Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 14: Gekennzeichnet -------------------------- „Aua! Verdammt noch mal, das tut weh!“ Sharif, der zuvor noch mit finsterem Blick aus dem Fenster gesehen und höchst aufmerksam das nächtliche London betrachtet hatte, drehte sich bei Alecs Ausruf um. Dieser saß auf einem Polstersessel mit Blümchenmuster und hatte eine grimmige Miene aufgesetzt. Grund für seinen Ärger war Oscar, der neben ihm auf der Lehne saß und gerade eingehend Alecs Wunde untersuchte, ohne den lautstarken Protest zu beachten. „Hm … das sieht nach einer schweren Verbrennung aus“, war Oscars fachmännische Meinung dazu. Mit dem Fehlen jedweden Feingefühls begann er, die Wunde abzutasten. Dass Alec bei seiner Berührung schmerzhaft das Gesicht verzog, kümmerte ihn dabei in keiner Weise. „Du hättest wirklich Mediziner werden sollen“, zischte Alec durch zusammengebissene Zähne. Sein mordgieriger Blick ließ vermuten, dass es ihm besonders schwer fiel, Oscar nicht an die Kehle zu springen. „Deine Auffassungsgabe ist auf jeden Fall einmalig. Uns wäre nie im Leben in den Sinn gekommen, dass Seth mich verbrannt haben könnte.“ Oscar schürzte die Lippen, entgegnete zu Sharifs Überraschung jedoch nichts. Er war schon seit ihrer Rückkehr auffällig still und ließ sich nicht mal durch Alecs bissige Kommentare provozieren. Offenbar hatte ihn der Schock, dass jemand dazu imstande war, Sa’onti ernsthaft zu schaden, ebenso hart getroffen wie all die anderen auch. Oscar holte eine Salbe hervor, die er schon zuvor Sharif hatte aufzwingen wollen. Anscheinend handelte es sich um irgendein Heilmittel, das er selbst zusammengemischt hatte. Er hatte damit Sharifs Wunden versorgen wollen, doch der Vampir sofort hatte abgelehnt und stattdessen Sorge dafür getragen, dass zunächst Alec behandelt wurde. Im Moment jedoch betrachtete dieser äußerst kritisch die Salbe in Oscars Händen. „Was soll das darstellen?“ „Eine uralte Rezeptur“, sagte Oscar nicht ohne einen gewissen Stolz. „Bei uns in der Familie von Generation zu Generation weitergegeben. Die Menschen von heute möchten vielleicht glauben, dass ihre Medikamente nicht zu überbieten sind, aber wenn man mich fragt, dann hatten wir damals viel mehr zu bieten als diese Pantoffelhelden von heute.“ Alec wirkte immer noch wenig angetan. „Und woraus hast du das Zeug gemacht?“ Durchaus eine berechtigte Frage, wie Sharif fand. Denn inzwischen hatte sich der penetrante Geruch der Salbe im ganzen Raum verbreitet und man musste sich unweigerlich fragen, was Oscar dort wohl alles hineingeschmissen hatte. Dem Gestank nach zu urteilen faule Eier, Affenurin und Wasser aus dem Abflusskanal. „Es mag vielleicht nicht besonders toll riechen, aber es wirkt“, meinte Oscar leicht pikiert. Ohne viel Federlesens schmierte er eine ganze Ladung davon auf die Brandstelle und versiegelte das Ganze danach mit einem fest umwickelten Verband. Alec, der sich wohl inzwischen dazu durchgerungen hatte, seine Beschwerden einzustellen und stattdessen den unerschütterlichen Mann zu spielen, verkniff sich jedwede Erwiderung. Mit leidvoller Miene, die er trotz größter Anstrengung nicht zu verbergen vermochte, ließ er die wenig zärtliche Behandlung über sich ergehen. Sharif musste sich eingestehen, dass es ihm wenig danach dürstete, als nächster von Oscar versorgt zu werden. Er wandte sich wieder dem Fenster zu und betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe. Als er diese Schmerzen verspürt hatte, dieses sengende Feuer, das seine Haut aufgefressen hatte, da war ihm schon bewusst gewesen, dass seine Verletzungen äußerst schlimm waren und die Heilung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Als er sich jedoch danach zum ersten Mal in einem Spiegel betrachtet hatte, war es für ihn ein Schock sondergleichen gewesen. Sein Hals sah