Amnesie von Goetterspeise (Subaru x Shiho) ================================================================================ Kapitel 1: Schwarz ------------------ Die pure Panik stieg in ihr auf, als sie bemerkte, dass um sie herum nichts als schwarz war. Die Dunkelheit umschlang sie, nahm sie in sich auf und schien sie nicht mehr frei lassen zu wollen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie konnte nicht um Hilfe schreien, da ihre Stimme ihr nicht mehr gehorchen wollte. Tränen stiegen in ihr auf. Wieso fühlte es sich so schrecklich an, wenn Angst und Panik sie überfielen? Warum konnte sie in Momenten, die der Farbe schwarz gehörten, nicht genauso kühl und abweisend sein wie bei einem Leichenfund. Es war unglaublich ironisch, dass ihr eine Farbe, die eigentlich gar keine war, mehr zusetzte als tote Menschen. Geh weg!, flehte sie in Gedanken und drückte ihre Hände gegen den Kopf, den sie schließlich schnell schüttelte. Sie wollte hier nicht sein, das alles nicht fühlen. Sie konnte nicht mehr, die Tränen rannen nur so über ihre Wangen und das Schwarz, dieses unglaublich eklige Rabenschwarz, machte sie ganz irre; ihr Körper fühlte sich von Sekunde zu Sekunde schwächer an. Verschwinde! Bitte … Selbst ihre Gedanken schafften es kaum noch lauter zu sein als ihre Furcht. Sie fühlte sich ausgelaugt und schwer, weshalb sie schließlich auf die Knie sank, immer noch die Handflächen gegen ihren Kopf gepresst. Es sollte aufhören. Es sollte einfach verschwinden und sie endlich in Ruhe lassen. Und dann fiel sie ins Nichts. Ein Schrei ließ den jungen Mann aus seinen Gedanken hochschrecken. Er erhob sich und lief mit schnellen Schritten zu der Frau, die in einem weißen Krankenhausbett saß und nun panisch ein- und ausatmete. Ihre Augen waren vor Schreck aufgerissen und sie starrte auf die Bettdecke und dennoch wirkte es so als würde sie diese nicht wirklich ansehen. „Was …? Wo …?“, flüsterte sie und hob langsam ihren Kopf an. „Sie sind in einem Krankenhaus. Ich hab Sie bewusstlos auf der Straße gefunden. Ich hole am Besten erst einmal einen Arzt.“ Sie nickte geistesabwesend und versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Jedoch wollte ihr einfach nicht einfallen, was sich zugetragen hatte. Die letzten Stunden, nachdem sie endlich das Gegengift für das APTX4689 erhalten hatten waren einfach weg. Sie wusste noch, dass sie dabei war, die Formel zu erstellen und dabei war alle Bestandteile des Giftes herauszufinden, doch danach fehlte ihr jegliche Erinnerung. Sie fuhr sich mit der Hand durch die rotbraunen Haare und seufzte leise. Was war nur vorgefallen? Die Tür ging auf und ein Arzt betrat den Raum. Von dem fremden Mann, der hier neben ihr gesessen hatte, fehlte allerdings jede Spur. Jetzt wo sie so darüber nachdachte, wusste sie noch nicht einmal, wie er ausgesehen hatte. Sie hatte ihn nicht angeschaut wenigstens aus den Augenwinkeln kurz hinüber gespitzt, um wenigstens ein paar Stellen seines Gesichts wahrzunehmen. Nun ja, eigentlich war das sowieso egal. „Guten Tag, mein Name ist Doktor Mishimoto. Ich bin der leitende Stationsarzt hier. Wissen Sie Ihren Namen?“ Wieso sprach er so höflich mit ihr? Kein Mensch würde ein kleines Mädchen, welches zuvor bewusstlos auf der Straße aufgefunden worden war, siezen. Und jetzt, da sie so darüber nachdachte, wieso stand hier noch keine Frau vom Jugendamt oder besorgte Polizisten, die ihr irgendwelche dummen Fragen stellen wollten? Und dann fiel es ihr auf. Ihre Beine waren viel zu lang für die eines Kindes und auch ihre Hände waren größer als sonst. Im ersten Moment kam es ihr merkwürdig vor, doch dann begann zu sie zu verstehen. Allem Anschein nach hatte sie es geschafft wieder in ihren alten Körper zurück zu gelangen. Doktor Mishimoto schien ihr Schweigen so zu deuten, dass sie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern konnte und als er sie auf dies ansprach, erschien es ihr vernünftiger einfach eine Weile mitzuspielen. „Sie hatten leider keinen Ausweis oder ein Handy dabei, deshalb wird sich die Polizei im Folgenden um Sie kümmern. Aber ich denke, es ist nicht mehr als eine vorübergehende Amnesie. Sie werden noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben und dann schauen wir weiter. Aber ich bin guter Hoffnung, dass wir Sie wieder hinbekommen.“ Er lächelte sie höflich an und schien ihr Hoffnungen auf eine schnelle Genesung machen zu wollen. „Ich werde später noch einmal nach Ihnen sehen. Und wenn Sie möchten kann ich den jungen Mann, der Sie gefunden hat gerne heimschicken. Er wartet nämlich vor der Tür.