Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 24: Rot-weiß-karierte Schweine -------------------------------------- „Du bist ein Narr, Sharif!“ Necromas Stimme war weder schneidend noch vorwurfsvoll, als sie diese Worte aussprach, sondern vielmehr amüsiert. Als wäre es eine reizende und liebenswerte Eigenschaft, die es zu hegen und zu pflegen galt. „Und du bist wie immer sehr taktvoll, Necroma!“, entgegnete Sharif brummend. Stundenlang war er nun für sich gewesen, hatte in dem leeren Wohnzimmer auf einem ausgebeulten Sessel gesessen und hatte seinen sehr düsteren Gedanken nachgehangen, als die Vampirin völlig ungeniert hereingekommen war und ihn statt mit einer netten Begrüßung gleich mit einer Beleidigung beglückte. „Und darf ich auch erfahren, warum ich ein Narr bin?“ „Sicher.“ Necroma lächelte, als sie sich auf der Couch neben ihm niederließ, ihre Stiefel abstreifte und die Beine anzog. „Ich bin doch nicht unhöflich.“ Sharif schnaubte. „Doch, das bist du.“ Sie schmunzelte weiterhin und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Als wäre sie mit sich und der Welt völlig im Reinen.  „Warum bin ich ein Narr, Necroma?“, hakte Sharif noch einmal nach. „Lass mich raten! Du hast schon längst vorhergesehen, wie das hier alles ausgeht, nicht wahr? Die Sache mit Seth und dem magischen Feuer … Du weißt wahrscheinlich auch, wo er sich gerade aufhält, stimmt’s? Aber anstatt irgendetwas zu sagen oder uns auch nur ein bisschen zu helfen, lässt du uns lieber im Dunkeln stochern.“ Necroma legte ihren Kopf schief. „Du klingst irgendwie feindselig.“ Sharif musterte sie mit einem harten Blick. „Weil ich es leid bin, Nec! Ich bin es sowas von leid, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“ Necroma lächelte verständnisvoll, ehe sie sich von der Couch erhob und sich halb auf seinem Schoß und halb auf dem Sessel niederließ, als hätte er sie freudig dazu eingeladen. „Du machst mich ganz wuschig, wenn du wütend bist“, meinte sie amüsiert. „Und warum ich nichts sage? Bist du je auf den Gedanken gekommen, mich einfach mal zu fragen?“ Darauf wusste Sharif im ersten Moment keine Antwort. Stattdessen starrte er sie einfach ungläubig an, während sie anfing, ihre Finger durch sein Haar zu fahren. „Ich habe dich in der Vergangenheit sicher Hunderte Male nach deiner Meinung gefragt und alles, was ich gekriegt habe, waren kryptische Antworten“, entgegnete er zähneknirschend. „Meine Antworten sind niemals kryptisch.“ „Ach nein?“ Sharif holte einmal tief Luft. „Na fein. Also, wo befindet sich dieser Seth?“ Necroma lächelte verträumt, während sie weiterhin mit seinen Haaren spielte, als wäre es momentan das Wichtigste auf der Welt. „Er ist dort, wo der Mond und die Sonne zusammen ihre Kekse backen.“ Sharif schnaubte daraufhin, war aber keinesfalls überrascht. Sie war noch nie jemand gewesen, der klar und deutlich gesagt hatte, was Sache war. Während der eine von Gefahr von Zerstörung sprach, redete sie im selben Atemzug von Pflaumenkuchen und Zwergen. In ihrem Kopf mochte dies alles einen Sinn ergeben – einen unerschütterlichen und absolut unumstößlichen Sinn –, aber für jeden anderen war es bloß ein verworrenes Rätsel, das man einfach nicht lösen konnte, sosehr man es auch zu versuchen vermochte. Selbst Asrim wusste den Großteil der Zeit nicht, was Necroma von sich gab. „Ist es dir eigentlich dermaßen egal, ob wir irgendwann deinetwegen sterben werden?