Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 20: Asche ----------------- Ich starrte auf die Zeilen vor mir, als würde ich das erste Mal in meinem Leben etwas lesen. Wieder und wieder überflog ich die letzten Worte eines Mannes, der sein Leben einer Frage gewidmet hatte, die besser nie gestellt worden wäre. Ein eisiger Schauer brachte meinen Körper zum Beben, als ich über die schlimmen Folgen nachdachte, die diese Art von Manipulation über die Menschheit bringen würde. Geheimnisse wären nicht mehr sicher, die mächtigsten Menschen der Welt würden plötzlich von anderen kontrolliert werden und das Militär könnte aufgrund falscher Aussagen Unruhen oder sogar Kriege anzetteln. Das würde den sinnlosen Tod Unzähliger mit sich führen und vielleicht sogar ganze Länder von der Weltkarte tilgen!   Doch war das wirklich möglich? Ich hob meinen Blick. Dort, neben dem Schrank, lag die Jacke, die ich am gestrigen Tag noch getragen hatte. Der muffige Geruch von Rauch und nasser Erde hatte sich bereits im Zimmer verteilt und mit der abgestandenen Luft vermischt. Dort, gut versteckt im Inneren, musste er immer noch sein. Ich stand auf und legte in derselben Bewegung das Buch hinter mich auf den Stuhl. Den Brief behielt ich fest in meiner Hand. Es waren nur wenige Schritte, bis ich mich bücken und das Knäuel aus Stoff aufheben konnte. Zielsicher suchten meine Finger die geheime Tasche und ich seufzte erleichtert, als ich ihn wirklich darin spürte. Nur einen Moment später ruhte der Stein auf meiner Hand und die Jacke glitt erneut geräuschlos zu Boden. Still und harmlos lag er da, eingefasst in der Halterung der Kette. War es wirklich möglich, mit einem bloßen Edelstein einen Menschen zu kontrollieren? Ihn dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu sagen? Standen wirklich neue Kriege bevor?   Mein Körper zitterte. Bilder spukten durch meinen Kopf, die schlimmer waren als alles, was ich mir je hätte vorstellen können. Das Bestehlen und Ermorden der Menschen in Summer Hills war überhaupt nicht das Schlimmste an dieser ganzen Situation. Das war alles nur Tarnung gewesen! Diese Kerle haben unter dem Deckmantel der Habgier gehandelt, um etwas viel Größeres auf die Beine zu stellen. Etwas, was die Welt, wie wir alle sie kannten, völlig auf den Kopf stellen würde! Mir war plötzlich unglaublich schlecht. Einer Eingebung folgend richtete ich meinen Blick erneut auf das zerknitterte und doch so kostbare Papier. Zielsicher suchte ich das Dokument ab und blickte auf das kleine Datum, welches oben rechts in der Ecke niedergeschrieben war. Der 05.02.2014. Der Februar dieses Jahres ... Dieser Brief war kaum sechs Monate alt! Der ganze Spuk war also noch immer in vollem Gange! Gerade jetzt in diesem Moment saßen irgendwo Wissenschaftler daran das Geheimnis, welches der Professor noch hatte schützen wollen, erneut zu entschlüsseln! Und dieses Mal würde es gewiss nicht so lange dauern, wie bei ihrem ersten Versuch.   Das war doch einfach … unfassbar. Kraftlos sackte ich auf dem Boden zusammen. Durch die groben Fasern des schmutzigen Teppichs kroch die Kälte wie tausende Messerklingen unter meine Haut. Doch das, was sich in meinem Inneren festgesetzt hatte, war noch viel Kälter als die Luft hier tief unter dem Berg. Der Zettel rutschte mir aus der Hand und landete neben mir. Aus jedem dieser handgeschrieben Buchstaben sprach das Bewusstsein eines Professors heraus. Und wenn es nur daran lag, dass manche Worte in kaum leserlicher Schrift geschrieben waren. Doch aus dem Augenwinkel entdeckte ich noch etwas anderes. Dort am äußersten Rand stand noch etwas geschrieben, was da augenscheinlich nicht hingehörte. Die Farbe dieser Worte war eine andere, als die des restlichen Briefes. Wo die einen Buchstaben ein sattes Tintenfüller-Blau besaßen, hatten diese hier eine mattgraue Farbe, die mich an die Mine eines Bleistiftes erinnerte. Sie war so hell, dass das Geschriebene auf dem verschmutzten Papier kaum zu sehen war. Ich nahm den Zettel ein weiteres Mal in die Hand, legte ihn quer und las den schräg geschriebenen Satz.  „Die größten Geheimnisse sind am tiefsten vergraben.