“ Sie nickte abwesend und betrachtete ihre Hände, die sie schon seit einer langen Zeit nicht mehr so groß gesehen hatte. Der Arzt verschwand auf den Gang und ließ sie mit ihren Gedanken alleine zurück. Nun war sie also nicht mehr die kleine, viel zu reife Ai Haibara, sondern wieder die erwachsene, einsame Shiho Miyano. Welcher Tag war heute überhaupt? Wie viele Tage hatte sie vergessen? Es mussten einige sein, wenn sie es wirklich geschafft hatte das Gegenmittel für das Gift herstellen zu können und nun in ihrem alten Körper dazusitzen. Aber warum war sie überhaupt wieder groß? Hatte sie nicht für sich entschlossen ein Kind zu bleiben und mit den anderen weiter die Schule zu besuchen? Als Ai Haibara besaß sie wenigstens so etwas wie ein richtiges Leben, aber nun, da sie wieder Shiho war, gab es niemanden mehr, zu dem sie gehen konnte. Ihre Eltern und ihre Schwester waren tot, den Kindern würde sie das wohl kaum erklären. Aber was war mit dem Professor? Dieser war schließlich in ihr Geheimnis eingeweiht und würde sich ganz sicher mit offenen Armen empfangen. Vielleicht sollte sie ihn anrufen und ihm sagen, wo sie sich befand, bevor er sich zu viele Sorgen um sie machte. Irgendetwas – und sie konnte nicht sagen, was genau – hielt sie allerdings davon ab, einfach zum Telefon, welches neben ihrem Bett auf dem Nachtschränkchen stand, zu greifen und die Nummer zu wählen. Sie fühlte sich fremd in ihrem Körper und fragte sich, ob sie es bei ihm überhaupt aushalten konnte, wenn sie dort ständig mit Ayumi und den anderen in Berührung kam. Die Kinder suchten zwar noch immer nach der Unbekannten, die ihnen vor einiger Zeit das Leben gerettet hatte, doch wussten sie nicht, dass diese Frau ihre Freundin Ai war und auch, wenn sie es nur ungern zugab, die Kinder zu sehen und nicht mehr so mit ihnen umgehen zu können, wie früher, war etwas, bei dem sie sich unsicher war, ob sie es konnte. Ihre Gedanken kreisten noch lange um die Frage, wie es nun mit ihr weiter gehen sollte, wohin sie konnte und ob sie nicht doch den Professor anrufen sollte. Kurzzeitig hatte sie auch die dumme Idee, sich bei Conan zu melden, der sich wahrscheinlich ebenfalls schon große Sorgen um sie machen durfte. Eine Eigenschaft, die irgendwie ziemlich anziehend auf sie gewirkt hatte. Jedoch verwarf Shiho diese Idee so schnell, wie sie ihr gekommen war. Wenn sie wieder erwachsen war, standen die Chancen, dass es Conan ebenfalls so erging, nicht gerade schlecht. Wahrscheinlich war er schon längst wieder Shinichi und genoss sein neues, altes Leben in vollen Zügen. Bei diesem Gedanken war ihr unwohl geworden. Sie hatte sich in ihr Kissen fallen lassen und die Augen geschlossen. Als sie wieder aufwachte, strahlte die Sonne sie regelrecht an und Shiho musste eine Hand vor ihre Augen halten, um diese überhaupt offen halten zu können. Vielleicht sollte sie aufstehen und die Vorhänge vorziehen? Jedoch kam ihr irgendjemand zu vor, denn plötzlich wurde das Sonnenlicht schwächer und der Raum verdunkelte sich etwas. Shiho ließ die Hand sinken und blickte auf den Hinterkopf eines großgewachsenen Mannes. Seine Haare waren hellbraun und sie hatte das Gefühl diesen Mann zu kennen, diese Statur, die Frisur und wie er dastand. „Sie sind aufgewacht. Das freut mich“, sagte der Mann und drehte sich zu Shiho um, die verängstigt ihre Augen aufriss, als sie in das lächelnde Gesicht von Subaru Okiya starrte. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er besorgt. Sie nickte nur und schaffte es nicht auch nur einen Ton heraus zu bringen. Was machte dieser Mann hier nur? Panik stieg in ihr auf. Sie wusste immer noch nicht, auf wessen Seite er nun stand, obwohl sie es geschafft hatten den Anführer der Organisation zwar endlich zu verhaften, aber so weit ihr mitgeteilt worden war, wusste man noch nicht, wer nun endgültig alles mit involviert gewesen war. „Ihr Arzt sagte mir Gestern, dass Sie müde seien, aber da ich mir Sorgen gemacht habe, wie es Ihnen geht, bin ich heute vor der Uni noch einmal kurz ins Krankenhaus gekommen. Falls Sie sich durch mich belästigt fühlen, kann ich die Besuche natürlich einstellen.“ Wie gern hätte Shiho ihm gesagt, er solle sich verziehen, aber sie konnte es nicht. Komischerweise – und trotz der Angst, dass er vielleicht wirklich zur Organisation gehörte – konnte sie ihn aber nicht wegschicken. Er erkannte sie eindeutig nicht, sonst hätte er sie nicht ins Krankenhaus gebracht und zugelassen, dass der Arzt die Polizei anrief. Also war er ja eventuell doch keiner von ihnen, oder? Aber was, wenn er nur gute Miene zum bösen Spiel machte? Es verwirrte sie und sie wusste wirklich nicht, woran sie bei diesem Mann war. Kudo hatte ihm vertraut und schließlich war die Organisation gerade dabei auseinander genommen zu werden. Also sollte sie dann nicht Kudos Instinkt vertrauen und Subaru erst einmal nicht wegschicken? Diese Gedanken kamen ihr aber nur, weil sie sich einsam fühlte. In den letzten Monaten hatte sie sich so sehr an die Gegenwart anderer gewöhnt, dass sie nicht mehr wusste, wie allein sein sich anfühlen konnte. Ruhe und Frieden waren schön, aber Einsamkeit ganz sicher nicht. Subaru war von sich aus zu einer fremden Frau gekommen, weil er sich Sorgen gemacht hatte und dafür war sie dankbar. Aber wenn er doch zur Organisation gehören sollte, was sollte sie dann tun? „Der Arzt wird gleich da sein, um ein paar Untersuchungen mit Ihnen zu machen.