geradezu furchterregend aus, mehr als deutlich erkannte man, wo Seth ihn gepackt hatte, als er schon zu Boden gesunken war. Eine stetige Erinnerung, die nicht so schnell verblassen würde. Und wäre Alec nicht aufgetaucht und hätte Seths Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, dann hätte sich das Feuer bis auf seine Knochen durchgefressen und seinem Leben ein Ende bereitet. „Es hätte schlimmer kommen können“, vernahm er hinter sich unvermittelt Oscars Stimme. „Immerhin kannst du dich noch bewegen. Mir ist einst vor langer Zeit passiert, dass es einem furchtbar lästigen Hunnen doch tatsächlich gelungen ist, mit seiner Keule mein Bein zu erwischen. Der ganze Knochen ist komplett zersplittert. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglaublich schmerzvoll –“ „Es hätte schlimmer kommen können?“, unterbrach ihn Sharif zischend. Er wirbelte herum und nahm Oscar scharf ins Visier. „Alec und ich hätten beinahe das Zeitliche gesegnet und du willst mir allen Ernstes weismachen, ich soll mich darüber freuen, dass ich nicht von einem Hunnen verprügelt worden bin?“ Sharif wusste sehr gut, dass Oscar nicht der Grund seines Zorns war, aber er konnte die heißen Gefühle, die in ihm hochschäumten, kaum zurückhalten. Es war lange her, dass er wirklich aus der Haut gefahren war, sodass er schon fast vergessen hatte, wie man seine aufwallenden Gefühle unter Kontrolle brachte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es in dieser Feuerhölle war“, meinte Sharif aufgebracht. „Du hast nicht mal den Hauch einer Ahnung. Ich habe mich gefühlt wie …“ Er hielt inne, war nicht imstande, dies laut auszusprechen. Er kam sich merkwürdig dabei vor, es war ihm sogar regelrecht peinlich. Und dennoch hatte er nichts dagegen tun können. Eine fremde Macht hatte von ihm Besitz ergriffen und ihn die Dinge fühlen lassen, die er eigentlich nie wieder hatte spüren wollen. „Du hast dich gefühlt wie was?“, hakte Oscar nach. Er hatte vorsichtshalber einen Sicherheitsabstand hergestellt und musterte Sharif nun mit Argwohn. „Wie ein Mensch.“ Die Antwort war nicht von Sharif, sondern von Alec gekommen. Dieser starrte fast schon wie hypnotisiert vor sich hin, als würde er sich in der Erinnerung verlieren. Sharif vermochte kaum seine Verwunderung zu verbergen. Er hatte gedacht, dass er sich das Ganze nur eingebildet hätte und auf seine alten Tage weich wurde, sodass schon ein Feuer Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit in ihm wecken konnte. Allerdings hatte er sich offenbar geirrt. Alec schien genau dasselbe durchlitten zu haben. „Ich verstehe nicht ganz“, gab Oscar seiner Verwirrung Ausdruck. Er schaute mit einem schon fast besorgt zu nennenden Blick hinab auf Alec, der bloß seine Lippen aufeinander gepresst hatte und vor sich hin starrte. „Ich verstehe es auch nicht“, gab Sharif zu. „Aber ich kenne jemanden, der unter Umständen weiß, was, bei Anubis und Isis, hier eigentlich vorgeht.“ Sharifs Miene verfinsterte sich. Bis jetzt war ihm Asrims Wortkargheit schlimmstenfalls lästig gewesen, nun aber staute sich eine Wut in ihm auf, wie er sie gegenüber seinem Schöpfer noch nie empfunden hatte. Asrim wusste weit mehr, als er bereit war, zuzugeben. Womöglich war ihm schon von vornherein klar gewesen, dass Seth in der Lage war, sie mit seiner Magie zu töten. Auch wenn diese Vorstellung alles andere als angenehm war. „Du denkst, er verheimlicht uns etwas, nicht wahr?“ Oscar hatte augenscheinlich erkannt, an wen Sharif gerade dachte. „Glaubst du wirklich, er hätte es soweit kommen lassen, wenn er Bescheid wüsste?“ Sharif konnte auf diese Frage keine befriedigende Antwort geben und allein diese Tatsache ängstigte ihn. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er Asrim bedingungslos vertraut, nun aber begann alles nach und nach zu bröckeln. Er erinnerte sich daran, wie Asrim und Seth sich angesehen hatten. Und entsann sich, wie er Seth Shadyn genannt und dieser nicht einmal gezuckt hatte. Das war der Name, unter dem Asrim diesen Mann, dieses Wesen, kennengelernt hatte. Vielleicht war es sogar sein richtiger Name und alles andere bloß Schall und Rauch. „Seth und er kennen sich“, erhob auch Alec wieder seine Stimme. Seinem Tonfall war anzumerken, dass er ebenso wie Sharif verärgert und verletzt war aufgrund Asrims Verhalten. „Und das sogar ziemlich gut, wie es scheint.“ Sharif konnte nur zustimmend nicken. „Zumindest schienen sie vertraut miteinander.“ Er verstummte kurz und sah abwechselnd zu Alec, dessen Miene sich inzwischen beim Gedanken an Asrim zusehends verdunkelt hatte, und Oscar, der offenbar heillos irritiert war und die Situation nicht richtig einzuschätzen vermochte. Sharif konnte es ihm sehr gut nachempfinden. Er selbst verstand auch noch nicht, was eigentlich vorging. Aber er war entschlossen, diesem Mysterium auf den Grund zu gehen. „Oscar, du musst mir einen Gefallen tun“, wandte sich Sharif an seinen langjährigen Freund. „Und der wäre?“ „Zunächst mal schmierst du mir deine Affenpisse auf meine Wunden, damit ich mich nicht mehr ganz so elend fühle. Und dann sorgst du dafür, dass wir morgen alle umziehen.“ „Umziehen?“ fragten Oscar und Alec gleichzeitig. „Ganz genau“, meinte Sharif nickend. „Wir sind überall in der Stadt verteilt. Wir beide quetschen uns hier in dieses kleine Appartement, Alec hat sich sonst wo eingenistet – wahrscheinlich in der Wohnung einer exotischen Tänzerin oder ähnlichem ...“ Sharif bemerkte aus den Augenwinkeln, wie dieser bei diesem Kommentar leicht schmunzelte. „Wir sollten nicht alle so weit entfernt voneinander sein. Necroma hat doch ein altes, verfallenes Herrenhaus irgendwo am Rand der Stadt besetzt, dorthin werden wir morgen alle umziehen.“ Oscar wirkte augenscheinlich wenig begeistert, den Komfort einer kleinen, bequemen Wohnung aufzugeben und sich in ein einsturzgefährdetes Haus zu begeben, doch er hielt sich mit jeglichen Protest zurück. Offenbar hatte er erkannt, wie ernst es Sharif war, und dementsprechend eingesehen, dass jedweder Widerstand sinnlos gewesen wäre. Alec jedoch runzelte die Stirn. „Wären wir nicht ein sehr viel leichteres Ziel, wenn wir uns alle an einem Ort versammeln?“ „Ich habe das sehr starke Gefühl, dass Seth so oder so weiß, wo wir uns aufhalten“, erwiderte Sharif. „Zusammen und noch zusätzlich mit Necromas Magie dürften wir ihm zumindest mehr entgegenzusetzen haben als alleine, denkst du nicht auch?“ Alec musste zugeben, dass es durchaus Sinn machte. Ob getrennt oder zusammen, wenn Seth sie tot sehen wollte, würde er einen Weg finden. „Und warum erst morgen?“, fragte Oscar nach. „Es schien mir, als hätte Asrim Seth ziemlich aufgewühlt“, entgegnete Sharif. „Ich bezweifle, dass er innerhalb der nächsten Stunden wieder etwas versuchen wird. Ich würde die Zeit gerne nutzen, um Alec noch etwas Ruhe zu gönnen.“ Der besagte Vampir verzog sofort sein Gesicht. „Ich brauche keine Sonderbehandlung“, bemerkte er pikiert. Aber Sharif schnaubte nur. „Hast du mal in den Spiegel geschaut? Wie gesagt, Necroma lebt zurzeit in einer Ruine und keiner von uns wird sie überreden können, den Wohnort zu wechseln. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es in ihrem süßen, kleinen Häuschen irgendwo gemütliche Betten mit weichen Matratzen gibt. Du etwa?“ Alec schüttelte den Kopf. Man sah ihm an, dass er dennoch protestieren und groß verkünden wollte, dass e selbst auf dem kalten Boden hätte schlafen können, aber er hielt sich zurück. Zum Teil, weil er keine Diskussion mit Sharif provozieren wollte, andererseits aber sicher auch, weil er sich im Moment wirklich nach einem warmen Bett sehnte. „Was ist mit Yasmine und den Zwillingen?