“, erkundigte sich Sharif. Necroma rückte noch etwas näher und ging dazu über, seine Schläfen zu massieren, als würde sie irgendwelche potenziellen Kopfschmerzen vertreiben wollen. „Du stellst seltsame Fragen, Wüstenmann. Der Tod ist ein Abenteuer, wenn einem das Leben nichts mehr bietet. Warum sollte ich ihn also fürchten oder gar abwenden wollen? Spielen wir also lieber im Regen Bingo und verkaufen unsere Fingernägel an gierige Trolle.“ Sharif schnalzte mit der Zunge. „Manchmal hasse ich dich wirklich, Necroma.“ Sie lächelte. „Nein, das tust du nicht.“ Sie hatte zwar Recht, aber Sharif war im Moment nicht bereit, dies auch einzugestehen. Er war dem Tod so derart nahe gekommen, er wäre beinahe gestorben und Necroma sprach weiterhin in Rätseln, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. „Du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn du mir einfach sagst, was du weißt“, meinte er, trotz alledem immer noch ruhig. In Necromas Gegenwart die Fassung zu verlieren, hatte noch niemals etwas gebraucht außer Frust und Verzweiflung. „Ich habe es verdient, denkst du nicht auch?“ Necroma überlegte einen Moment. „Ich weiß, dass die Spinne dort hinten in der Ecke Rosemarie heißt und sechzig Kinder hat“, sagte sie und deutete zur Garderobe. Im ersten Augenblick war Sharif tatsächlich kurz davor, einen Blick auf die besagte Spinne zu werfen, doch rasch besann er sich eines Besseren. „Necroma, komm schon!“ „Was willst du von mir?“, hakte sie nach. „Dass ich dir Seth auf einem Silbertablett liefere? Wo wäre denn da der Spaß?“ Sharif verzog missbilligend das Gesicht und wollte zu einem Gegenargument ansetzen, als er bemerkte, wie sie seinem Blick auswich und stattdessen zur kinderreichen Spinne hinübersah. Normalerweise eigentlich nichts Besonderes, sie driftete gerne einmal ab, doch in ihren Augen war etwas aufgefunkelt, das er schon lange nicht mehr gesehen hatte. „Bei allen Göttern, du hast keine Ahnung, oder?“, stellte er fassungslos fest, nur um sich direkt daraufhin von Necroma einen Klaps einzufangen. „Sag das nicht so abwertend“, zischte sie. Tatsache war jedoch, dass Sharif über alle Maßen überrascht war. Necroma wusste immer, was geschehen würde. Er erinnerte sich noch, wie sie ihm zur Zeit des Westfälischen Friedens vom Zweiten Weltkrieg und der Ermordung John F. Kennedys erzählt hatte, als wäre es längst Geschichte und nicht eine weit entfernte Zukunft. Sie hatte bereits von Hochhäusern, Telefonen und Automobilen gesprochen, als die Hunnen ins Römische Reich eingefallen waren. Aber das alles hatte sie nicht kommen sehen? „Das ist schon vorher passiert“, entsann sich Sharif. „Und das war niemals gut.“ Necroma zog ihre Mundwinkel nach unten. Auch sie wurde nicht gerne daran erinnert. „73 v. Chr., Capua, Italien, der Spartacus-Aufstand“, meinte sie wenig begeistert. „Dieser gottverfluchte Dämon ist aufgetaucht und hat mir die Tour vermasselt. 1890, London, England: Derselbe Dämon hat sich wieder blicken lassen.[1] 1345, Lille, Frankreich: Dieses Kontingent aus größenwahnsinnigen Magiern hat sich sehr dunkler Mächte bedient und seine wahren Absichten verschleiert. 1943, Köln, Deutschland: Diese Gruppe unsympathischer Nazi-Gestalten hat durch Zufall ein uraltes Zauberbuch gefunden und schrecklichen Schabernack damit angestellt.