“ Shiho nickte erneut und spürte, dass ihre Stimme sich wieder gefunden hatte. Ihr brannte eine Frage auf der Zuge, die nicht auffällig oder seltsam war und wenigstens diese konnte sie stellen, wenn sie schon auf den Rest keine Antwort verlangen konnte, ohne sich verdächtig zu verhalten. „Wo und wie haben Sie mich gefunden?“, flüsterte sie und fand es schrecklich keinen festeren Klang zu haben. „Ich habe aus dem alten Haus, in dem ich bis vor Kurzem gewohnt habe, noch ein paar Dinge geholt und als ich mit dem Wagen gut drei Querstraßen entfernt war, hab ich Sie auf dem Asphalt liegen sehen. Ihre Klamotten waren komplett zerrissen und sie waren nicht ansprechbar, also hab ich einen Krankenwagen gerufen und die Polizei.“ „Verstehe.“ Shiho nahm gar nicht wahr, dass sie anscheinend fast nackt vor ihm gelegen hatte. Etwas, das ihr mehr als nur negativ aufgestoßen wäre, wenn sie es in diesem Moment realisiert hätte. „Da aber nichts auf eine Vergewaltigung hinwies und der Arzt die Polizei gebeten hat, Sie erst einmal wieder zu Kräften kommen zu lassen, werden zwei Beamte heute Nachmittag vorbei kommen, soweit ich weiß.“ „Wo haben Sie denn gewohnt?“ Also ob Shiho die Antwort nicht kennen würde, schließlich waren für einige Zeit Nachbarn gewesen, aber da sie nicht mehr die kleine Ai Haibara war, sollte sie die Rolle der Unwissenden wohl möglichst authentisch rüber bringen. „In Baika, 2. Straße. Wissen Sie, was Sie dort in der Nähe wollten?“ Shiho schüttelte den Kopf. Fiel ihm denn gar nicht ihre Ähnlichkeit zu Ai Haibara auf? Schließlich hatte sie lange genug neben ihm gelebt und sie sah nun immer noch wie das kleine Mädchen aus, nur eben zehn Jahre älter. „Verstehe. Also, wenn Sie ...“ In diesem Moment klopfte es an der Tür und Doktor Mishimoto betrat den Raum. „Wir werden jetzt ein paar Untersuchungen machen und dann wird die Polizei mit Ihnen sprechen. Keine Sorge, da Sie keine schlimmen Verletzungen davon getragen haben werden wir nur ein paar Tests durchführen, hauptsächlich zu Ihrer momentanen Amnesie und schauen, wie wir dann am Besten weiter machen. Und vor der Polizei müssen Sie ganz sicher auch keine Angst haben. Versprochen.“ Sah Shiho irgendwie verängstigt aus oder warum versuchte der Arzt sie unbedingt beruhigen zu wollen? Am Besten wäre es wohl wirklich so zu tun als wäre das alles sehr seltsam für sie und die Verängstigte zu spielen. „Ich muss in die Uni“, stellte Subaru mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest und lächelte Shiho dann ruhig an. „Ich schaue sicher noch einmal vorbei. Besuch von einem Fremden ist wohl immer noch besser als gar keiner.“ Da hatte er irgendwie Recht. Leider. „Bis dann.“ Er verließ den Raum und steckte die Hände in die Hosentaschen als er durch die geöffnete Tür ging, die der Arzt vergessen hatte zu schließen. „Dann wollen wir mal.“ Was genau Shiho jetzt diagnostiziert worden war, wusste sie nicht. Sie hatte kein großes Interesse daran, was ihr angeblich fehlte oder wie hoch die Chancen waren ihr Gedächtnis wieder zurück zu erlangen. Schließlich hatte sie es ja nicht verloren und warum sollte es sie dann großartig kümmern, wann es besser werden sollte? Wobei ihr der Gedanke irgendwie gefiel, sich nicht mehr an alles erinnern zu können. Manchmal wünschte sie sich ihre Vergangenheit zu vergessen und als neue Person zu leben. Nun aber, da sie sich nur an ein paar Stunden oder Tage nicht erinnern konnte, war es unerträglich für sie. Sie wollte wissen, was geschehen war, wieso sie bewusstlos auf der Straße gelegen hatte und was mit den anderen war. Den Professor anzurufen traute sie sich allerdings immer noch nicht, obwohl es doch klar war, dass sie sich nicht für ewig in diesem Krankenhaus verstecken konnte. Irgendwann würden die Ärzte sie entlassen und irgendwo rein stopfen um sie endlich los zu werden. So gesehen fehlte ihr schließlich nichts, außer ihrem Gedächtnis – oder eben den zwei, drei Tagen. Vielleicht würde man sie als lebensfähig einstufen und ihr eine Wohnung und einen Job vermitteln? Oder auf Brechen und Biegen versuchen ihre Familie zu finden. Ein wirklich guter Witz, schließlich waren ihre Eltern und ihre Schwester längst tot. Sie konnte nirgendwo hin und das wusste sie ganz genau. Nur, wie sie aus dieser Situation raus kommen sollte, war ihr nicht klar. Das war alles einfach nur noch schrecklich. Warum war es nicht einfach unkompliziert und sie konnte den Professor anrufen? Er würde ihr sicher helfen können, auch, wenn sie nicht mehr bei ihm wohnen wollte oder konnte. Wahrscheinlich würde er aber Kudo Bescheid geben, da dieser eigentlich auch das Recht dazu hatte zu erfahren wo sie sich befand. Und selbst wenn Professor Agasa nichts sagen würde, jedenfalls nichts genaues, denn beruhigen würde er Kudo sicher, konnte dieser wohl erst dann Ruhe geben, wenn er sie gefunden hatte. Dabei gefiel es Shiho gar nicht gerade von Shinichi Kudo gefunden zu werden. Er war doch mittlerweile sicher in einer rosa-roten Flauschwelt mit seiner Ran, die so lange und unglaublich geduldig auf seine Rückkehr gewartet hatte. Sie hatte angefangen Ran zu mögen, ja und auch akzeptiert, dass Shinichi nur Ran liebte, aber Shiho konnte eben auch nichts gegen ihre Gefühle. Liebe war eine beschissene Sache. „Ich würde Sie gerne zu einem Spezialisten schicken, aber da wir noch immer keine Verwandten von ihnen gefunden haben und Sie nichts bei sich trugen, müssten Sie die Kosten wohl auf jeden Fall im Endeffekt selbst tragen. Überlegen Sie am Besten noch. Die Polizei meldet sich, sobald sie neue Informationen haben und bis ich Sie nicht guten Gewissens entlassen kann bleiben Sie erst einmal hier.