte ja selbst keine näheren Informationen, nur zwei Magier, die aus ungewissen Gründen ihren Kontakt mit Alec verloren hatten. „Es ist ... Alec“, begann er somit zögernd. „Oh nein, hat Oscar ihn etwa umgebracht?“ Annis schüttelte ihren Kopf. „Ich wusste, dass es irgendwann so kommt. Ehrlich gesagt bin ich erstaunt, dass es so lange gedauert hat.“ Sie schien in ähnlicher Weise fortfahren zu wollen, verstummte aber abrupt, als sie Sharifs Gesichtsausdruck bemerkte. Sharif hatte währenddessen keine Ahnung, wie er es formulieren sollte. Er wusste ja nicht einmal selbst, was er über das Ganze denken sollte. In seinem Kopf überschlugen sich nur alle Gedanken und der Wunsch, sich sofort aufzumachen und nach Alec zu suchen, sich selbst davon zu überzeugen, ob er überhaupt noch lebte oder nicht, war schon die ganze Zeit geradezu übermächtig. Necroma zuckte derweil mit den Schultern und meinte unbekümmert: „Ach, Alec geht es soweit ganz gut. Er ist zwar ziemlich angeschlagen, aber er wird es überleben.“ Während Annis und Elias beide daraufhin sofort simultan aufatmeten, hatten sie immerhin mit dem Schlimmsten gerechnet, runzelte Sharif nur verwirrt die Stirn. „Aber ich dachte ... Asrim und du ...“ Er schüttelte seinen Kopf. „Ihr habt doch beide gesagt ...“ „Oh, du lebst manchmal wirklich in der Vergangenheit, Wüstenmann“, erklärte Necroma vorwurfsvoll. „Was spielt es für eine Rolle, was ich vor zwei Stunden gesagt habe? Das Hier und Jetzt zählt.“ Sharif wollte irgendetwas erwidern, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Stattdessen erinnerte er sich, wie Necroma vor gut einer halben Stunde an einer stark befahrenen Kreuzung plötzlich ohne die geringste Vorwarnung in schallendes Gelächter ausgebrochen war, sodass er es allein seinen Reflexen zu verdanken hatte, dass er keinen Verkehrsunfall gebaut hatte. Offenbar war ihr in diesem Moment klargeworden, dass Alec zumindest noch lebte, aber hatte Sharif wie gewohnt nicht darüber informiert. Eigentlich hätte es ihn verärgern sollen, doch stattdessen schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Bei allen Göttern, musste das wirklich sein?“, zischte derweil Annis und schien zu überlegen, ihnen beiden einen Klaps auf den Hinterkopf oder auch gleich eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen. „Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen und das ist etwas, auf das ich eigentlich sehr gut verzichten kann. Ich wäre nämlich sehr angepisst, wenn das schrumpelige und gammlige Ding in meiner Brust Schuld an meinem Tod wäre.“ Elias schnaubte daraufhin. „Du hast nur ein Schwarzes Loch in deinem Inneren, sonst nichts.“ Annis schien kurz zu überlegen, ob sie dies als Beleidigung auffassen sollte, letztlich aber grinste sie bloß zufrieden und nahm es als Kompliment. Necroma war inzwischen dazu übergegangen, von den letzten paar Tagen zu erzählen. Ihr Lächeln dabei war zwar ziemlich unangebracht und ihr Bericht klang allgemein viel zu optimistisch, aber Annis und Elias kannten sie inzwischen gut genug, um die ganze Zeit über Sharif zu beobachten und seine sich stetig verdüsternde Miene richtig zu interpretieren. „Dieser Seth ist also hochgradig gefährlich und sollte am besten so schnell wie möglich selbst in den Feuern des Tartaros verbrennen“, fasste Elias das Ganze noch einmal zusammen. „Und was hat das jetzt mit dem Dolch zu tun?“ Sharif erblickte derweil in der Ferne ihr Auto und beschleunigte seine Schritte. Er wollte nur noch fort von diesem lärmenden Flughafen. „Keine Ahnung“, gab er zu. „Ich wusste bis eben nicht mal, dass ihr nach diesem Ding gesucht habt.“ „Vielleicht nur Zufall“, meinte Annis schulterzuckend. „Immerhin wusste Asrim nicht, was hier in London los ist, als er uns in Deutschland aufgetragen hat, den Dolch aufzuspüren.“ Sharif war im ersten Moment gewillt zuzustimmen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Er hatte vor ein paar Tagen in Deutschland womöglich wirklich nicht geahnt, was sie erwartete, aber irgendwie wurde Sharif das ungute Gefühl nicht los, dass er zumindest einen Verdacht gehabt hatte. „Und du hast keine Idee, Necroma?“, hakte Elias nach. Er fragte immer wieder gerne bei ihr nach und versuchte anschließend, ihre kryptischen Worte zu entschlüsseln. Er war zwar sehr selten erfolgreich, aber dennoch wurde er niemals müde. Necroma musterte ihn ausgiebig. „Ich habe diesen Dolch noch nie zuvor in meinem Leben gesehen“, sagte sie mit solch einer Zuversicht, dass man ihr zwingend glauben musste. „Weder in einer Vision noch in meinen Träumen und erst recht nicht im realen Leben. Vielleicht ist es nur ein Buttermesser, ein Erinnerungsstück oder es bringt uns allen den Tod.“ Solch klare Worte hörte man von ihr derart selten, dass Sharif unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. „Wie auch immer“, meinte Annis, offenbar nicht ansatzweise so beeindruckt. „Ich sitze vorne.“ „Was?“, fragte Sharif sie im nächsten Moment verwirrt. Sie deutete auf den weißen Toyota, Mercedes oder was auch immer das Ding für eine Marke war. „Ich sitze bestimmt nicht auf dem Rücksitz wie Miss Daisy.“ „Du willst also lieber der Chauffeur sein?“, hakte Elias grinsend nach. „Ich will die Kontrolle haben“, korrigierte ihn Annis zähneknirschend. „Es ist sowieso einerlei“, mischte sich Necroma dazwischen. Die Zwillinge wandten sich ihr in einer absolut synchronen Bewegung zu und fragten in demselben Tonfall nach: „Wieso?“ Necroma lächelte verträumt. „Weil Seths Kraftreserven sehr viel schneller aufgeladen sind, als wir je gedacht hätten. Eben noch hat er sich mit Alec und Oscar total verausgabt und nun ist er hier, um uns zu begrüßen. Faszinierend, nicht wahr?“ Die übrigen Vampire wechselten irritierte Blicke untereinander aus, in der vagen Hoffnung, dass vielleicht irgendeiner von ihnen eine Antwort darauf hatte. „Was meinst du ...?“ Sharif hielt inne, als ihre Worte langsam durchzusickern begannen. „Warte, er ist hier?“ Necroma nickte zustimmend. „Faszinierend.“ Und bereits im nächsten Augenblick begann der Boden zu beben. Kapitel 26: Vergrabene Erinnerungen ----------------------------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.): „Hat dir eigentlich schon jemand gesagt, dass du aussiehst wie der Tod?“ Neyo hob seinen Blick, als er Calvios Stimme vernahm. Vor gut einer halben Stunde hatte Neyo sich mit einem Teller Eintopf aus der Küche davongestohlen und auf die weitläufige Terrasse zurückgezogen. Es war zwar kalt und windig, aber er hatte die Blicke der anderen einfach nicht mehr ertragen können. Sie alle hatten ihn angestarrt, wie er lustlos in seinem Essen herumgestochert und es einfach nicht über sich gebracht hatte, auch nur einen einzigen Bissen herunterzuzwingen. Von Tag zu Tag wurde es schwerer, die Fassade zu bewahren. Die Augenringe wurden tiefer, jedwedes Essen ekelte ihn inzwischen nur noch an und über kurz oder lang war es schlichtweg unmöglich, dies zu verheimlichen. Calvio hingegen war es bereits am ersten Tag aufgefallen, dessen war sich Neyo sicher. Seine Blicke waren stets derart intensiv gewesen, als hätte er nur darauf gewartet, dass Neyo ein emotionsreiches Geständnis ablegte. „Ach, so schlimm sehe ich nun wirklich nicht aus“, erwiderte Neyo und versuchte sich an einem schiefen Lächeln. Er hockte auf dem kühlen Steinboden, die Schüssel mit Eintopf im Schoss, vollkommen unberührt. Er wusste, dass er etwas essen musste, ansonsten würde sein Körper eher früher als später vollkommen abschalten, aber es war so dermaßen schwer, dass es ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Calvio setzte sich wortlos neben ihn und nahm ihm ungefragt die Schüssel aus den Händen. „Soll ich dich vielleicht füttern?“ Neyo rollte mit den Augen. „Willst du mir danach womöglich auch noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen?“ Calvio grinste schief. „Ich kenne ein paar nicht ganz so jugendfreie Erzählungen, falls dich das interessiert.“ Neyo schmunzelte. Mit Calvio war es immer so einfach. Er drängte nie, er verlangte nie und er schien stets zu wissen, was Neyo brauchte. Ob es Zuspruch war, völlige Ignoranz oder einfach ein dummer Spruch, um seine Laune wieder zu heben. Neyo hatte nie viele Freunde gehabt, denen er vollends hatte vertrauen können, doch Calvio gehörte inzwischen ohne Frage dazu, auch wenn er geheimnisvoll war oder es wenigstens vorgab. „Würde es zu kitschig und weibisch klingen, wenn ich dir sage, dass ich mir Sorgen um dich mache?“, hakte Calvio nach einer Weile nach, seine Stimme so ungewohnt ernst, dass es Neyo eine Gänsehaut bescherte. Neyo wusste nicht einmal, was er darauf hätte sagen sollen. Er wollte bloß, dass alles wieder normal wurde. Er hatte nur keine Ahnung, ob es je soweit kommen würde. Jyliere und auch Reann waren schon seit Tagen fieberhaft nach einer Lösung am suchen. Sie durchforsteten Bücher, Briefe, Pergamente, sprachen mit Experten und hatten sogar einige Werke aus Te-Kems Privatsammlung mitgehen lassen. Sie waren dermaßen emsig bei der Sache, dass Neyo schon ein schlechtes Gewissen bekam. Er wollte gerne helfen, aber die meisten der Texte waren in einer fremden Sprache oder hochgradig kompliziert und er hatte sowieso schon große Probleme, sich auf die einfachsten Dinge zu konzentrieren. Er vermochte einfach nichts beizutragen und das quälte ihn so ungemein. „Ich bin kein Narr, weißt du?“, fuhr Calvio fort. „Ich weiß, dass dieses Wesen, das dich angegriffen hat, ein Nachtwandler war.“ Neyo blickte seinen Freund überrascht an. „Wirklich?“ Calvio schnaubte. „Ich bin viel herumgekommen und habe so einiges gehört. Wie sie sich im Schatten bewegen, wie ihre Augen leuchten wie die eines Raubtieres, wie ihre Wunden innerhalb von Sekunden verheilen ...“ Er zuckte mit den Schultern. „Außerdem sagt man sich, dass der Biss einer solchen Kreatur einen selbst in einen Nachtwandler verwandelt.“ Er schaute auf Neyos bandagierten Arm und Neyo spürte, wie sein Puls in die Höhe stieg. Sollte er es abwinken und dementieren oder Calvio in alles einweihen? Wenn nicht alles nach Plan verlief, hätte er nur noch ein paar Monate oder gar Wochen zu leben, und wollte er dieses bisschen Zeit wirklich damit verschwenden, seinen besten Freund anzulügen? „Allerdings weiß ich, dass noch mehr dazugehört“, fuhr Calvio fort. „Blutaustausch beispielsweise. Und du hast das Blut des Nachtwandlers doch nicht getrunken, nicht wahr?“ Dies konnte Neyo mit gutem Gewissen verneinen. „Nicht einmal ansatzweise.“ Auch wenn er es nicht übers Herz brachte, laut auszusprechen, dass es durchaus eine Versuchung gewesen war. Das Blut rief ihn von Tag zu Tag mehr. Er wusste genau, dass sich Calvio vor kurzem an etwas geschnitten hatte – womöglich an Papier oder aber an dem Dolch, den er immer mit sich herumtrug, als befände er sich in konstanter Gefahr –, auch wenn er die Wunde nicht sehen konnte. Inzwischen vermochte er es auch kaum noch in der Nähe von Frauen, die gerade ihre Monatsblutung hatten, auszuhalten, ohne wahnsinnig zu werden. Dieser Drang wurde immer stärker und Neyo verabscheute sich selbst dafür zutiefst. „Reann hat mir gesagt, dass du ziemlich überrascht gewirkt hast“, erwiderte Neyo, weniger aus Interesse, sondern vielmehr aus dem Verlangen, seine düsteren Gedanken wenigstens noch eine Weile verdrängen zu können. Calvio zuckte bloß mit den Schultern. „Ich gebe zu, ich war im ersten Moment ziemlich verblüfft. Aber ich brauchte wirklich nicht lange zu überlegen, um aus dem Ganzen schlau zu werden.“ Irgendetwas in seinem Tonfall ließ Neyo kurz stutzen, auch wenn er wirklich nicht hätte zu sagen vermocht, woran dies überhaupt lag. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich instinktiv auf, als wollte ihm sein Körper mitteilen, dass hinter Calvios Worten noch sehr viel mehr steckte. „Bist du zuvor schon einmal einem Nachtwandler begegnet oder kennst du nur die Geschichten?“, wollte Neyo wissen. Calvio grinste schief. „Sowohl als auch.“ Neyo rechnetet bereits mit einer farbenfrohen Erzählung von Mythen, Drachen und Prinzessinnen, doch erstaunlicherweise schwieg Calvio. Sein Blick glitt in die Ferne, als entsann er sich an etwas, von dem er sich selbst nicht einmal sicher war, ob es eine gute oder eine schlechte Erinnerung war. „Ist dir eigentlich klar, dass ich im Grunde gar nichts über dich weiß?“, meinte Neyo unvermittelt nach einigen Minuten der Stille, die aus irgendeinem Grund extrem unangenehm waren. „Ich habe keine Ahnung, welche von deinen Geschichten wahr ist und welche nicht.“ Calvio warf ihm einen Seitenblick zu. „Was soll das werden? Hast du dem Tod ins Auge geblickt und nun wird dir klar, wie kurz das Leben ist, und du nicht sterben möchtest, ohne all deine Fragen beantwortet zu wissen?“ Neyo zögerte kurz und wollte rein automatisch widersprechen, dann aber holte er tief Luft, ehe er entschieden sagte: „Ja, genau so ist es.“ Calvio verzog sein Gesicht, als wäre dies das letzte, was er hatte hören wollen. Einen lockeren Spruch oder einen sarkastischen Kommentar hätte er abblocken können, aber Neyos kalte Ehrlichkeit schien ihm regelrecht Bauchschmerzen zu verursachen. „Ist es etwa so schlimm?“, hakte Neyo daraufhin nach. „Oder so langweilig, dass du befürchtest, ich würde meine Achtung vor dir verlieren?“ Er lachte auf. „Keine Angst, ich habe sowieso keinerlei Respekt vor dir.“ Calvio zog seine Mundwinkel nach oben, doch es wirkte ausgesprochen gequält. „Das weiß ich, mein Freund.“ Neyo spürte, wie ihm das Lachen sofort verging, als er Calvios Miene betrachtete. Da war irgendetwas in seinen Augen, ein uralter Schmerz, an den er offensichtlich sehr ungern erinnert wurde. „Bei allen Göttern, es ist schlimm, nicht wahr?“, stellte Neyo fest, als er schuldbewusst auf der Unterlippe herumkaute. „Hör zu, es tut mir leid ...“ „Nein, ist schon gut“, fiel ihm Calvio ins Wort. „Du hast ein Stück der Wahrheit verdient, denkst du nicht auch?“ Neyo wollte automatisch nicken, brachte es aber nicht über sich. „Ich bin in einem Land geboren, das diesem nicht sehr unähnlich ist“, erzählte Calvio und zum ersten Mal hörte Neyo deutlich aus seiner Stimme heraus, dass kein einziges Wort, erschwindelt, erlogen oder übertrieben war. „Kalte Winter, warme Sommer. Wir hatten zwar nicht so schicke Bauten wie Te-Kems kleines Entspannungshäuschen, aber das war niemanden wichtig. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Meine Mutter war wunderschön und streng. Und als ich ein Kind war, ist meine ältere Schwester vor meinen Augen gestorben.“ Neyos Augen weiteten sich bei seiner letzten Aussage, doch bevor er überhaupt dazu kam, irgendwie darauf zu reagieren, fuhr Calvio fort: „Und als nichts mehr da war, wofür er sich zu Bleiben gelohnt hätte, bin ich gegangen. Ich habe das erste Schiff genommen, das ich finden konnte, und habe seitdem nie mehr zurückgeblickt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Als ich Jyliere am Hafen von Rashitar begegnet bin, war ich ziemlich am Ende. Und er war der erste in so vielen Jahren, der freundlich zu mir war, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Darum bin ich irgendwie hier hängengeblieben.“ Neyo spürte, dass einige, sicher nicht ganz unwichtige Passagen in dieser Erzählung fehlten, aber er hielt sich zurück, weiter nachzufragen. Das war so viel mehr, als er je von Calvio bekommen hatte, dass er es gewiss nicht ruinieren wollte. „Danke, mein Freund“, sagte er stattdessen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Calvio lächelte leicht. „Das heißt allerdings nicht, dass ich so bin wie Jyliere. Ich erwarte immer eine Gegenleistung.“ Er hob demonstrativ die Schüssel mit dem Eintopf hoch. „Ich werde nicht eher gehen, bis du zumindest den Großteil hiervon aufgegessen hast, verstanden? Und wenn es Tage dauert!“ Neyo schmunzelte. „Ich werde es versuchen.“ Und das tat er auch. Sein Magen rebellierte zwar, aber Calvios intensiver Blick war Ansporn genug, um nicht aufzugeben. „Du wirst schon wieder, Neyo“, sagte Calvio schließlich. „Und wenn es dir besser geht, zeige ich dir die Welt. Ich zeige dir einfach alles!“ Und auch wenn sich dies unrealistisch und absolut surreal anhörte, kam Neyo aus irgendeinem Grund nicht umhin, seinen Worten zu glauben. *  *  *  *  *  *  *  * England, London (2012): Eve fühlte sich wie neugeboren, als sie das warme Wasser auf ihrer Haut spürte. Ihr verkrampfter Körper entspannte sich wieder und ließ sie vor Erleichterung aufseufzen. Es hatte lange gedauert, bis Liam ihr erlaubt hatte, ihre Wohnung zu besuchen. Zunächst hatte er sich geweigert und wiederholt betont, wie riskant es wäre, sich vom Hauptquartier zu entfernen, aber Eve hatte sich schließlich durchsetzten können. Das Bedürfnis nach einer reinigenden Dusche war dermaßen übermächtig gewesen, dass sie ihren Chef so lange genervt hatte, bis dieser schließlich zähneknirschend nachgegeben hatte. Schon seit knapp zwei Tagen hatte sie nicht die Kleidung gewechselt und darüber hinaus auch kaum großartig Gelegenheit gehabt, sich richtig zu waschen. Der Geruch der Vampire hatte förmlich an ihr geklebt und das war Eve einfach irgendwann zu viel geworden. Dennoch hatte Liam darauf bestanden, sie bewachen zu lassen. Zwei Jäger waren dazu auserkoren worden, sie auf ihre Stippvisite nach Hause zu begleiten. Ihre Begeisterung hatte sich selbstredend sehr in Grenzen gehalten, aber nachdem sie Tiffany in der Wohnung mit einer Kanne frisch gebrühten Kaffee und einem strahlenden Lächeln begrüßt hatte, war ihre schlechte Laune sofort vergessen gewesen. Nach einer langen und überaus belebenden Dusche unterbrach Eve schließlich den Wasserstrom und griff sich ein Handtuch. Ihr Blick fiel dabei auf ihren Hals, der immer noch mit einigen unschönen Blutergüssen versehen war. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte, wie Alec seine Finger um ihre Kehle gelegt hatte. Inzwischen war dermaßen viel geschehen, dass es ihr vorkam, als wäre das Aufeinandertreffen mit dem Vampir im Red Foxy in einem anderen Leben geschehen. Nachdem sie sich gründlich abgetrocknet hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer und begann, sich anzuziehen. Dumpf hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Offenbar amüsierte sich Tiffany prächtig mit den beiden Jägern. Zumindest ihr schallendes Lachen verriet, wie viel Spaß sie hatte. Eve hatte ihre Freundin darum immer ein bisschen beneidet. Für Tiffany war es kein Problem, offen auf jemanden zuzugehen und neue Freundschaften zu schließen. Immer fand sie die richtigen Worte und Gesten, um ihr Gegenüber wohlgesonnen zu stimmen. Besonders die Männerwelt lag ihr zu Füßen. Nicht nur der Umstand, dass sie aussah wie ein Supermodel, das einer Modezeitschrift entsprungen war, machte sie beliebt, sondern auch ihr ganz eigener Charme. Manchmal verführerisch, dann auch wieder schon fast kindlich naiv. Eve selbst war nie so gewesen. Sie beherrschte keinen aufreizenden Wimpernaufschlag und sie wusste auch nicht, wie sie ihre Hüften am besten schwang, um das andere Geschlecht verrückt zu machen.  Richard hatte sie einst amüsiert als „Mann in einem Frauenkörper“ bezeichnet und, wenn auch im Scherz gesagt, hatte er damit gar nicht so Unrecht. Schon als Kind hatte sie nie viel von Puppen und rosa Plüschtieren gehalten, sondern war lieber im Park Fußball spielen gegangen. Und auch heutzutage zog sie ein Kampftraining oder eine Vampirjagd jederzeit einer Shoppingtour vor. „Ihr Menschen denkt immer so furchtbar viel über euch nach.“ Eve gefror das Blut in den Adern, als sie diese Stimme hinter sich vernahm. Ein Blick in den Spiegel offenbarte ihr, dass sie nicht mehr alleine im Zimmer war. Sie konnte zwar nicht viel von dem Fremden hinter sich sehen, aber diese roten Dämonenaugen waren deutlich zu erkennen. Sie wollte aufschreien und somit die Jäger im Nebenraum auf sich aufmerksam machen, aber kein Ton verließ ihre Lippen. Sie fühlte sich wie gelähmt, als sie versuchte, dem stechenden Blick dieser Augen standzuhalten. Im Spiegel sah sie, wie sich hinter ihr eine Hand aus der Dunkelheit schälte. Sie legte sich sanft auf ihre Schultern. Mit einem Finger fuhr der Fremde vorsichtig über die Haut an ihrer Halsbeuge. Eve sog bei dieser Berührung scharf die Luft ein, vermochte sich aber immer noch nicht zu bewegen. „Eve Hamilton“, flüsterte die Gestalt. Eve glaubte sogar zu spüren, wie er kurz an ihrem Haar roch. „Shadyns Ein und Alles.“ Eve schluckte einmal hörbar und fragte: „Wer … wer bist du?“ Ihre Stimme war etwas zittrig, doch wenigstens funktionierte sie. Ein Gesicht tauchte aus dem Schatten auf. Weder jung noch alt schien es zu sein, fast ein wenig unwirklich. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln. „Du weißt doch ganz genau, wer ich bin.“ Seine Augen schienen die Jägerin förmlich zu durchbohren. „Nicht wahr?“ Eve erschauerte. Sie hatte in der Tat einen sehr starken Verdacht, auch wenn sie es nicht wirklich wahrhaben wollte. „Asrim“, sprach sie seinen Namen aus. Dieser schmunzelte daraufhin. „Schlaues Kind“, sagte er. „Es gibt anscheinend doch noch Menschen, die ihren Verstand benutzen.“ Eve merkte, wie ihr Mund trocken wurde und es ihr immer schwerer fiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Asrims Stimme hatte sie regelrecht in ihren Bann gezogen, sosehr sie sich auch zu wehren versuchte. Wie etwas Lebendiges umschmeichelte sie Eve, durchdrang ihre Haut und ließ ihren Körper beben. Dunkel und mysteriös war sie, sodass eine ungekannte Furcht die Jägerin ergriff, aber auch anziehend und verführerisch, dass sich Eve unwillkürlich nach mehr sehnte. Ohne Zweifel, dieser Mann war tatsächlich der Schöpfer der berühmt-berüchtigten Sieben. „Was ..?“ Mehr vermochte sie nicht zu sagen, viel zu sehr war sie damit beschäftigt, Asrims Einfluss zu widerstehen. Sie fühlte sich klein und unbedeutend und schämte sich so unglaublich, wie sehr diese Kreatur sie fesselte. Sie wusste nicht mal so recht, ob sie sich lange hätte widersetzen können, wenn er ihr mit dieser samtigen und berauschenden Stimme befohlen hätte, sich aufs Bett zu legen und sich ihm hinzugeben oder gar hier und jetzt in die Küche zu gehen und sich ein Fleischmesser in den Bauch zu rammen. „Was ich hier will?“, vollendete er ihre Frage. Es verwunderte Eve wenig, dass dieser besondere Vampir Gedanken lesen konnte oder zumindest genau wusste, was in ihrem Kopf vorging. „Keine Bange, kleines Mädchen. Ich bin nicht hier, um dir irgendetwas anzutun. Ich will nur reden. Über Alec und Oscar.“ Eve konnte bloß verstehend nicken, zu mehr war sie nicht fähig. „Ich könnte jetzt ohne Probleme in euren süßen Stützpunkt einbrechen und die beiden da rausholen“, meinte er und Eve bezweifelte dies keine Sekunde. Er hätte wahrscheinlich lächelnd durch die Vordertür treten und ein paar Jäger problemlos nach dem Weg fragen können. Niemand wäre dazu imstande gewesen, ihm eine Antwort zu verweigern. „Aber irgendwie ist mir nicht danach“, fuhr Asrim fort. „Sie sind geschwächt und müssen zunächst einmal wieder neue Kräfte aufbauen. Und ihr könnt ihnen eure ganze Aufmerksamkeit widmen.“ Eve erlaubte sich, überrascht die Stirn zu runzeln. Wollte er seine Geschöpfe tatsächlich vorsätzlich in der Obhut der Jäger belassen? „Außerdem ist es nur von Vorteil, sie in deiner Nähe zu wissen“, meinte Asrim und lächelte leicht. „Seth wird davon absehen, das ganze Gebäude in die Luft zu sprengen, wenn du dich im Inneren befindest.“ Eve erschauerte, als sie die Gewissheit in seinem Tonfall hörte. Nicht mal eine Sekunde ging er davon aus, dass Seth irgendetwas tun würde, was ihr schadete. Er mochte zwar wahnsinnig und absolut nicht mehr bei Verstand erscheinen, aber dennoch war Asrim unumstößlich davon überzeugt, dass Seth noch genügend Sinn für die Realität besaß, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Eve wollte weiter nachhaken, wollte endlich wissen, was an ihr so besonders war, dass Seth sie immer wieder verschonte, doch als Asrim mit seinem Finger sanft über ihre Wange strich, schloss sie kurz ihre Augen und war vordergründig damit beschäftigt, ihre Knie am einknicken zu hindern. „Ihr wisst ganz genau, was euch blüht, solltet ihr Alec und Oscar schlecht behandeln.“ Asrim war etwas näher gerückt und flüsterte Eve ins Ohr. „Ich werde nichtsdestotrotz ein Auge auf euch haben und solltet ihr etwas tun, das mir nicht gefällt, dann wird euch nicht einmal die Gnade der Götter helfen können. Aber wenn ihr nett zu ihnen seid, dann soll es euer Schaden nicht sein. Vielleicht bekommt ihr sogar eine hübsche Belohnung.“ Als er daraufhin provozierend eine Hand auf ihre Hüfte legte, vermochte Eve ein Aufkeuchen ihrerseits nicht mehr zu verhindern. Im Spiegel beobachtete sie, wie Asrim daraufhin amüsiert seine Lippen verzog. Es vergnügte ihn, welchen Einfluss er auf sie hatte, und Eve spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg.  „Das hier müsst ihr Alec verabreichen“, sagte er plötzlich, nicht weiter auf Eves Reaktionen eingehend. Wie aus dem Nichts holte er plötzlich eine kleine Phiole hervor, die mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt war. „Blut?“ Obwohl die mächtige Aura Asrims sie immer noch zutiefst beeinflusste, hatte sie das Gefühl, wieder etwas mehr Kontrolle über ihre eigenen Körperfunktionen zu haben. Entweder zeigte ihr Widerstand langsam Erfolg oder aber – was in diesem Fall sicherlich wahrscheinlicher war – Asrim erlaubte ihr ein wenig mehr Freiheit. „Aber … wir haben Alec schon Blut gegeben“, entgegnete sie. Ihre Stimme klang noch immer etwas schwerfällig, aber darum scherte sie sich nicht großartig. Sie war bloß froh, wieder ganze Sätze formulieren zu können. „Ich denke nicht, dass dieses kleine bisschen –“ „Es ist besonderes Blut“, unterbrach sie Asrim. „Mein Blut.“ Eve starrte die Phiole an, als erwartete sie, die Flüssigkeit in ihrem Inneren würde im nächsten Augenblick zu sprechen anfangen oder etwas anderes Fantastisches tun. Sie musste sich regelrecht dazu zwingen, ihren Blick abzuwenden. Schon überaus erstaunlich, selbst Asrims Blut konnte jemanden in seinen Bann ziehen. „Aber … das Blut eines Untoten …“, warf Eve ein. „Unter normalen Umständen hättest du Recht, Miss Hamilton“, bestätigte Asrim. „Das Blut eines Untoten ist für einen anderen Vampir in der Tat wenig belebend. Aber ich bin Alecs Schöpfer. Mein Blut fließt auch durch seine Adern. Es ist wie ein Lebenssaft für ihn.“ Eve nickt bloß. Das Ganze ergab durchaus einen Sinn. Asrims Blut hatte Alec einst das Leben geschenkt, da schien es nur logisch, dass es ihm auch dieses Mal würde helfen können. „Erwarte aber keine Wunder“, mahnte Asrim sie. „Alec wird danach nicht aufspringen und Purzelbäume schlagen, als wäre nie etwas geschehen. Er wird immer noch schwach sein und ihr müsst ihn wieder zu Kräften bringen.“ Mit seinen kalten Fingern strich er sanft über Eves Hals. „Ansonsten kann ich für nichts garantieren.“ Eve sagte nichts, aber Asrim musste an ihrem Gesichtsausdruck sehen können, dass sie verstanden hatte. Falls er es nicht schon längst in ihren Gedanken gelesen hatte. „Du bist ein starkes und tapferes Kind“, sagte Asrim. „Es verwundert mich nicht, dass Seth so von dir fasziniert ist.“ Am liebsten hätte Eve einen verbitterten Kommentar abgegeben und ihn darauf aufmerksam gemacht, wie sehr es sie frustrierte, dass jedermann zu wissen schien, wieso Seth hinter ihr her war, außer sie selbst, aber sie ließ davon ab. Weder Alec noch Seth hatten ihr eine Antwort darauf gegeben, warum also sollte Asrim es tun? Außerdem spürte Eve, wie sich erneut ein Knoten in ihrer Brust bildete. Seine Finger an ihrem Hals machten sie nervös. Sie wollte eigentlich nur noch, dass der Vampir endlich verschwand. „Was für ein Konflikt in dir tobt, Eve Hamilton.“ Asrim lächelte, als würde er das richtiggehend genießen. Er beugte sich vor und roch an ihrem Haar, was der Jägerin einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. „Ich kann nachempfinden, wie sehr du langsam verzweifelst. Aber Alec ist nun mal ein Spieler und Charmeur. Er liebt es viel zu sehr, andere zappeln zu lassen. Und Seth will nicht darüber reden, weil es ihm in der Seele wehtut.“ Eve musste an Seths leidliche Miene denken, als er ihr im Hauptquartier offenbart hatte, dass der Verlust einer Frau – wer auch immer sie gewesen sein mochte – ihn dazu bewegte, die Sa’onti zu vernichten. „Du willst wissen, was das alles mit dir zu tun hat, nicht wahr?“ Asrims Stimme war so voller Verlockung, dass Eve nicht anders konnte, als zu nicken. Beinahe hätte sie ihn sogar angefleht, aber gerade noch rechtzeitig konnte sie sich zurückhalten. Es musste schon mehr geschehen, damit sie in der Gegenwart eines Vampirs zu betteln anfing. „Ich verrate es dir, mein Kind“, bot Asrim an. „Die Antwort findest du … dort.“ Daraufhin deutete er mit seinem Finger auf den Kleiderschrank direkt vor ihr. Eve runzelte verwundert die Stirn. Meinte er das wirklich ernst? Lag die Antwort tatsächlich in diesem alten Schrank, den Eve seit ihrer frühsten Jugend besaß? „Willst du mich auf den Arm –“ Ihr blieben die Worte im Halse stecken, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Spiegel richtete und bemerkte, dass Asrim verschwunden war. Einen Augenblick zögerte sie, dann aber wirbelte sie herum und spähte eindringlich in die Dunkelheit. Sie konnte keinen Schatten, keine Bewegung oder etwas Ähnliches erkennen. Nur die Phiole mit dem Blut, die auf ihrem Nachttisch lag, erinnerte daran, dass der Vampir in diesem Zimmer gewesen war. Eine Weile noch starrte Eve mit angespannter Haltung in die Finsternis. Immer noch spürte sie Asrims Berührung und diesen furchtbaren Knoten in der Magengegend. Sie konnte sich nicht hundertprozentig sicher sein, dass er weg war oder nicht doch noch irgendwo lauerte und sie beobachtete. Allein bei dieser Vorstellung erschauderte Eve. Als jedoch das schallende Lachen Tiffanys aus dem Nebenzimmer erklang, riss sich Eve von diesem Gedanken los. Es würde ihr nichts bringen, wie ein ängstliches Ding in die Dunkelheit zu schauen und auf etwas zu warten, dass vielleicht niemals eintrat. Somit wandte sie sich ihrem Kleiderschrank zu und beäugte diesen skeptisch. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie darin Spektakuläres finden würde. Aber Asrims Finger hatte ohne Zweifel auf das Möbelstück gezeigt. Eve zuckte mit den Schultern und öffnete die Schranktüren. Fast schon rechnete sie damit, darin nun irgendetwas schier Unglaubliches zu entdecken, aber ihr bot sich bloß das altbekannte Bild. Gefaltete beziehungsweise an Kleiderbügeln aufgehängte Wäsche, ein paar alte Sommerschuhe und noch allerlei anderer Krimskrams, den sie schon vor Jahren achtlos in den Schrank geworfen und dann vergessen hatte. Den müsste ich dringend mal entmisten, dachte Eve bei sich und fing gleich damit an. Mit großem Eifer wühlte sie sich durch die Wäsche, immer mit dieser kleinen Stimme im Hinterkopf, die das alles als lächerlich deklarierte. Doch davon ließ sich Eve nicht beirren. Sie arbeitete sich durch ihre T-Shirts, Blusen und Hosen und tastete jeden Zentimeter sorgfältig ab. Alte Schuhe und Taschen pfefferte sie nach eingehender Überprüfung wenig vorsichtig in die nächste Ecke. Auch die von ihr so sorgfältig zusammengelegten Handtücher und Bettbezüge wurden auseinandergenommen und genau inspiziert. Und mit jeder Minute, die verstrich, kam sich Eve alberner vor. Glaubte sie wirklich, die Antwort irgendwo zwischen Waschlappen und Bettlaken zu finden? Eve seufzte. Das Ganze erschien ihr einfach nur dumm. Wahrscheinlich hockte Asrim gerade irgendwo im Schatten und amüsierte sich königlich darüber, wie Eve ihren Schrank auseinander nahm. Zugegeben, der Vampir hatte nicht wie jemand gewirkt, der sich gerne Scherze erlaubte, aber auszuschließen war dies nicht völlig. Dann jedoch fiel Eves Blick auf das oberste Fach ihres Schrankes. Sie musste sich einen Stuhl heranholen, um es zu erreichen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die dort befindlichen Dinge sah. In diesem Fach bewahrte sie ihre wichtigsten Kindheitserinnerungen auf. So beispielsweise Mr. Star, ihren ersten Teddybären mit den großen Knopfaugen. Oder auch die alte Blockflöte, die sie irgendwann vor schier unendlichen Zeiten einst beherrscht hatte. Auch ihre große Sammlung an Haarspangen durfte selbstredend nicht fehlen. Mit weitaus größerer Vorsicht als noch vorhin durchstöberte sie nun diese Sachen und musste immer wieder lächeln, wenn dabei bestimmte Erinnerungen in ihr hochstiegen. Die Porzellanfigur, die ihr ihre Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Das alte Kartenspiel, das sie zusammen mit ihren Schulfreund Brad in der achten Klasse beinahe regelmäßig verwendet hatte. Und natürlich ebenso ihr himmelblaues Tagebuch, dem sie damals so viele Geheimnisse anvertraut hatte. Schließlich blieb Eves Blick bei einem großen Schuhkarton hängen, in dessen Inneren sich uralte Fotos befanden, zum Teil noch aus der Kindheit und Jugend ihrer Eltern. Eve hatte die Bilder eigentlich schon längst einmal in ein schönes Album kleben wollen, aber es irgendwie immer wieder vergessen. Eve nahm den Schuhkarton heraus, setzte sich auf den Boden und begann, die Bilder zu betrachten. Lächelnd, aber auch gleichzeitig ein wenig traurig sah sie sich die Fotos ihrer Eltern an. Sie vermochte sich zwar nur noch vage daran zu erinnern, wie die beiden miteinander umgegangen waren, da ihre Mutter schon sehr früh verstorben war, doch ihr Vater sprach heutzutage immer noch mit solch einer Sehnsucht von ihr, dass es regelrecht wehtat, diese Erinnerungen an alte, glückliche Zeiten zu sehen. Die Aufnahmen, so stellte die Jägerin fest, waren nicht annähernd sortiert. Gleich hinter dem Bild ihres Vaters, der ihn als Teenager zusammen mit seinem Hund Buster zeigte, war ihre Mutter als Baby zu sehen, wie sie lachend auf ihrem Kinderhochstuhl saß und offenbar das ganze Essen in ihrem Gesicht verteilt hatte. Weitere solcher Bilder folgten. Als Eve ein Foto entdeckte, auf dem ihre Eltern Arm in Arm vor einer Statue standen, was sich nach dem Datum zu urteilen kurz nach ihrem Kennenlernen ereignet haben musste, legte sie es zur Seite. Das Bild hatte ganz eindeutig einen Bilderrahmen und einen Platz auf dem Regal verdient. Als jedoch ihr Blick auf die nächste Fotografie fiel, gefror ihr Lächeln zu Eis. Fassungslos hob sie es hoch und hielt es ganz dicht an ihr Gesicht, um auch wirklich jede Einzelheit sehen zu können. Ihr Herz schlug ihr dabei bis zum Hals. Was hatte das nur zu bedeuten? Eve schluckte schwer. Sie hoffte inständig, dass sie sich irrte, auch wenn im Grunde kein Zweifel bestand. Es war ganz eindeutig … und es verwirrte und schockierte sie zutiefst. Auf dem Bild war ihre Mutter zu sehen. Hübsch, jung – wahrscheinlich gerade Anfang zwanzig – und offenbar ausgesprochen glücklich. An die Brust eines Mannes gelehnt, mit dem sie auf einer Couch saß, strahlte sie in die Kamera, als wäre sie die Sonne persönlich. Aber der besagte Mann war nicht Eves Vater. Es war Seth. Kapitel 27: Emily ----------------- Eve war nach ihrer Entdeckung schnurstracks in Richtung Hauptquartier aufgebrochen. Nichts hatte sie aufhalten können. Nicht einmal die zwei Jäger im Wohnzimmer, die sich angesichts des extrem spontanen Aufbruchs und der Trennung von Tiffany etwas mürrisch gezeigt hatten. Eve war das alles gleichgültig gewesen. Sie hatte nur jemanden aufsuchen wollen, der eine Antwort auf dieses unglaubliche Foto hatte. Eine Antwort, die sie auf die Schnelle nur im Keller des Hauptquartiers finden würde. Eine ganze Schar Jäger war im Kerker postiert worden, um die Sa’onti zu bewachen. Zunächst zeigten sie sich halsstarrig, als Eve, sehr um Freundlichkeit bemüht, sie um eine halbe Stunde allein mit den Vampiren bat. Schließlich, nachdem ihre mehr oder weniger aufgezwungene Nettigkeit nicht den gewünschten Erfolg brachte, drohte sie mit Gewalt, was die Wächter letztlich dazu brachte, sich murrend davonzumachen. Wahrscheinlich würden sie sich bei Liam beschweren, doch das kümmerte Eve momentan nicht. Sie brauchte nur ein wenig Zeit. „Hey, Blutsauger!“ Sie stellte sich demonstrativ vor die Zelle und holte das Foto aus ihrer Jackentasche hervor. „Du wirst mir das hier auf der Stelle erklären!“ Oscar hatte zuvor an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden gesessen und stumm ins Leere gestarrt, bei Eves Worten aber war er elegant wie eine Raubkatze aufgestanden und an die Gitterstäbe getreten. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das Bild. „Hm“, machte er, während er seinen Kopf zur Seite legte. „Ich bin zwar kein Experte der Moderne, aber ich würde sagen, dass es sich um eine Fotografie handelt.“ Eve knirschte mit den Zähnen. Sie war dermaßen geladen und aufgewühlt, dass sie nicht gerade für dumme Scherze zu haben war. Ganz im Gegenteil, im Moment spürte sie den schier unbändigen Wunsch, Oscar für seinen spöttischen Kommentar eine saftige Ohrfeige zu verpassen. „Spiel nicht mit mir, Freundchen, hast du verstanden?“, zischte sie aufgebracht. „Mein Geduldsfaden ist wirklich nicht sehr lang. Also sag mir am besten sofort, warum meine Mutter dort zusammen mit Seth auf einem Bild ist!“ Oscar runzelte die Stirn. „Woher soll ich das bitte schön wissen?“ Eve stand kurz vor einer Explosion. Die unerwartete Entdeckung hatte sie zunächst sehr erschreckt und für eine ganze Weile vor Schock gelähmt, dann aber hatte der Zorn überhand gewonnen, wie es bei ihr eigentlich typisch war, wenn sie kurz davor stand, die Nerven zu verlieren. Sie war sofort aufgebrochen, im festen Willen,  aus den Vampiren endlich eine Antwort herauszubekommen, selbst wenn dabei Anwendung von Gewalt nötig sein würde. Sie hatte endgültig keine Lust mehr auf dieses quälende Rätselraten! Auf der Fahrt zurück zum Hauptquartier hatte sie ohne Unterlass das Foto betrachtet und sich dabei mit jeder Minute schlechter gefühlt. Ihre Mutter sah auf dem Bild so unsagbar glücklich aus und auch Seth machte einen völlig entspannten und fröhlichen Eindruck. Kein irres Glitzern in den Augen, keine zerzauste Frisur – stattdessen wirkte er vollkommen normal. Ein hübscher, junger, sympathischer Kerl mit einem breiten Lächeln und einem Drei-Tage-Bart, der ihn leicht verwegen wirken ließ. Ein Mann, wie sich ihn viele Frauen wünschten. Was hatte das alles zu bedeuten? War Eves Mutter, Emily Hamilton, etwa diejenige, deren Verlust Seth sosehr betrauerte? War sie es, die ihn dazu brachte, verrückt zu spielen? Eve schüttelte den Kopf, als ihr erneut dieser Gedanke durch den Kopf raste. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Emily war vor knapp zwanzig Jahren gestorben, wieso also sollte Seth sich erst jetzt rühren? Und außerdem hatten die Sa’onti keinerlei Schuld an ihrem Ableben gehabt. Sie war einem qualvollen, aber natürlichen Tod zum Opfer gefallen. Eine Krankheit hatte sie getötet, nicht etwa ein Vampir. Warum also sollte Seth Alec und die anderen dafür verantwortlich machen? Es erschien einfach unsinnig … aber dennoch spürte Eve ein furchtbares Ziehen in der Magengegend. „Du brauchst wirklich nicht so ahnungslos zu tun“, zischte sie. „Alec hat so einige Anspielungen gemacht, was mich betrifft. Er schien genau zu wissen, was los ist. Also erzähl mir nicht, dass du keinen blassen Schimmer hast!“ Oscar funkelte sie herausfordernd an. „Wieso sollte ich wissen, was an dir besonders ist? Du riechst, atmest und bewegst dich wie eine ganz gewöhnliche, durchschnittliche Frau.“ Er hielt kurz inne und verbesserte sich selbst: „Unterer Durchschnitt.“ Eve schnappte hörbar nach Luft und hatte alle Mühe, nicht in die Zelle zu greifen und Oscar am Kragen zu packen. Alleine das letzte bisschen Überlebensinstinkt hielt sie davon ab. Stattdessen beließ sie es zunächst bei laustarkem Zähneknirschen. „Er meinte, Necroma hätte von mir gesprochen. Die Seherin, falls du nicht weißt, von wem ich rede!“ Oscar schnaubte daraufhin. „Necroma? Da bist du bei mir an der falschen Adresse, ich höre niemals zu, wenn diese Hexe irgendwas brabbelt.“ Eve schaute verdutzt drein. „Was?“ „Alec hört ihr immer mit Verzückung zu und scheint es als eine Art Spiel zu sehen, aus ihren Worten schlau zu werden“, berichtete Oscar. „Elias hat sogar ein kleines Buch, wo er alles aufschreibt, was Necroma von sich gibt. Er meint, dass es irgendwann, selbst Jahrhunderte später, mal nützlich ist.“ Oscar zuckte mit den Schultern. „Aber ich habe mich noch niemals für die Zukunft und das Schicksal interessiert.“ Eve ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie hatte demnach von all den Vampiren, die ihr etwas über Necromas Worte hätten sagen können, ausgerechnet denjenigen erwischt, der noch niemals zugehört hatte. Im Grunde nicht weiter überraschend, wenn sie ehrlich war. Doch anstatt sich mit Selbstmitleid zu suhlen, setzte sie eine harte Miene auf und holte aus ihrer Jackentasche die Phiole hervor. Oscar beobachtete jede ihrer Bewegungen und seine Augen weiteten sich zusehends, als er den Gegenstand in ihrer Hand erblickte. „Woher hast du das?“, fragte er erstaunt nach. Offenbar konnte er genau fühlen oder riechen, um was es sich handelte. Eve verzog ihre Lippen. „Asrim war in meinem Schlafzimmer. Und das ist hoffentlich das erste und einzige Mal, dass ich diese Worte je wieder in meinen Mund nehme.“ Sie erschauerte, als sie ihn wieder deutlich vor sich sah und erneut fühlte, welch unglaublichen Einfluss er auf sie gehabt hatte. Sie war mehr als überzeugt, dass sie die nächsten Nächte intensiv von ihm träumen würde, und schämte sich dafür, dass sich ein Teil von ihr tatsächlich danach sehnte. Oscar nahm währenddessen die Phiole entgegen, ohne irgendwelche weiteren Fragen zu stellen. Er setzte sich auf der Kante der Pritsche und öffnete den Verschluss des Fläschchens. Wie schon vor gar nicht allzu langer Zeit flößte er Alec vorsichtig die rote Flüssigkeit ein. Zunächst war, wie auch beim letzten Mal, keinerlei Reaktion erkennbar. Alec bewegte sich kein bisschen, er lag einfach nur da. Nicht mal ein Finger zuckte. Aber schon einen Augenblick später zeigte sich die Wirkung von Asrims Blut. Und diese fiel um einiges heftiger aus als noch zuvor. Völlig unvermittelt riss er die Augen auf und verkrampfte seinen Körper dermaßen, dass die Pritsche wackelte. Eve stieß einen überraschten Schrei aus und wich ein paar Schritte zurück. Mit solch einer intensiven Reaktion hatte sie nicht wirklich gerechnet. Oscar hingegen schon, wie Eve im nächsten Moment registrierte. Er wirkte weder verblüfft noch sonderlich erstaunt, als er Alec eine Hand auf die Schulter legte und ihm leise etwas in einer fremden Sprache zuflüsterte. Alec schien seine Anwesenheit zunächst gar nicht zu bemerken. Seine Augen waren glasig und unfokussiert auf die Decke gerichtet, während er sich qualvoll ächzend auf seinem Lager wand, sich wahrscheinlich zum ersten Mal richtig seiner Verletzung und den damit verbundenen Schmerzen gewahr. Oscar redete derweil weiter auf ihn ein, seine Stimme ungewohnt besänftigend, als würde er ein Kind beruhigen, das gerade aus einem schrecklichen Albtraum hochgeschreckt war. Einige Male strich er über Alecs Haar und war bemüht, dessen Blick auf ihn selbst zu richten. Alec wehrte sich die ersten Minuten, offenbar von allem total überwältigt. Es musste alles wie eine Wand auf ihn einstürzen und ihn zerdrücken. Dann jedoch schien er sich allmählich auf den Klang von Oscars Stimme zu konzentrieren. Er musterte seinen Bruder, während man förmlich beobachten konnte, wie ihn die Erinnerung nach und nach einholte. „Oscar ...“ Seine Stimme war fast noch weniger als ein Flüstern, sodass Eve sehr große Probleme hatte, ihn zu verstehen. Einen irren Augenblick lang war sie ehrlich versucht, die Zelle aufzuschließen und näher an die Vampire heranzutreten. „Guten Morgen, Dornröschen“, antwortete Oscar. Er war vermutlich erpicht, emotionslos herüberzukommen, aber selbst Eve konnte deutlich heraushören, wie erleichtert er war. Immer noch streichelte er Alecs Haar, als hätte er Angst, dass der andere ihm wieder entgleiten könnte, wenn er jemals damit aufhörte. „Bist ... bist du in Ordnung?“, fragte Alec. Oscar lachte bitter. „Wirklich? Du fragst mich, ob es mir gut geht?“ Er schüttelte den Kopf. „Du kannst echt von Glück sagen, dass du noch lebst.“ Alec wirkte einen Moment ehrlich verwirrt, als hätte er überhaupt keine Ahnung, wovon Oscar eigentlich sprach. Erst einen Augenblick später wanderte er mit seiner Hand vorsichtig über seinen bandagierten Brustkorb. Der Verband, zuvor noch schneeweiß, hatte sich inzwischen an einigen Stellen wieder rot verfärbt. „Oh, verdammt“, murmelte Alec, sich wohl nun zum ersten Mal der Bandbreite seiner Verletzung bewusst. „Du hast mich aufgeschlitzt!“ Eve hätte schwören können, dass er tatsächlich amüsiert klang. Oscar hatte währenddessen seine Mundwinkel nach unten gezogen. „Wenn du es unbedingt so ausdrücken musst – ja!“ Alec lächelte schwach. „Oh Mann ... Asrim wird dich dafür ... umbringen.“ Er schien noch fortfahren zu wollen, aber ihm fielen im nächsten Moment bereits schon wieder die Lider zu. „Nein, nein, nein!“, rief Eve daraufhin sofort. Mit aller Kraft trat sie gegen die Gitterstäbe, was diese erzittern und den Vampir wieder aufschrecken ließ. „Du darfst auf keinen Fall einschlafen, hörst du? Nicht, bevor du mir einige Fragen beantwortet hast.“ Alecs Blick huschte unruhig durch die Zelle, während Oscar aufgesprungen war und an die Gitter trat. „Ist ein bisschen Ruhe wirklich zu viel verlangt, kleines Mädchen?“, zischte er. „Er ist gerade von den Toten wieder aufgewacht.“ Eve schnaubte. „Ich brauche Antworten!“, ließ sie sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Sie spürte zwar deutlich, wie sich in ihrer Kehle ein unangenehmer Knoten bildete, beinahe, als würde Oscar mit unsichtbaren Händen ihren Hals zudrücken, doch sie wollte gewiss nicht kleinbeigeben. „Hatten wir nicht einen Waffenstillstand vereinbart, bevor Seth hier ankam? Sollten dann nicht beide Parteien auf demselben Informationsstand sein? Ihr haltet absichtlich etwas zurück und langsam kann ich es nicht mehr ertragen!“ „Waffenstillstand?“ Oscar hob eine Augenbraue. „Wenn wir tatsächlich so etwas wie gleichberechtigte Partner wären, was machen wir dann hier in diesem stinkenden Verlies?“ Eve versuchte, sich von seinem intensiven Blick nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Oh bitte! Als ob euch ein bisschen Stahl und Metall aufhalten würden.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist kein Gefängnis, sondern unsere Art von Gastfreundschaft.“ Oscar verengte seinen Augen zu Schlitzen, ehe seine Aufmerksamkeit auf das Foto in ihrer Hand glitt. Sie sah an seiner Miene, dass er durchaus auch neugierig war, was es mit dem Ganzen auf sich hatte, auch wenn er wahrscheinlich viel zu stolz war, dies zuzugeben. „Asrim hat mich auf dieses Bild aufmerksam gemacht“, erklärte sie noch einmal mit Nachdruck. „Und das bestimmt nicht zum Spaß.“ Oscar knurrte daraufhin aus tiefster Kehle, aber bereits in der nächsten Sekunde entriss er Eve das Foto und hielt es Alec entgegen. Dieser kniff derweil die Augen zusammen und schien mühsam das Motiv des Bildes ausmachen zu wollen. „Ich kann nicht …“ „Das ist Seth!“, half Eve ihm auf die Sprünge. „Mit meiner Mutter!“ Bei diesen Worten schluckte sie schwer. Immer noch war das Ganze unfassbar und irreal für sie. „Das Foto ist von 1975. Mehr als zehn Jahre vor meiner Geburt. Und er … er hält sie im Arm … und …. und …“ Ihr versagte die Stimme. Sie konnte bloß in das glückliche Gesicht ihrer Mutter schauen und spürte, wie sich die Tränen ihren Weg nach außen bahnten. „Sie hat ihn geliebt, oder?“ Eve schnürte sich bei dieser Erkenntnis die Kehle zu. Was hatte das alles zu bedeuten? Wie war es verknüpft? „Und er sie auch …“ Es war unverkennbar. Die beiden strahlten förmlich um die Wette und machten den Anschein, als könnte nichts ihre Stimmung trüben. Eve biss sich auf die Unterlippe, als der Verdacht wieder in ihr hochkam, der sie kurz nach dem Finden des Fotos beschlichen hatte. Die Vorstellung an sich war schrecklich und kaum auszuhalten, aber sie musste es einfach wissen. „Ist er …? Ich meine, ist er etwa …?“ „Dein Vater?“ Alec versuchte, sich hochzustemmen, ließ es dann aber bleiben, als die Schmerzen ihn aufstöhnen ließen. „Was denkst du?“  Eve wollte sich das Ganze lieber gar nicht so genau vorstellen. Seit dem Auffinden der Fotografie hatte sie die ganze Zeit kurz davor gestanden, ihren Vater anzurufen, der sich gerade auf einer Geschäftsreise in Manchester befand, aber hatte sich bisher nicht dazu durchringen können. Viel zu groß war die Angst vor der Antwort gewesen. „Oh, bei allen Göttern, sind wir hier in einer Soap Opera?“, ging Oscar derweil dazwischen. „Seth ist nicht dein Vater!“ Eve war im ersten Moment nur verwirrt, dass Oscar tatsächlich wusste, was eine Seifenopfer war, ehe seine Worte in ihr Gehirn durchsickerten. „Und woher willst du das wissen?“ „Wir können so etwas riechen, kleine Jägerin“, erklärte Oscar, während er mit der Zunge schnalzte. „Wir sind zwar nicht in der Lage, jeden Verwandtschaftsgrad zu erschnuppern, aber Vater und Tochter ...? So etwas ist normalerweise derart stark, dass man es sofort mitbekommt. Und bei dir und Seth war in dieser Richtung absolut gar nichts!“ Eve kam nicht umhin, erleichtert aufzuatmen. Diese schreckliche Möglichkeit hatte sie die letzte halbe Stunde förmlich zerfressen und sie war mehr als nur froh, sie endlich abhaken und vergessen zu können.  „Seth sieht … in dir wahrscheinlich die Tochter, die er sich immer mit deiner Mutter gewünscht hat“, erklärte Alec, seine Stimme nur ein Windhauch. „Ein Abbild der Frau, die er geliebt hat.“ Seine Augenlieder flattern wieder, als würde er erneut kurz davor stehen, in die Bewusstlosigkeit zurückzugleiten. „Darum ... ist er so besessen von dir.“ Eve gefiel dieser Gedanke zwar auch nicht, aber es war trotzdem noch tausendmal besser als die Alternative.  „Und … meine Mutter?“, hakte die Jägerin stockend nach. „Ist sie der Grund, wieso Seth so ausrastet? Warum er hinter euch her ist?“ Alec starrte sie eine Weile regungslos an, sodass Eve schon befürchtete, er hätte jeglichen Sinn für die Realität verloren. Dann aber nickte er knapp. „Aber … warum?“ Eve begann, vor der Zelle unruhig auf und ab zu wandern. „Das macht doch alles überhaupt keinen Sinn! Meine Mutter war schwer krank. Wie kommt Seth darauf, euch die Schuld für ihren Tod geben? Ihr habt doch nichts damit zu tun gehabt.“ Eve wartete einen Moment auf Zustimmung, doch diese kam nicht. Als sie sich umdrehte und Alecs Miene betrachtete, erkannte sie, dass sie von ihm auch keine Bestätigung erhalten würde. „Oder … doch?“ Ein Schaudern durchlief Eves Körper. „Oh Gott, was habt ihr getan?“ „Nichts“, flüsterte Alec. „Und genau das wirft uns Seth vor.“ Eve unterdrückte mühevoll den Drang, ihre Waffe zu ziehen. Obwohl es nun schon so lange her war, kam es ihr vor wie gestern, als sie den Todeskampf Emilys mitverfolgt hatte. Das alles hatte sie damals dermaßen erschüttert, dass sie auch noch zwanzig Jahre später an furchtbaren Albträumen litt. Immer wieder sah sie die Bilder ihrer Mutter vor sich, wenn es ihr selbst gerade nicht besonders gut ging. Und die Vampire sollte tatsächlich etwas damit zu tun haben, dass Emily solch einen grausamen Tod hatte sterben müssen? Eve konnte sich kaum vorstellen, wie sie in das Ganze involviert gewesen sein sollten, aber Alecs Blick sprach Bände. „Was ist damals genau geschehen?“ Eves Stimme war ein gefährliches Zischeln. Alec gab ihr mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, wieder näher an die Gitterstäbe zu treten. Einen Augenblick zögerte die Jägerin, sich nicht sicher, ob sie ihre aufschäumenden Gefühle würde unter Kontrolle halten können. Schließlich aber tat sie wie geheißen. „Erzähl mir … wie sie gestorben ist“, forderte er sie auf. Ihm war anzusehen, wie viel Anstrengung es ihm bereitete, sich zu konzentrieren. Wahrscheinlich sehnte er sich sehr nach einer ordentlichen Portion Schlaf und wollte das Ganze nur schnell hinter sich bringen. Eve jedoch hatte keine Lust, sich besonders zuvorkommend zu verhalten. Stattdessen schnaubte sie und meinte feindselig: „Warum sollte ich es dir erzählen? Du weißt doch eh schon alles.“ „Nicht die Einzelheiten“, erwiderte er. „Erzähl es mir. Dann wirst du verstehen … dann wird Oscar verstehen.“ Eve schaute hinüber zu dem besagten Vampir, der jedoch bloß die Stirn runzelte und ahnungslos mit den Schultern zuckte. „Na fein“, ergab sich Eve schließlich ihrem Schicksal. Sie holte tief Luft und öffnete ihren Mund, merkte daraufhin aber überrascht, dass kein Ton über ihre Lippen kam. Ihr wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen, um mit der Erzählung dieser schrecklichen Tragödie zu beginnen. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie diese Geschichte im Grunde noch mit niemanden geteilt hatte. Zu sehr hatte es geschmerzt, sodass sie den Fragen immer nur mit knappen Antworten oder Ausflüchten begegnet war. Selbst Richard und Liam hatte sie nie wirklich alles erzählt, sie wussten nur vage, was damals geschehen war. Und jetzt sollte sie diese Geschichte, über die sie nie mit jemanden geredet hatte, ausgerechnet zwei Vampiren erzählen? Ihren Todfeinden? Eve seufzte schwer. Wenn sie endlich ein paar Antworten haben wollte, würde sie sich wohl darauf einlassen müssen. „Es war 1993“, begann sie schließlich, während sie die Unruhe, die ihren Körper ergriffen hatte, einfach nicht beachtete. „Ich war damals sieben Jahre alt. Meine Welt war noch in Ordnung. Und meine Mutter …“, sie stockte kurz, „… ihr ging es gut. Noch war alles in Ordnung.“ Emily hatte als Verwaltungsbeamtin für die Jäger gearbeitet, so wie es schon seit Generationen in ihrer Familie üblich gewesen war, sich jedoch niemals ins Übernatürliche eingemischt. Sie war zu zartbesaitet gewesen, hatte nicht das kleinste bisschen Killerinstinkt besessen. Stattdessen waren ihre großen Leidenschaften Gartenarbeit und Bücher gewesen. Gerade letzteres hatte sie schon von früh auf mit ihrer Tochter geteilt. Stets hatte sie mit ihr zusammen die neusten Kinderbücher studiert. Eve erinnerte sich gerne an diese Zeit. Ihre Mutter hatte damals viel gelacht und war noch völlig unbeschwert gewesen. Aber dann hatte sich alles geändert. „Plötzlich wurde sie krank“, fuhr Eve fort. Ihre Zunge fühlte sich an wie Blei. „Anfangs litt sie bloß unter Schlafstörungen und Erschöpfung. Eine Zeit lang bekam sie es mit Medikamenten in den Griff, sodass ich von ihrem angeschlagenen Gesundheitszustand nichts merkte. Später aber … wurde es schlimmer.“ Schwere Migräne und sogar Ohnmachtsanfälle waren die Folge gewesen. Innerhalb weniger Wochen hatte Emily stark abgebaut gehabt. Es hatte Tage gegeben, an denen sie nicht mal hatte aufstehen können, da es sie zu viel Kraft gekostet hätte. Furchtbar blass war sie geworden, ihre leichte Sommerbräune, auf die sie immer so stolz gewesen war, war völlig verschwunden. Ebenso hatte man förmlich dabei zusehen können, wie sie immer mehr an Gewicht verloren hatte. Und die Ärzte hatten vor einem völligen Rätsel gestanden. „Und dann … und dann …“ Eve spürte, wie sich einige Tränen ihren Weg bahnten. Unterschwellig schämte sie sich dafür, vor Vampiren Schwäche zu zeigen, aber sie konnte nichts dagegen machen. Immer wenn sie an diese schreckliche Zeit dachte, übermannten sie ihre Gefühle. Halb rechnete sie damit, dass Oscar sie rügen und als verweichlichtes Mädchen titulieren würde, doch zu ihrer Überraschung kam von ihm keinerlei Kommentar. Stattdessen stand er nur an den Gitterstäben gelehnt und starrte sie an. Sein Blick war schwer zu entschlüsseln, aber Verachtung oder Ärger konnte Eve in ihm nicht erkennen. „Was geschah dann?“, erkundigte sich der Vampir, nachdem die Jägerin eine Weile stumm geblieben war und sich die Tränen von den Wangen gewischt hatte. Eve schaute bei Oscars Frage auf. „Dann wurde meine Mutter verrückt.“ Sie zuckte bei ihren eigenen Worten zusammen. Schon oft hatte sie diesen Satz in ihren Gedanken formuliert, aber noch nie wirklich laut ausgesprochen. Es erschreckte sie, wie entsetzlich er klang. „Sie … sie wurde plötzlich paranoid“, berichtete Eve zögernd. „Erst glaubte sie, in unserem Haus Flüstern zu hören.“ Verfolgt hatte sie sich gefühlt. Immer war ihr Blick panisch hin- und hergehuscht. Auch hatte sie das ein oder andere Mal wie vom Teufel besessen Schränke und ganze Zimmer auf den Kopf gestellt, um die ominösen Stimmen aufzusuchen. Stets hatte sie vor sich hingemurmelt und ab und an sogar auch geschrien wie am Spieß, während sie gleichzeitig die Hände auf ihre Ohren gepresst und die Stimmen weinend angefleht hatte, endlich zu verschwinden. Eve erinnerte sich noch gut, wie sehr sie das Verhalten ihrer Mutter geängstigt hatte. „Irgendwann haben wir sie schließlich in eine psychiatrische Klinik überwiesen.“ Ihr Vater hatte damals keine andere Lösung gesehen. Emily war unberechenbar geworden und eine Gefahr für sich und andere. Zunächst hatte sie sich vehement geweigert, in eine spezielle Klinik zu gehen, aber als sie vor lauter Wut eine Vase an die Wand geschmettert und anschließend in das Gesicht ihrer zu Tode erschrockenen Tochter geschaut hatte, war jeglicher Widerstand ihrerseits in sich zusammengebrochen. In diesem Moment war ihr wohl zum ersten Mal bewusst geworden, wie viel Angst sie ihrer Familie bereitet hatte. „Aber auch die Ärzte in der Klinik waren mit ihrem Latein am Ende. Kein Medikament konnte ihr helfen.“ Im Grunde war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als dem Verfall Emilys tatenlos zuzusehen. Eve selbst hatte ihre Mutter nur noch vereinzelt und sehr kurz zu Gesicht bekommen, da ihr Vater sie von diesem Anblick hatte beschützen wollen. Von Mal zu Mal war sie dünner und blasser geworden, nur noch ein Schatten der Frau, die so gerne mit ihrer Tochter Bücher gelesen und gelacht hatte. Irgendwann hatte man sie sogar an ihr Bett fesseln müssen, weil akute Gefahr zur Selbstverletzung bestanden hatte. Weinend und mit schmerzverzerrter Miene hatte sie dort gelegen, während sie immer wieder die Stimmen in ihrem Kopf angefleht hatte, endlich still zu sein. Und schließlich hatte sie dem Ganzen ein Ende bereitet. „Niemand weiß bis heute, wie sie es geschafft hat, sich von ihren Fesseln zu befreien und das verrammelte Fenster zu öffnen.“ Ein dicker Kloß bildete sich in Eves Hals, als sie an die letzten Minuten ihrer Mutter dachte. „Sie ist gesprungen. Aus dem fünften Stockwerk.“ Es war die letzte und schwerwiegendste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Eve wollte sich gar nicht vorstellen, wie viel Schmerz ein Mensch durchleiden musste, um den Freitod zu wählen. Welche Qualen man erdulden musste. Zunächst hatte man Eve verschwiegen, wie genau ihre Mutter gestorben war. Um ihr die schreckliche Wahrheit zu ersparen, hatte ihr Vater ihr erzählt, dass Emily sanft eingeschlafen wäre. Einem kleinen, siebenjährigen und eh schon zutiefst verstörten Mädchen hatte er nicht noch mehr wehtun wollen. Aber irgendwann war das Geheimnis dann doch aufgeflogen. Eine Klassenkameradin Eves, eine äußerst selbstsüchtige und verzogene Person, hatte sich ihr gegenüber mehr oder weniger unabsichtlich verplappert. Eve hatte daraufhin weiter nachgebohrt und somit die bittere Wahrheit erfahren. Damals war es ihr sehr wichtig gewesen, die genauen Todesumstände ihrer Mutter herauszufinden. Sie war auch anfangs extrem zornig auf ihren Vater gewesen, da dieser sie angelogen hatte. Inzwischen aber wünschte sie sich, wieder so ahnungslos zu sein wie als kleines Kind. Die Krankheit Emilys hatte sie zwar schwer mitgenommen, aber zu wissen, dass sie in Frieden gestorben war, hatte sie auf eine gewisse Art und Weise beruhigt. Diese Illusion hatte das Ganze wenigstens einigermaßen erträglich gemacht. Als sie dann aber die Geschichte mit dem Selbstmord erfahren hatte, waren ihre eh schon furchtbaren Albträume nur noch schlimmer geworden. „Und warum sollte ich das jetzt erzählen?