“ Stets hatte Necromas Blindheit in Verbindung mit finsteren Kräften gestanden. Und wenn Sharif sich vor Augen hielt, welche Mächte Seth entfesselt hatte, war es im Grunde keineswegs verwunderlich, dass sie diese Vorgänge nicht hatte vorhersehen können. Aber besonders beruhigend war es ehrlich gesagt auch nicht. Sharif lehnte seinen Kopf zurück und schloss seine Augen. Mit einem Mal fühlte er sich unfassbar müde. Im Grunde hatte er schon, seit er vor ein paar Tagen hier in London angekommen war, keine wirkliche Entspannung mehr gefunden. Und er hatte das ungute Gefühl, dass er erst wieder zur Ruhe kommen würde, wenn Seth vom Antlitz der Erde verschwunden war. „Wusstest du eigentlich, dass heute rot-weiß-karierte Schweine umherwandeln?“, vernahm er plötzlich wieder Necromas Stimme. Sie saß immer noch halb auf seinem Schoß und blickte verträumt in die Ferne. Sharif fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und seufzte schwer. „Wovon, bei Osiris, sprichst du?“ Necroma stand langsam auf und trat an eines der Fenster. Ihre Finger ließ sie einmal kurz über den recht ramponierten Rahmen gleiten, während sie wie üblich wieder leise vor sich hinmurmelte. Nach einer Weile drehte sie sich schließlich zu Sharif und meinte: „Rot-weiße Schweine. Wolken, die schwarzen Regen bringen. Ampeln, die alle drei Farben gleichzeitig anzeigen. Menschen, die auf ihren Händen durch die Gegend spazieren.“ Sharif stöhnte. Er hatte wirklich keine Nerven für ihre unverständlichen Argumentationen. Er war viel zu erschöpft und außerdem schmerzten die von Seth verursachten Verbrennungen erneut wie die Hölle auf Erden. So wie es den Anschein machte, brauchte er wohl noch mehr von Oscars Spezialsalbe. „Dir ist schon klar, dass ich kein einziges Wort verstehe, oder?“, hakte der Ägypter nach. „Alec und Oscar“, sagte Necroma. „Sie bekämpfen sich gegenseitig.“ Darum ging es also? „Das ist doch nun wirklich keine Seltenheit“, meinte Sharif achselzuckend. „Die beiden liegen sich seit ihrer ersten Begegnung andauernd in den Haaren.“ „Aber jetzt ist es anders.“ Ihre Stimme kam glatt einem Säuseln gleich. Sie schien wieder in ihrer eigenen, merkwürdigen Welt zu sein. „Ich spüre es ganz deutlich.“ „Die beiden sind einfach unverbesserlich“, meinte Sharif bloß. „Erinnerst du dich noch, wie Oscar beinahe den Apollon-Tempel in Delphi zum Einsturz gebracht hätte, als er Alec erwürgen wollte? Ist es wieder so was in der Art?“ Necroma wiegte ihren Kopf hin und her. „Apollon ist diesmal nicht in Gefahr“, bestätigte sie. „Na also“, sagte der Vampir. „Dann kann es auch nicht so schlimm sein.“ Necroma starrte ihn mit einem undefinierbaren Blick an, dann wandte sie sich wieder weg, schaute verträumt aus dem Fenster und summte vor sich hin. Sharif schüttelte daraufhin bloß seufzend den Kopf und rappelte sich auf. Ächzend streckte er seine Glieder und musste dabei frustriert feststellen, dass der alte Sessel nicht gerade der beste Ort gewesen war, um es sich darauf gemütlich zu machen und seinen Gedanken nachzuhängen. Sein ganzer Körper war völlig verspannt, er hörte es überall knirschen. Gerade als er dabei war, seinen schmerzenden Arm zu massieren, zuckte Necroma plötzlich aus heiterem Himmel zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie nach draußen, ehe sie auf Sharif zustürzte und sich in seine Arme flüchtete. Sharif war viel zu überrumpelt, um sie in irgendeiner Weise davon abzuhalten. Verwundert blinzelte er, während sich Necroma an ihn klammerte und ihr Gesicht in seinem Hemd vergrub. „Ähm … alles in Ordnung?“, fragte er verwirrt. Zunächst redete sie wieder irgendwelches Unverständliches vor sich hin, dann aber hob sie ihren Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihre sorgenvollen Augen machten Sharif ausgesprochen unruhig. „Spürst du das denn nicht?