“ Doktor Mishimoto schien sich ernsthafte Sorgen um seine Patientin zu machen, was Shiho mehr zusagte, als ihr lieb gewesen wäre. Sie genoss es irgendwann nur viel zu sehr und das wäre sicher nicht gut für jemanden, der wieder lernen musste, wie allein sein sich anfühlte. Es waren ein paar weitere Tage vergangen und Subara kam eisern jeden Tag vorbei, setzte sich neben sie und da Shiho nichts sagte, las er eben in einem Buch, während er ihr stumm Gesellschaft leistete. In der Zwischenzeit war ihr häufiger der Gedanke gekommen, ob er nicht doch ein Mitglied der Organisation sei, dass auf sie aufpassen sollte. Shiho hatte keine Ahnung vom aktuellen Stand der Ermittlungen und was war, wenn sich ein paar von ihnen zu einer neuen Gruppierung zusammen geschlossen hatten, um das Vermächtnis der Organisation weiter zu führen? Die Idee klang zuerst ein wenig eigenwillig, aber wenn Shiho genauer darüber nachdachte, schien sie ihr nicht ganz so absurd. Man wusste nie, was in solchen Menschen vor sich ging. Und so einfach unterzutauchen und ein normales Leben zu führen war jetzt nicht unbedingt der Stil von den ranghöheren Mitgliedern. Dennoch schaffte sie es einfach nicht Subaru wegzuschicken. Sie mochte es, dass sie nicht alleine war und selbst wenn sie nur aus dem Fenster starrte und ihn ignorierte, fühlte sie sich nicht so einsam und das fühlte sich gut an. Die Panikattacken, die sie in den Nächten manchmal bekam, weil die Alpträume immer wieder kamen, waren etwas Schreckliches und so war sie froh tagsüber Ablenkung zu bekommen. Das Schlimmste an den Träumen war allerdings, dass sie sich im Nachhinein immer nur an die Farbe schwarz erinnern konnte. Würde man sie niemals damit in Ruhe lassen können? „Hallo. Wie geht es Ihnen?“ Subaru betrat den Raum und setzte sich auf seinen angestampten Platz. Shiho sagte nichts und wandte sich der Zeitschrift zu, die eine der Schwestern ihr aus der Cafeteria geholt hatte. Eigentlich las sie gar nicht, aber langsam ging ihr das ständige aus dem Fenster starren ein wenig auf die Nerven. „Ich hätte Sie nicht als jemanden eingeschätzt, der Frauenmagazine liest. Und dann auch noch falsch herum.“ Shiho blickte auf, sah in das ruhig lächelnde Gesicht von Subaru und starrte dann auf das Heft in ihrer Hand. Verdammt! Die Buchstaben waren falsch herum. Das war ihr jetzt irgendwie unangenehm. „Keine Sorge. Ich beurteile niemanden nach seinen Lesevorlieben.“ Ah ja? „Was lesen Sie eigentlich?“ Die Frage rutschte Shiho einfach so raus, ohne, dass es ihr vorher irgendwie bewusst gewesen wäre. Aber wenn sie schon einmal mit einander sprachen, war es vielleicht gar nicht so schlecht. Eventuell würde sie ja auch irgendetwas Wichtiges herausfinden. „Ach das?“ Er hielt sein Buch hoch. „Das ist ein Krimi. Sie müssen wissen ich bin ein großer Krimifan, vor allem Sherlock Holmes, aber auch viele andere, die einen interessanten Ermittler oder Detektiv zu bieten haben. In diesem Buch geht es um eine Mordserie in den Alpen. Viel Blut und Sie möchten nicht wissen, wie oft die Beschreibung 'die Blutlache hatte den Schnee rot gefärbt' oder 'Es wirkte so als hätte das Rot dem Weiß die Unschuld geraubt'. Alles ein bisschen überzogen, aber die Handlung ist wirklich spannend.“ „Verstehe.“ Das Subaru Holmes mochte, war ihr doch schon längst klar. Genauso wie Kudo ihn toll fand. „Wenn Sie möchten leihe ich es Ihnen gerne aus. Aber bei diesem Buch empfiehlt es sich es richtig herum zu halten.“ Fand er das jetzt etwa so lustig oder wollte er Shiho dazu bringen aufzutauen? Sie wusste es nicht so genau, aber das war nicht unbedingt der Subaru, den sie kennengelernt hatte. Sie konnte nicht sagen, woran es lag, aber er verhielt sich ihr gegenüber einfach anders. Wahrscheinlich weil es ein Unterschied war, ob jemand ein Kind oder erwachsen war? Vielleicht, weil sie offiziell an Amnesie litt? „Danke für den Tipp“, erwiderte Shiho, drehte demonstrativ ihr Magazin um hundertachtzig Grad und blickte starr auf die Buchstaben. Das erste Gespräch hatte dazu geführt, dass Subaru sich nun einzubilden schien, mit Shiho auch richtig reden zu können. Er begann von seinem Tag zu erzählen, fragte sie regelmäßig ob sie sich denn schon an etwas erinnern konnte und unterstütze Doktor Mishimoto bei der Idee Shiho wenigstens einen Namen geben zu dürfen, um ihr die komplette Anonymität erleichtern zu können. Die Polizei kam hin und wieder vorbei und erklärte, dass