“, fragte Eve. Eigentlich wollte sie vorwurfsvoll klingen, doch dafür war ihre Stimme viel zu tränenerstickt. „Ich verstehe gar nichts. Wieso glaubt Seth, ihr hättet irgendwas mit dem Tod meiner Mutter zu schaffen? Ihr habt sie immerhin nicht krank gemacht … oder doch?“ Alec wollte kurz auflachen, brachte aber nur ein Husten zustande. Es war schließlich Oscar, der antwortete: „Nein, haben wir nicht.“ Eve warf dem Vampir einen scharfen Blick zu. „Was mischst du dich denn da ein? Ich dachte, du wüsstest nicht, was damals geschehen ist.“ „Ich wusste es bis eben auch noch nicht“, stimmte er zu. „Nun aber verstehe ich.“ Eve starrte Oscar noch einen Augenblick an, dann schüttelte sie ihren Kopf und stöhnte auf. Sie begriff gar nichts mehr. Sie fühlte sich völlig überfordert und wusste nicht mehr, was sie tun oder denken sollte. Die alten Erinnerungen an den schrecklichen Tod ihrer Mutter hatten sie fast vollkommen ausgelaugt. Am liebsten hätte sie sich einfach in irgendeine dunkle Ecke zurückgezogen, ungestört und allein, und hätte sich ihrer Trauer hingegeben, die selbst nach beinahe zwanzig Jahren nicht verblasst war. „Es tut mir leid“, vernahm sie plötzlich Oscars Stimme. Eve schaute auf und musterte den Vampir eine Weile skeptisch, nicht sicher, ob sie seine Aussage richtig verstanden hatte. „Oh mein Gott, hast du das gerade wirklich gesagt?“ Nun schien wohl wirklich alles Kopf zu stehen. Zumindest hätte Eve nie im Leben vermutet, dass Oscar solche Worte je über seine Lippen bringen würde. „Ich weiß, wie das ist.“ Seine Miene war ernst und emotionslos, aber in seinen Augen sah sie Verständnis und sogar so etwas Ähnliches wie Mitgefühl. „Es ist die Hölle auf Erden.“ Eve lächelte gequält. Der große und unnahbare Oscar hatte wirklich Mitleid mit ihr? Dann würde wohl im nächsten Augenblick die Welt untergehen … „Du weißt, wie es ist, seine Mutter zu verlieren?“, fragte sie nach. „Wie es ist, sie leiden zu sehen? Zu sehen, wie sie nach und nach wahnsinnig wird? Wie es ist …?“ Ihre Stimme wurde brüchig, als sie erneut die Tränen vehement zu bekämpfen versuchte. Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde es immer schwieriger. „Nein.“ Oscar bedachte sie mit einem intensiven Blick, der Eve unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte. „Ich weiß, wie es ist, allmählich den Verstand zu verlieren. Anfangs hörst du nur dieses Flüstern und dann wird es immer schlimmer. Wie ein Chor auf voller Lautstärke, der dich ohne Unterlass quält. Der dich in den völligen Wahnsinn treibt.“ „Der … dich nicht mehr klar denken lässt“, meinte auch Alec. Seine Stimme war noch leise, aber immerhin musste man sich jetzt nicht mehr ganz nah zu ihm beugen, um ihn zu verstehen  „Der dich foltert. Und du kannst nichts dagegen tun.“ „Dein Körper zerfällt und du sehnst dich nur noch nach Erlösung.“ Eve wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Wortlos starrte sie die Vampire an. Mehrere Minuten lang. „Ihr … ihr wart auch krank?“ Sie konnte nichts anderes als flüstern. Ein furchtbarer Verdacht hatte sich ihrer bemächtigt und sie betete zu Gott, dass sie sich irrte. Dass sie die Worte der Vampire nur völlig falsch interpretierte. „Jeder Sa’onti durchlebt das“, sagte Oscar. „Die einen intensiver, die anderen merken es kaum. Aber wir alle haben es erlebt.“ Eve spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie wich einige Schritte zurück, in der irrealen Hoffnung, auf diese Weise auch der schrecklichen Wahrheit irgendwie entgehen zu können. Eve wollte etwas entgegnen, wollte protestieren und schreien, konnte es aber nicht. Ihr Mund war trocken, ihr Kopf völlig leer. Sie spürte nur, wie die Tränen, die sie so mühevoll zurückgehalten hatte, heiß über ihre Wangen rannen. Sie hatte sie einfach nicht mehr aufhalten können. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie sie auch gar nicht mehr aufhalten wollen. „Was … was heißt das?“ Nach einer schier endlosen Ewigkeit fand sie ihre Sprache wieder. Ihr Blick schweifte hinüber zu Oscar, der bewegungslos wie eine Statue erschien. „Das weißt du doch ganz genau, nicht wahr?“ Die Augen des Vampirs funkelten kurz auf. „Du weißt genau, was es zu bedeuten hat.“ Eve schüttelte daraufhin heftig ihren Kopf, fast wie ein kleines Kind, das eine Tatsache nicht wahrhaben wollte. „Nein, nein, nein!“, meinte sie entschieden. „Meine Mutter war keine … Das ist völlig schwachsinnig. Das ist … das ist …“ „Sieh es ein!“ Oscars Stimme klang zur selben Zeit barsch und verständnisvoll. Es war eine derart seltsame Kombination, dass Eve überhaupt nicht wusste, wie sie damit hätte umgehen sollen. „Deine Mutter war eine Sa’onti. So wie wir.“ Eve wagte es nicht, dem Vampir in die Augen zu sehen, viel zu sehr fürchtete sie sich davor, was sie in seinem Blick vielleicht würde sehen werden. Somit wandte sie sich Alec zu, der damit beschäftigt war, sich irgendwie aufzurappeln und sich an die Wand zu lehnen. Sein Blick war schmerzverzerrt und es schien ihm unsägliche Mühe zu kosten, aber dennoch war er sehr gewillt, es zu vollenden. „Das ist eine Lüge!“, fauchte Eve derweil. Eigentlich waren diese Worte an Oscar gerichtet, doch sie warf sie Alec entgegen. Jener schaute sie wenigstens nicht mit diesem bohrenden Blick an. „Eine dicke, fette Lüge! Meine Mutter kann keine … Das wäre alles viel zu verrückt.“ „Hältst du es für so unwahrscheinlich?“, fragte Alec. Offenbar hatte er eine einigermaßen bequeme Sitzposition gefunden, sodass er zu ihr hinaufblicken konnte. Seine Augen waren jedoch im Gegensatz zu Oscars leicht glasig und bei weitem nicht so furchteinflößend. „Was denkst du denn, wie viele Sa’onti auf der Welt existieren?“ Eve wischte sich über die tränennassen Wangen, während sie bloß ahnungslos mit den Schultern zuckte. „Woher soll ich das wissen?“ Es gab, abgesehen von den Sieben, höchstens zwei Dutzend bestätigte Sa’onti, aber sehr viele vermuteten, dass die Dunkelziffer deutlich höher lag. Die meisten schlossen nicht aus, dass sich die Anzahl im Hunderterbereich bewegte, manche – wenn auch recht wenige – sprachen gar von Tausenden. „Es gibt mehr, als du glaubst, kleines Mädchen“, erklärte Oscar. „Aber nur die wenigsten werden wirklich zu Vampiren. Die meisten von ihnen werden nie gefunden und sterben, ohne in den Genuss eines untoten Lebens zu kommen.“ Das Bild ihrer Mutter, wie sie apathisch und völlig ausgezehrt an ihr Krankenbett gefesselt war, flackerte vor Eves innerem Auge auf. Erneut liefen ihr Tränen die Wangen hinab, als sie langsam begriff, wie das alles zusammenhing. Wie der Tod ihrer Mutter vor dieser langen Zeit sie nun alle wieder einholte. Einen Augenblick versuchte sie sich einzureden, dass die Jäger es eigentlich gemerkt haben müssten, dass sie die Symptome sofort entschlüsselt hätten, wäre Emily wirklich eine Sa’onti gewesen. Sie hatte immerhin lange genug für die Organisation gearbeitet und war auch von deren Medizinern und Heilern untersucht worden, als sich ihr Gesundheitszustand immer weiter verschlechtert hatte. Und niemand war auf den Gedanken gekommen, in Emilys Zustand etwas Übernatürliches zu sehen. Oder ... vielleicht doch? „Die Jäger ...?“, murmelte sie unruhig. „Wussten sie ... wussten sie Bescheid?“ Ihr missfiel der Gedanke sehr, ihre eigenen Leute zu beschuldigen, aber andererseits schien es ihr eigentlich unmöglich, dass sie nicht zumindest einen Verdacht gehabt hätten. Es passte alles zusammen und Eve konnte kaum verstehen, warum es ihr selbst nicht auch schon früher aufgefallen war. Zugegeben, man wusste relativ wenig über Sa’onti im allgemeinen, aber dennoch war da eine Ähnlichkeit, die sich nicht leugnen ließ, wenn man intensiver darüber nachdachte. „Vielleicht“, entgegnete Alec. Er schien aus Reflex mit den Schultern zucken zu wollen, verzog aber bereits im nächsten Augenblick schmerzverzerrt sein Gesicht. „Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es ihnen völlig entgangen ist. Zumindest, wenn sie die Gelegenheit gehabt hatten, sie näher zu untersuchen.“ Eve wurde mit einem Mal ganz schlecht. Der Drang, sofort zu Liam zu stürmen und ihn mit diesen Anschuldigungen zu konfrontieren, war beinahe übermächtig. „Allerdings seid ihr sehr dumm und unwissend“, mischte sich Oscar ein. „Es ist demnach sehr gut möglich, dass ihr allesamt nicht in der Lage wart, die richtigen Schlüsse daraus zu schließen. Sa’onti sind so oder so relativ selten. Ich bin bisher auch nur gut zwanzig begegnet, meine Familie eingeschlossen.“ Er legte seinen Kopf schief. „Ich wäre ehrlich gesagt erstaunt, wenn deine Leute damals auf der richtigen Spur gewesen waren.“ Hätte Eve es nicht besser gewusst, hätte sie tatsächlich glauben können, dass Oscar sie ermahnen wollte, ihre Kollegen nicht vorschnell zu verurteilen. Eve seufzte, während sie ihr Gesicht in ihren Händen vergrub. Sie konnte das alles gar nicht fassen. Bis vor zehn Minuten war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ihre Mutter an einer Geisteskrankheit gestorben war. Grausam und furchtbar, aber auch … normal. In ihr und ihren Todesumständen nun etwas völlig anderes zu sehen, beunruhigte Eve zutiefst. Plötzlich begriff sie, was Seth im Hauptquartier ihr hatte sagen wollen. „Würdest du es wissen, würdest du mich anfeuern, anstatt mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen“, das waren seine Worte gewesen. Voller Trauer war er gewesen. Voller Trauer für einen Verlust, den Eve sehr gut nachempfinden konnte. Und auch Zorn hatte sie in seinen Augen erkennen können. Ein Zorn, den nun Eve ebenfalls verspürte. Mühsam um Selbstbeherrschung bemüht sprang sie auf. „Und ihr wusstet es! Schon Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte vorher! Und ihr habt mir kein Sterbenswörtchen gesagt.“ Sie ging vor der Zelle auf und ab, ihre durcheinanderwirbelnden Gefühle mühevoll unter Kontrolle bringend. Den unbändigen Drang, irgendetwas zu zerstören, konnte sie nur mit Anstrengung unterdrücken. Immer wieder sah sie Alecs schadenfrohes Grinsen vor sich, wenn Eve ihn darum gebeten hatte, endlich die Wahrheit über ihre Verbindung zu Seth zu offenbaren. Es hatte ihm Spaß gemacht, sie zappeln zu lassen. Und offenbar hatte er sich nicht einmal genötigt gesehen, sie über alles aufzuklären. „Ihr wusstet es! Die ganze Zeit!“ Eve hätte einen der Vampire am liebsten am Kragen gepackt und ordentlich durchgeschüttelt. „Und trotzdem habt ihr nichts unternommen!“ Alec musterte sie einen Augenblick. „Wie kommst du darauf, dass wir nichts unternommen haben?“ Eve hielt inne und warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Was willst du damit sagen?“ Alec lehnte seinen Kopf gegen die Wand und seufzte schwer. „Wir wussten es schon lange, das gebe ich zu.“ Er schwieg einen Moment und legte die Hand auf seine Brust. Offenbar schien ihn die Wunde sehr zu quälen, auch wenn man es ihm nicht allzu deutlich ansehen konnte. „Necroma hat mir zum ersten Mal von dir und deiner Mutter erzählt, als die ersten Menschen in Scharen in die Neue Welt aufgebrochen sind. Und sie wusste ebenso, dass deine Mutter unweigerlich sterben würde.“ Ein Hustenanfall unterbrach seine Erzählung. Er spuckte etwas Blut, während er gleichzeitig um Luft rang. Eve spürte bei diesem Anblick Mitleid, aber auf der anderen Seite kam ihre Ungeduld auch wieder deutlich zum Vorschein. Sie wollte unbedingt wissen, was er zu sagen hatte, und diese Verzögerung machte es für sie nur noch schwerer, nicht die Nerven zu verlieren. „Sie … sie waren … bei ihr“, fuhr Alec schließlich nach mehreren Minuten fort. „Damals. Im Krankenzimmer.“ Eves Magen verkrampfte sich bei seinen Worten. „Wer?“, wollte sie wissen. „Asrim … und Sharif“, meinte er. Er machte einen kraftlosen und müden Eindruck und wollte offensichtlich nichts lieber als schlafen. Besonders lange würde er wohl nicht mehr durchhalten. „Sie … sie waren … bei deiner Mutter.“ Eve presste ihre Lippen zusammen. Im Moment wusste sie nicht, was sie denken sollte. Schockierte es sie, dass tatsächlich Vampire ihre Mutter aufgesucht hatten? Oder machte es sie eher zornig, dass Emily einer Rettung so nahe gewesen und nun doch tot war? „Und warum haben sie nichts getan?“ Eves Stimme war brüchig, aber dennoch deutlich erhoben. „Wieso haben sie meine Mutter einfach sterben lassen? Sie hatten jede erdenkliche Macht, sie zu retten. Sie könnte noch am leben sein.“ Es wäre zwar ein untotes Leben gewesen, aber das scherte Eve im Augenblick wenig. Für ihre Mutter hätte sie alles in Kauf genommen. Selbst, wenn sie letztlich zu einem Vampir geworden wäre. Dann hätte sie wenigstens nicht so ein grausames Ende gefunden. „Sie … hat sich geweigert“, erklärte Alec, während ihm bereits wieder die Augenlider zufielen. „Sie … wollte lieber sterben.“ „Geweigert?“ Heiße Tränen rannen Eves Wangen hinab. Also hatte Emily ihr Schicksal selbst gewählt, auch wenn ihr klar gewesen war, dass sie ihren Tod hätte vermeiden können. Anstatt eine Untote zu werden hatte sie ihre letzten Kraftreserven gesammelt und ihre übernatürliche Macht als Sa’onti genutzt, um sich von ihren Fesseln zu befreien, das verriegelte Fenster zu öffnen und schließlich zu springen. Das wurde Eve nun bitter bewusst. „Seth … gibt uns die Schuld“, meinte Alec. „Und wie es scheint, wird ihn keine Erklärung der Welt davon abbringen.“ Eve ließ sich kraftlos auf den kalten Steinboden sinken und legte ihre Hand auf die Stirn. Höllische Kopfschmerzen machten es ihr unglaublich schwer, sich richtig zu konzentrieren. Alles was sie wollte, war wieder klar denken, um den Vampiren noch unzählige weitere Fragen stellen zu können, aber es funktionierte nicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie bloß ihre geschwächte Mutter, an deren Krankenbett zwei Vampire standen. Sie konnte es deutlich vor sich erkennen, als wäre sie persönlich bei ihr gewesen. Der hochgewachsene und ernst dreinschauende Sharif und der mysteriöse und unheimliche Asrim, der Eve sogar in der Erinnerung erschaudern ließ. Sie waren beide dort gewesen, vor fast zwanzig Jahren. Sie hatten die letzten Atemzüge ihrer Mutter mitbekommen, waren vielleicht sogar die letzten gewesen, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Der Glauben, eines Tages wieder gesund zu werden, hatte Emily immer dazu ermutigt, zu kämpfen. Alles hatte sie getan, um die Krankheit zu bezwingen. Ihre Hoffnung war trotz der vielen qualvollen Wochen und Monate nicht vollständig erloschen. Die Sa’onti schließlich mussten ihr vor Augen geführt haben, dass es für sie nur noch zwei Optionen gegeben hatte: Entweder in einen Vampir verwandelt zu werden oder zu sterben. Und somit hatte sie daraufhin die letzte Möglichkeit gewählt, im Wissen, dass es für sie keine Heilung geben würde. Das Leben, wie sie es gekannt und geliebt hatte, wäre so oder so für sie vorbei gewesen. Eve massierte sich die Schläfen, während sie ihre Augen schloss und sich nicht davon beeindrucken ließ, dass sie von zwei Vampiren beobachtet wurde. Ihre Augen brannten, ihr Körper fühlte sich an wie ausgehöhlt. Alles erschien ihr völlig irreal und verrückt, sodass es ihr ausgesprochen schwer fiel, diese ganze Geschichte zu glauben. Ihre Mutter war immerhin bloß eine einfache, freundliche und verständnisvolle Frau mit einem Faible für Bücher und Süßspeisen gewesen, die ihr einfaches und unspektakuläres Leben gelebt und geliebt hatte. Für Eve war sie die Welt gewesen, für die Welt selbst aber bloß ein kleines und unbedeutendes Sandkorn. So zumindest hatte Eve es immer geglaubt. „Wenn … wenn meine Mutter wirklich …“ Sie konnte es einfach noch nicht laut aussprechen. Immer noch kam ihr das alles wie ein schlimmer Albtraum vor. „Bin ich dann auch …?“ „Eine Sa’onti?“, hakte Oscar nach. Er wechselte einen kurzen Blick mit Alec, ehe er sagte: „Keine Ahnung. So wie es aussieht, ist es wirklich genetisch vererbbar – man siehe nur Elias und Annis –, aber die Chancen sind relativ gering. Besonders in einem solch kurzen Zeitraum. Zwischen Asrim und Necroma liegen zum Beispiel weit über zweitausend Jahre.“ Für einen kurzen Moment war Eve überrascht, dann aber erinnerte sie sich wieder an einen Bericht ihrer Ururgroßmutter Mary Hopkins. Sie hatte herausgefunden – offenbar durch Alec persönlich –, dass Necroma eine direkte Nachfahrin von Asrim war, auch wenn man bei solch einer enormen Zeitspanne kaum von Verwandtschaft sprechen konnte. Eve atmete einmal tief durch. Sie war zwar nicht wirklich beruhigt, aber Oscar sah so aus, als würde er sehr bezweifeln, dass sie eine Sa’onti war oder je sein könnte. Ihr war zwar nicht bewusst, ob er dies tatsächlich zu erkennen vermochte oder wirklich erst dann, wenn die speziellen Vampir-Gene in ihrem Körper zu erwachen begannen, aber sie versuchte, es zunächst optimistisch zu sehen. Sollte sie doch irgendwann anfangen, Stimmen zu hören, würde sie ihre Einstellung immer noch ändern können. „Und das ist wirklich alles?“, vernahm sie plötzlich die Stimme Oscars. Dieser war – ob nun bewusst oder unbewusst – näher an Alec getreten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Dieser verfluchte Mistkerl geht einen Pakt mit dem Teufel ein und brennt halb London nieder, weil wir nicht zur Stelle waren, um sein Mädchen zu retten? Soll ich wirklich deswegen sterben?“ Eve verzog ihr Gesicht. „Tut mir leid, dass der Tod meiner Mutter dir solche Unannehmlichkeiten bereitet.“ Oscar schnaubte. „Nimm es nicht persönlich, Kleine. Sieh es einfach nur mal aus meiner Perspektive. Ich habe deine Mutter noch niemals gesehen, ich kannte bisher nicht einmal ihren Namen. Es hätte mich sowieso einen Scheißdreck interessiert.“ Seine Augen funkelten bedrohlich auf. „Und so, wie es sich anhört, hat deine Mummy ihre Entscheidung selbst gefällt. Asrim hat ihr ihren freien Willen gelassen! Was hat Seth denn erwartet? Dass Asrim deine Mutter dazu zwingt und sie damit auf eine Art und Weise vergewaltigt, wie du es dir nicht mal vorstellen kannst? Ist es wirklich das, was Seth von uns allen wollte?“ Eve biss unruhig auf ihrer Unterlippe herum. „Vielleicht kennt Seth nicht die ganze Geschichte“, mutmaßte sie. „Oh bitte!“ Oscar schüttelte den Kopf. „Ich wette, er und Asrim hatten sogar noch ein nettes kleines Gespräch darüber, bevor Seth sich dazu entschieden hat, uns mal alle eben so zu töten.“ Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Knurren klang. „Da passt so einiges nicht zusammen. Warum hat er deine Mutter denn verlassen, wenn er offenbar so schrecklich verliebt war, dass er sich für sie mit den mächtigsten Geschöpfen dieser Erde anlegt? Und wieso kommt er erst jetzt hervor, fast zwanzig Jahre später? Da ist irgendetwas faul und das gefällt mir gar nicht.“ Eve musste zugeben, dass das Ganze tatsächlich einige Lücken aufzuweisen hatte. Sie blickte zu Alec, dem einzigen von ihnen, der etwas genauer zu wissen schien, was damals geschehen war, doch dieser wirkte, als wäre ihm gar nicht mehr wirklich bewusst, wo er sich überhaupt befand. Seine Augenlider fielen ihm bereits wieder zu und sein Körper sackte langsam zur Seite, sodass sich Oscar beeilte, ihn zu stützen und ihn wieder vorsichtig hinzulegen. Eve war derart darauf fixiert, die beiden zu beobachten, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, wie Richard um die Ecke gebogen kam. Erst als dieser direkt vor ihr stehenblieb und fragte: „Alles in Ordnung mit dir?“, realisierte sie seine Anwesenheit. Erst war Eve verwirrt, aber schnell wurde er wieder gewahr, dass sie auf dem Steinboden hockte und wahrscheinlich aussah, als hätte sie einen Geist oder gleich Hunderte gesehen. Eve wollte aufspringen, aber ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Sie betrachtete Alec, wie er regungslos auf der Pritsche lag, und wünschte sich plötzlich auch, einfach alles abschalten zu können. „Ob alles in Ordnung ist?“ Sie war erstaunt, wie bitter ihre eigene Stimme klang. „Hast du gewusst, dass meine Mutter eine Sa’onti gewesen ist? Das steht wahrscheinlich noch in irgendwelchen Akten, die hier herumfliegen, aber bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, es mir zu sagen.“ Richard wirkte daraufhin über alle Maßen irritiert. „Was?“ Eve seufzte. Richard war wahrscheinlich der letzte hier, dem sie irgendwelche Vorwürfe machen sollte. „Alec war gerade ein paar Minuten wach“, informierte Eve ihn stattdessen. „Das wird Liam sicher gerne erfahren wollen.“ Und ich muss sowieso dringend mit ihm reden, dachte sie noch bei sich. „Das ist ...“, begann Richard, schluckte aber schwer, als er Oscars düsteren Blick bemerkte, „... nett?“ „Ein bisschen mehr Blut würde ihm guttun“, erklärte Oscar währenddessen ungerührt. „Ich fange nämlich tatsächlich an, seine charismatische Persönlichkeit zu vermissen.“ Richard schien nicht zu wissen, ob er diese Worte ernstnehmen sollte oder nicht. Er schaute von einem zum anderen, als würde er tatsächlich irgendwelche Anweisungen erwarten. „Na ja ... eigentlich bin ich ja hier, weil Seamus mich geschickt hat“, meinte er schließlich. Eve zuckte sofort zusammen, als ein riesiger Schwall Schuld mit einem Mal über sie hernieder prasselte. Sie hatte den Historiker und Magier völlig vergessen gehabt. „Seamus?“, hakte sie sofort nach. Ein wenig ungelenk rappelte sie sich auf ihre Füße. „Geht es ihm gut? Da war das Feuer ... oh Gott, ist ihm was passiert?“ Richard musterte sie mitfühlend. „Eine leichte Rauchvergiftung, aber sonst ist alles in Ordnung. Wir haben ihn zur Entschädigung ein bisschen in unseren Archiven stöbern lassen und er hat die ganze Zeit gegrinst wie ein Kind im Süßigkeitenladen.“ Eve kicherte. Das klang ganz nach dem Mann, den sie kennengelernt hatte. „Und er hat was gefunden“, wurde Richard deutlicher. „In irgendeinem uralten Bericht hat er den Namen Shadyn entdeckt.“ Eves Miene wurde sofort finster und auch Oscar war auf der Stelle hellhörig geworden. Jede Information, selbst eine winzig kleine, könnte sich als nützlich erweisen. Eve holte einmal tief Luft. „Dann sollten wir uns anhören, was er zu sagen hat.“ Kapitel 28: Die Legende der Brucha ---------------------------------- Sharif schaffte es gerade noch, sich am Außenspiegel eines unverschämt großen Autos festzuklammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das ganze Parkhaus schien plötzlich zu hüpfen und zu tanzen, wie man es sonst nur bei den heftigsten Erdbeben erlebte. Die unzähligen ahnungslosen Fahrzeuge entwickelten ein Eigenleben und begannen, sich zu bewegen, als säße tatsächlich jemand hinter dem Steuer. Auch den überrumpelten Vampiren erging es im Grunde nicht viel besser. Sharif bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Elias ins straucheln geriet und einen Sekundenbruchteil später unangenehmen Kontakt mit dem Fußboden aufsuchte. Er war viel zu überrascht, um seine vampirische Schnelligkeit in irgendeiner Weise auszunutzen. Ebenso Annis verlor den Halt, doch Sharif konnte sie noch im letzten Augenblick packen und in seine Arme ziehen, ehe sie stürzte. Und so schnell und plötzlich, wie es gekommen war, war es auch schon wieder vorbei. Die Erde beruhigte sich wieder, das Zittern erstarb. Einige letzte Autos rutschten noch durch die Gegend, ein Feuerlöscher, der sich aus der Verankerung gelöst hatte, rollte ungebremst über den Boden und – was beileibe für das empfindliche Gehör eines Vampirs am unangenehmsten war – es drang das schrille Heulen mehrere Sirenen zu ihnen. Viele der Alarmanlagen schienen von dem kurzen Erdbeben nicht begeistert zu sein. Aus der Ferne hörte Sharif das Schreien und Weinen von Menschen, die ebenso aus ihrem Trott gerissen worden waren und nicht verstanden, was gerade eben passiert war. Und wenn der Vampir ehrlich zu sich war, wusste er das selbst nicht genau. „Was … was war das?“ Annis‘ Stimme drang an sein Ohr. Sie befand sich immer noch in seiner Umarmung, ihr Blick schweifte durch die leicht umdekorierte Parketage, wo sich nichts mehr an seinem ursprünglichen Platz befand. „Ein Erdbeben?“ Necroma löste ihren Griff von der Säule neben sich und lächelte selig, als wäre sie mit sich und der Welt völlig im Reinen. „Aber nein. Das war eine Explosion, unten im Erdgeschoß. Riechst du es nicht?“ Erst bei ihren Worten nahm Sharif den stechenden Geruch wahr, der sich offenbar in der ganzen Etage verbreitet hatte. Wie ein Unglücksbote, der sich seinen Weg bahnte. Rauch! Und wo Rauch war, da war Feuer meist nicht weit. „Eine Explosion?“ Elias war zu ihnen getreten, sehr darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er soeben sehr unelegant gestürzt war. „Oh verdammt, Nec, musst du immer alles in die Luft sprengen? Hättest du nicht warten können, bis wir mit unserem Auto aus dem Parkhaus raus sind?“ „Ich?“ Necroma schnappte nach Luft. „Glaubst du wirklich, ich würde uns derart in Gefahr bringen?“ Elias brauchte nicht einmal eine Sekunde zu überlegen, als er entschieden antwortete: „Ja!“ Necroma wirkte verärgert, widersprach zur selben Zeit aber auch nicht. Sie wusste genau, dass es ein sinnloser Kampf gewesen wäre. „Na fein“, gab sie zu. „Ich sprenge ab und zu ganz gerne Sachen in die Luft.“ Eine Untertreibung sondergleichen. „Aber diesmal war es Seth, nicht ich“, erwiderte sie. „Also sei vorsichtig, bevor du vorschnell urteilst.“ Sharif hatte sich in der Zwischenzeit von Annis gelöst und wagte einen Blick hinunter auf die Straße. Necroma hatte in der Tat nicht zuviel versprochen, es machte wirklich den Anschein, als hätte eine große Explosion dort unten alles auf den Kopf gestellt. Autos waren offenbar durch die Luft geschleudert worden und in einiger Entfernung äußerst demoliert zu Boden gestürzt, ebenso wie alles andere, das das Pech gehabt hatte, sich in Seths Umfeld zu befinden, das gleiche Schicksal erlitten hatte. Auch auf die Menschen hatte der Feuerteufel keinerlei Rücksicht genommen. Sharif entdeckte mehrere leblose Körper, die unter dem Schutt von Beton und Scherben begraben waren. Ihr Leben hatte Seth anscheinend nicht im Geringsten interessiert. Und auch gegenüber den Sa’onti würde er keine Gnade walten lassen. „Dieser verfluchte Mistkerl!“, zischte Annis aufgebracht. Sie ging entschlossenes Schrittes auf die Tür zum Treppenhaus zu. „Wie kann er es nur wagen, uns ausräuchern zu wollen? Ich werde ihm eigenhändig den Hals umdrehen.“ Sie öffnete weiterhin fluchend die Tür … nur um sie im nächsten Moment sofort wieder zuzuschlagen. Ein riesiger Schwall dunkelster Rauch war ihr aus dem Treppenhaus entgegengeschlagen, begleitet vom charakteristischen Knistern eines großen Feuers. Annis wich sofort laut hustend zurück. Mochte Rauch für Vampire auch bei weitem nicht so schädlich sein wie für Menschen, kratzte er dennoch extrem unangenehm in der Kehle und brachte überdies ihre empfindlichen Augen zum brennen. „Verdammt, verdammt, verdammt!“, meinte Elias kopfschüttelnd. „Was soll das Ganze?“ Necroma zuckte unbekümmert ihre Schultern. „Seth ist sauer auf uns. Sehr, sehr sauer. Und er wird erst Ruhe geben, wenn wir alle in der Hölle schmoren.“ Sharif musterte sie eingehend. Es klang, als würde sie genau um Seths Intentionen wissen, und es juckte ihm unter den Fingernägeln, weiter nachzuhaken. Allerdings war er sich sicher, dass er sowieso keine klare Antwort bekommen würde. „Ich liebe es ja immer aufs Neue, wenn jemand mich umzubringen versucht, den ich gar nicht kenne“, meinte Elias zähneknirschend. „Dieser Seth könnte doch wenigstens den Anstand besitzen, sich vorzustellen, bevor er uns umbringt. Das verlangt die allgemeine Höflichkeit.“ Necroma lächelte unverwandt, als würde sie sich nicht die geringste Sorgen machen. „Das ist so britisch von dir. Wir können ihm ja auch noch einen Tee anbieten, wenn wir schon dabei sind.“ Annis war in der Zwischenzeit wieder zu ihnen geflüchtet. Unentwegt schob sich der immer dichter werdende Qualm unter dem Türschlitz hervor. „Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich hasse Feuer!“, sagte sie schnaubend. „Von daher würde ich vorschlagen, uns zunächst in einen sicheren Bereich zu begeben, ehe wir Seth Zentimeter für Zentimeter die Haut abkratzen und ihn dann zusammen mit fleischfressenden Insekten unter Erde und Beton begraben.“ Sie begab sich zu Sharif und stand kurz davor, einfach über den Rand drei  Stockwerke weit hinunterzuspringen. Für einen Vampir normalerweise kein Problem, aber nun spürte Sharif ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Seine Verbrennungen schmerzten wieder ungemein, als wollten sie ihn warnen. Necroma kam ihm jedoch zuvor. Sie ergriff Annis am Arm und schüttelte bloß den Kopf. Und im nächsten Moment wurde auch mehr als deutlich, wieso. Denn plötzlich schoss eine regelrechte Feuerfontäne nach oben und schien das gesamte Gebäude einzuhüllen. Der Ausblick war völlig versperrt, nur noch die tanzenden Flammen waren zu erkennen. Wie ein roter, überaus gefährlicher Vorhang. Überrascht und entsetzt traten alle Anwesenden hastig einige Schritte zurück. „Ich darf freudig verkünden, dass ich diesen Seth jetzt schon abgrundtief verabscheue, ohne ihn je wirklich getroffen zu haben“, meinte Annis einen Augenblick später. Ihr Blick war derart düster, dass es vermutlich sogar Seth für eine Weile aus der Fassung gebracht hätte. „Das ist echt eine Leistung. Das schaffen normalerweise nur Politiker und Popmusiker.“ Elias war neben seine Schwester getreten und hatte ihr Hand ergriffen. Vielleicht zur Beruhigung, unter Umständen aus reinem Beschützerinstinkt. So oder so ließ Annis es geschehen und verstärkte den Druck sogar. „Und was machen wir jetzt?“, erkundigte sich Elias, nachdem sie noch einen Augenblick das knisternde Feuer angestarrt und sie wahrscheinlich alle irrsinnigerweise gehofft hatten, dass es in der nächsten Sekunde verschwinden würde. Sharif wusste hierauf auch keine Antwort. Er fühlte sich wieder klein und schwach und er hasste es.  „Keine Panik.“ Necroma legte Elias derweil die Hand auf die Schulter und lächelte ihm unbeschwert entgegen. „Wir gehen einfach.“ „Wir gehen einfach?“, wiederholte Annis ungläubig. „Und wie, wenn ich fragen darf?“ Necroma betrachtete gelangweilt ihre Fingernägel. „Ich bin gut.“ Und im Grunde brauchte es nicht noch mehr Erklärungen. Sie hatten alle in den letzten Jahrtausenden am eigenen Leibe erfahren, welche Macht diese unzurechnungsfähige und verrückte Frau besaß. Es wäre für sich wahrscheinlich nicht unbedingt unmöglich, sie zumindest für eine Weile vor Seths hungrigen Feuer zu schützen. Im Moment blieb ihnen wohl wirklich keine andere Möglichkeit, als Necromas Fähigkeiten zu vertrauen. Der Rauch hatte sich inzwischen schon in der halben Etage verteilt und das Treppenhaus sah wahrscheinlich hundertmal schlimmer aus. Allein der kurze Augenblick, als Annis die Tür geöffnet hatte, hatte dies mehr als deutlich gemacht. „Keine Sorge.“ Necroma drückte Sharifs Arm und lächelte ihn dermaßen zuversichtlich an, dass auch dessen Mundwinkel kurz nach oben zuckten. „Es wird alles gut.“ Das hoffte Sharifs vom ganzen Herzen. Auch wenn es im Moment nicht danach aussah, als würde die Situation ein glückliches Ende finden.       *  *  *  *  *  *  *  *  *     Richard beobachtete amüsiert, wie Eve Seamus sofort in die Arme fiel und fest an ihre Brust drückte, als dieser zu ihnen hinunter in den Keller kam. Die zahllosen Blätter und Akten, die der Historiker vor sich balanciert hatten, fielen ungebremst zu Boden, doch Eve störte sich nicht daran. Sie trat sogar einige der Papiere achtlos mit den Füßen weg. Seamus schien im ersten Moment protestieren zu wollen, aber als Eve ihre Umarmung verstärkte, ihn besorgt fragte, wie es ihm ginge, und sich mindestens hundert Mal dafür entschuldigte, ihn bei dem Feuer am Pier in Gefahr gebracht zu haben, versiegte jeglicher Widerstand. „Ist schon in Ordnung, Miss Hamilton“, meinte er beschwichtigend. „Mir ist wirklich nichts passiert.“ „Eve“, verbesserte sie ihn rasch. „Und das macht das Ganze trotzdem nicht besser.“ Richard wusste, welch schlechtes Gewissen sie hatte, dass es ihr nicht mal in den Sinn gekommen war, sich nach Seamus‘ Wohlbefinden zu erkundigen, seitdem sie wieder bei den Jägern war. Richard fand zwar, dass es mit dem, was sie in der Zwischenzeit erlebt hatte, durchaus verständlich war, aber er kannte Eve gut genug, um zu wissen, dass sie sich noch eine lange Zeit schuldig deswegen fühlen würde. „Mir kommen gleich wirklich die Tränen“, vernahmen sie alle plötzlich Oscars Stimme. Dieser stand wieder an die Gitterstäbe gelehnt und hatte die Situation gemustert, als wäre es eine tödliche Beleidigung, in seiner Gegenwart Gefühlsausbrüche zuzulassen. „Hat jemand vielleicht ein Taschentuch für mich?“ Eve warf ihm einen vorwurfsvollen Blick, löste sich aber bereits im nächsten Moment von Seamus und half ihm dabei, die zu Boden gestürzten Dokumente wieder aufzusammeln. Oscar währenddessen raschelte unruhig mit den Füßen und schien sie zur Eile antreiben zu wollen. Richards Blick fiel inzwischen auf Alec. Sie hatten ihm bereits Blut aus zwei weiteren Blutbeuteln eingeflößt und auch wenn er es nun schaffte, ab und zu die Augen offenzuhalten, schien er noch weit davon entfernt, auf der Höhe zu sein. Jedes Mal, wenn er von Neuem seine Lider aufschlug, schien er sich immer wieder zu fragen, was eigentlich los war. Sein Verstand hatte offenbar große Probleme, das, was um ihm herum geschah, richtig zu verarbeiten. Im Moment war er mehr schlecht als recht wach. Es interessierte ihn ebenso, was Seamus in den Tiefen des Archives gefunden hatte, doch gleichzeitig erforderte es offenbar all seine Energie, um fokussiert zu bleiben. Richard bezweifelte, dass er bis zum Ende von Seamus‘ sicherlich ziemlich weitschweifenden und enthusiastischen Vortrages durchhalten würde. „Wo ist Liam?“, erkundigte sich Eve derweil bei ihm. Ihre Stimme klang merkwürdig angespannt, als gäbe es da etwas Unausgesprochenes zwischen ihr und ihrem Anführer. „Oh, ich habe ihn direkt als Erstes informiert“, erklärte Seamus. Er legte die Blätter auf einen nahegelegenen kleinen Tisch und begann, sie zu sortieren. „Und gerade im Augenblick denkt er darüber nach, ob das, was ich herausgefunden habe, irgendwie nützlich sein kann.“ Richard spitzte die Ohren. „Und was denken Sie?“ Seamus zuckte mit den Schultern. „Es sind wirklich sehr interessante Informationen. Allerdings weiß ich nicht, ob sie uns großartig weiterbringen werden.“ Oscar räusperte sich daraufhin vernehmlich. „Leg einfach los, kleiner Mensch, bevor ich hier noch an Altersschwäche sterbe.“ Seamus musterte den Vampir eingehend, schien aber bei weitem nicht so eingeschüchtert zu sein, wie man es hätte vermuten können. Bei jedem anderen hätte man dies schlichter Unwissenheit zugesprochen, doch Seamus wusste wahrscheinlich besser über die Sieben Bescheid als sonst ein Mann in Großbritannien. Er hatte jede Einzelheit von ihnen, die er in irgendwelchen Quellen hatte finden können, aufgesogen wie ein Schwamm und sich offensichtlich letztendlich dafür entschieden, in ihrer Gegenwart nicht verängstigt zu reagieren. Richard wusste nicht, ob dies bloß eine Fassade war oder ob er sie inzwischen tatsächlich gut genug kannte, um zu wissen, dass sie beileibe nicht so schrecklich waren, wie man es überall hörte, aber so oder so fand er dies ziemlich interessant. „Zunächst einmal hat mich Mr. McCoy gebeten, auch den Namen As’kyp nachzuschlagen“, erklärte Seamus. „Immerhin war dies doch das vordergründige Ziel, bevor ... na ja, bevor es plötzlich draußen so einen Radau gab und mich ein tonnenschwerer Jäger angebrüllt hat, mich in den Tiefen des Archivs zu vergraben und unter gar keinen Umständen herauszukommen.“ Eve wechselte einen Blick mit Oscar, der Richard überhaupt nicht gefallen wollte. Es wirkte fast schon vertraut. „Und?“, hakte die Jägerin nach. „Irgendetwas Interessantes?“ „Die erste Quelle war bloß eine Auflistung von Namen ohne irgendwelchen Zusammenhang“, erzählte Seamus. „Es war leider nicht mehr festzustellen, was den Autor dazu bewegt hat, diese alle niederzuschreiben. Man vermutet zwar, dass es sich bei allen um übernatürliche Geschöpfe handelt, aber das bringt uns auch nicht viel weiter.“ Hastig holte er aus seinem Papierberg ein Blatt hervor. „Die zweite Quelle allerdings ...“ Richard spürte, wie die Neugierde ihn packte. „Was steht dort?“ Seamus richtete seine Aufmerksamkeit auf den Text. „Wenn ich einfach mal vorlesen darf: Und am Ende ihres Lebens wandte sich die Brucha ihrem alten Freund As’kyp zu. Sie hieß seine Arme zwar nicht willkommen, wehrte sich jedoch nicht, als er sie in die Anderswelt hinüberzog.“ Daraufhin verstummte der Historiker und schaute neugierig in die Runde. Richard währenddessen hatte nicht den blassesten Schimmer, wie man diese Passage einordnen sollte, abgesehen davon, dass angedeutet wurde, dass As’kyp in Verbindung mit dem Jenseits stand. Auch Eve und Oscar wirkten nicht viel schlauer als er selbst. „Und das ist interessant weil?“, fragte Eve nach. „Die Brucha!“, erklärte Seamus, als müsste ihnen allen klar sein, was es damit auf sich hat. „Niemand weiß bis heute, ob das ein Name ist oder bloß eine Bezeichnung, aber das spielt im Grunde für uns auch gar keine Rolle. Wichtig ist nur, dass die Legende der Brucha nicht unerheblich scheint.“ Richard runzelte die Stirn. „Die Legende der Brucha?“ Seamus nickte enthusiastisch. „Sehr, sehr alt und inzwischen schon längst in Vergessenheit geraten. Außerdem war sie sehr lokal begrenzt, irgendwo in dem hintersten Winkel des heutigen Serbiens. Eine typische Gruselgeschichte, die man Kindern erzählt, damit sie sich anständig verhalten und ihren Eltern gehorchen.“ Erneut fischte er einige Blätter hervor. „Und interessanterweise wird in dieser uralten Legende auch der Name Shadyn erwähnt.“ Nun waren sie alle auf der Stelle hellhörig, selbst Alec, der seinen Oberkörper in eine halbwegs vertikale Position hochgerappelt hatte und offenbar alles daransetze, nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren. „Sie wollen damit also sagen, dass As’kyp und Shadyn in derselben Geschichte vorkommen?“, hakte Eve erstaunt nach. „Das kann ja wohl kein Zufall sein.“ „Wie lautet die Legende?“, erkundigte sich Richard. Seamus räusperte sich: „Einst lebte die Brucha, die wohl schönste Frau des Landes. Sie wurde verehrt und gefeiert und jedermann verliebte sich in sie. Es gab niemanden auf der Welt, der nicht alles für sie getan hätte. Zahllose Poeten bewunderten ihr rabenschwarzes Haar, ihre himmelblauen Augen und ihr Lächeln, das selbst Schnee zum Schmelzen bringen konnte. Sie war der Mittelpunkt zahlreicher Lieder und jeder einzelne Mann und jede einzelne Frau warben um ihre Gunst. Wollten sie als Freundin, als Vertraute, als Geliebte, als Gemahlin. Doch nur die wenigsten wussten, wie dunkel und hässlich sie im Inneren war. Sie sahen nur den Schein, die Fassade. Sie ließen sich blenden von ihrem Antlitz und ihrer samtweichen Stimme. Ließen sich verführen von ihrem Lachen und dem Funkeln in ihren Augen. Niemand sah ihre wahre Natur hinter der Lüge. Und die Brucha genoss es, mit ihnen zu spielen, als wären sie willenlose Puppen. Doch die Jahre vergingen und irgendwann musste die Brucha einsehen, dass ihre Schönheit nicht ewig halten würde. Selbst ihre eigene, von den Göttern gegebene Macht würde sie von den Zeichen der Zeit nicht ewig retten können. Und sie konnte mit der Vorstellung, eines Tages nicht mehr jung und begehrenswert zu sein, einfach nicht leben. Ihre Seele wurde von Tag zu Tag schwärzer und grausamer, als sie schließlich ihre schrecklichen Pläne spann. Und so geschah es, dass die Quelle ihrer Schönheit die Jüngsten selbst wurden. Zunächst verschwanden nur vereinzelt Kinder, aber rasch waren ganze Dörfer plötzlich von einem Tag auf den anderen völlig kinderlos. Sie lockte die Unschuldigen zu sich, mit falschen Versprechen und dunkler Hexerei. Sie erzählte von einem besseren Leben ohne Kummer und Sorgen und fraß im selben Atemzug ihre kleinen Seelen. Über viele Jahre lang hörte man das Weinen und Schreien der Kinder. Die Eltern versuchten alles, um sie zu retten, doch die Macht der Brucha war einfach zu groß. Sie lachte und blickte von oben verächtlich auf sie herab, während sie gar nicht zu bemerken schien, dass sie selbst zu einem Dämon geworden war. Sie labte sich am Leid und an den Qualen der Menschen wie ein gefühlskaltes Monster. Ihr Innerstes war verkümmert und eingegangen und hatte bloß eine schöne, aber falsche Hülle zurückgelassen. Es interessierte sie nicht einmal, dass das, was sie einst an ihrer Schönheit so begehrt hatte – die Aufmerksamkeit und die blinde Liebe – in Angst und Hass umgeschlagen war. Es fand alles erst ein Ende, als ihr mujan Shadyn es nicht mehr ertragen konnte. All die Zeit hatte er es erduldet und sich ihrem Willen gebeugt, doch dann kam der Augenblick, als das Weinen der unschuldigen Kinder zu viel für ihn wurde. Er lockte die Brucha mit einem falschen Lächeln zu sich und erschlug sie schließlich hinterrücks. Er wollte frei sein von ihr, von ihrer Macht und ihren Zwängen. Er wollte keine Kinder mehr schreien hören, sondern einfach nur noch das gottverlassene Land hinter sich lassen und niemals zurückblicken. Doch er hatte zu lange gewartet. Der Einfluss der Brucha war inzwischen zu stark und niemals im Leben und auch im Tod würde sie ihm das geben, wonach er sich sosehr sehnte. Und somit erhielt er Fesseln anstatt Freiheit. Der Fluch des Ewigen Lebens band ihn für immer an die irdische Welt und er war dazu verdammt, bis in ans Ende der Zeit alleine zu sein und für seine Tat zu büßen. Selbst im Tod würde die Brucha ihn nicht entkommen lassen.“ Seamus hob seinen Blick. „Na ja, und dann kommt noch die kurze Passage mit As’kyp.“ Lange Zeit sagte niemand etwas, sondern versuchte, dass soeben Gehörte irgendwie zu verarbeiten und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Richard konnte nun gut nachvollziehen, warum sich Liam seitdem in sein Büro zurückgezogen hatte und erpicht war, das Ganze irgendwie zu sortieren. „Was heißt mujan?“, war Eve nach einer gefühlten Ewigkeit die erste, die wieder ihre Stimme erhob. Seamus zuckte nur mit den Schultern, es war dann jedoch Oscar, der eine Antwort hatte: „Es ist ein wirklich sehr altes Wort aus der Dämonensprache, das schon seit dem Aufstieg der Römischen Republik eigentlich kaum noch verwendet wird. Es bedeutete Partner oder Geliebter.“ „Oder Pferd“, ergänzte Alec mit leiser und brüchiger Stimme. Dennoch lag dabei ein Schmunzeln auf den Lippen. „Stimmt“, meinte Oscar nickend, während er seinem Bruder einen entnervten Blick zuwarf. „Aber ich denke, diese Übersetzung kann man in dem vorliegenden Kontext sicherlich ausschließen. Denkst du nicht auch?“ Alec verzog sein Gesicht wie ein Fünfjähriger, der soeben Rüge erhalten hatte. „Momentan würde ich wirklich gar nichts ausschließen.“ Bevor die beiden anfangen konnten, sich in einer Diskussion zu verlieren, mischte sich Eve rasch ein: „So, ist diese Geschichte wahr? Ich meine, dass sowohl Shadyn als auch As’kyp erwähnt werden, kann ja wohl kein Zufall sein. Und bisher hatten wir auch noch keine vernünftige Erklärung, warum Seth schon so alt ist.“ „Eine vernünftige Erklärung?“, hakte Richard ungläubig nach. „Der Fluch durch eine Hexe, eine Dämonin oder was auch immer diese Brucha war, bezeichnest du tatsächlich als vernünftig?“ „Na ja, zumindest einigermaßen plausibel“, entgegnete Eve nun ein wenig kleinlaut. „Du weißt doch genauso gut wie ich, welche Macht Flüche haben können.“ „Aber jemanden ewiges Leben zu schenken, ist wirklich ein riesiges Ding!“, erwiderte Richard sofort. „Das passiert nicht einfach mal zwischen Tür und Angel.“ Solch ein Unterfangen hätte so eine Macht erfordert, dass es Richard schon eiskalt den Rücken hinunterlief, überhaupt daran zu denken. Er war sich nicht einmal sicher, ob Asrim – nachweislich eines der mächtigsten Wesen auf diesem Planeten – dazu imstande gewesen wäre. „Verflucht, ewig zu leben.“ Eve schnaubte. „Klingt irgendwie falsch.“ Richard musste zugeben, dass es im ersten Moment tatsächlich eher wie ein Segen klang. Aber er arbeitete inzwischen lange genug in dem Geschäft mit dem Übernatürlichen, um sehr wohl zu wissen, dass dem nicht so war. Er hatte bereits Vampire getroffen, die ihres langen Lebens derart müde gewesen waren, dass sie ihn förmlich angefleht hatten, sie zu töten. Und gerade Untote waren eigentlich dafür prädestiniert, sich mit der Ewigkeit zu arrangieren. Wie mochte es da erst für jemanden sein, den es unerwartet traf? Der sich zunächst über seine neugewonnene Langlebigkeit freute, nur um dann schnell festzustellen, dass ein Großteil der Welt nun mal nicht ewig existierte. Der dabei zusehen durfte, wie nach und nach alle um ihn herum starben. Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten. Menschen, die er geliebt hatte. Richard wusste, dass, wäre er in solch einer Position gewesen, sich sicherlich irgendwann entschieden hätte, niemals mehr zu lieben, damit der Schmerz einigermaßen erträglich wäre. „Na ja, Legenden sind Legenden“, erhob Seamus wieder seine Stimme. „Ich denke nicht, dass wir jedes Wort von der Geschichte auf die Waagschale legen können. Allerdings heißt es ja so schön, dass in jeder Geschichte ein Körnchen Wahrheit steckt. Und dass Shadyn und As’kyp hier zusammen Erwähnung finden, ist Beweis genug, dass wir diese Legende nicht einfach ignorieren sollten.“ Richard vermochte bloß zuzustimmen. Er wusste zwar nicht, inwieweit sie diese neuen Informationen vorantreiben würden, aber es wäre ein großer Fehler gewesen, es nicht weiter zu verfolgen. „Ich habe versucht, etwas tiefer zu graben, aber bisher war ich noch nicht sonderlich erfolgreich“, gab Seamus zu. „Es gibt eine Randnotiz, dass durchaus mehrere Versionen der Geschichte existieren – für solch alte Texte wirklich nichts Ungewöhnliches –, aber hier im Gebäude findet sich nichts mehr. Ebenso das Internet spuckt auch nur diese Variante hier aus, wobei es sich wahrscheinlich um die am meisten verbreitete Version handelt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann gerne in meinem privaten Archiv nachschauen, da finden sich viele verborgene Schätze. Außerdem habe ich Mr. McCoy schon Bescheid gesagt, dass er sich am besten mit anderen Stützpunkten in Verbindung setzen und alle Mühlen zum mahlen bringen sollte. Irgendwo wird sich bestimmt etwas finden lassen.“ Seamus lächelte, als wäre er ein Kind auf einer Schnitzeljagd. Und für ihn war es vermutlich auch so. „Und ihr habt von dieser Legende noch niemals gehört?“, wandte sich Eve an die beiden Vampire. „Als ihr an den Knochen einiger römischen Soldaten genagt habt, zum Beispiel?“ Während Oscar sie für diesen Kommentar mit einem düsteren Blick bedachte, schüttelte Alec nur leicht den Kopf. „Noch nie. Aber nicht weiter verwunderlich, wenn diese Legende nur so lokal begrenzt war.“ Er hielt kurz inne und auf seine Züge legte sich etwas Seltsames. „Asrim ... er hat sich und uns immer von Serbien ferngehalten.“ Richard musste zugeben, dass diese Information durchaus interessant war. Auch Seamus‘ Kopf kam bei diesen Worten wieder aus den Tiefen der Papiere hervorgelugt. „Und warum?“, fragte Eve nach. „Hat er euch irgendeine Erklärung gegeben?“ Alec wirkte, als müsste er wirklich angestrengt in den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses graben. „Ich ... ich bin mir nicht sicher“, gestand er ein. „Er ... er hat ...“ „Die Region hat uns sowieso nie großartig gekümmert“, warf sich Oscar dazwischen. „Ich kann mich ehrlich gesagt nur an eine Begebenheit erinnern, als wir überlegt hatten, in diese Richtung zu reisen, und uns Asrim davor gewarnt hat. Er hat irgendetwas von Kriegen erzählt und uns ermahnt, einen Bogen darum zu machen.“ „Und Necroma ...“, meinte Alec plötzlich, als wäre ihm aus heiterem Himmel wieder etwas eingefallen. Oscar musterte ihn einen Augenblick verwirrt, dann aber legte sich Verständnis auf seine Züge. „Oh ja, richtig. Sie hat uns mal gesagt, wir sollten uns prinzipiell von dieser Gegend fernhalten. Unter allen Umständen.“ Er hob die Schultern. „Ich habe mir nie etwas dabei gedacht. Wie gesagt, das serbische Hinterland steht auf meiner Prioritätenliste ganz sicher nicht weit oben, von daher war’s mir eh egal. Aber jetzt ...“ Richard wechselte einen Blick mit Eve. „Soll das heißen, dass Necroma vermutlich Bescheid weiß? Oder auch Asrim?“ „Falls du jetzt vorschlägst, sie einfach mal zu fragen, dann vergiss es sofort!“, erwiderte Oscar. „Asrim wird nicht reden und Necroma redet viel zu viel, aber man versteht sie nicht. Das wäre zwecklos.“ Eve verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn die beiden es aber tatsächlich darauf angelegt haben, euch von diesem Ort fernzuhalten, könnte an der Legende vielleicht etwas dran sein. Das ist zumindest ein weiteres Indiz dafür, das mehr dahintersteckt als bloß Zufall. Und womöglich solltet ihr einfach mal – ach verdammt!“ Richard warf ihr angesichts dieses undamenhaften Fluches einen verwirrten Blick zu und merkte, dass sich ihre Aufmerksamkeit in Richtung Tür bewegt hatte. Er folgte ihrem Fingerzeig und realisierte im nächsten Moment überrascht, dass sich weißer Nebel unter dem Türschlitz durchzog. „Da hat wohl jemand irgendwo ein Fenster offengelassen“, meinte er zähneknirschend. „Ich regel das.“ Doch Eve packte ihn an der Schulter, bevor er überhaupt die Möglichkeit erhielt, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Bleib hier!“ Richard runzelte irritiert die Stirn. „Aber ... warum?“ Eves Miene wurde daraufhin sehr ernst. „Das ist kein Nebel.“ Ihr Druck verstärkte sich. „Aber es ist vielleicht eine Antwort.“ Richard hatte das Gefühl, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben. Er schaute zu den Vampiren, die demselben harten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatten wie Eve, und schließlich zu Seamus, der zu Richards großer Erleichterung genauso verunsichert aussah, wie Richard sich fühlte. „Was ist denn los?“, verlangte er zu erfahren. „Das ist Larva“, meinte Eve in einem Tonfall, als wäre dies Erklärung genug. „Und es würde mich nicht wundern, wenn sie mehr über die Brucha und Shadyn weiß als wir.“ Richard hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wovon Eve sprach, aber als er in der nächsten Sekunde beobachtete, wie der Nebel sich aufbäumte, als handelte es sich um ein lebendes Wesen, entschied er sich, erst einmal einfach seinen Mund zu halten. Kapitel 29: Anash'gura ---------------------- Diesmal tauchte Larva in der Gestalt einer Frau in den Mittvierzigern auf, die den Anschein erweckte, als hätte sie noch niemals in ihrem Leben gelacht. Ihr Gesicht und ihre Augen waren dermaßen verkniffen, dass es ihrem Antlitz, das sicherlich einmal schön gewesen war, etwas Hässliches verlieh. Alec persönlich hatte die Dame noch niemals in seinem Leben gesehen, doch das verwunderte ihn kaum. Bei ihrer letzten Begegnung mit Larva hatte er diesem Geschöpf mehr als deutlich gemacht, dass sie nie wieder in der Gestalt eines Menschen auftauchen sollte, den er einst gekannt hatte. Und Larva war offenbar die Hilfe bei der Rettung ihres Meisters wichtiger als die Vampire weiterhin zu provozieren. Eve und Richard sogen jedoch scharf die Luft ein, als sie Larva in ihrem neuen Gewand sahen. „Ihr kennt sie?“, hakte Alec nach. Eve schluckte. „Das ist Vanessa Smith. Sie war die Leiterin dieses Stützpunkts vor Liam. Sie starb vor vielen Jahren an Krebs.“ „Solch ein ungewöhnlich unspektakulärer Tod für einen Jäger“, meinte Larva und strich sich über die Brust, als müsste sie den neuen Körper genau erfühlen. „Sie wollte eigentlich im Kampf sterben, habt ihr das gewusst? Ruhmreich und ehrenvoll. Stattdessen ist sie am Ende langsam vor sich hinvegetiert.“ Alec stöhnte leise auf, während er die Schmerzen, die ihn beherrschten, zu unterdrücken versuchte. Er war schon extrem lange her, dass er so etwas gefühlt hatte. Vielleicht hatte er es sogar noch nie gefühlt, denn er war sich gar nicht mal so sicher, ob er je in seinem langen Leben in einer derartigen Situation gewesen war, dass er sich vor lauter Schmerzen am liebsten selbst bewusstlos geschlagen hätte. So oder so, das unerwartete Auftauchen Larvas war für seinen Heilungsprozess nicht gerade förderlich. Im Moment hätte er eigentlich nichts lieber getan, als sich hinzulegen und sich ausschlafen, aber die unwillkommene Besucherin würde ihn wohl kaum zur Ruhe kommen lassen. „Es freut mich wirklich sehr, euch alle wohlbehalten wiederzusehen“ Larva lächelte in die Runde. Alec schenkte sie sogar ein Augenzwinkern, was der Vampir mit einem leisen, aber dennoch warnenden Knurren quittierte. Richard und Seamus musterten Larva derweil schweigend. Der Jäger wirkte, als würde er tatsächlich erwägen, seine Waffe zu ziehen, während der Historiker nicht ganz zu wissen schien, ob er fasziniert oder verängstigt sein sollte.  „Das ist übrigens Larva“, klärte Eve die beiden auf. „Sie ist … na ja, keine Ahnung. Sie borgt sich auf jeden Fall das Erscheinungsbild von Toten, weil sie anscheinend selbst keinen eigenen Körper besitzt.“ „So ist es“, stimmte Larva zu, Eves vorwurfsvollen Tonfall einfach nicht weiter beachtend. „Ihr Menschen seid so furchtbar kleingeistig, es würde eure mickrigen Gehirne überfordern, wenn ich aus dem Nichts zu euch sprechen würde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ihr viel besser darauf reagiert, wenn ihr ein Gegenüber habt, das ihr anschauen könnt, selbst wenn es sich nur um eine Illusion handelt.“ Sie lachte auf, als hätte sie gerade den größten Witz der Welt zum Besten gegeben. Seamus und Richard schauten die merkwürdige Kreatur einfach nur irritiert an, während Alec einen Blick mit Oscar austauschte. Diesen schien Larvas Auftauchen ebenso wenig zu begeistern wie ihn. „Ihr freut euch, mich zu sehen, gebt es ruhig zu.“ Sie stemmte sich provokant die Hände in die Hüften. „Ihr habt doch gedacht, dass ihr mich nie wiedersehen würdet.“ Da musste Alec ihr Recht gegeben. Er hatte wirklich angenommen und auch sehr stark gehofft, diesem eigenartigen Wesen nie wieder über den Weg zu laufen. Aber offenbar hatten sich die Götter gegen ihn verschworen. „Na ja …“, sagte Eve zögerlich. „Ich dachte wirklich, dass du …“ „Was? Tot bin?“ Larva lächelte. „Ihr Menschen seid echt lustig, wisst ihr das eigentlich? Eure fehlende Intelligenz ist äußerst amüsant.“ Sie warf sich dramatisch ihre langen Haare in den Nacken und verteilte mit dieser Bewegung eine Kälte im Keller, die Alec in seinem Zustand nicht gerade gut tat. Er ächzte kurz auf, was Larva jedoch nicht weiter zu interessieren schien. „Wie kann ich tot sein, wenn ich keinen Herzschlag habe, keinen Sauerstoff brauche und nicht mal einen eigenen Körper besitze? Ich bin ein höheres Wesen, das keiner von euch verstehen kann. Nicht mal die brummig dreinschauenden Sa’onti dort drüben. Ich kann nicht sterben, weil ich nie geboren wurde. Ich war schon immer da und werde es auch immer sein.“ Eve betrachtete sie eine Weile stillschweigend, ehe sie meinte: „Also eigentlich hatte ich sagen wollen, dass ich dachte, du wärst von Seth geschnappt worden.“ „Oh.“ Larva verzog kurz ihr Gesicht, offenbar etwas pikiert, dass ihre geniale Ansprache im Grunde völlig sinnlos und deplatziert gewesen war. Schließlich aber zuckte sie mit den Schultern. „Tja, der dumme Bengel hätte mich wirklich fast erwischt. Aber ich bin gewitzter als er. Schon immer gewesen.“ „Schon immer?“, hakte Eve nach. „Selbst damals, als die Brucha noch lebte?“ Alec beobachtete, wie sich auf Larvas Gesicht ein Lächeln ausbreitete, das derart grotesk wirkte, dass es selbst ihm ein bisschen mulmig wurde. „Wie ich sehe, habt ihr ein paar nette, neue Informationen ausgegraben.“ Ihr Blick glitt kurz über Seamus, der förmlich in seinem Aktenberg erstickte. „Ihr seid demnach doch nicht so unnütz und leichtgläubig, wie ich angenommen hatte. Schön für euch.“ Eve trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Und? Ist irgendetwas davon wahr?“ Larva legte ihren Kopf. „Es kommt ganz darauf an, welche Version der Legende ihr gehört habt.“ Eve schien im ersten Moment tatsächlich überrascht, dass Larva sich nicht in irgendwelchen spöttischen Kommentaren verlor. Aber rasch fasste sie sich wieder und gab eine Kurzfassung dessen, was ihnen Seamus keine zehn Minuten zuvor erzählt hatte. „Verstehe“, meinte Larva nickend. „Nun, das ist nicht die vollends wahre Geschichte. Aber sie ist auch nicht komplett falsch.“ Alec lehnte sich ein bisschen weiter nach vorne und ignorierte den Schmerz in seiner Brust, so gut es ihm möglich war. „Also hat die Brucha sehr wohl existiert?“ „In der Tat“, sagte sie daraufhin. Alec bemerkte amüsiert, wie im Hintergrund Seamus zu strahlen begann wie ein Kind an Weihnachten. „Allerdings war es niemals so, dass die Menschen ihre Schönheit angebetet haben und vor ihr im Dreck gekrochen sind. Der Teil der Geschichte ist deutlich zu ihren Gunsten ausgeschmückt worden. Im Grunde war sie bloß eine eitle und verbitterte Frau, die nicht einsehen wollte, dass ihre Zeit langsam ablief.“ „Und der Rest der Geschichte?“, wollte Eve wissen. „Es fehlen einige entscheidende Passagen“, erwiderte Larva. „Aber im Großen und Ganzen ist es nicht unwahr.“ „Also war Shadyn wirklich ihr mujan und hat sie erschlagen?“, fragte Oscar. „Sie hatte es verdient, wenn ich ehrlich bin“, meinte Larva nickend. „Die ganzen Kinderseelen, die sie uns geschickt hat, wurden irgendwann sehr lästig. Ihr Weinen und Jammern ist auf Dauer schwer zu ertragen.“ Alecs Miene verdunkelte sich bei diesen Worten. Er war ganz sicher kein Heiliger und er hatte die Bezeichnung Mörder auch mehr als verdient, aber bei Kindern hörte für ihn der Spaß ganz schnell auf. Er hatte noch nie in seinem Leben eines verletzt und ging mit besonderer Vorliebe gegen diejenigen vor, die sich genau dies zur Lebensaufgabe gemacht hatten. „Allerdings hat er sie nicht erschlagen, sondern erstochen“, erklärte Larva. „Aber das sind nur kleine Details.“ „Und der Rest der Geschichte?“, drängte Eve. „Die fehlenden Passagen?“ Über Larvas Gesichtszüge legte sich daraufhin ein dunkler Schatten. „Was? Bin ich plötzlich die Märchen-Tante? Der Rest der Geschichte wird euch kein bisschen dabei helfen, As’kyp zu finden und Shadyn zu besiegen. Warum sollte ich also jetzt meine Zeit verschwenden?“ Sie fuhr sich durchs Haar. „Ich habe nicht alle Zeit der Welt, Shadyn ist mir immer noch auf den Fersen. Und wenn du die kostbaren Minuten, in denen ich euch wirklich erzählen könnte, wie man Shadyn in die Knie zwingt, lieber damit zubringen willst, zu hören, was er vor ein paar Tausend Jahren so alles getrieben hat, dann habe ich ein Problem damit.“ Eve war einige Schritte zurückgewichen. „Aber der Fluch des Ewigen Lebens ...“ „Nichts lebt ewig!“, erwiderte sie entschieden, der Chor aus tausend Stimmen vibrierend. „Weder Shadyn noch Asrim noch der Rest der Sieben. Irgendwann werden sie alle sterben. Und gerade bei Shadyn würde ich es durchaus begrüßen, wenn dies lieber morgen als in fünfhundert Jahren geschieht.“ Alec konnte es sich zwar nur schwer eingestehen, aber er musste ihr Recht geben. Als niemand protestierte, kehrte Larvas überhebliches Lächeln sehr schnell zurück, als sie an den Jägern vorbeiging und an die Zellen trat. Dabei streifte sie kurz Richard am Oberarm, was diesen dazu brachte, zusammenzuzucken. Kleine Eiskristalle tauchten wie aus dem Nichts an der besagten Stelle auf, während der Jäger sich bemühte, seinen Körper nicht allzu sehr zittern zu lassen. „Eine hübsche, neue Bleibe habt ihr euch da ausgesucht.“ Larva schien der Anblick der eingesperrten Vampire sehr zu gefallen. „Eure Ansprüche waren aber noch nie besonders hoch, nicht wahr?