“, fragte sie. „Die rot-weißen Schweine. Die dreifarbigen Ampeln. Die Welt spielt verrückt.“ Sie drückte sich erneut an seine Brust und murmelte: „Alec ...“ Sharif spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er begriff zwar immer noch nicht so recht, worauf Necroma eigentlich hinauswollte, aber offenbar hatte irgendetwas in Bezug auf Alec sie mächtig aufgeschreckt. Dieser mochte sich zwar gut mehrere Kilometer entfernt befinden, aber das war für eine solch mächtige Magierin wie Necroma keinerlei Hindernis. „Was ist denn los?“, wollte Sharif wissen. „Was ist mit Alec?“ Er musste daran denken, wie er Alec und Oscar in der Wohnung zurückgelassen hatte. Er hatte sich diesbezüglich keine großen Sorgen gemacht, war im Gegenteil viel zu erpicht gewesen, Asrim aufzuspüren, und war überzeugt gewesen, dass sie für den Tag sicher waren, ehe sie hierhinkommen würden, unter Necromas Obhut. Hatte er sich geirrt? „Wir können Alec nicht mehr spüren“, erklang eine Stimme, die ganz gewiss nicht Necroma gehörte. Sharif wandte seinen Kopf nach rechts und erblickte Asrim, der im Türrahmen stand und mit besorgter Miene aus dem Fenster blickte. „Und was hat das zu bedeuten?“, fragte der Ägypter drängend. „Was ist denn passiert?“ Asrim trat zu ihm und strich Necroma beruhigend über den Kopf, die sich noch immer in Sharifs Umarmung vergraben hatte und weiter vor sich hinmurmelte. Leise flüsterte er der Vampirin einige Worte ins Ohr, woraufhin diese kurz aufschluchzte und schließlich vollends verstummte. „Ich kann dir nicht sagen, was passiert ist“, richtete sich Asrim nun an Sharif. „Es hat irgendetwas mit Seth zu tun. Alec und Oscar … sie sind bei ihm.“ Sharif fuhr der Schock durch sämtliche Glieder. Wieder sah er die alles zerstörende Feuerwand vor sich. „Seth ist bei ihnen? In der Wohnung?“ Sharif wurde plötzlich ganz schlecht und er benötigte all seine Willenskraft, um Necroma nicht von sich zu stoßen und sofort loszustürmen. „Nein, nicht in der Wohnung“, erwiderte Asrim jedoch. „Alec und Oscar sind alleine aufgebrochen. Irgendwohin … wo es zahlreiche Menschen mit Waffen gibt. Und dort hat Seth sie aufgespürt.“ Zunächst war Sharif verwirrt, dann spürte er leichten Ärger, dass sich die beiden Vampire offenbar über seinen Befehl, an Ort und Stelle zu verweilen, hinweggesetzt hatten. Und einen Augenblick später erinnerte er sich wieder daran, dass all dies absolut bedeutungslos war. „Was ist nun mit Alec?“ „Ich kann ihn nicht mehr spüren“, sagte Asrim. Sein Blick erschien mit einem mal völlig leer. „Das könnte bedeuten, dass er tot ist.“ Sharif erstarrte. Alec … tot? Das konnte doch alles nicht wahr sein! „Ich muss zu ihnen“, sagte er entschlossen. Er wollte Necroma sanft von sich wegschieben, aber die Vampirin hatte sich mit einer erstaunlichen Kraft an ihm festgekrallt. „Nein, das wirst du nicht!“, entgegnete Asrim entschieden. Sharif warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ich soll sie einfach im Stich lassen, ja? Hier herumsitzen und den Spinnen dabei zusehen, wie sie ihre Netze weben? Ist es wirklich das, was du von mir verlangst?“ „Ich werde mich um Alec und Oscar kümmern!“, erklärte Asrim. Sharif konnte daraufhin nur nach Luft schnappen. „Und das soll mich jetzt beruhigen? Vor ein paar Stunden hast du noch gesagt, dass du uns alle beschützen würdest, und jetzt ... und jetzt ...?“ Er war nicht imstande, es auszusprechen. Er war im Grunde nicht mal in der Lage, es zu glauben. „Es kommt alles wieder in Ordnung“, versprach Asrim und es klang so leer und hohl, dass Sharif verbittert auflachte. „Es muss einfach so sein.