man noch immer nicht wisse wo sie herkam und wer sie war. Natürlich nicht. Die Organisation hatte all ihre Daten verschwinden lassen. Eine Shiho Miyano gab es gar nicht mehr. Die Sonne war gerade unter gegangen, als Shiho eine Idee kam. Sie hatte sich hinter ihrer Amnesie versteckt um nicht nach außen in die Welt zu müssen, aber was, wenn genau das die einzige Lösung war? Sie konnte doch sagen, ihr wäre alles wieder eingefallen und sich entlassen lassen. Danach konnte sie untertauchen, irgendwelche Jobs verrichten und sich eine neue Identität erschaffen. Mit einem PC konnte sie sehr gut umgehen, also dürfte das kein Problem darstellen, außerdem hatte sie während ihrer Zeit in der Organisation oft genug mit zwielichtigen Typen zu tun gehabt, die darauf spezialisiert gewesen waren. Langsam gewöhnte sie sich viel zu sehr an die Gegenwart ihres Arztes und Subarus, dem sie immer weniger zutraute zur anderen Seite zu gehören. Und genau das machte ihr so schreckliche Angst. Sie hatte bereits die Kinder, Professor Agasa und Kudo hinter sich gelassen, mit denen sie viel zu viel Zeit verbracht hatte und die ihr langsam immer wichtiger geworden waren. Das erneut durchzumachen war etwas, was ihr gar nicht gefiel. An den Verlust, welchen sie durch den Tod ihrer Schwester erlitten hatte, wollte sie gar nicht erst denken. Also beschloss sie für sich diese Idee einfach in die Tat umzusetzten. Einsamlkeit sein, war etwas Furchtbares und sie war überaus dankbar hier nicht allein sein zu müssen, aber bevor sie wieder einen Rückschlag erleiden musste, würde sie wohl die Einsamkeit vorziehen. Jetzt war nur noch die Frage, wann sie es machen sollte. Jetzt? Morgen früh? Was kam natürlicher rüber? Es musste einfach so aussehen, als würde sie sich plötzlich an alles erinnern. Morgen nach dem aufstehen? Einfach ihren – oder irgendeinen – Namen flüstern, Augen aufreißen und ihren Arzt anstarren? Kam das normal rüber? Sie hatte noch nie in so einer Situation gesteckt und googeln konnte sie es auch nicht, weil ihr der Internetzugang fehlte. Also müsste sie es auf gut Glück versuchen. Hoffentlich ging das gut. In dieser Nacht schlief Shiho unglaublich schlecht. Doch dieses Mal hatte es nichts mit irgendwelchen schwarzen Räumen zu tun, sondern eher, weil sie nicht wusste, wie ihr Plan aufgehen würde. Er war irgendwie komplett bescheuert, aber für sie in diesem Moment der einzige Ausweg. Sich im Krankenhaus zu verstecken, würde sowieso nicht für immer gut gehen und selbst wenn, langsam baute sie hier einfach zu viele Beziehungen auf. Selbst die Schwestern bemühten sich darum mit Shiho in Gespräche zu kommen. Sie hatte in dieser Nacht die Vorhänge zuziehen lassen, etwas, worum sie vorher noch nie gebeten hatte, weil sie es mochte den Himmel zu beobachten, um sich zu beruhigen, wenn sie aus irgendwelchen wirren, dunklen Träumen aufwachte. Die Sonne sollte nicht direkt auf ihr Gesicht scheinen und es unnatürlich wirken lassen, dass sie davon einfach nicht aufwachsen wollte, auch, wenn sie dadurch ihren einzigen Ruhepol verloren hatte. Das war es ihr in diesem Moment einfach wert. Shiho lag bereits seit gefühlten Stunden wach, als die Tür langsam aufging und jemand den Raum betrat. Ein Stuhl wurde zurück gezogen und sie hörte wie ein Körper sich darauf fallen ließ. Noch ein bisschen warten. Sie zählte bis zweihundert, schlug ihre Augen auf und setzte sich ruckartig auf. Subaru schien die plötzliche Bewegung ein wenig zu erschrecken, aber das ließ er sich nicht weiter anmerken. „Alles in Ordnung?“, fragte er, stand auf und legte sein Buch auf den Stuhl. Er kam zu Shiho und wollte beruhigend die Hand auf ihre Schulter legen. Eine Geste, die sie zusammen zucken ließ. „I... ich weiß es … wieder“, begann sie mit erstickter Stimme. „Wie bitte?“ „Ich … ich erinnere mich. Ja, natürlich.“ Sie sah mit weit aufgerissenen Augen zu Subaru hoch und ihre Augen spiegelten sich ein bisschen in seiner Brille. „Ich lebe im Ausland und habe auch dort studiert. Ich war in in Baika, weil ich ein wenig Heimweh hatte und dann … dann … weiß ich nur noch, dass alles schwarz geworden ist. Ich glaub, ich hatte an dem Tag zu wenig gegessen und getrunken und wegen der Uni war ich übermüdet.“ Das musste doch einfach richtig authentisch rüber kommen oder etwa nicht? „Wissen Sie auch noch Ihren Namen?“ „Alles. Ich heiße … heiße ...“ Shiho hatte vergessen welchen Namen sie sich zurecht gelegt hatte. Diese Idee nun tatsächlich in die Tat umzusetzen hatte einfach so viel Überwindung gekostet, dass sie tatsächlich ihren falschen Namen vergessen hatte. Aber irgendetwas musste sie sagen, sonst wirkte es unnatürlich. Also sprach sie das Erste aus, was ihr in den Sinn kam. „Shiho.“ Am Liebsten hätte sie ihre Hände vor den Mund geschlagen. Doch nicht ihren eigenen Namen! „Ich hole am Besten den Arzt.