“ Als würden sie gar nicht existieren, marschierte Larva unbeschwert durch die Gitterstäbe hindurch. Einen Augenblick löste sich ihre Gestalt auf und nur noch wabernder Nebel war zu erkennen, schließlich aber nahm sie wieder Form an. Ihre leeren Augen musterten prüfend das Innere der Zelle. „Wirklich sehr schick“, meinte sie in einem Tonfall, der ihren Hohn mehr als deutlich machte. „Was also willst du?“, zischte Alec. „Uns verspotten? Dafür hast du dann plötzlich doch Zeit?“ Larva schenkte ihm ein eisiges Lächeln. „Aber nein, kleiner Vampir, wo denkst du hin? Eure Notlage tut mir wirklich unglaublich leid. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich eure Situation nachempfinden kann.“ Oscar knurrte daraufhin bedrohlich. Er schien in Larvas Worten wohl ein großes Maß an Schadenfreude zu sehen, was Alec auch jederzeit bestätigt hätte, hätte er nicht den Gesichtsausdruck des Wesens vor Augen gehabt. Auch wenn ihre Aussage durchaus hämisch gemeint gewesen war, so steckte doch ein wenig Ernsthaftigkeit dahinter. Eine Tatsache, die offenbar niemanden mehr überraschte als Larva selbst. Vielleicht sah sie wirklich einige Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, wie ihr nun bewusst wurde. Immerhin waren sie alle von Seth ausgetrickst und in ihre Schranken verwiesen worden. „Ich hab versprochen, wiederzukommen“, fuhr sie fort, um schnell das Thema zu wechseln. Sie schien an Alecs Miene erkannt zu haben, dass dieser sie durchschaut hatte. „Ohne mich seid ihr schließlich nicht in der Lage, As’kyp und vor allen Dingen euch selbst zu retten.“ „Dann sag uns, wo wir deinen idiotischen Meister finden können und verschwinde endlich!“, fauchte Oscar ungehalten. „So einfach ist das nicht“, erwiderte Larva. „As’kyp ist an einem Ort, der … na ja, für euch irdische Wesen schwer zu erreichen ist. Nicht mal ich komme ohne weiteres an ihn heran. Ihr müsst …“ Sie hielt plötzlich inne, wandte sich Oscar zu und musterte ihn eine Weile mit solch einer Intensität, dass es den Vampir sichtlich zur Weißglut trieb. „Was ist?“, zischte er schließlich ungehalten. Larva legte ihren Kopf schief. „Wusstest du eigentlich, dass du weißes Pulver im Haar hast?“ Oscar starrte sie einen Augenblick ehrlich verblüfft an, dann aber knurrte er tief und machte damit mehr als deutlich, was er von diesem unerwarteten Themenwechsel hielt. Alec hingegen konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. In der Tat sah Oscar immer noch aus, als hätte ihm jemand eine Ladung Puderzucker über den Kopf geschüttet. Mit dem Wasser, das man ihm in die Zelle gestellt hatte, hatte er zwar versucht, das lästige Pulver auszuwaschen, aber besonders viel gebracht hatte es nichts. Erst eine ausreichende Dusche oder ein Sprung in den nächsten See hätten wahrscheinlich Abhilfe schaffen können. „Vergiss doch Oscars Haare!“ Eve funkelte Larva von der anderen Seite der Gitterstäbe herausfordernd an. Ihr Kollege Richard stand immer noch neben ihr und sah heillos verwirrt aus. Er versuchte wohl angestrengt, die ganze Situation irgendwie zu begreifen, war aber bis jetzt offensichtlich kläglich gescheitert. Alec konnte es nachempfinden, er selbst verstand auch nicht so recht, was eigentlich genau vorging. „Was ist denn nun mit deinem Meister?“, bohrte Eve weiter nach. „Wo ist er? Wie kommen wir an ihn ran?“  „Das wird nicht einfach.“ Larva rieb sich am Kinn, als würde sie intensiv nachdenken. „Ich kann euch nicht sagen, wie man As’kyp erreicht, weil ich es selbst nicht weiß.“ Alec erkannte an ihrem Tonfall, dass es ihr offenbar sehr schwer fiel, dies zuzugeben. Es war wahrscheinlich schon lange her, dass sie eine Schwäche hatte eingestehen müssen. „Aber ich kann euch verraten, wer Seth dazu gedrängt hat, einen Totenwächter zu benutzen. Dieser Jemand weiß zufällig auch, wie man den Feuerteufel schwächen oder sogar endgültig besiegen kann.“ Nun wurde Alec hellhörig. Das klang endlich mal nach einer verwertbaren Information. „Wer ist es?“, fragte Eve wie auf heißen Kohlen. „Seinen Namen zu kennen wird euch nichts nützen, da dieser Wicht schon vor Äonen gestorben ist.“ Larva zuckte sorglos mit den Schultern, als wäre dies nichts Weltbewegendes. „Hat ein schreckliches Ende genommen, der arme Kerl.“ Alec merkte bereits im nächsten Augenblick, wie sie ihn intensiv musterte. Als müsste er den Mann, von dem sie soeben gesprochen hatte, durchaus kennen. Und er spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. „Dir ist Shadyn vertraut, nicht wahr?“, meinte sie, direkt an ihn gerichtet. „Du kennst ihn, es liegt dir förmlich auf der Zunge, und dennoch kannst du ihn nirgendwo platzieren. Es treibt dich in den Wahnsinn, weil du einfach keine Ahnung hast, wo du ihn zuordnen sollst.“ Alec merkte, wie er automatisch nickte. „Es kommt alles zusammen“, erklärte Larva. „Vor Jahrtausenden hat zwei Männer der Hass und die Furcht vor Asrim zusammengetrieben. Der eine war besessen davon, Asrim irgendwie auszuschalten, der andere zögerlich. Und am Ende sind sie beide blind und dumm gewesen. Und die kennst sie beide, Alec. Du erinnerst dich nur nicht mehr daran, weil du dich nicht erinnern willst! Ihr Vampire seid alle viel zu stolz, um auf eure Zeit als Menschen zurückzublicken.“ Alec bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Oscar ihn aufmerksam beobachtete, als wäre er sich nicht sicher, ob der andere in der nächsten Sekunde zusammenbrach oder nicht. Alec wiederum spürte, wie sich in seinem Kopf wieder alles zu drehen begann, kaum dass von seiner Vergangenheit gesprochen wurde. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr daran gedacht, an diese Stadt voller Magier, und nun wurde er beinahe stündlich daran erinnert? Es war quälend und grausam und ganz sicher kein Zufall. „Was willst du damit sagen?“, zischte Alec. Er hasste es zwar, aber sein Verstand hatte bereits damit begonnen, die Bilder hervorzukramen, die er vor Jahrtausenden begraben hatte. Menschen, die er gekannt hatte. Die Stadt mit dem großen Palast. Und der Strand ... „Seth hat schon viele Namen und viele Gesichter getragen“, fuhr Larva fort, offenbar vergnügt, dass sie mehr wusste als er. „Damals, als du ihm begegnest bist, nannten ihn alle einen Pirat und Trunkenbold.“ Alec runzelte die Stirn, als sich Puzzleteile in seinem Kopf zusammenfügten, dass es ihm regelrecht schwindelig wurde. Mit einem Mal sah er wieder Gesichter und Namen vor sich, hörte ihre Stimmen, ihr Lachen, ihre Todesschreie. Und es hatte einen Mann gegeben. Jedermann hatte angenommen, er wäre ein Freibeuter gewesen und er hatte sich niemals die Mühe gemacht, diese Gerüchte zu dementieren. Im Gegenteil, er hatte es genossen, dass so viele farbenfrohe Geschichten über ihn im Umlauf gewesen waren. „Calvio.“ Alec wurde plötzlich ganz schlecht. Er hatte schon seit Urzeiten nicht mehr an diesen Mann gedacht, den der Mensch, der er einst gewesen war, als besten und engsten Freund bezeichnet hatte. Neyo war gestorben und damit war auch Calvio ohne jedwede Bedeutung gewesen. Doch nun rief er sich Seth vor sich. Dieses jungenhafte Gesicht, diese funkelnde Augen. Und man sah tatsächlich Calvio darin, auch wenn es über alle Maßen seltsam war. Calvio hatte ein gegerbtes Gesicht gehabt, gezeichnet von den harten Zeiten, einen Vollbart und war allgemein kein großer Freund von einem gepflegten Äußeren gewesen. Seth und Calvio schienen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und dennoch ... „Ich verstehe nicht.“ Alec schämte sich nicht dafür, wie dünn und zaghaft seine Stimme klang. Er bemerkte es sogar erst, als sich Oscar neben ihn auf die Pritsche setzte, als hätte er plötzlich das Bedürfnis, ihn zu beschützen. „Es gibt so vieles, was du nicht einmal ahnst, Neyo“, fuhr Larva fort und Alec missfiel es sehr, dass er zunächst nicht einmal registrierte, dass sie seinen Menschennamen benutzte. „Du würdest weinen, wenn du wüsstest, wie ahnungslos du eigentlich bist.“ Und Alec erinnerte sich daran, dass Seth genau dasselbe gesagt hatte. Immer wieder hatte er betont, dass das, woran er sich zu erinnern glaubte, nichts mehr war als eine Ansammlung von Lügen und es ihm das Herz brechen würde, würde er eines Tages je die Wahrheit erfahren. „Was hat das zu bedeuten?“, wollte Oscar wissen, nachdem Alec vollends verstummt war. „Es ist nicht meine Aufgabe, euch dies zu erzählen“, meinte Larva kopfschüttelnd. „Fragt euren Schöpfer, auch wenn dieser wahrscheinlich eher Spaß daran hätte, sich das Herz aus der Brust zu reißen anstatt es euch zu erzählen.“ Alec spürte einen Knoten im Hals und fragte sich, wann er das letzte Mal das Bedürfnis gefühlt hatte, sich zu übergeben. „Warum ...?“ Alec holte einmal tief Luft. „Er war schon Jahre vor Asrim in ... in der Stadt.“ Er brachte es einfach nicht über sich, den Namen auszusprechen. „Hat er ... hat er Asrim Bescheid gesagt ... über mich?“ Oder hatte Calvio gar irgendwelche anderen Intentionen verfolgt? Was war damals sein Motiv gewesen, um sich mit Neyo abzugeben? „Du warst Fügung, mein Junge“, erklärte Larva kryptisch. „Nicht mehr und nicht weniger.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was Shadyn damals nach Rashitar getrieben hat? Jener Mann, der ihm beigebracht hat, sich der Macht des Todes zu bedienen, um allmächtig zu werden. Jener Mann, der Shadyn so stark und gleichzeitig so verwundbar gemacht hat.“ Alec wusste mit einem Mal ganz genau, von wem sie sprach. Deutlich sah er wieder dessen Gesicht vor sich, hörte dessen Stimme. Neyo hatte diesem Mann gegenüber Respekt empfunden, aber ebenso Angst und Hass. Und für Alec war er nur ein unbedeutendes Insekt gewesen, das es zu zerquetschen gegolten hatte. „Te-Kem.“ *  *  *  *  *  *  *  *  *  * Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.): „Du siehst aus, als hätte ein Geist aus der Vergangenheit dich heimgesucht.“ Te-Kem zuckte kurz zusammen, als er die amüsierte Stimme hörte. Nachdem vor einer gut halben Stunde einer der Diener ihm ein Tablett mit etwas Essbaren auf den Tisch gestellt hatte, welches der Magier bisher keines einziges Blickes gewürdigt hatte, und letztlich wieder verschwunden war, war Te-Kem absolut allein in dem weitläufigen Salon gewesen. Schnell hatte er seine Gedanken daraufhin schweifen lassen und schon bald die ganzen wichtigen und unwichtigen Regierungsangelegenheiten vergessen, die er eigentlich hätte bearbeiten sollen, aber bisher weder die Energie noch die Lust dazu gefunden hatte. Er vermochte sich sowieso auf nichts anderes zu konzentrieren als auf die allgegenwärtige Gefahr. Selbst wenn er versuchte, sich zu zwingen, Asrim nicht unter seine Haut kriechen zu lassen, war dies meist nur allzu kurz von Erfolg gekrönt. Die Sorge und die Angst fraßen ihn förmlich auf und hatten ihn schon seit Tagen nicht mehr schlafen lassen. Jeden Moment rechnete er damit, dass irgendetwas aus dem Schatten auftauchte und ihn attackierte, während er gleichzeitig wusste, dass Asrim sich vermutlich sogar noch eine Weile Zeit dafür lassen würde, um ihn weiter zu quälen und dabei zuzusehen, wie seine Unsicherheit ihn in den Wahnsinn trieb. Er war schon immer ein Taktier gewesen, ein Spieler. Es ging ihm nie darum, möglichst schnell zuzuschlagen, sondern im Gegenteil möglichst viel aus der Situation herauszuholen. „Bist du offiziell hier oder hast du dich einfach hereingeschlichen?“, fragte Te-Kem resigniert seinen Besucher. Anfangs hatte ihn die Dreistigkeit dieses Mannes extrem aufgeregt, inzwischen aber hatte er gelernt, sich irgendwie damit abzufinden. Er vermochte immerhin sowieso nichts daran zu ändern. „Hereinschleichen klingt nach einem solch bösen Wort“, meinte der andere belustigt. „Außerdem hast du mich rufen lassen, nicht wahr? Demnach würde ich das Ganze schon als offiziell bezeichnen.“ Te-Kem richtete seinen Blick auf den Mann, der inmitten dieses prachtvollen und reich ausgestatteten Raumes absolut fehl am Platz wirkte. Seine Kleidung war abgetragen, seine Haare ungepflegt und sein breites Grinsen derart spöttisch, dass es Te-Kem eiskalt den Rücken herunterlief. Dieser Kerl kannte keinen Respekt und nicht einmal die Definition von Anstand. Jyliere war er unter dem Namen Calvio bekannt, doch Te-Kem war klar, dass es sich darum bloß um eine falsche Identität handelte. Zwar hatte er dies nie wirklich dem Magier gegenüber bestätigt, aber einst hatte er angedeutet, dass er schon unzählige Leben gelebt hätte. Er war ein Mann, dessen wahre Natur schon längst vergangen und vergessen war. „Niemand weiß, dass du hier bist“, erwiderte Te-Kem mit Nachdruck. „Bei allen Göttern, niemand weiß, dass wir uns überhaupt kennen.“ „Was wirklich eine Schande ist“, entgegnete Calvio. Er trat an das Essenstablett heran und nahm sich schamlos ein Stück Käse. „Ich könnte dich zu ein paar netten Glücksspielchen mitnehmen und ein paar Freunden vorstellen. Die wären begeistert von deiner ... Persönlichkeit.“ Und wahrscheinlich von meinem Wohlstand, dachte er bitter. Zudem er ganz sicher niemanden kennenlernen wollte, den Calvio als seinen Freund bezeichnete. Te-Kem schnaubte, während er sich nicht zum ersten Mal fragte, warum er diesem Mann überhaupt gestattete, derart mit ihm umzuspringen. Rein gesellschaftlich betrachtet stand Calvio weit unter ihm, selbst Te-Kems Diener hätten ohne Mühe auf ihn herabsehen können. Er war das Sinnbild einer Ratte aus der Gosse und tat alles, um diese Vorstellung aufrecht zu erhalten. Auch wenn Te-Kem absolut keine Ahnung hatte, warum. Denn tief im Inneren gehörte er vielleicht zu den mächtigsten Menschen auf dieser Welt und hätte es sich demnach leisten können, in einem schicken Palast zu leben und Reichtümer anzusammeln. Er hätte alle Möglichkeiten dazu gehabt, aber aus irgendeinem Grund legte er überhaupt keinen Wert darauf. Er reagierte sogar mit Unverständnis, wenn Te-Kem ihn darauf ansprach, als wäre das Ganze einfach nur unvorstellbar. Und der Obere wusste nicht, ob er sich einfach bescheiden gab oder eine andere, sehr viel wichtigere Erklärung existierte, weshalb er es vorzog, im Dunkeln zu leben. So oder so hatte er es sich nicht nehmen lassen, vor gut zwanzig Jahren an Te-Kem heranzutreten, als er damals neu in Rashitar angekommen war. Te-Kem hatte ihn zunächst herauswerfen wollen, hatte aber schnell gemerkt, dass Calvio über Talente weit jenseits seiner Vorstellungskraft verfügte. Er war ein einzigartiges Geschöpf, selbst in ihrer magischen Welt. Te-Kem hatte es nicht für sich behalten wollen, besonders gegenüber Jyliere, der in Calvio immer noch einen einfachen Mann sah, den er damals aus reiner Herzensgüte bei sich aufgenommen hatte. Doch Calvio hatte dem Oberen zu verstehen gegeben, dass er besser schweigen sollte, wenn er Wert darauf legte, dass gewisse Geheimnisse weiterhin gehütet würden. Und somit hatte Te-Kem den Mund gehalten. Denn noch schlimmer, als seinen Freund zu belügen, wäre es gewesen, hätte er in dessen schockiertes Gesicht schauen müssen, hätte er je irgendwann die Wahrheit erfahren. „Ich darf einmal annehmen, dass du mich wegen Asrim hierherbestellt hast?“, hakte Calvio nach. Er begutachtete interessiert eine bunte Vase und schien abzuwägen, welchen Preis sie auf dem Markt erzielen würde. „Er muss dir wunderschöne Albträume bescheren, nicht wahr?“ Te-Kem zog seine Mundwinkel nach unten. Er hasste es, dass Calvio das Ganze als dermaßen unterhaltsam und vergnüglich ansah. Ihn störte es nicht einmal im Geringsten, dass es um Menschenleben ging. Woher Calvio und Asrim sich überhaupt kannten, wusste Te-Kem nicht. Auf seine wiederholten Fragen hatte der andere immer bloß mit einem geheimnisvollen Lächeln geantwortet und sich nicht einmal die Mühe gemacht, Worte zu formulieren. „Weiß er, dass wir beide uns kennen?“, wollte Te-Kem schließlich wissen. Calvio legte seinen Kopf schief. „Ich persönlich habe es ihm nicht gesagt, als ich ihn vor ein paar Tagen getroffen habe.“ Er schmunzelte, als er bemerkte, wie Te-Kem bei diesen Worten erschauerte. „Aber andererseits ist es Asrim und es würde mich nicht allzu sehr wundern, wenn er zumindest eine Ahnung hat. Er weiß, dass ich viel zu neugierig bin, um keinerlei Interesse an dir zu haben.“ Erneut konnte Te-Kem ein Erzittern seines Körpers nicht verhindern. Er befürchtete, dass er bald an der Grenze seiner physischen Belastbarkeit angelangt wäre. „Also, worum geht es?“ Leichtfüßig ließ sich Calvio auf eines der gepolsterten Sofas fallen, als befände er sich nicht gerade zufällig in den Gemächern des obersten Magiers des Landes. Te-Kem hätte es nicht einmal verwundert, wenn er im nächsten Moment seine Stiefel abgestreift und es sich bequem gemacht hätte. „Musst du das wirklich fragen?“, hakte der andere seufzend nach. Er hasste es, wie Calvio gerne auf allem herumritt, das Te-Kem auch nur ansatzweise unangenehm war, und ihn zwang, Dinge auszusprechen, die er eigentlich lieber für sich behalten hätte. „Ich werde dir nicht helfen, Asrim umzubringen, falls das deine Bitte sein sollte“, erklärte Calvio daraufhin. Te-Kem spürte, wie ihm bei diesen Worten das Herz gleich ein bisschen schwerer wurde, auch wenn er im Grunde nicht damit gerechnet hatte, dass sein Gegenüber sich sofort frohen Mutes ohne jedwede Diskussion in den Kampf geworfen hätte. Es lag gewiss nicht in Calvios Natur, sich einer Sache zu verschreiben, wenn nicht irgendetwas dabei für ihn heraussprang. „Was verlangst du?“, fragte Te-Kem somit geradeheraus. Calvio aber schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um irgendeinen Preis“, erwiderte er. „Bei allen Göttern, du könntest mir hier und jetzt dein Königreich anbieten und ich würde dir trotzdem nicht helfen. Du hast mir rein gar nichts anzubieten, das mich auch nur im Entferntesten dazu bringen könnte, mich gegen Asrim zu stellen.“ „Fürchtest du ihn so sehr?“ Te-Kem vermochte es ihm nicht zu verübeln, er selbst war seit der Erkenntnis, dass Asrim noch lebte, obwohl sein eigener Vater vor gut einem Jahrhundert standhaft das Gegenteil behauptet hatte, einfach nur ein nervliches Wrack und kurz davor, vollkommen den Verstand zu verlieren. Es war durchaus verständlich, dass Calvio es nicht riskieren wollte, Asrims Aufmerksamkeit irgendwie negativ zu beeinflussen. Auch wenn sich Te-Kem gar nicht so sicher war, ob dies tatsächlich der Grund war, warum der andere sich zurückhielt. Etwas in der Art und Weise, wie Calvio über Asrim sprach, ließ durchaus vermuten, dass es nicht nur Angst und Respekt waren, die ihn zurückweichen ließen. „Ist er dir womöglich überlegen?“, hakte der Magier nach. Wenn es etwas gab, das Calvio nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn jemand seine Talente anzweifelte. Zumindest wenn es von Leuten kam, die eigentlich um seine wahre Macht Bescheid wussten und ihn nicht nur für einen gewöhnlichen Piraten hielten. Calvio lächelte jedoch leicht. „In manchen Dingen ist er mir tatsächlich überlegen, in anderen wiederum habe ich die Überhand“, gab er zu. „Wenn wir uns tatsächlich eines Tages entscheiden sollten, uns gegeneinander zu stellen, könnte ich nicht sagen, wer als Sieger hervorgeht.“ „Und wenn du einen Vorteil hättest?“ Interessiert beobachtete er, wie Calvios Miene sich ein wenig verdüsterte. „Schlägst du tatsächlich vor, das zu tun, was ich denke, das du mir vorschlägst?“ Er schnaubte abfällig und hätte wahrscheinlich sogar noch verächtlich auf den Boden gespuckt, wenn sein Mund nicht mit schmackhaften Trauben gefüllt gewesen wäre. „Asrim hat dich offenbar das letzte bisschen Verstand gekostet.“ „Und warum?“, fragte Te-Kem. „Ich würde es selbst tun, wenn ich könnte, aber ich habe nicht die Macht dazu. Du hingegen schon.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Zugegeben, man sieht es dir vielleicht nicht an, aber ich spüre deutlich, was in dir brodelt. Du könntest mich und wahrscheinlich alle anderen Magier, die sich in diesem Gebäude befinden, mit einem Schlag auslöschen, nicht wahr?“ Calvio sagte hierauf nichts, aber man merkte, dass es ihn sehr viel Überwindung kostete, nicht stolz zu grinsen und Te-Kems Frage enthusiastisch zu bejahen. „Ich verlange von dir doch gar nicht, Asrim umzubringen“, stellte Te-Kem klar. „Ich ... ich will nicht, dass er stirbt.“ Trotz alledem, was der Vampir bereits getan hatte und auch vermutlich noch tun würde, wenn niemand ihn aufhielt, vermochte Te-Kem den Gedanken, an seinem Tod Schuld zu sein, nicht zu ertragen. Nicht schon wieder. „Ich will ihn bloß aufhalten“, sagte er entschieden. Calvio legte seinen Kopf schief. „Vielleicht versuchst du es einfach mal mit ein paar netten Worten“, schlug er vor, während sich seine Lippen zu einem anzüglichen Lächeln verzogen. „Das könnte unter Umständen seine Meinung ändern.“ Anstatt wie so oft verärgert auf seine Anspielung zu reagieren, erwiderte er bloß trocken: „Glaub mir, wenn ich wüsste, dass es irgendetwas bewirken würde, würde ich es sogar tun. Mit dem allergrößten Vergnügen.“ Amüsiert beobachtete er daraufhin, wie Calvio von seiner offenen Antwort derart überrascht war, dass er es nicht einmal schaffte, angemessen zu reagieren. „Aber was ich, was mein Vater, was wir alle ihm angetan haben ...“ Te-Kem schloss kurz die Augen. „Du hast keine Ahnung ...“ „Oh doch, die hab ich“, fiel ihm Calvio ins Wort. Seine Miene war ungewöhnlich ernst. „Ich weiß ganz genau, was ihr ihm gestohlen habt. Und es erstaunt mich wenig, dass es ihn wahnsinnig vor Hass macht! Im Grunde ist es sogar überraschend, dass er bisher noch nicht die gesamte Stadt zerstört hat.“ Er zuckte lapidar mit den Schultern. „Aber das mag vielleicht noch kommen.“ Te-Kem spürte, wie sich sein Innerstes zusammenzog. Inzwischen war es ihm fast schon einerlei, was mit ihm geschah. Aber Reann und die Bewohner Rashitars – sie alle hatten solch ein Schicksal absolut nicht verdient. „Du kannst dem ein Ende setzen!“, meinte er mit Bestimmtheit. „Wenn du deine Macht mit der des Todes vereinst, wirst du schier unbesiegbar! Du könntest Sharif in Flammen aufgehen lassen und Asrim für immer und ewig aus der Stadt verbannen.“ Calvio schnaubte. „Ein Anash’gura, ja?“ Er konnte bloß den Kopf schütteln. „Zunächst einmal ist das nur Theorie. Ich habe bisher noch von keinem Fall gehört, in dem das irgendwie funktioniert hätte. Ich wüsste nicht einmal, wo ich genau anfangen sollte.“ „Ich könnte es dir zeigen“, bot Te-Kem an. Calvio runzelte daraufhin verwundert die Stirn. „Du kennst die Magie dahinter?“ Te-Kem zuckte mit den Schultern. „In meiner Familie gibt es einige Geheimnisse.“ Er beobachtete, wie Calvios Gedanken zu rasen begannen. Es war ein Risiko, ein absolutes Wagnis, aber gleichzeitig war eine Neugierde geweckt, die man nicht einfach wieder schlafen legen konnte. Calvio war durch und durch ein Wesen der Magie und geradezu versessen darauf, alles zu erlernen, alles zu wissen. Für ihn war dieses Anregung derart reizvoll, als hätte Te-Kem ihm soeben ein Vermögen und ein Leben ohne Kummer und Sorgen geboten. „Bei allen Göttern, du bist so ein verfluchter Verführer, Te-Kem!“, fauchte Calvio ungehalten. Man sah den inneren Kampf, den er ausfocht, und der Obere kam nicht umhin, triumphierend zu lächeln. „Hast du eine Ahnung, was ich damit alles anstellen könnte, sollte ich dies tatsächlich beherrschen?“ Te-Kem nickte. „Ich weiß.“ „Aber es könnte mich töten“, erwiderte Calvio, klang jedoch von diesem Gedanken gar nicht so abgeschreckt, wie man hätte denken können. „Es könnte mich vollkommen zugrunderichten.“ Te-Kem biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß.“ „Und es würde dich wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise kümmern, ob ich sterbe oder nicht, nicht wahr?“, hakte Calvio nach. Te-Kem legte den Kopf schief. Er hätte natürlich das Blaue vom Himmel herunterlügen können, aber er wusste, dass Calvio ihn kein einziges Wort geglaubt hätte. „Ob du lebst oder stirbt, ist mir eigentlich relativ einerlei. Allerdings würde ich es durchaus bevorzugen, wenn du erfolgreich bei dem Ganzen bist.“ Calvio kaute auf seiner Unterlippe herum, schien absolut hin- und hergerissen. Es war Macht und Wissen, das Te-Kem ihm anbot, und diese zwei Dinge standen bei ihm über allem anderen. Anash’gura waren Wesen der Anderswelt, mächtig und geheimnisvoll. Man wusste nicht allzu viel über sie und im Grunde begegnete kein Normalsterblicher jemals solch einem Geschöpf, aber jemanden wie Calvio wäre es sicherlich irgendwie gelungen, einen Wächter der Toten aufzuspüren. Es hätte Te-Kem sogar nicht einmal wirklich verwundert, wenn er bereits den ein oder anderen persönlich kannte. Und mit den Fähigkeiten eines Anash’guras hätte er Asrim eine ernsthafte Gefahr werden können. Vampire waren dem Tod so nahe und gleichzeitig so fern wie keine andere Kreatur auf der Welt. „Ich soll also mein Leben riskieren, weil Asrim deines bedroht?“, hakte Calvio nach. „Was lässt dich denken, dass ich auf solch einen Handel eingehen würde?“ Te-Kem legte seinen Kopf schief. „Weil ich dir das Wissen nur gebe, wenn du mir versprichst, mir zu helfen“, erklärte er mit Nachdruck. „Ansonsten nehme ich es mit in mein Grab und du wirst so schnell wahrscheinlich keinen zweiten finden, der es dir beibringen kann.“ Calvio wirkte plötzlich derart gequält wie ein geprügelter Hund. „Langsam verstehe ich wirklich, was Asrim damals an dir gefunden hat“, meinte er zähneknirschend. „Selbst wenn du mir den beinahe sicheren Tod versprichst, bleibe ich hier sitzen und höre dir zu. Das ist eine Kunst, die nicht viele beherrschen.“ Te-Kem genehmigte sich ein schadenfrohes Lächeln. „Also was sagst du? Willst du dir diese einmalige Chance entgehen lassen?“ Calvio massierte sich unruhig die Hände. „Ich hätte Macht über den Anash‘gura“, meinte er. „Seine Kraft wäre die meine und ich könnte die Regeln von Leben und Tod zu meinen Gunsten verformen. Ich könnte allen das Fürchten lehren und niemand würde mich aufhalten können.“ Sein breites Grinsen erlosch. „Aber das Blatt vermag sich schnell zu wenden. Das Ganze ist ein zweischneidiges Schwert. Der Anash’gura hätte ebenso Macht über mich und wenn ich nur einen Augenblick unaufmerksam bin, wäre meine Kraft die seine. Und er könnte mich in die Tiefen der Unterwelt ziehen.“ Te-Kem nickte. „Das sind die zwei Optionen“, sagte er. „Und? Bist du zu vorsichtig und zu feige, um das Wagnis einzugehen? Oder versprichst du mir, Asrim und Sharif aus der Stadt zu vertreiben?“ Calvio blickte auf und Te-Kem beobachtete, wie das letzte bisschen Zweifel in sich zusammenbrach. Das, was ihm angeboten wurde, war einfach zu verlockend, um es zu ignorieren. Und somit sagte er: „Wir sind im Geschäft, Oberer.“ Kapitel 30: Das Juwel --------------------- „Das also ist es?“ Eves Stimme war die erste, die die Stille durchbrach, nachdem Larva ihre Geschichte beendet hatte. Alle Anwesenden waren sofort in Schweigen verfallen und hatten das Wesen mit den Gesichtszügen von Vanessa Smith unentwegt angestarrt. „Soll das heißen …“, fuhr sie zögerlich fort, „das einzige, was Seth töten kann, … ist As’kyp?“ Zunächst war sie verblüfft gewesen, obwohl es genaugenommen durchaus Sinn ergab. Seth hatte sich As’kyps Fähigkeiten bemächtigt und hielt ihn irgendwo an einem unbekannten Ort gefangen. Der Totenwächter – oder auch Anash’gura, wie Seth ihn genannt hatte – war offenbar momentan nicht in der Lage, sich irgendwie zu befreien. Ihre Kräfte waren miteinander verbunden und im Augenblick war Seth der dominierende Part in dieser seltsamen Beziehung. Aber wie war es dann erst, wenn As’kyp wieder Macht erlang? Konnte er sich dann an Seths Fähigkeiten bedienen und den Magier seiner Stärke berauben, bis dieser nichts weiter war als ein normaler Mensch oder sogar völlig zugrundeging? „Hat er es getan?“, fand Richard auch schließlich seine Sprache wieder. „Hat Seth – oder von mir aus auch Calvio – schon damals diese Macht genutzt, um gegen Asrim und Sharif vorzugehen?“ Eve betrachtete Larva interessiert. Zumindest hatte Calvio Te-Kem durchaus versprochen, ihm beizustehen, doch sie kannte genug von dieser alten Geschichte, um sich im klaren zu sein, dass es kein gutes Ende genommen hatte. Zumindest konnte sie sich nicht entsinnen, dass ein Ritter in strahlender Rüstung aufgetaucht wäre und die Vampire vertrieben hätte. „Te-Kem hat damals nicht bedacht und im Grunde auch gar nicht gewusst, dass Shadyn aus einer anderen Zeit gestammt hat als er selbst“, erklärte Larva. „Für Te-Kem war ein Versprechen bindend, für Shadyn war es bloß eine Frage der Auslegung. Er hatte nie ein Problem damit, den Menschen die Worte im Mund zu verdrehen.“ „Er hat gelogen“, fasste Eve zusammen. „Er hat die Wahrheit gebeugt“, erwiderte Larva. „Das hat er schon immer gerne getan.“ Und mit diesen Worten zwinkerte sie Alec zu, der daraufhin leicht zusammenzuckte und seine Zähne fletschte, als die Bewegung eine neue Welle des Schmerzes durch seinen Körper schickte. „Shadyn wollte das Wissen, das Te-Kem besaß, unbedingt für sich haben“, fuhr Larva fort. „Ihm war jedes Mittel Recht, um sein Ziel zu erreichen. Allerdings war Te-Kem gewiss nicht dumm und hätte sich niemals mit einer glatten Lüge einfach abspeisen lassen. Es steckte ein Körnchen Wahrheit in Shadyns Worten.“ „Und dennoch lebt Asrim heute noch und Te-Kem ist damals gestorben“, stellte Eve nüchtern fest. Sie warf einen Blick zu Alec, dessen Miene hart und unleserlich geworden war. Er wünschte sich wahrscheinlich gerade nur, dass alle um ihn aufhörten, in alten Wunden herumzustochern, und ihn schlichtweg in Ruhe ließen. „Ich würde ja einfach vorschlagen, dass du unseren süßen Alec fragst, was damals in Rashitar geschehen ist, aber ehrlich gesagt kennt er selbst auch nur einen Bruchteil der Wahrheit, selbst wenn er sich dessen nicht bewusst ist.“ Larva lächelte schief. „Vielleicht hast du Glück und Shadyn oder Asrim werden es dir verraten. Niemand sonst kennt die komplette Geschichte.