“ Dahinter folgten zwei sehr lange Kommazahlen, die durch die Kürzel LG und BG gekennzeichnet waren. Auch, wenn ich mit diesem Gebiet in meinem Leben noch nicht viel zu tun hatte, brauchte ich nicht lange zu überlegen, bis ich wusste, was ich dort vor mir hatte. Obwohl ich ahnte, dass es keinen Zweck hatte, hechtete ich - trotz schmerzendem Bein – durch den Raum zum Nachttisch hinüber. Dort, knapp über der Kante schwebend, lag mein Smartphone. Schnell ließ ich das Display wieder zum Leben erwachen und öffnete das Menü. Mein Finger schwebte eine Weile unschlüssig über der Taste zum Einschalten der Datenverbindung, doch die Neugier siegte und im nächsten Moment berührte meine Fingerkuppe den Touchscreen. Doch es war, wie ich es vermutet hatte. Hier unter der Erde hatte ich absolut keinen Empfang. Ich musste also an die Oberfläche …   Ich verdrängte die Gefühle in meinem Kopf, die mich davon abhalten wollten, meinen sicheren Zufluchtsort zu verlassen. Diese Gefühle, die mir beinahe entgegenschrien, dass es dort draußen gefährlich war. Dass es Menschen gab, die Unschuldige entführten, umbrachten und sie ihres wertvollsten Besitzes beraubten. Aber, wenn diese Zahlen wirklich Koordinaten waren, mussten sie eine wichtige Bedeutung haben! Vielleicht gab es jemanden, der mit dieser Information etwas anfangen konnte! Jemanden, der dem Spuk ein Ende setzen konnte, bevor es zu spät war … Ich hatte einfach keine Zeit Angst zu haben! Wenn es etwas gab, was ich tun konnte, musste ich es doch wenigstens versuchen! Ich würde es mein ganzes Leben lang bereuen, wenn ich diese Chance auf ein friedliches Dasein einfach ignorieren würde! Die Chance darauf, überhaupt ein Leben zu haben …   Mit einer schnellen Handbewegung faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in die hintere Hosentasche der Jeans. Auch die Kette verstaute ich dort, wo sie hingehörte: nah an meinem Herzen. Ich weigerte mich darin eine Waffe zu sehen! Diese Menschen hatten kein Recht mit uns zu spielen, wie es ihnen gerade in den Kram passte! Ich behielt das Handy in der Hand, während ich durch das Zimmer huschte. Ich schob den Tisch nur soweit von der Tür weg, damit ich daran vorbeigehen konnte. Ich öffnete die Tür und machte mir nicht einmal die Mühe das Licht auszuschalten. Mein Blick war starr auf das Smartphone gerichtet, als ich durch die Gänge hetzte. Mit jedem weiteren Schritt spürte ich die Schmerzen in meinem Bein heftiger, doch mehr, als ein leises Stöhnen gönnte ich mir nicht. Ein Gang folgte dem Nächsten. Ich wusste nicht, wo ich war, doch anhand der größer und breiter werdenden Wege ahnte ich, dass ich der Oberfläche näher kommen musste. Ich wusste, dass dies nicht der Weg nach draußen war, den ich kannte, aber das war mir egal. Ich brauchte nur Zugang zum Internet. Irgendwie. Ich blieb erst keuchend stehen, als sich vor mir eine Betontreppe auftat, die in eine normale Holztür mündete. Verdutzt starrte ich die Stufen hinauf. Wo war ich denn hier gelandet?   Obwohl meine Beine schwer wie Blei waren und kribbelten, als würden mir hunderte Ameisen über die Haut laufen, zwang ich mich die zehn Stufen zu erklimmen, bis meine schweißnasse Hand die Klinke berührte. Ohne große Anstrengung glitt die Öffnung auf und ich fand mich in einem mit grau geflecktem Teppich ausgelegtem Flur wieder. Weiße Tapete bedeckte die Wände, die in regelmäßigen Abständen von Glastüren unterbrochen wurden und Lampen hingen in Reih und Glied von der Decke. Wenn nicht alles von einer dicken Staubschicht bedeckt gewesen wäre hätte ich schwören können, dass hier vor ein paar Minuten noch Menschen gewesen waren. Doch mir war klar, dass das unmöglich war. Diese Anlage war seit Jahren verlassen und die letzten hier arbeitenden Menschen vor einer gefühlten Ewigkeit Hals über Kopf geflohen. Eine unheimliche Stille umgab mich, als ich langsam durch die stickigen Gänge wandelte. Sofort bildeten sich Schweißtropfen auf meiner Haut und ich bereute es den – wenn auch dünnen – Pullover angezogen zu haben. Ich kam an unzähligen Räumen vorbei, die mit einer wahrscheinlich typischen Büroausstattung aus dieser Zeit vollgestellt waren. Merkwürdige Gebilde, die ich als Computer identifizierte, thronten auf den Schreibtischen und selbst alte Schreibmaschinen waren noch auf vielen Tischen vertreten.   