“ Einige Untersuchungen, noch mal die selbe Geschichte – mit ein paar anderen Worten, damit niemand auf die Idee kam, sie hätte sich nur etwas einfallen lassen – und eine Menge Papierkram später und Shiho durfte das Gebäude endlich verlassen. Die Rechnung würde sie wohl nicht bezahlen, denn wie sollte man jemandem Post zusenden, den es doch gar nicht gab? Subaru hatte ihr Kleidung vorbei gebracht, da Shiho außer ihren Krankenhausklamotten nichts weiter zum anziehen hatte. „Wohin wollen Sie jetzt?“, fragte Subaru und stellte sich neben sie. Shiho stand vor dem Eingang des Gebäudes und betrachtete die viel befahrene Straße ein kleines Stückchen weiter vorne. Das war Tokio wie es im Buche stand. Eile, Stress und Hektik. „Ich fliege nach England zurück. Ich vermisse London und meine Mitbewohner werden sich sicher schon Sorgen um mich machen.“ „Aber Sie können doch wohl kaum sofort nach London fliegen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Hotel Ihr Zimmer die ganze Zeit frei gehalten hat.“ Natürlich. Sie hatte von einem Hotel erzählt, in welchem sie während ihres Urlaubes gelebt hatte. „Das stimmt. Aber meine Sachen werden Sie hoffentlich noch haben.“ „Ich kann Sie hinfahren, wenn Sie möchten“, schlug Subaru vor. „Nein, das ist nicht nötig. Sie müssen doch sicher in die Uni, oder etwa nicht?“ Natürlich musste er das vorschlagen. „So wichtig ist das momentan nicht. Vieles muss ich im Moment sowieso zuhause machen. Außerdem haben Sie noch kein Geld bei sich und das ist wenig förderlich, wenn Sie dann plötzlich ein Taxi nehmen wollen.“ Na toll. Fieberhaft suchte Shiho nach einer Ausrede, aber ihr fiel einfach nichts ein, was logisch oder vernünftig klang. Dann würde sie sich halt von ihm zu ihrem Hotel fahren lassen und ihm dort sagen, dass sie nun allein zurecht kam. Sie fuhren erst seit ein paar Minuten, aber Shiho kam es wie eine Ewigkeit vor. „Wenn sie möchten, buchte ich Ihnen ein Ticket zurück nach London. Dann müssen Sie sich nicht den Stress machen, schließlich haben Sie gerade erst eine Amnesie hinter sich.“ „Das ist nett, aber ich würde das lieber selbst machen.“ „Wie Sie meinen.“ Subaru bog an einer Ampel nach rechts ab und Shiho runzelte die Stirn. „Hätten wir nicht nach links gemusst.“ „Nein. Das ist schon richtig.“ Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit, als Subaru erneut in die andere Richtung abbog, als es von hier aus richtig gewesen wäre. Panik stieg in ihr auf. Hatte sie zu sehr darauf vertraut, dass die Organisation sie sofort beseitigen würde? Hatte sie sich tatsächlich so leicht um den Finger wickeln lassen? Sie schluckte. „W-wer …?“, begann sie, doch ihre Stimme versagte. „Keine Sorge. Ich tue dir nichts. Du musst mir nur vertrauen.“ Warum duzte er sie nun bitte? „Wir kennen uns, nicht wahr? Du bist das kleine Mädchen von Professor Agasa, auch, wenn du nicht mehr klein bist.“ Was? Er hatte es gewusst? Die ganze Zeit? „Lassen Sie mich raus!“ Shiho begann zu zittern. Sie war in eine Falle getappt. „Wir fahren auf einer Schnellstraße, ich halte jetzt sicher nicht an. Shiho, du musst mir wirklich vertrauen. Ich gehöre nicht zu den Männern, die hinter dir her waren.“ „Wieso sollte ich Ihnen glauben?“ Shiho war von der Härte in ihrer Stimme selbst überrascht, aber sie wollte sich das nicht anmerken lassen. Er sollte nicht sehen, wie die Angst sie plötzlich einschloss. „Warum nicht? Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich es getan. Das weißt du. Außerdem wissen wir beide, dass dir dein Gedächtnis nie gefehlt hat. Vielleicht ein paar Erinnerungen, aber du wusstest immer, wer du bist.“ Das hatte er wirklich gemerkt? Also war ihre Scharade doch nicht so gut gewesen, wie zuerst gehofft? „Wo bringen Sie mich hin?“ „Wohin möchtest du denn? Ich soll dafür sorgen, dass es dir gut geht, also?“ „Wer hat sie geschickt?“ Shiho blickte nicht in seine Richtung, sondern starrte immer weiter gerade aus. „Das spielt keine Rolle. Genauso wie es mir egal ist, wieso du mitten auf der Straße das Gegengift genommen hast. Du hast deine Geheimnisse, ich meine. Aber dennoch solltest du mir vertrauen.“ Mitten auf der Straße? Shiho hatte in den letzten Tagen soviel Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, wie es nun mit ihr weiter gehen sollte, dass sie es nicht mehr als allzu wichtig angesehen hatte, dass ihr ein paar Tage fehlten. Sie war einfach der Meinung gewesen, diese würden irgendwann schon wieder zurück kommen. Aber Subarus Satz brachte sie zum Grübeln. Was war geschehen? Was hatte sie nur dazu gebracht so zu handeln? „Möchtest du wirklich nach England oder war das auch nur ein Teil deiner Geschichte?“ Subaru riss sie mit seiner Frage aus den Gedanken. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ja.“ England hatte sie deshalb gewählt, weil ihre Mutter von dort kam. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt irgendwann wirklich dorthin zu fliegen und nach einer Familie zu suchen, einfach, um zu wissen, ob es noch jemanden gab. Nicht, um dort endlich aus ihrer Einsamkeit zu entkommen. Wobei, eigentlich doch, oder? Shiho musste sich eingestehen, dass der Gedanke an eine Familie schon etwas für sich hatte. Was, wenn sie wirklich Verwandtschaft finden sollte? Würde sie dann wirklich wieder gehen? „Wie gesagt, ich buche dir gerne den Flug. Mach dir um die Papiere keine Sorgen.