“ Alec wirkte für einen Moment, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen, ehe er sich wieder um eine gefasste Miene bemühte. Eve erinnerte sich derweil, dass auch Seth etwas ähnliches ihm gegenüber angedeutet hatte. Ihm gefiel es vermutlich wenig, von solchen Wesen über seine eigene Vergangenheit belehrt zu werden. „Und so faszinierend das Ganze auch ist, sollten wir vielleicht wieder auf As’kyp zu sprechen kommen“, entgegnete Oscar harsch. „Wir können gerne weiterdiskutieren, wenn Seths innere Organe vor meinen Füßen liegen.“ „Er hat Recht“, meinte Richard nickend. „Also, na ja … nicht das mit den inneren Organen, das ist wirklich ekelhaft … aber As’kyp …!“ Eve vermochte nicht zu widersprechen. Es gab zwar unzählige Punkte, die sie gerade brennend interessierten – die Legende der Brucha oder auch die Ereignisse einst in Rashitar –, doch dafür hatten sie später immer noch genügend Zeit. Seth hätte jeden Moment wieder hier auftauchen und ihre einzige wirkliche Chance im Keim ersticken können, sollten sie noch weiter herumtrödeln. „Theoretisch betrachtet wissen wir, wie wir Seth ausschalten können“, sagte sie. „Aber dennoch gibt es entscheidende Probleme. Zunächst einmal haben wir keinen Ahnung, wo sich As’kyp überhaupt aufhält. Und selbst wenn wir ihn finden und befreien, wird er dann wirklich in der Lage sein, Seth auszuschalten? Er ist doch sicherlich durch die lange Gefangenschaft ziemlich geschwächt.“ „Dennoch ist es alles, was wir haben“, entgegnete Richard seufzend. „Darum sollten wir das Beste daraus machen.“ „Du gefällst mir, Junge“, meinte Larva amüsiert. „Ich freue mich schon darauf, wenn du stirbst und ich dich im Jenseits besuchen kann.“ Während Richard angesichts dieser Worte etwas blasser um die Nase wurde, klatschte Larva aufmunternd in die Hände. „Und er hat Recht, meine kleinen Freunde. As’kyp zu finden, ist die beste Chance, die ihr habt.“ Eve schnaubte. „Du hast doch selbst gesagt, dass du nicht weißt, wo As’kyp ist.“ „Ich weiß, wo er ist“, erwiderte das Geisterwesen leicht pikiert. „Aber ich habe keine Ahnung, wie ihr dorthin gelangen könnt. Den Weg, den ich nehme, könnt ihr jämmerlichen Kreaturen nicht benutzen. Aber einen anderen kenne ich nicht.“ Eve wusste nicht genau, ob sie enttäuscht oder angesichts von Larvas Wortwahl beleidigt sein sollte. Richard war wieder in Gedanken versunken, Seamus grinste wie ein Kind, das es kaum begreifen konnte, bei solch einem Erlebnis, das vielleicht irgendwann einmal in einem Geschichtsbuch stehen würde, dabei zu sein und Oscar überlegte offenbar gerade, ob es nicht vielleicht doch einen Weg gab, Larva umzubringen oder sie zumindest unerträgliche Qualen leiden zu lassen.  „Und was jetzt?“, fragte Eve seufzend nach. „Soll es wirklich so enden? Wir kennen die Lösung, können aber trotzdem nichts tun?“ „Ich kann euch nicht helfen.“ Auf Larvas Lippen bildete sich plötzlich ein Lächeln. „Aber ich kenne jemanden, der dazu imstande ist. As’kyp ist an einem Ort gefangen, den keine Seele ohne weiteres erreichen kann. Aber einst, vor langer Zeit, zeigte Seth jemanden den Eingang zu diesem Ort. Einer alten Geliebten.“ Eve runzelte die Stirn und auch die anderen sahen recht verwirrt aus. Sie wechselten einige verwunderte Blicke, ehe die Jägerin schließlich fragte: „Und … wem?“ Larva trat einige Schritte zurück. Ihre Gestalt löste sich bereits zusehend auf und würde in wenigen Augenblicken verschwunden sein. „Fragt das Juwel. Sie kennt den Weg.“ „Sie …?“, hakte irritiert nach, vermochte aber nur noch zuzuschauen, wie sich Larvas Gestalt auflöste und die Gruppe ohne eine zufriedenstellende Antwort zurückließ. „Verdammt!“ Eve knirschte mit den Zähnen und sah kurz hinüber zu Richard, der ebenso frustriert wirkte wie sie. Als sie ihren Blick jedoch weiter schweifen ließ, bemerkte sie, dass sie beide offenbar die einzigen waren, die keine Ahnung davon hatten, was Larva gemeint haben könnte. Seamus wirkte ehrlich überrascht, Oscar beinahe schon schockiert und Alec erweckte den Anschein, als würde er sich in der nächsten Sekunde übergeben. „Also …“, begann Eve zögerlich, nachdem mehrere Augenblicke in absoluten Stillschweigen vergingen, „ich nehme an, ihr wisst Bescheid, wer mit Juwel gemeint ist? Hätte vielleicht jemand die Güte, uns aufzuklären?“ Während die Vampire nicht so aussahen, als wären sie dazu imstande, überhaupt intensiver darüber nachzudenken, räusperte sich Seamus: „Nun ja, es gibt jemand, der schon seit Ewigkeiten so genannt wird. Ich glaube, die erste Erwähnung stammt aus einem römischen Bericht kurz nach dem Einfall der Hunnen, aber vermutlich reicht das Ganze noch weiter zurück.“ Er hielt kurz inne und warf einen Blick zu den Sa’onti. „Asrims Juwel, so kennt man sie vielerorts.“ Eve spürte, wie ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. „Und wer ist sie?“ Es war schließlich Oscar, der durch zusammengebissene Zähne antwortete: „Yasmine!“   *  *  *  *  * „Asrim, was ist hier eigentlich los?“ Yasmines Stimme erklang aus dem hinteren Bereich des dunklen Zimmers. Asrim drehte sich um und entdeckte sie, wie sie ihn, gegen den Türrahmen gelehnt, eindringlich musterte. Ihr hübsches Gesicht war eine einzige Maske des Vorwurfs. „Es ist einiges in Bewegung“, sagte Asrim nur und wusste sogleich, dass sich Yasmine mit dieser kargen Antwort nicht zufriedengeben würde. Und tatsächlich schnaubte sie verächtlich. „Halte mich bloß nicht zum Narren, alter Mann!“ Sie stieß sich vom Türrahmen ab und kam langsam auf ihn zu. „Erst schickst du mich auf eine gottverdammte Schnitzeljagd mitten in Deutschland wegen irgendeiner wertlosen Antiquität und dann darf ich mich hier ins regennasse England quälen! In diese wunderschöne Bruchbude wohlgemerkt! Und die einzige, die ich bisher gesehen habe, ist Necroma mitsamt ihrer verrückten Geschichten über Geheimnisse, fremde Welten und verflossene Liebhaber.“ Sie knirschte lautstark mit den Zähnen. „Wo, zum Teufel, sind die anderen? Hat es irgendeinen bestimmten Grund, warum du mich bisher von ihnen ferngehalten hast?“ Asrim versuchte, ihrem Blick standzuhalten, merkte aber sogleich, dass es ihm nicht gelingen würde. „Sie denken alle, du wärst noch in Deutschland.“ Yasmine runzelte ihre Stirn. „Und wieso?“ Weil du vielleicht in größerer Gefahr als alle anderen schwebst und du sie mit dir reißen könntest, dachte er bei sich. Stattdessen sagte er jedoch: „Es ist kompliziert.“ Yasmine stöhnte daraufhin nur frustriert auf. „Du bist manchmal wirklich unerträglich, Bastard!“ Seine Mundwinkel zuckten kurz, als er daran dachte, wie weit Yasmine bisher gekommen war. Er erinnerte sich noch deutlich an ihre erste Begegnung, einst in dieser kleinen Stadt im nördlichen Arabien. Damals war sie eine zurückhaltende und in sich gekehrte Frau gewesen, die immer versucht hatte, nicht weiter aufzufallen. Stets war sie mit gesenktem Kopf durch die Welt gegangen und hatte nur dann gesprochen, wenn man sie dazu aufgefordert hatte. In eine Welt geboren, die von Männer beherrscht worden war, hatte sie dies von klein auf gelernt. Aber Asrim hatte sofort ihr Potenzial erkannt. Er hatte gleich gesehen, dass hinter der Frau, die sich unter dem Schleier verborgen hatte, jemand steckte, der liebend gern aus sich selbst herausgekommen wäre. Der gerne mal geschrien, getobt und gebrüllt hätte, nur um sich lebendig zu fühlen. Schon früh war sie mit einem wohlhabenden, wesentlich älteren Mann verheiratet worden. Immer war sie bestrebt gewesen, es ihrem Gatten Recht zu machen und ihm eine gute Ehefrau zu sein. Doch er war abweisend und kühl gewesen, ein Mann ohne Herz und Gewissen. Als sich dann auch noch herausgestellt hatte, dass Yasmine aufgrund einer schweren Krankheit in ihrer Jugend niemals hätte Kinder gebären können, war es für ihn zu viel gewesen. Im festen Glauben, dass seine junge Gemahlin eine Sünderin wäre und deswegen von den Göttern verflucht worden sei, hatte er seinen ganzen Frust an ihr ausgelassen. Mitunter ein Grund, wieso Yasmine damals ihren Schleier stets tief in ihr Gesicht gezogen hatte. Die blauen Flecken waren wahrlich nicht ansehnlich gewesen. Asrim hatte keine großen Probleme gehabt, Yasmine auf seine Seite zu ziehen. Allein die Aussicht darauf, ihrem elenden Leben zu entkommen, hatte sie in Verzückung versetzt. Als sie schließlich in einen Vampir verwandelt worden war, war ihr verhasster Gatte selbstredend ihr erstes Opfer gewesen. Inzwischen erinnerte nichts mehr an stille und zurückhaltende Frau von einst. Mit der Zeit hatte sie gelernt, sich zu behaupten und über sich selbst hinauszuwachsen. Auf Befehle von Männern reagierte sie inzwischen ziemlich allergisch, selbst Asrim wagte es nicht mehr, sie ohne ein ‚Bitte‘ und ein freundliches Lächeln zu irgendetwas aufzufordern. Gleichzeitig aber war sie die Seele der Sieben. Während Annis reizbar und aggressiv und Necroma verrückt und ausgesprochen kompliziert war, bildete Yasmine einen Ruhepol. Sie war stets vernünftig und besonnen und ähnlich wie Sharif nicht dazu bereit, alles planlos zu überstürzen. „Okay, ich weiß, du bist ein mysteriöser Mann und hütest deine süßen Geheimnisse wie einen Schatz, aber wir sind deine Familie, zum Teufel noch eins!“, zischte sie. „Also erzähl mir irgendwas! Wenigstens ein kleines Stück der Wahrheit!“ Asrim zögerte, wollte sich wieder in Ausflüchten flüchten, aber merkte sogleich, dass er Yasmine noch nie etwas hatte abschlagen können. Sie war sein Schwachpunkt, die vielleicht einzige Person auf diesem Planeten, der er einfach nichts zu verwehren vermochte, sosehr er dies womöglich auch wollte. „Ich wünschte, du wärst noch in Deutschland“, gab er somit schließlich zu. „Bei den Göttern im Olymp, ich wünschte, ihr alle wärt noch in Deutschland! Ich kann es einfach nicht ertragen, dass ich die Situation so völlig falsch eingeschätzt habe. Ich hätte alleine kommen sollen, ich hätte das auf eigene Faust regeln sollen, doch stattdessen habe ich euch alle aus einer irrationalen Laune heraus hierhergeschleppt und damit womöglich euer Todesurteil unterschrieben.“ Yasmine erschien einen Moment angesichts seiner Worte ehrlich erstaunt, bevor sie erwiderte: „Uns wird schon nicht geschehen …“ Asrim schnaubte. „Erzähl das mal Alec.“ Daraufhin blinzelte sie verdutzt. „Warte, was?“ „Er lebt noch … gerade so“, versicherte er ihr rasch. Sie starrte Asrim mit großen Augen an und schien tatsächlich zu erwägen, ihn am Kragen zu packen und alle Antworten aus ihm herauszuschütteln. „Also, was genau ist passiert? Ist Alec in Ordnung?“ Asrim verzog sein Gesicht. „Na ja, auf gewisse Weise ... nicht wirklich. Aber er lebt noch“, fügte er rasch hinzu, als sich Yasmines Augen zu Schlitzen verengten. „Und was ist passiert? War es dieser Feuerteufel? Oder hat Oscar Alec letztendlich die Kehle aufgerissen, wie ich das schon seit Jahrhunderten prophezeit habe?“ Asrim holte einmal tief Luft. Er selbst wusste auch nicht genau, wie es vonstattengegangen war, er hatte bloß Wut und Schmerz und ein hohes Maß an Emotionen gespürt. Shadyn schaffte es mit jeder Stunde mehr, seine Sinne zu vernebeln. So auch in diesem Moment. Asrim wusste, dass irgendetwas dort draußen vorging – und er hatte das ungute Gefühl, dass es mit Sharif und Necroma zu tun hatte, die die Zwillinge vom Flughafen abholen sollten –, aber er vermochte es einfach nicht zu greifen. Er hatte keine Ahnung, was genau geschah, und er konnte nicht einmal die Richtung ermitteln. Und er fühlte sich einfach bloß hilflos und unwissend. „Also?“, wartete Yasmine immer noch ungeduldig auf eine Antwort. „Hättest du vielleicht mal die Güte, mir zu erklären, was zur Hölle in dieser Stadt los ist?“ Asrim senkte seinen Blick. „Du würdest es mir eh nicht glauben.“ Wie hätte sie dies auch? Bis heute war sie überzeugt davon, dass der Mann, den sie einst unter dem Namen Seyen kennengelernt hatte, bloß ein gewöhnlicher Magier gewesen war. Sie hatte nicht gewusst, dass er in irgendeiner Verbindung zu Asrim gestanden und es auch sehr genau darauf ausgelegt hatte, diesem nicht über den Weg zu laufen. Asrim zumindest hatte erst viele Jahrhunderte später überhaupt erst erfahren, dass Shadyn Kontakt mit Yasmine gesucht hatte. Und damit ein Versprechen gebrochen hatte, das sie beide sich vor einer halben Ewigkeit gegeben hatten. „Weißt du, diese ganze mysteriöse Aura lässt andere vielleicht denken, du wärst dieser allwissende Über-Gott, aber mich persönlich macht es einfach nur wahnsinnig!“, zischte Yasmine unvermittelt. „Ich liebe dich, aber ich hasse deine Geheimnisse!“ „Yas ...“ „Nein, nein, nein!“, fiel sie ihm ungehalten ins Wort. „Ich will keine Entschuldigungen hören, sondern Antworten! Denkst du nicht, dass ich das verdient habe? Dass wir das alle verdient haben?“ Asrim wich ihrem bohrenden Blick aus. Sie hatte natürlich Recht, auch wenn er sehr schmerzte, dies zuzugeben. Im Grunde hatte er gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. „Also, dieser Pyromane ...“, kam Yasmine wieder auf das Gesprächsthema zurück. „Wer ist er?“ „Ein alter Freund.“ „Wie alt?“ „Sehr alt.“ Yasmine verdrehte daraufhin ihre Augen. „Und wie habt ihr euch kennengelernt?“ Dies war beileibe keine leichte Frage und Asrim wusste im ersten Augenblick gar nicht, wie er sie beantworten sollte. Er war schon so unglaublich lange her, in einem anderen Leben, das nun wie ein verschwommener Traum erschien. „Wir haben uns das erste Mal in einem dunklen Steinhaus in der Nähe eines kleinen Strandes getroffen“, berichtete er, auch wenn er absichtlich außen vorließ, was sie beide damals an jenen Ort getrieben hatte oder was generell die genauen Umstände gewesen waren. „Ich würde gerne sagen, es ist eine nette und harmlose Begegnung gewesen, aber stattdessen habe ich ihn vorgefunden, wie er vor der Leiche seiner blutüberströmten, jüngeren Schwester stand. Sie war damals neun Jahre alt gewesen.“ Yasmine blinzelte daraufhin verdutzt. Es war mehr als eindeutig, dass sie mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. „... Okay“, meinte sie schließlich zögernd. „Also hat er ...?“ Asrim schüttelte den Kopf. „Er ist selbst noch ein Kind gewesen und hat mit ansehen müssen, wie seine kleine Schwester ermordet worden ist.“ Yasmine verlagerte ihr Gewicht unruhig von einem Bein aufs andere. „Und wie kam es dazu?“ Asrim seufzte. „Das ist alles sehr kompliziert und im Grunde eigentlich nicht relevant. Ich kann dir nur sagen, dass dieses Ereignis wahrscheinlich den Grundstein gelegt hat, weswegen er äußerst schlecht darauf reagiert, wenn ihm ein geliebter Mensch genommen wird.“ Wirklich sehr schlecht. „Asrim, ich weiß, dass du aus einem bestimmten Grund die Wahrheit vor uns zurückhältst“, meinte Yasmine seufzend. „Aber dir muss ebenso klar sein wie mir, dass du nicht ewig schweigen kannst. Willst du lieber warten, bis einer von uns tot ist?“ Asrim schüttelte sofort den Kopf. Schon allein die Tatsache, dass es Alec und Sharif beinahe das Leben gekostet hätte, war mehr als schrecklich. Er konnte seinem Gewissen nicht noch mehr aufbürden. Und vielleicht mochten seine Kinder ihn am Ende hassen, doch wenigstens würden sie noch leben. Und somit holte er tief Luft und meinte: „Ich werde dir die Geschichte erzählen. Aber sei gewarnt, ich bin ein schrecklicher Hauptprotagonist. Egoistisch, arrogant und verblendet.“ Yasmine musterte ihn argwöhnisch. „Und Seth? Was ist er?“ Asrim senkte seinen Blick. „Ein Mörder. Und ein Opfer.“ Ein Freund. Ein Feind. Und das letzte Überbleibsel von Asrims Vergangenheit. Kapitel 31: Letzte Worte ------------------------ Sharif beobachtete, wie Seth bis an den Rand von Necromas Kraftfeld trat und kurz davor stehen blieb. Intensiv musterte er ihre Magie, fast schon so etwas wie Begeisterung schien in seinen Augen aufzublitzen. Als er dann auch noch kurz die Hand auf die Barriere legte und daraufhin sofort abgeblockt wurde, legte sich ein anerkennendes Lächeln auf seine Lippen. „Ich habe schon viele Geschichten über dich gehört, Necroma“, meinte er. „Stimmt es tatsächlich, dass du die Menschen eines ganzen Dorfes in Fliegen verwandelt hast?“ Necroma schnaubte. „Oh bitte“, erwiderte sie. „Ich habe sie in Moskitos verwandelt. Das ist ein gewaltiger Unterschied.“ Sie stemmte demonstrativ ihre Hände in die Hüften. „Aber diese Narren hatten es nicht anders verdient. Wie kamen die auch dazu, in mir eine Etruskerin zu sehen? Ich bin eine Hellenin, verdammt noch mal!“ Seth lachte auf. „Du bist wirklich hinreißend.“ Erneut fuhr er mit der Hand über das Schutzschild. Die kleinen Energieblitze schienen ihnen in keiner Weise zu stören. „Ich wollte dich ja ehrlich gesagt schon seit Jahrhunderten unbedingt einmal kennenlernen, aber na ja ... gewisse Dinge haben mich zurückgehalten.“ Sharif kam nicht umhin, anzunehmen, dass mit diesen gewissen Dingen Asrim gemeint war. „Du bist wahrlich beeindruckend“, fuhr Seth fort. Es war keinerlei Lüge oder Spott in seinen Worten zu hören, sondern tatsächlich aufrichtige Bewunderung. „Unter normalen Umständen hätte ich sicherlich einige Probleme, mich gegen dich zu behaupten. Aber im Moment sind die Karten ganz anders verteilt.“ Necroma verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Dein Schicksal in As’kyps Hände zu legen, könnte sich als großer Fehler herausstellen.“ Während Seth bloß mit den Schultern zuckte, als handelte es sich dabei nur um eine lächerliche Kleinigkeit, runzelte Sharif die Stirn und grub in seinem Gedächtnis, ob er den Namen As’kyp schon einmal irgendwo gehört hatte. Necromas Tonfall zur Folge war es keine unwichtige Information, doch der Ägypter konnte diesen Mann nirgendwo zuordnen. „Wer ist As’kyp?“, raunte er deswegen der Magierin zu. Necroma lächelte leicht. „Du bist so süß, wenn du dumm und unwissend bist.“ Und Sharif wusste, dass das all die Antwort war, die er von ihr erhalten würde. Kurz, nichtssagend und absolut frustrierend. Sharif aber kam nicht mehr dazu, vielleicht wenigstens bei Seth weiter nachzubohren, da dieser bereits im nächsten Augenblick mit seinem Angriff begann. Wie bei einem schweren Hagelsturm ließ er plötzlich die Flammen auf den Bannkreis herabregnen und brachte ihn zum beben. Unter der Gewalt der Attacke schien er regelrecht zu ächzen. Die Vampire um ihn herum zuckten zusammen, hatten aber genügend Geistesgegenwart, nicht die Flucht zu ergreifen. Stattdessen starrten sie mit grimmigen Mienen auf die Feuersbrunst, die nur allein von Necromas Magie von ihnen ferngehalten wurde. Sharif warf einen Blick zur besagten Vampirin. Sie stand aufrecht und erweckte den Anschein, als könnte sie kein Wässerchen trüben, aber Sharif erkannte sofort, dass es für sie kein Leichtes war, Seth abzuwehren. Auf ihrer Stirn bildeten sich bereits die ersten Schweißperlen und sie wirkte ungewöhnlich konzentriert. Ohne Zweifel, Ewigkeiten würde sie Seths Angriff nicht standhalten können. Blieb nur die Frage, wen von ihnen beiden als erstes die Kräfte verließen. „Also so hatte ich mir mein Ende eigentlich nicht vorgestellt.“ Elias seufzte schwer, während er seine Zwillingsschwester an der Schulter ergriff und sie in seine Arme zog. Annis wirkte wenig begeistert, dass ihr Bruder bereits von ihrem Ableben sprach, aber andererseits schien sie kein Gegenargument parat zu haben. Stattdessen starrte sie Seth bloß hasserfüllt an und wünschte sich wahrscheinlich, dass in der nächste Sekunde jegliche Magie erstarb und sie dem Mann das Herz aus dem Brustkorb herausreißen könnte. Sharif trat unruhig von einem Bein aufs andere. Es war heiß, die Luft knisterte und es widerstrebte ihn sehr, nichts daran ändern zu können. Er dachte wieder an die beiden Vampire Natalia und Samuel, die Seth vor seinen Augen in Aschehäufchen verwandelt hatte. Würde sie alle das gleiche Schicksal ereilen, sollte der Magier erst einmal Necromas Barriere durchbrochen haben?  „Du bist wirklich überaus talentiert, Necroma!“ Seths Stimme klang trotz des Lärms klar und gut verständlich. Als würden die Flammen seine Worte sorgsam zu den Ohren der Vampire hinübertragen. „Solltest du erwägen, dich zu ergeben, bin ich ehrlich geneigt, dich zu verschonen. Es wäre eine Schande, solch eine Magie wie die deine sterben zu sehen.“ Und man mochte viel über Necroma sagen – dass sie in einer anderen Welt lebte, keine Sorgen und Ängste kannte und sich um nichts und niemanden scherte –, aber sie hatte es noch niemals gut ertragen können, wenn jemand ihre Familie bedrohte. „Du denkst wirklich, dass ich mich in einem kleinen, verängstigten Jungen wie dir beuge, Shadyn?“, zischelte sie, ungewohnt feindselig. „Du merkst nicht einmal, wie erbärmlich zu geworden bist. Und es ist eine gottverdammte Schande, dass du deine Magie derart korrumpierst und vergiftest!“ Seth versuchte, eine gefasste Miene aufrechtzuhalten, aber Sharif merkte sofort, dass Necroma einen wunden Punkt getroffen hatte. „Wie du willst!“, sagte Seth derart leise und unheilvoll, dass einem automatisch ein kalter Schauer über den Rücken jagte.  Und im nächsten Augenblick brach ein noch größeres Getöse los.  Das Feuer brannte und loderte wie wild und versuchte, sich einen Weg durch das Bannfeld zu bahnen. Die Erde zitterte. Necroma stieß einen Schrei aus, der in dem ganzen Lärm beinahe unterging. Ihre Beine knickten weg und sie sackte auf die Knie, während sie weiterhin mühsam versuchte, das Kraftfeld am Leben zu erhalten. Sie rang keuchend nach Luft und bebte am ganzen Körper, blieb aber weiterhin standhaft. Das Bannfeld schrumpfte zwar sichtlich ein, sodass sie alle näher zusammenrücken mussten, hielt aber weiterhin das Feuer von ihnen fern. Zumindest für den Augenblick. Sharif eilte sofort zu Necroma und kniete sich neben sie. Nicht wirklich wissend, wie er ihr helfen konnte, legte er seine Hände auf ihre Schultern, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht allein war. „Du kannst ihn nicht besiegen, nicht wahr?“, fragte er, weit zu Necroma gebeugt. Diese schüttelte schwach den Kopf. „Tut … mir leid …“, flüsterte sie. Tränen liefen ihr die Wangen herab, als sie begriff, dass sie ihre Familie nicht mehr beschützen konnte. Plötzlich schien ihr die Aussicht, zu sterben und im Jenseits neue Abenteuer zu erleben, nicht mehr allzu verlockend zu sein. „Ist schon gut“, wisperte Sharif ihr ins Ohr. „Es ist nicht deine Schuld. Du hast uns bis hierhin gebracht, ich mache jetzt den Rest.“ Sie blickte erschrocken auf. „Tu es nicht“, bat sie. „Es ist besser so“, meinte er bloß. Er wischte ihr eine letzte Träne von der Wange, ehe er sich wieder aufrichtete und sich mit entschlossener Miene in Richtung Seth wandte. Sein Entschluss stand fest. Um die anderen zu retten, musste er seine letzte Trumpfkarte ausspielen. „Seth, hör zu!“, brüllte er den gegen den heillosen Lärm an. „Ich habe dir ein Geschäft vorzuschlagen.“ Die Geräuschkulisse nahm augenblicklich ab. Seth trat einen Schritt näher auf Necromas Bannkreis zu, während er den Ägypter interessiert musterte. „Ein Geschäft?“, hakte er nach. „Ganz recht“, meinte Sharif entschlossen. „Lass die anderen frei und ich gebe dir etwas, das dich sicher interessiert.“ Seth blieb einen Augenblick völlig ungerührt, dann aber brach er in schallendes Gelächter aus. Das Feuer, das sie eingeschlossen hatte, vibrierte, als würde es sich auch königlich amüsieren. „Sehr witzig, Sharif“, sagte Seth lachend. „Aber was hast du kümmerliche Seele mir schon anzubieten? Was hast du, das mich davon abbringen würde, euch alle hier und jetzt zu töten?“ Sharif ließ sich zu einem herablassenden Lächeln herab, als er offenbarte: „Emilys letzte Worte.“ Mit einem Mal schlug Seths Stimmung völlig um. Sein Lachen verstummte und einen Moment lang wirkte er wie erstarrt. Auch sein Feuer schien gelähmt, selbst das Knistern war verstummt. Ganz plötzlich war die Welt vollkommen still geworden. Schließlich aber begann Seth, sich zu regen. Die unterschiedlichsten Gefühle schienen ihn in diesem Augenblick zu bestürmen, wie Sharif es an seiner Miene erkannte. Er wusste offensichtlich nicht, was er fühlen sollte. Wie er sich verhalten sollte. Letztlich aber verfinsterte sich Seths Blick, als er unheilvoll nachfragte: „Was … hast du gerade gesagt?“ „Asrim und ich waren kurz vor ihrem Freitod in ihrem Krankenzimmer“, erklärte Sharif. „Vielleicht waren wir die letzten, mit denen sie überhaupt geredet hat. Auf jeden Fall hat sie uns einiges erzählt.“ Der Vampir verschränkte die Arme vor der Brust. „Was du mit mir machst, ist mir gleich. Aber lass die anderen frei und krümme ihnen kein Haar. Dann erfährst du, was Emily kurz vor ihrem Tod gesagt hat. Über ihre Familie, über Vampire … und über dich.“ Seth zuckte zusammen, als er die letzten Worte aussprach. Der Drang, etwas über seine Geliebte zu erfahren, kämpfte gegen das Verlangen, die Vampire rücksichtslos zu töten. Er hatte Blut geleckt und wollte Leichen sehen, aber die Aussicht, der Frau, die er geliebt hatte, nur ein Stückchen näher zu sein, hielt seine mordende Hand zurück. Zumindest vorerst. „Ich könnte die Information aus dir herauspressen“, meinte Seth. „Ich könnte dich und deine süßen Freunde hier foltern, um das zu bekommen, was ich begehre.“ Sharif schüttelte sofort den Kopf. „Nur wenn du ihre Sicherheit gewährleistet, werde ich reden. Denkst du tatsächlich, ich kann auf solch ein langes Leben zurückblicken, sollte ich bei jeder Gelegenheit leicht einknicken?“ Er schnaubte abfällig. „Außerdem, je länger du brauchst, um die Information aus mir herauszufoltern, desto mehr Zeit hat Asrim, uns aufzuspüren.“ Seths Körper verkrampfte sich bei der Nennung dieses Namens sichtlich. Er legte wohl keinen großen Wert darauf, Asrim so schnell noch einmal zu begegnen. „Wenn du mir versicherst, dass den anderen nichts geschieht, gebe ich dir die Information freiwillig“, sagte Sharif. „Und danach kannst du mit mir machen, was dir beliebt.“ Annis knurrte daraufhin wenig angetan, während Elias bloß imstande war, den Kopf zu schütteln, um ihn irgendwie zu verstehen zu geben, sich nicht darauf einzulassen. Aber was für eine Wahl hatte Sharif schon? Es war immer noch besser, wenn heute Abend nur einer starb. „Ich werde die anderen nicht für ewig verschonen“, stellte Seth klar. „Nur für heute.“ Sharif nickte. Das war immerhin besser als gar nichts. „Also haben wir einen Deal?“ „Wir sind im Geschäft.“ Das Feuer erstarb daraufhin jäh, als hätte es niemals existiert. Necroma, die immer noch geschwächt am Boden hockte, atmete erleichtert auf, als der Druck von ihr genommen wurde. Das Kraftfeld brach daraufhin in sich zusammen und damit gleichzeitig ihre letzte Verteidigungslinie. Necroma hatte es keine Minute länger mehr aufrechterhalten können. Sharif strich ihr beruhigend über den Kopf, während sie leise schluchzte. „Du Dummkopf“, flüsterte sie. „Ich weiß“, meinte Sharif. „Aber solange es euch gut geht, ist mir alles andere egal.“ So schnell wie eine angreifende Schlange ergriff sie seinen Ärmel und zog ihn näher zu sich. „Idiot“, sagte sie schniefend. „Du bist so ein furchtbarer Idiot!“ Sharif lächelte sanft. „Sag Asrim, dass es mir leid tut. Und sag Alec, dass er Oscar nicht immer so reizen soll. Der Arme wird noch irgendwann vor Wut explodieren.“ Vorsichtig befreite er sich aus ihrem Griff. „Und du, Necroma, bleib einfach so verrückt und charmant, wie du es immer gewesen bist.“ Bevor er sich jedoch Annis und Elias zuwenden konnte, ertönte Seths Stimme. „Wir haben keine Zeit für herzzerreißende Abschiedszenen.“ Annis schmetterte ihm irgendeine Beleidigung entgegen, doch Sharif konnte es nicht mehr hören. Eine merkwürdige Dunkelheit hatte ihn plötzlich eingehüllt. Er wusste sofort, was das zu bedeuten hatte, und zwang sich selbst, Ruhe zu bewahren. Seth wollte nur seinen Standort wechseln und Sharif mitnehmen. Offenbar hatte es den Anschein, als ob Seth das Dach eines Londoner Parkhauses nicht als den geeigneten Ort betrachtete, um die letzten Worte seiner Liebsten zu erfahren. Sharif hatte keine Ahnung, wohin Seth ihn bringen wollte, aber es konnte ihm gleichgültig sein. Wenn er ihn hier fortbrachte, waren die anderen wenigstens sicher. Das letzte, was er spürte, war, dass jemand seinen Arm ergriff, bevor es um ihn herum völlig finster wurde.     *  *  *  *  *  *  *  *  *     „Yasmine also?“ Liam seufzte schwer. „Ich muss sagen, dass ich auf meine alten Tage niemals vermutet hätte, nochmal das Vergnügen zu haben, einige Mitglieder der Sieben kennenzulernen.“ Er wirkte irgendwie winzig und müde in seinem großen Bürostuhl, während er sich wortlos Richards Bericht anhörte. Es wirkte beinahe, als hätte er mit nichts anderem als weiteren Hiobsbotschaften gerechnet. „Soweit Alec und Oscar wissen, befindet sich Yasmine noch in Deutschland“, meinte Richard. „Allerdings ist ihr Wissenstand schon etwas veraltet, von daher könnte sie auch bereits in London sein.“ Liam rieb sich nachdenklich am Kinn und seufzte. „Es wäre möglich, dass sie vor gut einer Stunde in Heathrow angekommen ist.“ Eve runzelte die Stirn angesichts dieser doch sehr konkreten Zeitangabe. „Woher wollen Sie das wissen?“ Liam lächelte humorlos. „Sie waren alle offenbar zu lange in diesem dunklen Keller, nicht wahr? Es ist bereits auf sämtlichen Nachrichtensendern. Terroranschlag in London!“ Richard wechselte einen verwirrten Blick mit Eve. „Wovon reden Sie?“ „Vor gut einer Stunde ist es in einem Parkhaus am Flughafen zu einer schweren Explosion gekommen“, erklärte Liam. „Man spricht von Gaslecks, Bomben, kaputten elektrischen Leitungen oder was den Journalisten sonst noch so einfällt. Augenzeugen berichten jedoch, dass sich das Feuer äußerst untypisch verhalten hätte, beinahe als hätte es einen eigenen Willen.“ „Seth ...“, murmelte Eve und merkte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Würde er nach und nach die ganze Stadt auseinandernehmen, um das zu bekommen, was er begehrte? Liam nickte derweil. „Das ist auch meine Vermutung. Es passt einfach viel zu sehr zu den anderen Feuerangriffen hier in London, um etwas anderes zu sein.