“ Sharif wusste nicht, was er darauf hätte sagen sollen. Er fühlte sich bloß aufgewühlt und wie durch den Fleischwolf gedreht und wollte einfach nur dringend zu Alec und Oscar. „Du musst mir in der Zwischenzeit einen Gefallen tun“, meinte Asrim einen Augenblick später, seine Augen intensiv auf den Ägypter gerichtet. „Einen Gefallen?“, zischte dieser. „Hör zu, ich weiß ja nicht –“ „Es geht um Annis und Elias“, unterbrach ihn Asrim jäh. Sharif verstummte sofort, als er die Namen der Zwillinge hörte. Er zwang sich, seine Wut für einen Moment herunterzuschlucken, und fragte: „Was ist mit ihnen?“ „Sie sind auf den Weg nach London“, erklärte Asrim. „Ihre Maschine landet schon bald in Heathrow. Ich will nicht, dass sie allein und ahnungslos durch die Stadt laufen.“ Sharif knirschte mit den Zähnen. Er wollte so dringend zu Alec, sich davon überzeugen, dass das zerstörte Band zwischen ihm und Asrim nicht das zu bedeuten hatte, was alle vermuteten. Es zerriss ihn förmlich, nicht sofort loszustürzen und alles hinter sich zu lassen. Aber andererseits war der Gedanke, Annis und Elias womöglich unwissentlich in ein Messer laufen zu lassen, ebenso unerträglich. „Ich kümmere mich um Alec und Oscar!“, wiederholte Asrim seine Aussage, nun mit deutlich mehr Nachdruck. „Und du kümmerst dich um die Zwillinge!“ Sharif schluckte. „Was ist mit Yasmine?“ Immerhin waren alle drei zusammen in Deutschland zurückgeblieben, aus welchen Gründen auch immer. „Sie wird später ankommen“, erklärte Asrim, offenbar in keinster Weise erpicht, dies weiter auszuführen. Sharif war es sowieso einerlei. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Yasmine problemlos in Deutschland bleiben können. Sie alle hätten weit fortbleiben sollen. „Warum hast du uns nur hierhergebracht?“, zischelte er. Er spürte, wie sich Necroma bei diesen Worten in seinen Armen verkrampfte. „Warum?“ Asrim wirkte, als hätte Sharif ihn mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Einen Moment war er sprachlos, um die richtigen Worte ringend, wie es der Ägypter zuvor noch nie bei seinem Schöpfer erlebt hatte. Schließlich jedoch, nach einer halben Ewigkeit, räusperte er sich vernehmlich und erwiderte: „Du weißt, was du zu tun hast!“ Und gleich darauf verschwand er mit solch einer Geschwindigkeit, dass dem nicht einmal Sharif ansatzweise hätte zu folgen vermocht. Der Zurückgelassene knirschte mit den Zähnen, durcheinander, der Verzweiflung nahe und dennoch bemüht, die Kontrolle nicht zu verlieren. Er verabscheute die gesamte Situation absolut dermaßen und er wusste nicht einmal, wen er mehr hassen sollte. Seth, der erpicht schien, sie nach und nach systematisch auszurotten. Oder Asrim, der sie alle wortlos in ihr Verderben rennen ließ.     *  *  *  *  *  *  *  *     Seth hatte ganz offensichtlich die Kontrolle über Oscars Körper verloren. Nachdem er den Vampir dazu gebracht hatte, Alec regelrecht aufzuspießen, war Oscar wohl endlich wieder zu vollem Bewusstsein gekommen. Mit schreckgeweiteten Augen war er zurückgetaumelt, entsetzt auf seine blutigen Hände starrend. Eve warf einen Blick zu Seth. Er schien redlich darum bemüht, Oscar wieder zu beherrschen, aber diesmal gelang es ihm nicht. Der Vampir hatte offenbar eine Blockade aufgebaut, die der inzwischen ziemlich geschwächte Magier nicht mehr zu durchbrechen vermochte. Seth musste sich eingestehen, dass das Spiel vorbei war. Ein Vampir war zwar am