“, hakte Oscar derweil nach. Man hörte deutlich die Sorge in seiner Stimme, als er die noch fehlenden Mitglieder ihrer Familie ansprach, die sich immer noch auf einer geheimnisumwogenden Mission in Deutschland befanden. Niemand hatte damals nachgefragt, sondern es einfach hingenommen, nun aber erschien es irgendwie seltsam, dass die drei ausgerechnet in solchen Zeiten zurückgeblieben waren, um „noch ein paar Dinge zu erledigen“, wie Yasmine es formuliert hat. „Wir sollten sie warnen“, meinte auch Alec. „Ehrlich gesagt bin ich dafür, dass sie nicht einmal in die Nähe von London oder gar England kommen.“ Oscar nickte sofort bestätigend, während Sharif bloß schnaubte. „Wirklich? Ihr denkt, sie würden wegbleiben?“ Er schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich, ich würde ihnen gerne sagen, dass sie ihre Hintern in irgendeiner deutschen Kneipe parken und erst wieder rauskommen sollen, wenn alles vorbei ist, aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass sie dies niemals tun werden. Ihr würdet euch doch an ihrer Stelle auch nicht verstecken, oder?“ Alec musste zugeben, dass er Recht hatte. Nichts auf dieser Welt würde die Obermutter Yasmine, den kampferprobten Elias und die gnadenlose Annis dazu bringen, einfach ihre Familie zurückzulassen. „Dann sollten wir die ganze Sache einfach schnell hinter uns bringen, bevor die drei überhaupt Gelegenheit hatten, englischen Boden zu betreten“, meinte Oscar entschieden. „Und ich würde sagen, dass wir mit Asrim anfangen.“ Sharif nickte knapp. Asrim war vielleicht der Einzige, der ihm endlich Antworten geben konnte, aber seit seiner Begegnung mit Seth schien er wie vom Erdboden verschwunden. Er hatte sich nicht mal nach dem Befinden der Verwundeten erkundigt. Es machte auf Sharif fast den Eindruck, als wollte er seinen Schöpfungen aus dem Weg gehen, um sich die unangenehmen Fragen zu ersparen. „Dir ist aber hoffentlich klar, dass du Asrim nur finden kannst, wenn er auch gefunden werden will?“ Oscar hob eine Augenbraue und betrachtete ihn eingehend. „Ich sollte gehen. Du siehst nämlich ehrlich gesagt genauso beschissen aus wie Alec.“ Alec zog daraufhin seine Mundwinkel nach unten. „Hey!“, widersprach er beleidigt, wurde aber von keinem der beiden weiter beachtet. „Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber ich werde gehen!“, meinte Sharif entschieden. „Ich bin nicht bereit, noch einmal das Leben eines anderen aufs Spiel zu setzen.“ Für einen kurzen Moment flackerte die Erinnerung an das knisternde, alles verzehrende Feuer auf und er erschauerte automatisch. „Bis auf weiteres bleibt ihr beide hier und rührt keinen Muskel. Und das ist ganz sicher keine Bitte.“ Obwohl es sowohl Oscar als auch Alec widerstrebte, irgendwelche Befehle anzunehmen, widersprachen sie auch dieses Mal nicht. „Und was ist mit diesem Mädchen?“ Oscar deutete in Richtung Schlafzimmer, in das Sharif zuvor die Jägerin äußerst ungalant hineingestoßen hatte. „Was hast du eigentlich genau mit ihr vor?“ Der Ägypter konnte darauf keine konkrete Antwort geben, es war vielmehr ein Impuls gewesen, der ihn dazu verleitet hatte, Eve Hamilton mitzunehmen. Er hatte gesehen, wie Seth sie angesehen, mit ihr gesprochen hatte und hatte gleich gewusst, dass sie für ihn mehr als bloß eine zufällige Passantin war. Er hatte sie nicht nur vor dem Feuer beschützt, sondern auch versucht, sein Tun vor ihr zu rechtfertigen. Irgendetwas war für Seth besonders an dem Mädchen. Und Sharif hoffte, dass sie das irgendwie zu ihrem Vorteil würden ausnützen können.     *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *     Alec liebte es, aus der Dunkelheit heraus Menschen zu beobachten. Wenn sie glaubten, alleine zu sein, taten sie bisweilen merkwürdige, skurrile, unappetitliche oder auch einfach nur amüsante Dinge, die sie sich in Gesellschaft niemals getraut hätten zu präsentieren. Eve Hamilton war im Moment wie ein rastloses Tier. Ständig stieß sie tiefe Seufzer aus, schaute beklommen über die Schulter in die Schatten und lief hin und her. Ab und zu schaffte sie es, sich selbst zu beruhigen und sich auf das Bett zu setzen, aber meistens war dies nicht von allzu großen Erfolg gekrönt, denn nur wenige Augenblicke später war sie bereits wieder auf den Beinen. Alec konnte sie durchaus verstehen. Sie befand sich in der Höhle des Löwen und wusste nicht, was sie erwartete. Wahrscheinlich malte sie sich gerade aus, was ihre Entführer alles mit ihr anstellen könnten. Und ihrer Miene nach, die von Minute zu Minute leidvoller erschien, waren ihre Gedanken alles andere als erheiternd. „Möchtest du vielleicht eine heiße Tasse Tee, um deine Nerven zu beruhigen?“, erhob er seine Stimme, sich diebisch darauf freuend, wie Eve zusammenzuckte und vor lauter Schock sogar beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. „Verdammt!“, stieß sie aus. Sie wich ein paar Schritte vor Alec zurück, der aus der Dunkelheit hervortrat, und bemühte sich konzentriert, eine düstere Miene aufzusetzen, doch das Entsetzen über das unerwartete Auftauchen schien sie nicht so einfach vertreiben zu können. „Hast du noch nie etwas von Höflichkeit gehört? Du hättest anklopfen sollen.“ Alec legte den Kopf schief. „Erstens: Du bist hier die Geisel und hast dich gefälligst nicht über mangelnde Höflichkeit zu beschweren! Ich hab dir gerade einen Tee angeboten, mehr Freundlichkeit wirst du von mir nicht erfahren.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Und zweitens: Ich bin kein Ritter aus Artus’ Tafelrunde. Ich bin in einer Zeit geboren, in der man Frauen nicht mit Samthandschuhen angepackt hat.“ Eve, die sich wohl allmählich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, verdrehte genervt ihre Augen. „Männer“, murmelte sie kopfschüttelnd. Sie öffnete erneut den Mund – zweifellos, um weitere böswillige Kommentare zum Besten zu geben –, als ihr Blick auf seinem bandagierten Arm fiel. Da er nur ein kurzärmliges Oberteil trug, konnte sie den schneeweißen Verband, der sich geradezu überdeutlich von seiner dunkleren Hautfarbe abhob, bestens erkennen. Es war wie ein Mahnmal, das einem direkt ins Auge sprang. „Ich hoffe, es tut sehr weh“, meinte sie, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkte. „Ich spüre es nicht mal“, sagte Alec schulterzuckend. In Wahrheit jedoch verursachte jede Bewegung mit dem Arm ungeheure Schmerzen. Es fühlte sich beinahe an, als hätte Seth ihn immer noch gepackt. Eve verengte ihre Augen zu Schlitzen und betrachtete ihn eingehend. „Du lügst“, stellte sie schließlich sachlich fest. „Aber ehrlich gesagt habe ich auch nichts anderes erwartet. Du würdest es nicht einmal zugeben, wenn du vor Schmerzen eingehst, nicht wahr? Zumindest nicht vor mir.“ Alec wollte aus reinem Reflex die Arme verschränken, hielt sich jedoch noch im letzten Augenblick zurück. Eve war die Geste dennoch nicht entgangen, was man deutlich an ihrem überheblichen Lächeln sah. „Du bist ganz schön leichtsinnig, ist dir das eigentlich klar?“, hakte er nach. „Dass wir dich nicht gefesselt und geknebelt haben, hast du allein unserer Großzügigkeit zu verdanken. Solltest du aber weiterhin so dämlich grinsen, werde ich mir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen.“ Eve wollte zu einem entsprechenden Gegenargument ansetzen und wahrscheinlich vorrangig sich selbst überzeugen, dass sie sich von einem Vampir nicht einschüchtern ließ, aber schließlich siegte die Vernunft und sie schloss wieder ihren Mund. Offenbar hatte sie doch noch einen Funken Überlebensinstinkt im Leib. „Sehr gut“, lobte Alec sie, woraufhin sie ihn mit einem düsteren Blick bedachte. „Und jetzt sei so brav und beantworte mir eine Frage, dann lasse ich dich auch für den Rest des Abends in Ruhe.