“ Sollte sie ihm wirklich vertrauen? Sie wusste es nicht. Warum sollte er ihr helfen? Wieso bat er so stark um ihr Vertrauen? War er vielleicht ein Polizist oder so etwas? Die Vorstellung aus Japan raus zu kommen und all den Kummer, der ihr hier in der letzten Zeit widerfahren war hinter sich zu lassen, hatte allerdings etwas. „Und keine Sorge. Der Flug wird sicher nicht manipuliert sein.“ Er lächelte sie kurz an und hielt dann vor einem Mietshaus. „Aber ich muss noch einmal weg, also muss ich dich hier allein lassen. Versuch nur nicht abzuhauen, das bekomme ich nämlich mit.“ Sie stiegen aus und gingen ins Gebäude hinein. Subaru lief den schmalen Gang entlang und schloss die letzte Tür auf der linken Seite auf. „Bitte“, sagte er und ließ Shiho den Vortritt. Die Wohnung war klein und sah nicht nach etwas Besonderem aus. Es gab eine Küche, die blitzblank geputzt war, einen viel zu engen Wohnraum, in welchem ein Sofa stand, das zu groß wirkte und ein alter Fernseher. Außerdem gab es noch einen PC und die verschlossene Tür führte wohl ins Schlafzimmer. „Du darfst dich hier ruhig austoben. Wenn du meinst auch gerne ins Internet gehen oder dir etwas kochen. Ich bin in ein paar Stunden wieder zurück.“ Nachdem Subaru die Tür hinter sich zugemacht hatte und seine Schritte im Gang verklungen waren, ließ sich Shiho aufs Sofa fallen. Wie hatte der Kerl es noch mal geschafft, dass sie ihm einfach in diese Wohnung gefolgt war? Er hatte einfach etwas an sich, das Shiho nicht beschreiben konnte, aber es wirkte unglaublich beruhigend auf sie. Außerdem, wenn sie sowieso schon in der Wohnung war, konnte sie nun auch nicht mehr viel machen. Ihre Gedanken schweiften wieder zum Gespräch im Auto ab und sie begann erneut darüber nachzudenken, was genau geschehen war. Wieso hatte er sie bewusstlos auf der Straße gefunden? Wahrscheinlich wegen den Schmerzen, die die endgültige Zurückverwandlung mit sich gebracht hatten. Gut, das klang logisch, aber was sie eben nicht verstand, war, wieso sie dies überhaupt auf der Straße und nicht in Professor Agasas Haus gemacht hatte. Und vor allem – was ihr viel wichtiger war – wieso hatte sie es überhaupt eingenommen? Hatte sie für sich nicht entschlossen die Nebenwirkung des Giftes als zweite Chance zu sehen, um ihre Kindheit endlich einmal richtig erleben zu können. Mit Ayumi und den anderen zusammen. Schließlich hatte sie doch als Shiho Miyano niemanden. Ai Haibara besaß aber Freunde und Menschen, denen sie wichtig war. Diese Fragen ließen ihr keine Ruhe und sie schloss die Augen. Nachdenklich fuhr sie sich übers Gesicht und suchte in ihrem Gehirn nach Antworten, die einfach nicht da zu sein schienen. Wieso? Wieso konnte sie sich daran nicht mehr erinnern? Mit einem lauten Schrei wachte Shiho auf und atmete schwer. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Die Kälte, die sie im Traum heim gesucht hatte und die es dort doch eigentlich gar nicht hatte geben dürfen, war immer noch da und während sie versuchte ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen, fiel ihr endlich ein, was kurz vor ihrem Ohnmachtsanfall geschehen war. Sie hatte eine Szene vor sich gesehen, die sie erwartet hatte und dennoch war es einfach unerträglich gewesen. Sie hatte denjenigen, den sie liebte mit einer anderen gesehen. Fest umschlungen und völlig losgelöst von der Welt. Shiho sah die Szenerie deutlich vor sich und erinnerte sich auch an das, was ihr zuerst durch den Kopf gegangen war. Shinichi und Ran lebten in einer perfekten Seifenblase voller Liebe und Lebensfreude. Und für andere war darin kein Platz. Natürlich war ihr das längst klar gewesen, dass, wenn er wieder groß war sich alles genauso entwickeln würde. An sich war es auch nicht weiter schlimm, unerwiderte Liebe gab es oft auf dieser Welt und nüchtern betrachtet, hatte sie sich doch längst darauf eingestellt. Nur als sie die Beiden plötzlich gesehen hatte, wie sie Arm in Arm dastanden und man als Außenstehender das Gefühl bekommen konnte, für sie gab es nur noch sich und die restliche Welt spielte keine Rolle mehr, war ihr einfach schlecht geworden. Diese rosarote Welt, in der die Beiden von nun an leben würden. Gemeinsam in die Schule gingen, sich mit Freunden trafen und das Leben eines normalen Teenagers führten. Dort war für Ai kein Platz. Sie konnte die Vorstellung in diesem Moment nicht ertragen. Jeden Tag zwei verliebte Teenager zu sehen, die nur noch Augen für den jeweils anderen hatten (vielleicht hatte sie in diesem Moment ein wenig übertrieben). Ai hatte es in diesem Augenblick einfach nicht mit ansehen können und war durch die Tür nach draußen verschwunden. Ursprünglich hatte sie nur einen kleinen Spaziergang machen wollen, um ihre Gedanken und Gefühle wieder ordnen zu können. Sie hasste es, wenn sie sich nicht unter Kontrolle hatte, wenn ihre abweisende Hülle anfing zu bröckeln. Sie