Boden, aber für den zweiten hatte er nicht mehr genügend Energie. Er wirkte mit einem mal dermaßen ausgelaugt, dass es Eve verwunderte, dass er nicht vor Erschöpfung zusammenbrach. Anscheinend kostete die Beherrschung eines Sa’onti mehr Kraft, als er sich vorgestellt hatte. Die Jäger waren inzwischen langsam aus ihrer Lethargie erwacht. Einer nach dem anderen kam aus dem von Oscar geschaffenen Loch hervorgeklettert, ihre Waffen bis auf Anschlag auf Seth und Oscar gerichtet. Richard diskutierte derweil mit Liam über das Funkgerät. Eve konnte ihr Gespräch zwar nicht Wort für Wort mit verfolgen, aber offenbar ging es um die Frage, ob sie Seth gefangen nehmen oder lieber ausschalten sollten. Im Moment wäre wohl das eine oder auch das andere kaum ein Problem gewesen. Zumindest erschien es so. Eve blieb aber mit dieser Einschätzung vorsichtig, Seth hatte sie schon des Öfteren mit schier Unglaublichem überrascht. „WAS HAST DU GETAN?“ Oscars Stimme glich einem aufgebrachten, brüllenden Löwen. Hasserfüllt funkelte er Seth an. „Wozu hast du mich getrieben?“ Er wollte losstürmen, musste aber feststellen, dass er mindestens genauso ausgezehrt war wie Seth. Anstatt in der Dunkelheit zu versinken und dem Feuerteufel an den Hals zu fallen, strauchelte er. Sein Gesicht war vor Überraschung verzerrt, als seine Beine einknickten. Offenbar hatte er nicht bemerkt, was Seth seinem Körper alles zugemutet hatte. Und Oscars sicher ständiges Kämpfen gegen die unfreiwillige Übernahme hatte bestimmt auch einen Teil zu seiner Kraftlosigkeit beigetragen. Eve spürte, wie Mitgefühl sie ergriff. Es musste furchtbar sein, keine Kontrolle über seinen Körper zu haben und bloß dabei zusehen zu können, wie jemand, den man liebte, von seinen eigenen Händen getötet wurde. Und dann hatte man hinterher noch nicht mal die Energie, denjenigen, der für all das verantwortlich war, zur Strecke zu bringen. „Im Namen der Organisation der Dämonenjäger von London bist du mit sofortiger Wirkung festgenommen.“ Richards Stimme riss Eve aus ihren Gedanken. Dieser war auf Seth zugetreten und musterte ihn mit harter Miene. Seth lachte daraufhin auf. Es war zwar recht kläglich, aber der Spott war daraus deutlich herauszuhören. „Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich bändigen? Ich mag geschwächt sein, aber für euch mickrige Menschen reicht meine Macht noch allemal.“ Als seine Augen kurz aufleuchteten und aus seinen Fingerspitzen kleine Feuerschlieren hervortraten, wusste Eve, dass es an der Zeit war, zu handeln. Sie durfte nicht zulassen, dass Seth ihren Freunden etwas antat. Somit stürmte sie eilig auf sie zu und stellte sich beschützend vor Richard. „Bitte!“, sagte sie flehentlich. „Tu es nicht!“ Seths Kampfgeist erlosch sofort, als er ihren Tonfall vernahm. Ein gütig zu nennendes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er meinte: „Ganz wie du willst, Eve. Ich will dir nicht noch mehr Kummer bereiten.“ Mit diesen Worten stieg plötzlich unvermittelt Rauch aus dem Boden hervor und hüllte Seths Gestalt völlig ein. Er nickte Eve noch kurz zu, ehe er durch den dichten Qualm nicht mehr zu sehen war. Hustend traten die Jäger einen Schritt zurück. Innerhalb eines Sekundenbruchteils verzog sich der Rauch auch schon wieder. Und wie nicht anders zu erwarten, war Seth verschwunden. Als hätte es ihn nie gegeben. Die Jäger schauten verwundert drein, während Richard hinter Eve leise fluchte. Sie drehte sich um und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, was ihn aber nicht wirklich aufzuheitern schien. „Wir waren so nahe dran“, meinte er zähneknirschend. Eve aber schüttelte den Kopf. „Er war uns selbst in diesem Zustand noch überlegen. Hast du es nicht in seinen Augen gesehen?