“ Eve musterte ihn argwöhnisch und schien abzuwägen, wie sehr sie seinen Worten trauen konnte. „Was willst du wissen?“, fragte sie. Alec zögerte einen Moment. Eigentlich hatte er es dabei belassen und nicht weiter darin graben wollen, doch es spukte ihm nun schon die ganze Zeit im Kopf herum und er vermochte es einfach nicht mehr zu ignorieren. „Woher kanntest du diese alte Namen?“ Alec betrachtete sie intensiv. „Seit fast dreitausend Jahren hat niemand je darüber gesprochen. Ich wusste nicht einmal, dass sich überhaupt jemand daran erinnert.“ Für einen Augenblick schien Eve ehrlich verwirrt, aber schnell hatte die Erkenntnis sie eingeholt. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ich habe meine Quellen“, sagte sie geheimnisvoll. Alec schnaubte. „Geht das auch präziser?“ „Ich habe es im Internet gefunden“, erwiderte sie schulterzuckend. „Unter www.die-wahrheit-über-alec.uk. Eine wirklich hübsche Seite mit sehr detaillierten Bildern und –“ Weiter kam sie nicht, denn bereits im nächsten Moment hatte Alec sie unsanft gepackt und gegen die Wand gepresst. Sie keuchte erschrocken auf und griff automatisch an die Waffe in ihrem Holster, die die Vampire schon bei der Entführung registriert, aber schlichtweg ignoriert hatten. Selbst mit dieser Waffe stellte sie keinerlei Bedrohung dar und dies war vermutlich auch Eve mehr als klar, da sie keine Anstalten erkennen ließ, die Pistole auch zu ziehen. „Ich würde an deiner Stelle die dummen Witze lassen!“, zischte Alec drohend. „Gerade habe ich nicht unbedingt die beste Laune und besserwisserische Sprüche könnten dir schneller eine gebrochene Rippe oder eine Gehirnerschütterung einbringen, als dir lieb ist.“ Eve bemühte sich daraufhin um eine gefasste Miene. „Ich habe nur ein bisschen in deiner Vergangenheit rumgewühlt“, versuchte sie zu erklären. „Du hast mich gedemütigt und ich wollte es dir einfach heimzahlen. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich tatsächlich die Goldtruhe finde.“ Alec knirschte mit den Zähnen. Ihre Beschreibung traf durchaus zu, sie hatte in der Tat genau die wunden Punkte entdeckt, die er eigentlich längst vergraben und vergessen gewähnt hatte. Seit Jahrtausenden hatte ihn niemand mehr darauf angesprochen, einmal ganz davon abgesehen, dass nur eine Handvoll überhaupt darüber Bescheid gewusst hatten. Und dann ausgerechnet bei dem erbitterten Kampf um sein Überleben diese alten Namen zu hören, hatte ihn fast noch mehr aus dem Konzept gebracht als Seths magisches Feuer. Er wollte nicht an ihn erinnert werden. An diesen schwachen Menschen, der nicht in der Lage gewesen war, diejenigen zu beschützen, die er liebte. Der so viele Fehler und Dummheiten in seinem Leben begangen hatte, dass es Alec schon aufregte, überhaupt darüber nachzudenken. Dieser Mensch, der tief in seinem Inneren vergraben war. „Du hast es von diesem Mann erfahren, nicht wahr?“, hakte der Vampir nach. „Den du besucht hast, als das Feuer ausbrach.“ Eve zuckte zusammen, als sie sich wahrscheinlich wieder daran erinnerte, dass Alec ihr versprochen hatte, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen. „Er ist nur ein Historiker. Er hat seine Theorien, aber niemand glaubt ihm.“ „Abgesehen von dir“, zischte Alec. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass dieser Mann seine düstersten Geheimnisse kannte und sie sorglos mit den Jägern teilte. Andererseits war er aber auch durchaus beeindruckt, dass er es geschafft hatte, etwas auszubuddeln, das Alec schon längst als verschollen und vergessen erachtet hatte. Dennoch würde er es sicherlich nicht zulassen, dass dieser Historiker in Zukunft weiter herumlief und seine Thesen unter den Massen verbreitete. „Er ist bloß ein Wissenschaftler, nicht dein Feind“, erwiderte Eve. Sie schien erkannt zu haben, was durch Alecs Kopf ging. „Ehrlich gesagt ist er sogar ein Bewunderer der Sieben.