“ Er seufzte. „Und da sich Seth momentan offenbar auf die Sieben konzentriert, würde die Attacke auf den Flughafen deren Anwesenheit dort voraussetzen. Ich denke zumindest nicht, dass er einfach aus Spaß an der Freude ein Parkhaus in die Luft jagt.“ Eve verlagerte ihr Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Gibt es Opfer?“ Liam nickte und wirkte mit einem Mal so viel älter, dass es einen beinahe zu erschrecken vermochte. „Es gibt noch keine genauen Zahlen, aber es ist zu einer Hauptverkehrszeit geschehen und die Möglichkeit, dass sich keine Menschenseele in dem Parkhaus befunden hat, ist gleich null. Man hat wohl auch schon einige Leichen geborgen, aber zurzeit ist es recht schwierig.“ Eve schloss kurz ihre Augen und atmete einmal tief durch. Erneut musste sie an ihre Mutter denken und fragte sich bitter, was sie wohl zu dem Ganzen sagen würde. „Ich wollte einige Männer nach Heathrow schicken, um zu überprüfen, ob es auch übernatürliche Opfer gibt.“ Liams Blick lag dabei auf Richard, der sofort verstehend nickte. „Vielleicht hat Seth ja tatsächlich einige der Sieben ausgelöscht, was natürlich für uns persönlich nicht unbedingt ein Grund zum Trauern wäre, auch wenn ich doch sehr hoffe, dass Yasmine irgendwo noch am Leben ist.“ Er stöhnte auf. „Meine Güte, was ist aus der Welt nur geworden, dass ihr mir um das Wohlergehen eines Vampirs Sorgen mache?“ Zugegebenermaßen aus eher egoistischen Gründen – immerhin ging es ihnen mehr um die Informationen, die Yasmine besaß, als um die Frau selbst –, doch Eve konnte sehr gut nachvollziehen, was Liam meinte. Sie sehnte sich zu der Zeit zurück, als die Untoten noch der Feind gewesen waren. Gesichtslose Monster, bei denen man keinen Moment zögern würde, den Abzug zu drücken. Stattdessen waren sie zu Gejagten geworden. Wesen, die Angst und Verlust spürten. Die sich in Gefahr stürzten, um einen anderen zu beschützen. Eve dachte an Sharif, der alles tun würde, um seine Familie zu retten. An Oscar, der ohne zu Zögern Alecs Leben über sein eigenes stellte. Und an Alec, der den Anschein erweckt hatte, ihm wäre das Herz gebrochen, als Seth Oscar in seiner Gewalt gehabt hatte. Und Eve hasste es, dass sie sich inzwischen gar nicht mehr so sicher war, ob sie auch nur einen von ihnen ohne jegliche Gewissensbisse töten könnte, so wie sie es all die Jahre zuvor getan hatte. „Ich werde einige Männer zusammentrommeln und die Lage in Heathrow auskundschaften“, meinte Richard, nachdem sich eine Weile niemand geregt hatte, um auf Liams Worte irgendwie einzugehen. „Auch wenn ich nicht sicher bin, ob wir einen der Sieben erkennen würden, sollte er oder sie nur noch ein Haufen Asche sein.“ „Ich bezweifele, dass einer oder gar mehrere der Sieben wirklich tot sind“, warf Seamus rasch dazwischen. „Ansonsten hätte Asrim sicherlich schon aus Zorn die ganze Stadt in die Luft gejagt.“ Er sprach dies völlig sorglos aus, als wäre dies bloß eine nette, harmlose Zwischenbemerkung, an deren Informationsgehalt man sich eher erfreuen sollte. „Wenn Asrim nicht selbst inzwischen das Zeitliche gesegnet hat“, entgegnete Richard sofort, wenn auch etwas zögernd. Eve währenddessen lief nur ein kalter Schauer über den Rücken, als sie an ihre Begegnung mit Asrim zurückdachte. An dieses mächtige und verführerische Wesen, das es nur mit einem einzigen Blick schaffte, einen Menschen vollkommen um den Verstand zu bringen. „Oh bitte!“, schnaubte Seamus. „Wir wüssten es mit absoluter Sicherheit, sollte Asrim wirklich tot sein. Die ganze übernatürliche Welt würde aufschreien, inklusive der zwei Vampire unten im Keller.“ Eve vermochte nicht zu widersprechen. Die Verbindung zwischen all diesen Geschöpfen war stark und zuweilen unerklärlich. Und es war mehr als unwahrscheinlich, dass Alec und Oscar es nicht gemerkt hätten, hätte Asrims Existenz sich in Nichts aufgelöst. „Nehmen wir einfach an, dass zurzeit zu unserem Leidwesen noch alle am Leben sind“, meinte Liam. „Mr. Davis, geben Sie mir unmittelbar Bericht, was in Heathrow vonstattengegangen ist. Setzen Sie sich am besten auch gleich mit den örtlichen Behörden auseinander. Ich bin mir zumindest ziemlich sicher, dass die Feuerwehr und Polizei so einige Fragen haben werden und sich über kurz oder lang sowieso an uns wenden würden.“ Er lehnte sich ein wenig zurück. „Mr. Heart, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ein wenig weiterforschen würden. Über As’kyp, über Shadyn oder über sonst irgendwen, der uns in dieser Situation vielleicht nützlich sein könnte. Zapfen Sie auch gerne ihre persönlichen Informationsquellen an, andere Forscher – alles, was Sie wollen. Ich gewähre Ihnen vollen Zugang.“ Seamus‘ Augen leuchteten bei diesen Worten auf, als hätte Liam ihm den heiligen Gral überreicht. „Und Ms. Hamilton ...“ Sein Blick wirkte müde und schwer, als er sich ihr zuwandte. „Wenn es nicht zu viel verlangt ist, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die beiden Vampire unten noch einmal befragen. Zumindest ob wir die Möglichkeit haben, Yasmine irgendwie zu kontaktieren. Aber wie gesagt, nur wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Sie haben viel durchgemacht und ich kann verstehen, wenn ...“ „Ist schon gut“, fiel Eve ihm ins Wort. „Das ist kein Problem.“ Liam nickte, sein Blick dankbar. „Sie wollten mich aber noch unter vier Augen sprechen, nicht wahr? Ich kann es Ihnen deutlich ansehen.“ Eve biss auf ihre Unterlippe. „Wenn sie gerade fünf Minuten Zeit haben ...“ Richard und Seamus verabschiedeten sich daraufhin und waren sogleich verschwunden. Eine drückende Stille breitete sich danach aus und schien alle Nerven in Eves Körper zum kribbeln zu bringen. „Was gibt es denn?“, wollte Liam wissen. Er klang wie der verständnisvolle Großvater, der kein Problem damit hatte, sich die Sorgen und Nöte seiner Enkelin anzuhören. „Meine Mutter ...“, begann sie, brach daraufhin aber sofort wieder ab. Sie wusste einfach nicht, wie sie das Thema ansprechen sollte. Sie wusste im Grunde nicht einmal, wie sie darüber denken sollte. Liam senkte seinen Blick. Natürlich hatte Richard bei seiner Berichterstattung auch nicht ausgelassen, dass Emilys Tod offenbar ein entscheidender Faktor für Seths Zerstörungswut gewesen war. „Wussten Sie es?“, sprach Eve schließlich die Worte aus, die ihr so schwer auf der Zunge lagen. „Dass sie eine Sa’onti gewesen ist?“, hakte Liam nach. „Wir hatten damals einen starken Verdacht und nun offenbar die Bestätigung.“ Eve runzelte die Stirn. Sie hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass Liam sofort alle Karten auf den Tisch legen würde. „Aber ...“, stammelte sie. „Aber ... warum hat mir keiner etwas gesagt? Habe ich es etwa nicht verdient, so etwas zu erfahren?“ „Sie waren noch ein Kind, schwer traumatisiert und absolut ahnungslos, was die übernatürliche Welt anging“, erklärte Liam. „Hätten Sie es damals wirklich verstanden?“ Eve war für einen kurzen Moment wie für den Kopf gestoßen. „Na ja ... nein, nicht wirklich.“ Sie hatte als kleines Kind schon mehr als genug mit den tragischen Umständen von Emilys Tod zu kämpfen gehabt. „Okay, ich kann nachvollziehen, warum mich als Kind niemand aufgeklärt hat. Ich verstehe es ja selbst jetzt kaum richtig und damals hätte mich das völlig aus der Bahn geworfen. Aber was war später? Als ich die Ausbildung zur Jägerin begonnen habe?“ Liam seufzte. Man merkte ihm an, dass dies ein Thema war, mit dem er sich nicht erst in diesem Augenblick zum ersten Mal befasste. „Ich war sehr dafür“, entgegnete er schließlich. „Aber Ihr Vater ... er hat mich gebeten, es nicht zu tun.“ Eves Innerstes zog sich zusammen. „Mein Vater ... weiß also Bescheid?“ Und er hatte sich erneut entschieden, seine Tochter über die genauen Umstände im Dunkeln zu lassen. „Er meinte, dass Sie es schon damals kaum verkraftet hätten, zu erfahren, dass Ihre Mutter Selbstmord begangen hatte“, fuhr Liam fort. „Und er war der Ansicht, dass es Sie schwer mitnehmen würde, sollten Sie die ganze Wahrheit erfahren.“ Eve verkrampfte ihre Hände zu Fäusten. Natürlich hatte Frank Hamilton Recht damit, dass sie es schwer treffen würde, aber dennoch gab es ihm noch lange nicht das Recht, ihr diese Information vorzuenthalten. „Wir haben oft darüber gesprochen“, erklärte Liam. „Ich habe ihm immer wieder gebeten, sich Ihnen anzuvertrauen. Aber er hat sich stets geweigert.“ Er rieb sich kurz die Schläfen. „Frank ist ein guter Mann, Eve. Und er liebt Sie mehr als alles andere auf der Welt. Aber Emilys Tod ... all das hat ihn schwer erschüttert. Dabei zuzusehen, wie jemand, den man sosehr liebt, langsam den Verstand verliert, ist ganz gewiss nicht einfach. Er wollte Ihnen dies alles ersparen und ich konnte ihn auch verstehen. Es hätte an Emilys Schicksal sowieso nichts geändert.“ „Aber trotzdem ...“, hakte Eve ein. Liam nickte zustimmend. „Wir konnten uns auf einen Kompromiss einigen. Sollten Sie je irgendwann einen Verdacht haben und zu uns kommen, würden wir Sie nicht anlügen. Und genau das tue ich jetzt hier.“ Eve wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Mit Ärger, mit Akzeptanz oder gar Resignation? Es war einfach alles zu viel in viel zu kurzer Zeit. „Es tut mir leid“, sagte Liam seufzend. „Aber ich wollte den Wunsch Ihrer Vater nicht einfach ignorieren. Er zählt zu einem meiner besten Freunde. Und wenn Sie wollen, können Sie das gerne mit ihm ausdiskutieren, sobald er hier ankommt.“ Eve runzelte die Stirn. „Er ist auf einer Konferenz in Manchester. Noch bis zum Wochenende.“ Liam schnaubte verächtlich. „Sie sind von Vampiren entführt worden! Denken Sie allen Ernstes, da würde ich Ihren Vater nicht anrufen? Er hat sofort alles stehen und liegen gelassen.“ Eve spürte, wie ihr Puls etwas in die Höhe stieg. „Denkt er, ich bin immer noch in der Gewalt der Vampire?“ Liam schüttelte sofort den Kopf. „Ich habe ihn natürlich sofort informiert. Allerdings sollten Sie ihn vielleicht noch einmal anrufen, damit er sich vergewissern kann, dass es Ihnen wirklich gutgeht.“ Eve nickte, auch wenn sie wenig Lust verspürte, mit ihrem Vater zu reden. Er hatte sie erneut belogen und auch wenn ihr klar war, dass er es im Grunde nur getan hatte, um sie zu beschützen, tat es dennoch weh. Er war das einzige an Familie, das sie noch hatte. „Ich rufe ihn an und sage ihm, dass er wieder zurück nach Manchester fahren soll“, meinte sie. „Ich will nicht, dass er in London ist, während ein irrer Pyromane hier herumläuft, der immer noch meiner Mutter nachtrauert.“ Liam schmunzelte leicht. „Viel Glück dabei, Frank aufzuhalten.“ Kapitel 32: Fremde Welt ----------------------- Nachdem Eve und ihre Begleiter den Kerker verlassen hatten, war es ungewöhnlich still geworden. Normalerweise hatte Alec gegen ein bisschen Ruhe nichts einzuwenden – besonders in den letzten Jahrzehnten war die Welt immer lauter geworden –, doch gerade im Moment konnte er dies kaum ertragen. Seine Gedanken, seine Gefühle – all das vermochte ihn ohne jedwede Art von Ablenkung zu bestürmen und zu quälen. Immer wieder tauchte Calvio vor seinem inneren Auge auf, sosehr er dies auch gerne verhindert hätte. Er dachte nicht gerne an diese Zeit, hasste es sogar aus tiefsten Herzen, aber angesichts des zurzeit bestehenden Problems gab es kaum einen Weg daran vorbei. Immerhin war es gewiss kein Zufall, dass der angeblich beste Freund desjenigen Menschen, der er einst gewesen war, nach fast dreitausend Jahren plötzlich wieder auftauchte. Auch wenn Alec absolut keine Ahnung hatte, wie das Ganze zusammenhing.   Er erinnerte sich an die Geschichten, die Calvio damals so gerne erzählt und die der unwissende Neyo bloß für Fantasie gehalten hatte. Alec jedoch hatte im Laufe seines Lebens gemerkt, dass vieles, was dieser Mann berichtet hatte, nicht nur Hirngespinste gewesen waren. Die Krieger aus dem Norden mit dem hellen Haar, die Städte und Tempel in einem Ozean aus Sand, die Menschen mit den schlitzförmigen Augen – all dies hatte sich früher oder später als wahr erwiesen. Aber Alec hatte dies alles erst erkannt, nachdem er Calvio nach vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten schon völlig aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. Nun aber kam alles wieder hoch, ebenso mit der Gewissheit, dass Calvio auch schon damals so viel älter und mächtiger gewesen war, als es den Anschein erweckt hatte. Er hatte zumindest offenbar Zeit genug gehabt, die Welt zu erkunden, und Neyo mehr als nur einmal versprochen, sie ihm irgendwann einmal in ihrer vollen Pracht und Schönheit zu zeigen.   Hatte Shadyn schon damals gewusst, was aus Alec einst werden würde? Immerhin war er offenbar auch in der Nähe gewesen, als Sharif sein Leben als Vampir begonnen hatte. Aber wieso hatte er sich dann zurückgezogen? Warum hatte er sein Versprechen, Neyo die Wunder der Erde zu zeigen, nicht eingehalten? Waren es nur hohle Worte gewesen? Oder trug vielleicht Asrim eine Schuld daran, dass Calvio sich einst ferngehalten hatte? Alec verzog sein Gesicht. Von diesen ganzen ungeklärten Fragen bekam er bloß unangenehme Kopfschmerzen. So vieles erschien plötzlich miteinander verwoben und Alec hatte nicht den leisesten Schimmer, wie sich dies alles verknüpfen ließ.   „Hier, trink noch was“, vernahm er plötzlich eine Stimme neben sich. Oscar hatte auf dem Rand der Pritsche Platz genommen und hielt ihm einen Blutbeutel hin. „Du brauchst deine Kraft.“ Alec wollte zunächst ablehnen. Er hatte kaum Energie, um sich um so etwas Banales wie Nahrung zu kümmern, doch er musste nur in Oscars Augen schauen, um zu wissen, dass dieser nicht lockerlassen würde. Schon immer hatte er dafür Sorge getragen, dass seine Familie gut versorgt blieb, mochte er manchmal auch noch so grimmig und herzlos erscheinen. Und somit tat Alec ihm den Gefallen. Das Blut schmeckte zwar kalt und nicht gerade besonders appetitlich – eher wie Kaffee, den man zu lange hatte stehen lassen –, dennoch würgte er es irgendwie herunter.   „Aber tu mir bitte einen Gefallen und behalte es in deinem Magen, okay?“, meinte Oscar daraufhin, Alecs missmutige Miene betrachtend. „Das wäre nach all dem wirklich das Letzte, was ich gebrauchen könnte!“ Alec kam nicht umhin, zu grinsen. „In fast dreitausend Jahren hast du jedoch noch nie zuvor meinen Mageninhalt zu sehen bekommen. Das wäre demnach echt ein erstes Mal.“ Oscar schüttelte energisch den Kopf. „Ich verzichte.“ Alec schmunzelte und betrachtete seinen alten Freund. Er war zwar gewiss nicht glücklich darüber, dass Oscar in solch einer Kerkerzelle sitzen musste, aber trotzdem ertappte Alec sich dabei, wie erleichtert er war, den Vampir an seiner Seite zu wissen. Ohne ihn wären die letzten Stunden noch sehr viel nervenaufreibender und düsterer gewesen.   „Du denkst an ihn, nicht wahr?“, hakte Oscar unvermittelt nach. „An ... wie er hat sich damals genannt?“ „Calvio“, erklärte Alec. „Und ja, leider Gottes kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich habe ihn gekannt, verdammt! Ich habe mit ihm geredet, mit ihm getrunken und sogar –“ Alec hielt daraufhin inne und seufzte. „Ich meine, nicht ich habe all dies getan, sondern ...“ Alec vollführte eine unkoordinierte Handbewegung und hoffte, dass Oscar begriff, dass er von Neyo sprach. Der andere nickte daraufhin glücklicherweise verstehend. Er selbst hatte zwar nie Probleme gehabt, seine menschliche Vergangenheit als Teil seines Selbst zu sehen, doch er hatte stets respektiert, dass Alec dazu nicht imstande war und stattdessen lieber einen Trennstrich zwischen diesen zwei Leben zog.   „Und nun auch noch Yasmine!“ Er stöhnte schwer. „Und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob sich Seth nicht irgendwie in unser aller Leben eingemischt hat.“ Oscar runzelte seine Stirn. „Was meinst du?“ „Er war jahrelang an meiner Seite“, rief ihn Alec ins Gedächtnis. „Und das mit Yasmine ... na ja, das klingt nicht nur nach einer einzigen Nacht, verstehst du? Ich zeige zumindest keinem One Night Stand irgendwelche verborgenen, magischen Eingänge. Da muss einfach was mehr gewesen sein.“ Er holte tief Luft. „Und offenbar war Seth auch damals in Ägypten bei Sharif und ich frage mich einfach ... vielleicht bist du ihm irgendwann auch einmal begegnet. Oder die Zwillinge. Necroma.“   Oscar legte seinen Kopf schief. „Das denkst du?“ „Es wäre immerhin möglich, meinst du nicht?“, wollte Alec wissen. „Vielleicht habt ihr mal zusammen Poker gespielt, eine Bank ausgeraubt oder irgendwelche Kriegergeschichten austauscht. Verflucht, vielleicht habt ihr es mal miteinander getrieben und du weißt es nicht mehr!“ Oscars Blick verfinsterte sich daraufhin. „Im Gegensatz zu dir habe ich in dieser Beziehung kein schlechtes Gedächtnis“, erwiderte er bissig. „Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Und auch wenn mir Seth nicht einmal ansatzweise bekannt vorkam, würde ich es nicht unbedingt ausschließen.“   Alec lehnte sich an die Wand hinter sich und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. „Aber warum das Ganze?“, fragte er. „Aus Neugierde? Langeweile? Wegen Asrim?“ Asrim ... Sobald Alec sich wieder auf seinen zwei Beinen zu halten vermochte, ohne umzukippen, würde er ohne Umwege seinen Schöpfer aufsuchen und nicht nur um Antworten bitten, sondern mit allen möglichen Mitteln danach verlangen. Inzwischen war er einem Punkt angekommen, an dem ihm alles gleichgültig war.   Doch noch bevor er sich vorstellen konnte, wie er Asrim an die Kehle sprang, spürte er plötzlich, wie Oscar sein Oberteil vorsichtig ein Stück nach oben zog. Alec grinste daraufhin breit. „Also wenn du mich ausziehen möchtest, brauchst du einfach nur zu fragen. Ich würde auf keinen Fall ablehnen.“ Oscar bedachte ihn daraufhin mit einem düsteren Blick. „Deine Wunde blutet wieder“, meinte er vollkommen unbeeindruckt. Alec schaute an sich selbst hinab und bemerkte sofort, dass der Verband sich an einigen Stellen rot verfärbt hatte. „Hm ... tatsächlich“, sagte er bloß. Er wollte mit den Schultern zucken und das Ganze irgendwie herunterspielen, aber er wusste gleich, dass diese Bewegung viel zu sehr schmerzen würde und dass er Oscar so oder so nichts vorzumachen vermochte.   „Du brauchst gar nicht den Tapferen zu spielen“, zischte dieser. „Du weißt, wie sehr ich das hasse.“ „Na fein“, erwiderte Alec seufzend. „Ich wurde halb zerfetzt und es tut immer noch weh. Zufrieden?“ Oscar verzog angesichts seiner Wortwahl erneut sein Gesicht. Diesmal war es jedoch nicht Missmut, den man in seinen Zügen erkennen konnte. „Oh nein, nein, nein, nein!“, meinte Alec daraufhin sofort. „Du alter Trottel gibst dir nicht selbst die Schuld an dem Ganzen, verstanden? Es war Seth!“ Oscar wich seinem Blick aus und dies war ein derart seltenes Phänomen, das Alec es glatt rot im Kalender angestrichen hätte, wäre die Situation eine andere gewesen.   „Wenn ich stärker gewesen wäre ...“ „Oh nein, damit kommst du mir jetzt nicht!“, fiel ihm Alec harsch ins Wort. „Dieser Kerl ... was auch immer er ist, er hat es geschafft, beinahe Sharif und mich ohne größere Anstrengung umzubringen. Glaube also bitte nicht, dass du schwach wärst, nur weil du ihm nicht widerstehen konntest. Das ist Unsinn!“ Er holte einmal tief Luft. „Ich bin einfach nur froh, dass es dir gutgeht, okay?“ Oscar musterte ihn, als wäre es absolut lächerlich, sich um sein Wohlbefinden Sorgen zu machen. „Als Seth dich in seiner Gewalt hatte ...“ Alec hielt kurz inne und erinnerte sich wieder an den leeren Gesichtsausdruck seines Freundes, spürte wieder diese Angst, ihn vielleicht für immer verloren zu haben. „Ich habe wirklich befürchtet, er hätte irgendetwas in dir zerstört. Er hätte dich zerstört! Und wie hätte ich ohne dein sonniges Gemüt und dein warmes Lächeln je weiterleben können?“ Und auch wenn die letzte Bemerkung eher scherzhaft gemeint war, schaffte Alec es einfach nicht, zu lächeln. Es war trotz alledem viel zu nahe an der schrecklichen Wahrheit.   „Er hat mich alles miterleben lassen“, sagte Oscar nach einer Weile des Schweigens. „Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper, aber ich habe alles mitbekommen. Und das war wahrscheinlich genau das, was Seth beabsichtigt hat. Er wollte mich leiden sehen.“ Seine Miene wurde finster, während Alec den Drang, ihn in den Arm zu nehmen und sich nicht darum zu scheren, ob dem anderen dies gefallen könnte oder nicht, bloß unterdrücken konnte, weil die Schmerzen viel zu heftig gewesen wären. „Was haben wir ihm nur getan?“, wollte Oscar wissen. „Es kann doch nicht lediglich um diese Emily gehen. Er war bei Sharif in Ägypten, bei dir in Rashitar, vielleicht sogar bei mir ... Das alles reicht sehr viel weiter zurück und es macht irgendwie keinen Sinn.“   Alec vermochte nicht zu widersprechen. Selbst wenn er wirklich vordergründig um Emily ging, ihr Tod ein Tropfen auf dem heißen Stein war, erklärte dies alles nicht, warum er erst gut zwanzig Jahre nach ihrem Ableben auf Rache sann. Es klang eher wie eine Ausrede, eine fadenscheinige Entschuldigung, um den wahren Grund für dies alles zu verschleiern. Was auch immer dieser sein mochte.       *  *  *  *  *  *  *  *     Die Dunkelheit ließ allmählich nach. Sharif blinzelte einige Male und versuchte, sich an den Helligkeitswechsel anzupassen. Seine Umgebung nahm wieder langsam Konturen an und der Vampir bemerkte auf Anhieb, dass er sich nicht mehr in dem kurz vor dem Einsturz stehenden Parkhaus befand. Das Stadtpanorama und der Sternenhimmel waren verschwunden und hatten einem ausgesprochen seltsamen Ort Platz gemacht. Bevor er jedoch dazu kam, die neue Örtlichkeit näher zu begutachten, spürte er einen stechenden Schmerz am Arm. Sharif drehte seinen Kopf zur Seite und erblickte Necroma, die noch immer auf die Knie gesunken war und seinen Ärmel gepackt hatte. Der Ägypter seufzte schwer. Eigentlich hatte er gehofft, dass sie sich dieses Mal zurückhalten würde.   „Ach, Necroma“, meinte er tadelnd. „Du bist so ein dummes Mädchen.“ Er half ihr, sich auf die Beine zu richten, während sie weiterhin ihre Umgebung mit großen Augen musterte. Sharifs Arm ließ sie dabei nicht los, sondern krallte sich im Gegenteil nur noch fester daran. „Du bist eine Närrin“, sagte Sharif vorwurfsvoll. „Ich habe alles getan, um euch zu beschützen. Keiner von euch sollte in Gefahr geraten.“ Necroma unterbrach ihre Untersuchung und wandte ihre Aufmerksamkeit Sharif zu. Ihre Miene war finster, als sie entgegnete: „Du brauchst nun wirklich nicht den heiligen Samariter zu spielen! Und du nennst mich tatsächlich eine Närrin, obwohl du der größere Dummkopf von uns beiden bist?“ Sie schnaubte. „Seit wann spielst du dich zum edlen Ritter auf? Und wie kannst du erwarten, dass du dein Leben riskierst, während wir anderen tatenlos zusehen?“ Sie verstärkte ihren Griff um seinen Arm. „Du wolltest uns also beschützen? Von mir aus. Dann bin ich eben hier, um dich zu beschützen, ist das klar?“   Sharif wollte zu Widerworten ansetzen, aber beim Anblick von Necromas hartem Gesichtsausdruck blieb ihm jeglicher Protest im Halse stecken. Bei solch einer halsstarrigen Person hätte Widerspruch sowieso nichts genützt. Somit lächelte er bloß knapp und sagte: „Danke.“ Necroma schnaubte. „Versuch bloß nicht, dich einzuschmeicheln, du Idiot!“, zischte sie. „Dein dummer Dackelblick mag vielleicht bei allen anderen wirken, aber ich bin immun dagegen. Du bist noch längst nicht aus dem Schneider! Wie kann man nur so dämlich sein, sich selbst zu opfern?“   Sharif schmunzelte, während sich Necroma, weiterhin vor sich hinfluchend, von seinem Arm löste. Einen Moment lang stand sie einfach kerzengerade da und verzog ihr hübsches Gesicht, ehe ihre Beine nachgaben und sie wieder auf den Boden zu sacken drohte. Sharif fing sie jedoch noch in letzter Sekunde auf und drückte sie an sich. „Du bist immer noch geschwächt von deinem Kampf mit Seth“, stellte er fest. „Überanstreng dich lieber nicht.“ Zunächst wirkte sie wie betäubt, geschockt von der Schwäche ihres Körpers, aber schließlich schüttelte sie ihren Kopf und sagte seufzend: „Ich fühle mich wirklich, als hätte ich keinen Funken Energie mehr im Leib. Das letzte Mal, als ich mich so gefühlt habe, war …“ Sie verstummte und legte nachdenklich ihre Stirn in Falten. „Ich glaube, ich hab mich noch nie so gefühlt.“   Während sie diesen Umstand offenbar in einer gewissen Art und Weise faszinierend fand, strich Sharif ihr bloß durchs Haar und ließ seinen Blick schweifen. Zum ersten Mal nahm er seine Umgebung wirklich wahr … und keuchte bei deren Anblick überrascht auf. Er bemerkte sofort, dass er keinerlei Ahnung hatte, wo er sich überhaupt befand. Er war schon an vielen Orten und Städten in den unterschiedlichsten Epochen gewesen, aber etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. Es war eine Stadt, soweit Sharif das zu erkennen vermochte. Zumindest ließ die Ansammlung von Gebäuden, durchzogen von langen Straßen, dies vermuten. Und dennoch war dieser Ort anders als alle Städte, die er jemals gesehen hatte. Ihm kam es fast so vor, als hätte man an diesem Platz alle Kulturen der Welt versammelt, angefangen von der frühsten Bronzezeit bis in die Moderne. Auf einem Hügel erblickte Sharif einen Tempel, der stark an ein antikes, griechisches Heiligtum erinnerte, wie es sie vor Tausenden von Jahren zu Dutzenden gegeben hatte. Direkt daneben befand sich ein gigantischer und prachtvoller Bau, den Sharif ohne Zögern als den Petersdom bezeichnet hätte. Und in weiter Ferne glaubte er sogar, eine Pyramide zu sehen, die bis in den Himmel hinauf ragte.   Auch die Straßen schienen nicht so recht zusammenzupassen. Necroma und er befanden sich zurzeit auf einem Bürgersteig, der mit der dazugehörigen Straße absolut modern erschien. Überall in London waren ähnliche zu finden gewesen. An der nächsten Kreuzung aber führte ein primitiver Schotterweg ab, der Sharif an die Vorläufer der modernen Straßen aus der Antike erinnerte. Gerade gut genug, dass ein Ochsenkarren nicht im Schlamm versank. Der Anblick dieses bizarren Ortes war überaus beeindruckend und gleichzeitig auch irreal. Alles erschien grau, fast neblig. Selbst der Himmel unterschied sich darin nicht, sodass Sharif nicht hätte sagen können, ob nun Tag oder Nacht war. Wenn das an diesem Ort überhaupt eine Rolle spielte … Sicher das Bemerkenswerteste an dieser merkwürdigen Stadt war hingegen das Fehlen jeglichen Lebens. Alles wirkte ausgestorben, nirgends war etwas Lebendiges zu entdecken. Nicht mal die kleinste Fliege. Und die wenigen Bäume, die Sharif ausmachte, waren tot und kahl. Auch so etwas wie Autos und Mülltonnen – einfach Hinweise darauf, dass Leben existierte – fehlten völlig. Aber gleichzeitig fühlte sich Sharif irgendwie beobachtet. Von wem oder was auch immer …   „Wo sind wir hier nur?“, fragte er, über alle Maßen fasziniert von den Eindrücken dieser seltsamen Welt. Necroma, die sich noch immer an ihn gedrückt hatte, um eine nähere Bekanntschaft mit dem Boden zu vermeiden, zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, sagte sie in einem unbekümmerten Tonfall. Aber bereits im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen, offenbar erschrocken von ihren eigenen Worten. Sie krallte ihre Fingernägel vor Schock tief in Sharifs Arm, der bei dieser Tortur vor Schmerzen aufstöhnte. Seine Arme waren immer noch schwer von Seths Feuer gezeichnet und extrem empfindlich. „Bei allen Göttern, ich weiß es nicht!“, wiederholte Necroma geradezu hysterisch. „Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht!“ Sie schüttelte energisch ihren Kopf, als wollte sie das Ganze nicht wahrhaben. „Ich kann nichts mehr sehen! Ich bin blind! Absolut blind!“ Sharif, der viel zu sehr mit seinem schmerzenden Arm beschäftigt war, konnte nicht genügend Konzentration aufbringen, um ihre Worte richtig zu deuten. Stattdessen musterte er bloß ihre wachen Augen und entgegnete ächzend: „Du wirkst  … aber nicht besonders blind.“   „Doch nicht diese Art von Blindheit, du ägyptischer Dorftrottel!“, zischte sie aggressiv. Sie hätte ihn wahrscheinlich vor lauter Zorn am liebsten gegen die nächste Wand geschmettert, hätte sie die Kraft dazu gehabt. „Ich kann einfach nichts mehr sehen. Die Zukunft, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Geister und Stimmen … alles weg. Nichts ist mehr da.“ Sie hielt inne und starrte mit schockgeweiteten Augen auf ihre Hände. „Meine Magie … weg.“ Sharif runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“ „Weg ist weg!“, meinte Necroma aufgebracht. Woher sie überhaupt die Kraft nahm, sich dermaßen aufzuregen, war Sharif schleierhaft. „Ich spüre einfach gar nichts mehr! Blind und taub bin ich, genauso wie du und all die anderen beschränkten Wesen. Verkrüppelt, missgebildet und schwach.“   Sharif strich ihr über die Hand und versuchte damit, ihren Griff um seinen geschundenen Arm zu lockern. Ihre eingegrabenen Fingernägel brannten wie die leibhaftige Hölle und trieben ihm sogar einige Tränen in die Augen. „Necroma, bitte“, meinte er keuchend. Nun endlich schien sie seine Qual zu bemerken. Sie löste ihren Griff und streichelte ihm stattdessen sanft über die schmerzende Stelle, als wäre er ein gepeinigter Hund. „Tut mir leid, Sharif“, sagte sie kleinlaut. „Ich wollte dir nicht wehtun. Es ist nur …“ Sharif nickte verstehend. Ihm war bewusst, dass ein Wesen wie Necroma, das Zeit seines Lebens mit der Magie verbunden gewesen war, selbstverständlich in Panik geriet, wenn man plötzlich davon abgeschnitten war. Wahrscheinlich war es für sie, als hätte sie beide Arme gleichzeitig verloren. Als wäre ein ungemein wichtiger Teil ihres Lebens unvermittelt fort.   „Du brauchst nicht auszurasten“, besänftigte Sharif sie. „Vermutlich hat dich das Kräftemessen mit Seth dermaßen geschwächt, dass du gerade keinen Kontakt mehr zur Magie aufnehmen kannst. Das renkt sich sicher wieder ein.