“ Richard verzog missmutig das Gesicht. „Doch“, gab er widerwillig zu. „Aber trotzdem ist es ärgerlich.“ Avery stellte sich neben ihn. „Ist es jetzt nicht sowieso die viel wichtigere Frage, was wir mit den beiden anstellen?“ Und damit deutete er auf die zwei Vampire, die ebenfalls von einer großen Schar Jäger umstellt waren. Eve fühlte einen dicken Knoten im Hals. Der Anblick der beiden war einfach nur furchtbar. Wie Oscar auf dem Boden kauerte und auf seine blutverschmierten Hände starrte. Um sich herum schien er gar nichts mehr wahrzunehmen. Und Alec … er machte wahrlich keinen besonders guten Eindruck. Aus seiner aufgerissenen Brust war dermaßen viel Blut ausgetreten, wie es Eve noch nie zuvor gesehen hatte. Kein Mensch hätte solch eine Attacke auch nur ansatzweise überleben können. Und ein Vampir? „Ist er tot?“ Eine Jägerin – Penny war ihr Name, ein junges und schockierend unerschrockenes Ding – trat einen Schritt vor und stieß dem am Boden liegenden Alec vorsichtig mit der Stiefelspitze an. Alle Anwesenden sogen scharf die Luft ein und warteten gespannt, was als nächstes kommen würde. Aber es geschah nichts. „Er kann nicht tot sein“, erwiderte Avery. „Immerhin kann man Vampire nur umbringen, wenn man sie verbrennt oder ihnen den Kopf abschneidet.“ Als keine Bestätigung folgte, fragte er etwas kleinlaut: „Oder nicht?“ „Unter normalen Umständen würde ich Ihnen zustimmen, Mr. Avery.“ Der unerwartete Klang von Liams Stimme ließ einige, die fasziniert Alecs leblosen Körper gemustert und nicht weiter auf ihre Umgebung geachtet hatten, erschrocken zusammenzucken. Eve hingegen hatte ihn bereits aus den Augenwinkeln näherkommen sehen. „Aber wir haben es hier ganz sicherlich nicht mit normalen Verhältnissen zu tun“, erwiderte Liam. Er betrachtete Alec mit solch einer Intensität, dass sich Eve unwillkürlich fragte, wie er es schaffte, dermaßen lange diese entsetzliche Wunde anzuschauen, ohne dass ihm übel wurde. „Es gibt keinerlei Präzedenzfall für diese Situation. Vampire bekriegen sich normalerweise nicht untereinander, ganz besonders die großen Sa’onti nicht. Aber jeder weiß, dass die Letztgenannten wirklich außerordentliche Kräfte besitzen. Es würde mich nicht allzu sehr verwundern, wenn sie auch die Macht hätten, sich gegenseitig umzubringen, ohne Feuer oder eine Axt zu benutzen.“ Eve musste ihm da zustimmen. Hätte jemand anderes, ein Mensch beispielsweise, Alec diese Verletzung zugefügt, wäre diese sicherlich nicht tödlich für ihn gewesen. Schmerzhaft und unangenehm, aber bestimmt nicht gefährlich. Wahrscheinlich hätten binnen weniger Sekunden sogar schon seine Regenerationskräfte eingesetzt, wie es bei Vampiren so üblich war. Aber die Wunde, die Oscar ihm zugefügt hatte, zeigte keinerlei Anzeichen einer bereits begonnenen Heilung. Nicht mal annähernd. „Also ist er wirklich tot?“, fragte Penny nach. „Das kann man schwer sagen“, meinte Liam zögerlich. „Er atmet nicht und sein Herz … nun ja, sein Herz und viele weitere Organe sind zerfetzt, aber für einen Vampir ist das nicht unbedingt ein Todesurteil. Solange er noch Blut im Körper hat, ist es möglich, dass er immer noch lebt.“ Liam kniff kritisch die Augen zusammen. „Allerdings sieht es nicht so aus, als wäre noch besonders viel Blut übrig.