“ „Tatsächlich?“ Der Untote hob seine Augenbrauen. „Dann darf ich also annehmen, dass er über meine gesamte Familie interessante Informationen gesammelt hat, nicht wahr?“ Er wusste sehr gut, dass es unter ihnen einige gab, die es absolut nicht gerne gesehen hätten, wenn Details aus ihrem menschlichen Leben ans Tageslicht gekommen wären. Sharif beispielsweise würde wenig angetan sein und auch Yasmine würde äußerst empfindlich darauf reagieren. Für beide war ihr menschliches Leben hart und entbehrungsreich gewesen und keiner von beiden wollte sicherlich in alten Erinnerungen schwelgen. Ebenso wie Alec. Er wollte nicht an diesen Menschen, an diese Stadt voller Magier und ganz besonders nicht an sie denken. Er wollte es einfach begraben, als wäre es niemals geschehen. „Weißt du, es gefällt mir nicht, dass du diese alten Namen kennst“, stellte der Vampir ohne Umschweife kalt fest. „Ehrlich gesagt fördert es gerade den Drang in mir, dir die Kehle aufzureißen, damit du es niemanden erzählen kannst.“ Eve bemühte sich um eine unerschütterliche Miene, aber man sah deutlich die Angst in ihren Augen aufflackern. Es war ihr absolut klar, dass es zurzeit taktisch nicht gerade klug gewesen wäre, sie umzubringen, doch gleichzeitig hatte sie sicherlich genügend Geschichten über Alecs Unberechenbarkeit gehört, sodass sie es trotzdem nicht vollkommen auszuschließen vermochte. „Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann ganz gewiss“, zischte Alec. „Ich lege Wert darauf, dass meine Geheimnisse begraben bleiben, und ich habe keinerlei Problem damit, deine Gedärme und die deines Historiker-Freundes über die gesamte Stadt zu verteilen.“ Eve schluckte schwer, als sie sich wahrscheinlich bildlich vorstellte, wie der Vampir sie brutal auseinander riss. „Und wenn wir ... versprechen ... zu schweigen?“ „Weißt du, früher hätte ich das womöglich noch in Betracht gezogen“, gab Alec zu. „Damals gab es so etwas wie Ehre. Wenn mir jemand ein Versprechen gegeben und es auch ernst gemeint hat, dann konnte man sich sicher sein, dass derjenige es niemals brechen würde. Aber heutzutage sind die Menschen so launisch und wechselhaft wie das Wetter. Du schwörst mir heute auf dem Leben deiner Topfpflanze, dass du nie jemanden etwas verraten wirst, und zwei Tage später erzählst du es der ganzen Welt in den Spätnachrichten.“ Er setzte eine harte Miene auf. „Ich habe vor langer Zeit aufgehört, euch zu vertrauen.“ Eve wirkte aber noch lange nicht, als würde sie sich so einfach geschlagen geben. „Es sind doch nur alte Geschichten“, warf sie ein. „Was kümmert dich das überhaupt noch?“ Alec lehnte sich wieder näher zu ihr. „Hast du eine Ahnung, was manche mit diesen ‚alten Geschichten‘ alles anfangen könnten? Für dich sind Zeit und der Tod endgültig, aber für andere Wesen eben nicht.“ Es ging nicht nur um seinen verdammten Stolz. Selbstverständlich wollte kein Vampir gerne hören, dass er einst ein jämmerlicher Mensch gewesen war, doch alleine damit hätte Alec noch irgendwie zähneknirschend leben können. Nein, es ging um mehr. Um Namen, die eigentlich schon längst in Vergessenheit hätten geraten sollen. Um Magie, die selbst die Zeit überdauern konnte, selbst wenn man es nicht wirklich wahrnahm. Alec hatte einst ein schweres Verbrechen begangen. Und auch wenn er es damals wie heute niemals bereut hatte, so konnte es ihn immer noch einholen. Selbst nach all dieser Zeit. Und dieses Risiko war er sicher nicht gewillt, einzugehen. „Wenn all das vorbei ist, werde ich dich und deinen kleinen Historiker zum Schweigen bringen“, versprach Alec ihr warnend. „Auf die ein oder andere Weise.“ Denn wie hieß es so schön? Neugier war der Katze Tod. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)