“ Necroma legte ihren Kopf gegen seine Brust und strich ihm weiterhin vorsichtig über den Arm. Ihre Berührung tat zwar immer noch ein wenig weh, aber Sharif brachte es nicht über sich, sie zu bitten, es zu unterlassen. „Das hat nichts mit dem Kampf mit Seth zu tun“, erwiderte Necroma schließlich. „Es ist … dieser seltsame, unwirkliche Ort. Die Gesetze der Magie sind hier völlig anders. Alles ist anders.“   Und mit diesen Worten hielt sie ihm ihre Handinnenfläche entgegen, auf der eine tiefe Wunde prangte. Langsam sickerte Blut daraus hervor. „Ich habe mich eben, kurz bevor Seth uns hierhergebracht hat, an irgendwas geschnitten. Keine Ahnung, woran. Vielleicht eine rostige Stange, die dort auf dem Boden des Parkhauses herumlag. Bei der ganzen Anstrengung habe ich dem einfach keine große Beachtung geschenkt.“ Sie schwieg kurz und betrachtete fasziniert das Blut, das bereits ihre Finger benetzt hatte und nun ihr Handgelenk hinunterlief. „Und es heilt einfach nicht.“ Sharif wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Solch einen Satz hatte er von einem Vampir noch nie gehört. Und er hätte auch nie vermutet, dass es jemals geschehen würde. „Und das steht ebenfalls nicht in Verbindung mit dem Kampf“, fuhr Necroma fort. „Es ist dieser Ort. Diese Welt.“ Sharif seufzte schwer, während er erneut seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ. Wo waren sie hier nur gelandet? Kapitel 33: Bedauern -------------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.):       Neyo war noch nie ein besonders geduldiger Mann gewesen. Und als sich die Stunden in Tage und schließlich in Wochen verwandelten, wurde er zunehmend rastloser. Er hätte sich vielleicht ein wenig besser gefühlt, wenn er irgendetwas hätte beitragen können, doch sein kontinuierlich schlechter werdender Gesundheitszustand machte es ihm schwer, auch nur eine einzige Seite aus einem der zahllosen Magier-Bücher zu lesen, ohne dass sich Kopfschmerzen und Übelkeit anbahnten. Als würden sich die Worte tief in seinen Körper hineinfressen und ihn dafür bestrafen, dass er die Dreistigkeit besaß, sich konzentrieren zu wollen.   Reann hatte dieses Problem anscheinend überhaupt nicht. Sie verschlang ein Werk nach dem anderen, als wäre sie für nichts anderes geboren. Hier und da machte sie auch einige Notizen, doch bisher war nichts Bahnbrechendes darunter gewesen. Zumindest nichts, dass Neyo in seiner jetzigen Situation geholfen hätte. Jyliere hatte es sich inzwischen zur Aufgabe gemacht, alle alten Freunde und Verbündete sowie deren Freunde und Verbündete aufzusuchen, die womöglich irgendeine Ahnung haben könnten, wie man Neyo zu retten vermochte. Schon seit gut einer Woche war er nun unterwegs, bis in die hintersten Winkel Rashitars, und Neyo merkte allmählich, wie sehr er den Magier doch vermisste. Jyliere war stets eine Quelle der Ruhe und Autorität. Ohne ihn spürte Neyo, wie seine Nervosität nach und nach zunahm.   Mittlerweile mied er auch den Rest der Dienerschaft, so gut es ihm möglich war. Er schaffte es einfach nicht mehr, eine halbwegs unbeschwerte Miene aufzusetzen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ihnen war inzwischen allen klar, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht nur wegen Neyos ungewöhnlichen Verhaltens, sondern auch wegen der Tatsache, dass er von Tag zu Tag mehr aussah wie der wandelnde Tod. Er ertrug ihre Fragen und ihre besorgten Gesichter einfach nicht mehr.   „Hast du gewusst, dass ein Großteil der Untoten Nomaden sind?“, fragte Reann eines Nachmittags, der sich von all den Nachmittagen zuvor in keinster Weise unterschied. Beide saßen sie in Jylieres Bibliothek und versuchten ihr Bestes, Antworten zu finden. „Nomaden?“, hakte Neyo nach. Reann nickte und deutete auf den Text, der vor ihr ausgebreitet lag. „Während viele übernatürliche Geschöpfe ein bestimmtes Gebiet haben, das sie ihre Heimat nennen, scheint es bei Vampiren eher selten der Fall zu sein, dass sie ein Leben lang an ein- und denselben Ort bleiben.“ Sie schnaubte. „Gut, sie sind unsterblich und da möchte man sicher eher früher als später die Welt erkunden, aber der Autor dieses Buches hat wohl so einige Vampire befragt und offenbar hat sich keiner von Ihnen einem bestimmten Ort übermäßig verbunden gefühlt.“   Sie seufzte. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, keine Heimat zu haben. Keinen Ort, an dem man sich am sichersten fühlt. Es klingt so … traurig.“ Neyo nickte zustimmend, auch wenn er gleichzeitig einräumen musste, dass die Vorstellung, die gesamte Welt zu bereisen, unglaublich verlockend klang. Er hielt jedoch wohlweislich seinen Mund, keinesfalls bereit, ihr gegenüber zuzugeben, das er in dieser Hinsicht mit den Schattenwandlern etwas gemeinsam hatte.   Reann hatte sich währenddessen wieder intensiv ihrer Lektüre zugewandt, absolut konzentriert. Neyo musterte sie eine Weile schweigend und fragte letztlich interessiert: „Warum tust du das alles?“, Die Magierin seufzte, während sie davon absah, überhaupt ihren Blick zu heben. „Hatten wir dieses Gespräch nicht schon einmal?“   „Ja schon“, gab Neyo zu. „Aber du ... du wälzt dich jeden Tag stundenlang durch diese Bücher. Wie oft habe ich dich die letzte Zeit daran erinnern müssen, etwas zu trinken oder zu essen? Und du siehst ehrlich gesagt so aus, als hättest du schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig geschlafen.“ Ihre Haut war blass, ihre Augenringe tief und ihr Blick schien oftmals unfokussiert. Es war Neyo ein Rätsel, wie sie es überhaupt schaffte, sich zu konzentrieren.   „Ich ... schlafe in letzter Zeit nicht allzu gut“, gestand sie ein, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte und Neyo drauf und dran gewesen war, weiter nachzubohren. „Nicht vordergründig deinetwegen“, fügte sie noch rasch hinzu, um ihn nicht auf falsche Gedanken zu bringen, „sondern ...“ „Sharif“, mutmaßte Neyo. Er vermochte es sehr gut nachzuvollziehen. Er hätte wahrscheinlich ebenfalls schreckliche Albträume von Sharif gehabt, wenn das Bild von Asrim nicht noch tausendmal schlimmer gewesen wäre. Im Grunde war er froh, dass Reann dieser Kreatur bisher nicht begegnet war.   „Ich konnte mich nicht bewegen, weißt du?“, fuhr sie fort. Sie klang, als wollte sie sich dies schon seit einer Weile von der Seele reden, hatte aber nie den Mut oder die Gelegenheit dazu gehabt. Immer noch war ihre Aufmerksamkeit auf das Buch in ihrem Schoß gerichtet und Neyo vermutete, dass sie es nicht fertigbringen würde, ihm dabei auch noch in die Augen zu schauen. „Er ... hat irgendwas mit mir gemacht. Ich konnte meine Magie nicht einsetzen. Und dabei ist meine Magie doch alles, was ich habe.“ Neyo legte seinen Kopf schief. „Du bist mehr als bloß Magie, Reann.“ Sie schnaubte daraufhin, als wäre dies der größte Schwachsinn, den sie je gehört hatte. „Wie auch immer“, winkte sie ab, als würde sie es bereits wieder bereuen, sich derart geöffnet zu haben.   Neyo war währenddessen von der Fensterbank gesprungen. „Du brauchst ganz dringend eine Pause“, meinte er bestimmend. Er trat auf sie zu und klappte ihr Buch zu, woraufhin sie heftig zu protestieren begann, aber sogleich wieder verstummte, als Neyo ihre Hand nahm und sie auf ihre Füße hievte. „Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug.“ „Was?“, fragte sie entsetzt nach. „An den Strand“, wurde Neyo noch konkreter. Reann schnappte daraufhin nach Luft. „Wir können nicht einfach gehen“, erwiderte sie vehement. „Dort draußen laufen schreckliche Monster herum, die – falls du dich noch erinnerst – versucht haben, uns zu töten! In diesen vier Wänden sind wir sicher, aber dort draußen nicht!“   Neyo lachte auf. „Glaubst du tatsächlich, dass Sharif nicht irgendwie hier würde eindringen können, wenn er es wirklich wollen würde? Denkst du wirklich, du wärst hier besser geschützt als dort draußen?“ Er erkannte, dass sie durchaus ähnlich dachte, aber trotzdem zu stolz war, ihm zuzustimmen. „Wir können nicht einfach ...“, begann sie erneut, diesmal aber deutlich schwächer. Als wäre ihr bereits bewusst, dass jeglicher Widerstand sowieso sinnlos wäre.   „Du bist absolut fertig, Reann“, führte Neyo ihr vor Augen. „Du kannst dich wahrscheinlich nicht einmal an ein Bruchteil von dem, was du eben gelesen hast, überhaupt noch erinnern, nicht wahr? So bist du keine großartige Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll.“ Vergnügt beobachtete er, wie ihr Blick sich verdüsterte. „Du brauchst Entspannung, bei allen Göttern! Und für mich persönlich gibt es in solch einem Fall nicht besseres, als dem Meer zu lauschen.“ Reann zögerte. „Ich war schon ewig nicht mehr am Meer“, sagte sie, als wäre sie unsicher, ob es dabei irgendwelche Regeln gab, die es zu beachten galt. Neyo lachte. „Es liegt praktisch direkt vor deiner Nase und du erfreust dich nicht daran? Unverzeihlich!“   Er nahm ihre Hand und führte sie hinaus aus der Bibliothek. Es war ein leichtes, die paar Wachen, die Te-Kem seiner Tochter noch mitgeschickt hatte, zu umgehen und sich aus der Hintertür hinauszustehlen. Neyo steuerte sofort den kleinen Trampelpfad hinter dem Haus an, der innerhalb von zehn Minuten hinunter zum Strand führte. Reann beschwerte sich kein einziges Mal. Neyo war zunächst sehr überrascht angesichts ihrer Zurückhaltung, aber wenn man sich vor Augen führte, dass sie seit der Begegnung mit Sharif nicht mehr richtig geschlafen hatte, war es im Grunde kein Wunder, dass sie keine Energie mehr zur Verfügung hatte, um zu widersprechen. Stattdessen ließ sie sich widerstandslos von Neyo mitführen und wehrte sich nicht einmal, dass er immer noch ihre Hand festhielt.   Kaum hatten sie den Strand erreicht, spürte Neyo sofort, wie die Anspannung von ihm abfiel. Dies war der liebste Ort auf der Welt für ihn, beinahe täglich versuchte er, sich irgendwie hierhin zu stehlen. Oftmals auch spät abends, wenn alle anderen dachten, dass er in der Stadt wäre, um das Nachtleben etwas aufzumischen. Er liebte es einfach, zum Teil stundenlang im weichen Sand zu sitzen, dem Meer zu lauschen und sich auszumalen, was wohl hinter dem Horizont sein könnte. Das Wetter war an diesem Nachmittag glücklicherweise durchaus angenehm für die späte Jahreszeit, sogar die Sonne ließ sich zeitweise blicken. Dennoch herrschte eine frische Brise am Strand und Neyo merkte sofort, wie Reann zu frösteln begann. Ohne großartig darüber nachzudenken, streifte er seine Jacke ab und legte sie ihr über die Schultern, woraufhin sie ihn mit einem überraschten Blick musterte, als hätte sie nie im Leben vermutet, dass er derart rücksichtsvoll sein könnte.   Neyo grinste jedoch nur, ehe er sich im Schneidersitz auf dem Sand niederließ und aufs Meer blickte. Er spürte die kühlen Böen kaum und auch wenn er sich im Unterbewusstsein fragte, ob dies möglicherweise mit der Veränderung, die gerade sein Körper durchlief, zu tun hatte, schob er diesen Gedanken beiseite und erfreute sich stattdessen einzig und allein am Ausblick. „Es ist ... wirklich schön hier“, sagte Reann beinahe schon widerstrebend, als wäre es ihr über alle Maßen unangenehm, Neyos Entscheidung, hierherzukommen, irgendwie zu unterstützen. Sie zögerte kurz, sich mit ihrem teuren Kleid in den Sand zu setzen, aber als sie merkte, dass sie stehend eine größere Angriffsfläche für den Wind bot, nahm sie rasch neben Neyo Platz.   „Ist dir nicht kalt?“, fragte sie verwundert nach. Neyo trug nur ein dünnes Oberteil, dass unter normalen Umständen die Kälte nicht lange abgehalten hätte. „Es geht schon“, sagte er lächelnd. „Ich kann mich ja ein bisschen an dich kuscheln, wenn es mir zu frisch wird.“ Obwohl sie wusste, dass es nur als Scherz gemeint war, bemerkte er, wie ein leichter Rotschimmer auf ihren Wangen erschien. „Du bist ein Idiot“, zischte sie, jedoch eher halbherzig und ohne die sonstige Leidenschaft dahinter. „Tut es noch sehr weh?“ Ihr Blick ruhte auf seinen Arm. Der weiße Verband schaute ein wenig unter dem Oberteil hervor und machte mehr als deutlich, dass man seine Probleme trotz alledem nicht einfach zurücklassen konnte. „Nicht mehr so schlimm“, sagte er. „Aber lass uns nicht darüber reden, einverstanden? Nicht hier.“   Reann musterte ihn einen Augenblick, ehe sie schließlich nickte. „Gerne“, stimmte sie zu. „Also ... hast du dich schon je gefragt, was sich wohl weit jenseits hinter dem Meer befindet?“ Neyo bedachte sie mit einem erstaunten Blick, als ihm bewusst wurde, dass sie vielleicht gar nicht so verschieden waren. Oder aber sie war inzwischen sehr gut darin, seine Gedanken und Gefühle zu erahnen. „Andauernd“, meinte er grinsend. „Was denkst du?“   „Ich habe Gerüchte gehört“, sagte Reann. „Von Schiffen, die wie Drachen und Seeungeheuer geformt sind. Von Männern und Frauen mit hellem Haar, silbernen Helmen und schweren Waffen.“ Neyo lächelte. „Das würde ich zu gerne einmal sehen. Glaubst du, sie werden eines Tages zu uns kommen?“ Reann überlegte kurz. „Ich glaube, dass die Welt irgendwann sehr viel größer wird. Die Nordvölker werden in den Süden kommen und die Südländer in den Norden. Alles wird sich irgendwann vermischen.“ Sie wirkte plötzlich sehr wehmütig. „Wahrscheinlich nicht mehr zu unseren Lebzeiten, aber irgendwann einmal. Dann laufen an diesem Strand blonde Normannen zusammen mit den schwarzen Männern, von denen Calvio andauernd erzählt.“   Neyo konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Du hörst dir tatsächlich Calvios Geschichten an?“ Reann zog ihre Mundwinkel nach unten. „Dieser dreckige Pirat ist eine absolute Straßenratte, aber ...“ Sie seufzte schwer. „Aber irgendetwas hat er an sich. Ich denke, er lügt nicht.“ Neyo war ehrlich überrascht. Das war tatsächlich das erste Mal, dass er diese Worte hörte. Selbst er traute den meisten von Calvios Geschichten nicht über den Weg. „Wirklich?“, hakte er amüsiert nach. „Wie kommst du darauf?“   Sie hob ihre Schultern. „Es ist einfach nur ein Gefühl“, gab sie zu. „Aber das nächste Mal, wenn er von fernen Ländern und Kulturen erzählt, ziehe einfach mal die Möglichkeit in Betracht, dass es tatsächlich wahr sein könnte. Es wird die Welt für dich auf jeden Fall ein Stückchen größer machen.“ Neyo lächelte. Es wäre wirklich sehr interessant und spannend gewesen, wenn an Calvios Erzählung tatsächlich etwas dran war. Alleine, es sich vorzustellen, ließ Neyos Fernweh nur noch größer und drängender werden.   „Reann?“ Sie wandte sich ihm zu. „Ja?“ „Du bist gar nicht so übel, wie alle sagen.“ Sie schien einen Augenblick ehrlich verblüfft, ehe sie schnell ihren Blick wieder aufs Meer richtete. „Gleichfalls.“   Und so saßen sie noch lange am Strand, lauschten den Wellen und mutmaßten, wie die Länder hinter den Grenzen Rashitars wohl aussehen mochten. Irgendwann fielen Reann schließlich vor lauter Erschöpfung die Augen zu und fast schon wie selbstverständlich sank sie auf den weichen Sand. Und Neyo legte sich neben sie, betrachtete den wolkenverhangenen Himmel, lauschte Reann leisen Atemzügen und musste sich eingestehen, dass sein Leben momentan nicht nur aus Schmerzen und Dunkelheit bestand.       *  *  *  *  *  *       Schon seit Wochen war sich Te-Kem in seinen finstersten Träumen am ausmalen, wie er reagieren würde, wenn Asrim letztlich vor ihm stand. Würde er vor Panik wie gelähmt sein? Würde er versuchen, hastig das Weite zu suchen? Oder würde sogar so etwas wie Kampfgeist in ihm erwachen? Verschiedene Szenarien hatte er Tag und Nacht in seinem Kopf durchgespielt und jede einzelne hatte schrecklich geendet. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass er absolut ruhig bleiben würde, als es letzten Endes schließlich soweit war.   Schon als er die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete, wusste er sofort, dass ihn im Inneren jemand erwartete. Doch anstatt auf der Schwelle kehrtzumachen, davonzulaufen und nach den Wachen zu rufen, betrat er seine Gemächer, ohne eine Miene zu verziehen, und schloss leise die Tür hinter sich. Er spürte zwar, wie die Angst sich seiner zu bemächtigen versuchte, aber etwas anderes in ihm war viel stärker. Er war es müde, in ständiger Furcht zu leben. Und er hatte es mehr als satt, diesem Mann auszuweichen, wenn gleichzeitig der Wunsch, endlich mit ihm zu sprechen, mit jeder Minute, die verging, so unglaublich mächtig wurde.   Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich Asrim äußerlich kein bisschen verändert. Er wirkte immer noch stolz und jung und so dermaßen übernatürlich, dass es einem glatt den Atem zu rauben vermochte, wenn man ihn länger betrachtete. Vollkommen gelassen saß er auf einem gepolsterten Stuhl und musterte Te-Kem mit einer undefinierbaren Miene, während sein Gesicht im fahlen Kerzenschein seltsam entrückt erschien. „Ich wusste, dass du nicht davonlaufen würdest“, sagte er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. Seine Stimme klang immer noch genauso, wie Te-Kem sie in Erinnerung hatte. Stark und beherrscht, als wäre nichts und niemand in der Lage, sie aus dem Takt zu bringen.   „Würde es etwas bringen?“, hakte Te-Kem nach, während er bemüht war, nicht zu zeigen, wie überrascht er war, dass seine Stimme so fest blieb. „Niemand kann dir entkommen, Asrim.“ Ein Lächeln umspielte die Lippen des Vampirs. „Und trotzdem haben es viele versucht“, erwiderte er. „Verzweiflung führt zu dummen Taten.“ Te-Kem lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sich die funkelnden Augen des Wesens auf ihn hefteten. Er fühlte sich durchleuchtet, absolut nackt. Als könnte Asrim tief in seine Seele schauen und jedes noch so kleine Geheimnis finden.   „Wenn du hier bist, um mich zu töten, dann bring es hinter dich“, forderte er ihn auf. Te-Kem verspürte zwar nicht den Drang, hier und jetzt zu sterben, aber noch weniger hatte er Lust darauf, Asrims Spielchen mitzuspielen. Asrim lachte amüsiert auf, woraufhin Te-Kem ein eisiger Schauer über den Rücken lief, als er bemerkte, dass ihn dieses Geräusch mehr aus der Fassung brachte, als es alle Gewaltandrohung der Welt zusammengenommen hätte tun können. „Es wäre wirklich extrem langweilig und unkreativ, wenn ich dir einfach die Kehle aufschlitzen würde, findest du nicht?“, meinte der Vampir belustigt. „Nein, ich will, dass du zuerst verstehst.“   Te-Kem schüttelte sofort den Kopf. „Ich verstehe es, glaube mir. Ich verstehe alles.“ Er holte einmal tief Luft, als er an all die Dinge dachte, die schon so lange zurücklagen und dennoch so greifbar erschienen, als wäre es erst vor kurzem geschehen. „Und wenn ich dir jetzt sage, dass es mir leid tut, würdest du es wahrscheinlich nur für einen jämmerlichen Versuch halten, meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, nicht wahr?“ Asrim musterte ihn einen Augenblick intensiv. „Einen extrem jämmerlichen Versuch.“ Te-Kem konnte daraufhin jedoch nur mit den Schultern zucken, als er ein paar Schritte näherkam und versuchte, sich von der gegenwärtigen Gefahr nicht einschüchtern zu lassen.   „Ich kann nachvollziehen, dass du mir nicht glaubst, besonders ausgerechnet jetzt, wo noch mein Leben auf dem Spiel steht“, entgegnete er. „Selbst in meinen Ohren klingt es hohl und unglaubhaft. Und trotzdem ist es wahr.“ Ohne auch nur mit einem Muskel zu zucken, erwiderte er Asrims starren Blick. „Ich habe damals einen schweren Fehler begangen und ich habe mich dafür gehasst!“, erklärte er. „Ich war jung und dumm und alles, was ich begehrte, war, dass mein kaltherziger Vater wenigstens ein einziges Mal stolz auf mich war. Ich habe nicht begriffen, dass er die Mühe einfach nicht wert war und dass nichts auf der Welt ihn dazu gebracht hätte, mich zu lieben. Stattdessen habe ich nur die Enttäuschung und das Entsetzen in seinen Augen gesehen und konnte es einfach nicht ertragen.“   Te-Kem spürte, wie ihm das Herz schwer wurde, als er diese Worte zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit auszusprechen imstande war. All die Zeit hatte er es mit sich getragen, sodass es ihn von innen förmlich aufgefressen hatte. „Ich verdiene deine Vergebung nicht“, meinte er resigniert. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir nicht einmal selbst verzeihen können. Ich war naiv und beeinflussbar und so unglaublich dumm!“ Und Asrim hatte dafür letzten Endes einen hohen Preis zahlen müssen. „Mach mit mir, was du willst“, meinte Te-Kem und breitete einladend seine Arme aus. „Du kannst mich quälen, mich foltern, mich in die absolute Verzweiflung treiben. Ich habe es mehr als verdient.“ Und er meinte jedes Wort ernst.   Te-Kem wusste, wie sehr Asrim die Zeit gerne zurückgedreht hätte. Und es lag nicht daran, dass Te-Kem ihn an seinen Vater förmlich verkauft und dieser den Vampir anschließend eine Weile außer Gefecht gesetzt hatte, während er groß und stolz überall verkündet hatte, Asrim gar getötet zu haben. Nein, es ging einzig und allein darum, was danach geschehen war. Um das, was der Vampir aufgrund der Intrige der Magier nicht hatte verhindern können. Und Te-Kem verstand sehr wohl, warum er dies niemals jemanden zu vergeben vermochte. Im Grunde wäre es ihm nicht anders gegangen, wäre er an Asrims Stelle gewesen. „Aber Reann ...“, wisperte er. „Sie ist unschuldig. Sie hat das alles nicht verdient.“   Asrim musterte ihn daraufhin einen Moment schweigend und schien einzuschätzen, inwieweit seine Worte der Wahrheit entsprachen. Te-Kem rührte sich währenddessen kein Stück und ließ den Blick des anderen widerstandslos über sich ergehen. Schließlich deutete der Vampir auf den Stuhl direkt ihm gegenüber. Te-Kem zögerte einen Augenblick, setzte sich aber letztlich in Bewegung und setzte sich hin. Ob nun in stehender oder sitzender Position, Asrim würde so oder so immer einen Vorteil haben.   „Ich glaube, du siehst das Ganze absolut falsch“, meinte Asrim, während er Te-Kem die gesamte Zeit über intensiv beobachtet hatte. „Im Grunde geht es mir gar nicht um dich oder auch um Reann. Es geht mir einzig und allein um Unarc.“ Als Te-Kem den Namen seines Vaters hörte, runzelte er verwunderte die Stirn. „Aber ... er ist schon lange tot.“ Vor gut achtzig Jahren war er bei einem schweren magischen Unfall ums Leben gekommen. Es wurde erzählt, er hätte mit einigen uralten Zaubern experimentiert, die letzten Endes seine Fähigkeiten überstiegen hatten. „Ja, und das ist wirklich eine Schande“, entgegnete Asrim. „Denn eigentlich war er es, den ich habe leiden sehen wollen.“   Der Vampir lehnte sich zurück und bedachte Te-Kem mit eben jenem durchdringenden Blick, der ihn schon damals jedes Mal vollkommen aus der Fassung gebracht hatte. „Es ist wirklich traurig, dass er aufgrund seiner eigenen Leichtsinnigkeit den Tod gefunden hat“, fuhr Asrim fort. „Dabei hatte ich ihm eigentlich geschworen, dass ich ihm den Hals umdrehen würde. Demnach war es mehr als unhöflich von ihm, mir diesen Wunsch zu verwehren.“ Te-Kem wusste nicht, was er darauf hätte antworten sollen. Stattdessen verkrampfte er sich bloß und merkte, wie sein Puls immer weiter in die Höhe stieg. Allmählich schien auch sein Körper zu begreifen, dass er sich in der Nähe eines gefährlichen Wesens befand, das ihn innerhalb eines Wimpernschlags hätte töten können.   „Was ... was war eigentlich zwischen euch?“, stellte er jene Frage, die er nie gewagt hatte, auszusprechen. Er hatte bloß immer diese Abneigung, immer diesen abgrundtiefen Hass zwischen dem Vampir und seinem Vater gesehen und sich stets gewundert, was wohl geschehen sein mochte, dass sie solch eine Antipathie für den jeweils anderen empfanden. Allerdings wäre es ihm nie im Traum eingefallen, Unarc deswegen zu befragen, und bei Asrim war er sowieso von Anfang an überzeugt gewesen, dass er nicht die Wahrheit würde zu hören bekommen. Nun jedoch, nach all dieser langen Zeit, konnte er es schließlich einfach nicht mehr bei sich behalten.   Asrim grinste schief. „Ich bin seinem Sohn etwas zu nahe getreten“, meinte er amüsiert. Te-Kem schnaubte, ehe er dem Blick seines Gegenübers auswich. „Nein, das meine ich nicht“, erwiderte er, sehr darum bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Es ... es war doch schon lange vorher so zwischen euch beiden. Dabei habe ich Gerüchte gehört, dass ihr vor langer Zeit sogar Freunde gewesen wärt. Was ist also passiert?“ Asrim lächelte, schien aber keinerlei Anstalten aufkommen zu lassen, diese Frage auch zu beantworten. Wie so oft behielt er seine Geheimnisse gerne für sich.   „Ich kann dir bloß sagen, dass ich, als Unarc es tatsächlich geschafft hat, mich zu überrumpeln, ich ihm etwas geschworen habe“, sagte der Vampir. Te-Kem hob seine Augenbrauen, als ein unangenehmes Gefühl ihn beschlich. „Und was?“ Asrim verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe ihm geschworen, dass ich seine gesamte Blutlinie auslöschen würde.“ Te-Kem war im ersten Moment wie versteinert. Er wusste, dass er eigentlich entsetzt oder schockiert darauf hätte reagieren müssen, aber stattdessen wurde ihm plötzlich klar, dass er mit nichts anderem gerechnet hatte. Asrim war schon immer jemand gewesen, der keinen halben Sachen erledigte, und nach dem, was Unarc und auch Te-Kem ihn angetan hatten, war es im Grunde fast schon ein Wunder, dass er nicht jeden niedermetzelte, mit dem sie mal ein paar Worte ausgetauscht hatten.   „Ich habe deinen Schwestern einen Besuch abgestattet“, erzählte Asrim mit einem dämonischen Lächeln. Te-Kem hob sofort ruckartig seinen Kopf. „Meine ... Schwestern?“, fragte er überrascht nach. Seine beiden älteren Schwestern hatten sich schon vor sehr langer Zeit mit ihrem strengen Vater überworfen und waren eines Tages einfach gegangen. Sie hatten Rashitar verlassen, die Barriere durchtreten und niemand hatte sie je wieder zu Gesicht bekommen. Te-Kem hatte zu jener Zeit oft erwogen, ihnen zu folgen, hatte es aber letztlich nicht über sich gebracht, seine Heimat hinter sich zu lassen.   „Sie waren zäh und mutig“, erklärte Asrim. „Mir tat es fast schon leid um sie und ihre Kinder. Aber ich hatte Unarc ein Versprechen gegeben. Und selbst, wenn er jetzt tot ist, wird er es trotzdem auf die ein oder andere Weise mitbekommen.“ Te-Kem starrte sein Gegenüber entsetzt an. Er erinnerte sich zwar kaum noch an diese zwei jungen Frauen, entsann sich nicht einmal mehr an ihre Gesichter, doch er wusste noch, dass er sie für ihren Stolz und ihre Güte bewundert hatte. Und ebenso fühlte er noch in der hintersten Ecke seines Herzes, dass er sie einst geliebt hatte.   „Du hast sie ... einfach umgebracht?“ Einen Moment vergaß er vollkommen, zu atmen. Er fragte sich bloß, wie irgendeine Seele auf dieser Welt solch einen Hass entwickeln konnte, dass selbst die Ermordung von unschuldigen Unbeteiligten kein Problem darstellte. „Aber ... sie hatten doch gar nichts damit zu tun. Sie haben Unarc verabscheut! Und du ... du tötest sie einfach, weil sie ... weil sie sein Blut in sich tragen?“ Te-Kem wurde plötzlich schwarz vor Augen, als er begriff, dass diese Beschreibung auch haargenau auf Reann zutraf. Auf seine wunderschöne Tochter, deren Leben er unter allen Umständen retten wollte und die wahrscheinlich trotzdem so oder so dem Untergang geweiht war.   „Du wusstest doch immer, dass ich ein Monster bin“, meinte Asrim. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, doch in seinen Augen funkelte etwas Seltsames auf. Te-Kem begann, leicht zu zittern, als er erwiderte: „Es hat eine Zeit gegeben, in der ich das nicht gedacht habe. Allerdings war ich damals sehr naiv.“ Asrim nickte bestätigend. „Das warst du wirklich.“ Er beugte sich ein wenig vor. „Es ging mir nie darum, Rache an dir zu nehmen, Te-Kem. Ehrlich gesagt habe ich es damals sogar verstanden. Ich habe dir schon vor sehr langer Zeit verziehen.“ Te-Kem hasste sich selbst dafür, dass es trotz alledem irgendwie erleichternd war, diese Worte zu hören.   „Aber ich muss dennoch sterben, nicht wahr?“, hakte er verbittert nach. „Und das nur, weil ich der Sohn dieses gefühllosen, grausamen Mistkerls bin?“ Te-Kem hatte schon immer gewusst, dass der Geist seines Vaters ihn bis zum Tages seines Todes verfolgen würde, allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass das Ganze so wörtlich zu nehmen wäre. „Du könntest mich also einfach so töten?“, hakte Te-Kem nach. „Mir das Genick brechen oder meinen Körper entzweireißen, als wäre ich nur irgendein bedeutungsloser Niemand für dich?“   Er ballte seine Hände zu Fäusten, als er daran dachte, was einst gewesen war und wie schnell manche doch vergessen konnten. Asrim jedoch überraschte ihn, als er zugab: „Nein, das könnte ich nicht.“ Te-Kem blickte auf und musterte den Vampir skeptisch. Er war zwar weit davon entfernt, so etwas wie Hoffnung zu schöpfen, aber dennoch musste er zugeben, dass es durchaus gut tat, diese Worte zu hören. „Um der alten Zeiten willen kann ich dir ein Versprechen geben“, meinte Asrim. „Weder Sharif noch ich werden Hand an dich und deine Tochter legen. Das schwöre ich bei den Alten Göttern der Zeit.“ Te-Kem war einen Augenblick wie versteinert, wusste nicht, was er denken und fühlen sollte. Schließlich aber machte sich Verbitterung in ihm breit.   „Aber dennoch werden wir sterben“, schlussfolgerte er. „Auf die ein oder andere Weise.“ Asrim legte seinen Kopf schief. „Ich habe auch Unarc ein Versprechen gegeben. Und ich breche mein Wort niemals.“ Langsam erhob er sich von dem Sessel, in einer einzigen fließenden Bewegung. „Ich bedaure, dass es so zwischen uns enden muss.“ Te-Kem schnaubte. „Ich glaube, wenn du irgendwann einmal Gefühle gehabt hast, dann sind sie spätestens nach dem, was mein Vater getan hat, vollends gestorben. Du hast doch keine Ahnung, was Bedauern überhaupt bedeutet.“   Im nächsten Moment zuckte er zusammen, als Asrim plötzlich neben ihn stand und mit seinen Fingern kurz über Te-Kems Nacken fuhr. Der Magier vermochte es nicht, ein Schaudern zu unterdrücken, das nur bedingt mit Unwohlsein und Angst im Zusammenhang stand. „Oh doch, das weiß ich sehr wohl“, erwiderte Asrim. „Mein ganzes Leben besteht nur noch aus Bedauern.“ Und damit war er verschwunden und mit ihm auch das letzte bisschen Hoffnung, das Te-Kem noch gehabt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)