“ Rein äußerlich wäre Eve jede Wette eingegangen, dass Alec tot war. Nicht nur die fürchterliche Verletzung deutete darauf hin, sondern auch sein kalkweißes Gesicht. Er sah einfach aus wie der Inbegriff einer Leiche. Aber andererseits musste sie Liam Recht geben, in solch einer Situation durfte man nicht zu vorschnell urteilen. Die Sa’onti besaßen eine Macht, die sich ein gewöhnlicher Mensch nur schwer vorzustellen vermochte. „Wenn wir uns nicht sicher sind, sollten wir den beiden Vampiren einfach den Kopf abhacken“, schlug Simmons, ein Jäger mit ausgeprägter Zerstörungsliebe, vor. „Dann wären wir immerhin nicht mehr im Ungewissen.“ Bei diesen Worten warf Eve einen Blick auf Oscar, doch dieser schien wirklich nichts mehr wahrzunehmen. Ihr war zwar nicht ganz klar, ob sie seinen Zustand ruhigen Gewissens als Schock hätte bezeichnen können, aber auf jeden Fall schien er wie paralysiert. Absolut gelähmt von den Ereignissen. „Bist du des Wahnsinns?“, schaltete sich nun Richard ein. „Wenn wir die beiden töten, können wir wirklich froh sein, wenn die restlichen Sieben uns nur umbringen, ohne uns vorher wochen- oder gar monatelang bis an unsere Schmerzgrenze zu foltern und zu quälen, wieder und wieder, bis wir sie irgendwann verzweifelt anbetteln, uns endlich zu töten!“ „Wir behaupten einfach, es war Seth“, meinte Simmons, während er mit den Schultern zuckte. „Das wäre doch gar nicht mal so falsch.“ „Aber trotzdem gelogen“, erwiderte Richard. „Und die Vampire erkennen eine Lüge, wenn man sie ihnen auftischt.“ Simmons seufzte frustriert. Offenbar hatte er sich schon sehr darauf gefreut, ein paar Köpfe abzuschlagen. „Und was machen wir dann, Mr. Neunmalklug?“ „Wir bringen sie runter in die Zellen“, wies Liam an. „Sperren sie ein. Und dann sehen wir weiter.“ Die umstehenden Jäger wirkten wenig angetan von der Idee, was Eve durchaus zu verstehen vermochte. Schon seit Urzeiten hatten sie im hinteren Bereich des Kellers eine Art kleines Verlies mit einigen verstärkten Zellen, die extra für die Beherbergung übernatürlich starker Wesen entwickelt worden waren. Früher hatte man dort regelmäßig Vampire, Wölfe und andere Geschöpfe untergebracht, um ihre Verhaltensweisen zu studieren, Experimente an ihnen durchzuführen und die neusten Waffen an ihnen zu testen. Aber schon länger waren die Zellen kaum noch benutzt worden. Besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es vielen unangenehm geworden, lebende Wesen, selbst wenn es sich um Übernatürliche handelte, für grausame Versuchsreihen zu missbrauchen. Nichtsdestotrotz waren die Zellen noch so stabil wie am ersten Tag, selbst der Einsturz des Hauses direkt über ihnen hätte sie vermutlich nicht zerstören können. Und dennoch war sich Eve nicht sicher, ob sie der Macht eines Sa’ontis würden standhalten können. Und Oscar mochte vielleicht gerade im Moment wie ein gebrochener Mann am Rande der Verzweiflung wirken, doch irgendwann würde er sich wieder erholen und es vermutlich nicht besonders gutheißen, im feuchten Keller der Jäger gastieren zu müssen. Über kurz oder lang könnte es ihnen zum Verhängnis werden. Allerdings hatte Eve zurzeit auch keinen Alternativplan parat. Sie konnten Oscar und Alec nicht einfach sich selbst überlassen, umbringen durften sie sie aber auf alle Fälle auch nicht. Es war momentan wirklich die einzige Übergangslösung, mit der alle einigermaßen würden leben können. Auch wenn Eve das ungute Gefühl nicht loswurde, dass sie es schon sehr bald bereuen würden.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)