hatte ihre Hände in ihren Hosentaschen vergraben und bemerkt, dass sie die Schatulle mit den Kapseln, die das Gegenmittel beinhalteten noch einstecken hatte. Und ohne sich weiter Gedanken gemacht zu haben, was aus ihr werden würde, einfach aus dem Grund weil sie von hier weg wollte, öffnete sie den Behälter, nahm eine Kapsel heraus und schluckte sie. Shihos Atem beruhigte sich und eine Träne rann über ihr Gesicht. Aus reiner Gefühlsduselei hatte sie sich selbst in diese schreckliche Lage gebracht? Sie hatte es geschafft sich selbst so sehr zu verwirren, dass sie einem Mann vertraute, der sie sozusagen entführt hatte und nicht einmal auf die Idee kam einfach aus der Wohnung zu verschwinden. Denn selbst, wenn er es erfahren sollte, wäre sie sicher schon ein Stück entfernt, bevor er hier wieder ankommen sollte. Genau in diesem Moment wurde der Schlüssel im Schloss herum gedreht und Shiho schreckte zusammen. Subaru betrat den Raum und als er Shiho auf dem Sofa sitzen sah, trat er zu ihr. „Ausweis, Reisepass und was du sonst noch so brauchst. Außerdem habe ich mir die Freiheit genommen dir gleich ein Ticket nach London zu buchen. Hier.“ Er reichte ihr ein Kuvert und lächelte sie freundlich an. Konnte er außer diesem Gesichtsausdruck eigentlich noch einen anderen? „D-danke.“ „Morgen geht dein Flug. Ich fahr dich hin.“ Sie nickte. Also irgendwie war das doch seltsam, oder etwa nicht? Sie sollte aufhören sich so viele Gedanken zu machen. Schließlich war sie eine ganze Zeit lang als Kind durch die Gegend gelaufen, weil sie geschrumpft worden war. Manchmal gab es einfach merkwürdige Dinge auf der Welt. „Ach und vielleicht willst du ja jemandem noch auf Wiedersehen sagen?“ Wollte sie das? Nein. Shiho wusste nicht, was sie machen würde, wenn sie Kudo oder den Professor noch einmal wieder sehen würde. Sie hatte in den letzten Tagen schon viel zu oft gegen ihre Vernunft gehandelt, das wollte sie nicht noch einmal riskieren. „Du kannst ihnen auch schreiben“, schlug Subaru wie nebenbei erwähnt vor. Shiho tat es tatsächlich. Sie saß vor dem PC und schrieb eine Nachricht an Professor Agasa. Sie hatte sich dazu entschlossen, weil der Professor so vieles für sie getan hatte. Er sollte wenigstens wissen, dass es ihr gut ging und sie einfach noch Zeit brauchte, um ihrer Vergangenheit gegenüber zutreten. Auch, wenn das nun bedeutete, dass sie vor einer Konfrontation davon lief und in ein anderes Land floh. Sie hatte schon ein paar Versuche abgetippt und sie wieder gelöscht. Es fiel ihr nichts ein, das ihr gut genug für diesen Mann erschien, der zeitweise die Rolle eines liebevollen Onkels – oder sogar Vaters – übernommen hatte. Und eigentlich sollten solche Briefe, die nur so vor Abschied trieften, wohl eher mit Tinte schreiben, auf ein wunderschönes Briefpapier natürlich, aber Shiho war für solch klischeehaften Abschiede einfach nicht der Typ. Außerdem gab es hier sicherlich kein Briefpapier und Tinte. Also hatte sich diese Diskussion sowieso erledigt. Am Ende hatte sie nur drei Sätze geschrieben. Machen Sie sich keine Sorgen, ich nehme mein Leben endlich selbst in die Hand. Danke für alles und wir werden uns sicher wieder sehen. Mit freundlichen Grüßen, Ai. Die Abschiedsfloskel wirkte sehr distanziert, aber eine andere hatte sie einfach nicht abtippen können, ohne daran erinnert zu werden, dass sie nicht wusste, ob sie sich wirklich irgendwann wieder sehen würden. Nun saß Shiho aber im Flugzeug und blickte aus dem Fenster. Den Brief hatte sie Subaru in die Hand gedrückt, weil sie das Gefühl hatte, er würde ihn wohl persönlich zu stellen. Wahrscheinlich wusste Kudo längst wo sie sich befand. Zutrauen würde sie es ihm jedenfalls. Sie beobachtete das rege Treiben auf den Start- und Landebahnen und dachte darüber nach, was sie im Begriff war zu tun. Natürlich war ihr klar, dass sie nicht bis in die Unendlichkeit vor allem fliehen konnte, irgendwann würde sie nach Tokio zurück kehren müssen, um sich all den Ereignissen zu stellen, die hier geschehen waren, doch bis sie bereit dazu war, wollte sie erst einmal aus Japan raus. In England würde sie nach Hinweisen über die Vergangenheit ihrer Mutter suchen und vielleicht sogar etwas finden, was ihr helfen konnte, ihre eigene Herkunft endlich in Erfahrung bringen zu können. „Ist hier noch frei?“ Shiho wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen und drehte ihren Kopf Richtung Gang. Vor ihr stand Subaru, der sie freundlich anlächelte. „Ich hätte wissen müssen, dass Sie mich nicht alleine fliegen lassen“, stellte sie nüchtern fest. Er ließ sich stumm neben sie auf den freien Platz sinken. Das war ja wohl unmöglich. Er musste sie doch nicht um Erlaubnis bitten, sich hierhin setzten zu dürfen, schließlich hatte er den Platz sicher schon längst für sich reservieren lassen. Sie schielte aus den Augenwinkeln zu ihm und sah Subaru dabei zu, wie er ein Buch aus seiner Tasche holte und dieses aufschlug. Spielte er jetzt ihren Bodyguard? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)