Die meisten Türen waren verschlossen, weshalb ich nicht in diese Räume gelangen konnte. Die späte Abendsonne schien durch die zersplitterten Fenster und tauchte alles in intensive Farben. Schon bald würde ich hier im Dunkeln stehen. Tatsächlich fand ich gleich um die Ecke ein offenes Büro und nutzte die Chance. Die Drehstühle standen Kreuz und Quer und viele waren sogar umgekippt. Kaffeetassen und Büromaterialien lagen unter einer dicken Staubschicht begraben. Alte Kalender und ausgeblichene Infozettel bedeckten die Wände an den Stellen, die ausnahmsweise nicht mit von Akten übersäten Regalen zugestellt waren. Einige Papiere lagen quer auf dem Boden verteilt, viele davon – besonders die in Fensternähe – wiesen Wasserflecken auf. Wahrscheinlich hatten heftige Winde, die durch die zerbrochenen Glasscheiben ins Gebäude eingedrungen waren, dieses Chaos verursacht.   Langsam näherte ich mich dem Fenster; mein Blick starr auf das Display gerichtet. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als sich die kleinen Empfangsbalken rasch vermehrten. Es dauerte nur Millisekunden, ehe das vertraute Geräusch eingehender Nachrichten laut in meinen Ohren fiepte. Die einzelnen Töne verschwammen zu einem einzigen Geräusch und ich ignorierte die Gefühle, die sich wie eine Schlinge um meinen Hals legten. Unschlüssig starrte ich auf das nun wieder schwarze Display. Was sollte ich bloß tun? Ich konnte ihnen nicht antworten, nein. Aber durfte ich einen kurzen Blick auf die Meldungen werfen? Mir war bewusst, dass meine Freunde sehen konnten, dass ich die Meldungen aufgerufen hatte. Das war heute Gang und Gebe. Doch welche Schlüsse würden sie daraus ziehen? Würden sie denken, dass ein Fremder mein Handy gefunden und eingesteckt hatte? Würden sie denken, ich sei nur bestohlen worden und mir ginge es gut? Oder glaubten sie dann, dass ich irgendwo leblos in einem Wald liegen würde und mein Mörder nach all der Zeit nun meine Nachrichten durchging? Oder würde es ihnen Erleichterung bringen? Würden sie glauben, dass ich noch lebte und einfach nur nicht zu ihnen zurückkam oder mich bei ihnen meldete? Aber warum? Warum hätte ich beschließen sollen einfach zu gehen und sie zu ignorieren? Würden sie glauben, dass ich sie nun hasste?   Nein, das konnte ich nicht tun. Ich hatte ihnen schon genug wehgetan, da durfte ich sie einfach nicht noch mehr quälen. Das wäre nicht fair. Ich würde sie im Unklaren lassen müssen und hoffen, dass Damian nichts gesagt hatte. Dass er mir wirklich dieses eine Mal vertraute. Denn …   In der Unwissenheit wohnt die Hoffnung. In der Gewissheit das Leid.   Ich ließ das Display wieder zum Leben erwachen und achtete tunlichst nicht auf die Benachrichtigungen, die nun dort standen. Ich sah die Buchstaben, doch verstand ihren Sinn nicht. Schnell suchte ich nach der Karten-App, die mir sofort standardmäßig auf meinen Wohnort sprang. Ohne groß darüber nachzudenken, suchte ich nach dieser bestimmten Funktion, die ich zum Glück auch recht schnell fand. Ich zog den Brief aus meiner Hosentasche und gab die langen Zahlen in die dafür vorgesehenen Kästchen ein. Ich kontrollierte die Werte dreimal, ehe ich auf den Suchen-Button drückte. Ein erschrockenes Keuchen drang aus meiner Kehle, als ich wusste, dass ich Recht hatte. Es handelte sich tatsächlich um Koordinaten! Die letzte Mitteilung, die Prof. Dr. Ludwig von Zettlitz vor seinem Ableben der Nachwelt überbringen wollte, waren Koordinaten eines bestimmten Ortes, die ihm wohl als ausgesprochen wichtig erschienen. Aber … Dieser Ort … Warum wollte er gerade darauf aufmerksam machen? Was sollte es dort schon Wichtiges geben? Ich … Ich wusste es nicht.   Wie viel Zeit vergangen war, seit ich hierhergekommen war, konnte ich nicht sagen. Erst die sich abkühlende Luft und das Verschwinden der Sonne bedeuteten mir, dass der Tag sich dem Ende geneigt hatte. Ich hob meinen Blick und sah aus den teils dreckigen, teils kaputten Fenstern. Dunkelheit hatte sich über das Gelände gelegt und Wolken zogen harmlos am Himmel vorbei. Vereinzelt flackerten die Lichter der nahen Städte und Dörfer über den Wipfeln der Bäume auf und erweckten den Eindruck, als seien sie sich im Meer spiegelnde Sterne. Der Rest der Welt lag still und verlassen da. Doch grade, als ich meinen Kopf abwenden und gehen wollte, bemerkte ich im Augenwinkel etwas Seltsames. Etwas, was da nicht hinzugehören schien. Obwohl sie beinahe von den grauen Wolken verschlungen wurde, sah ich sie jetzt umso klarer. Eine kleine, dunkle Rauchwolke schlängelte sich hinter einem nahen Lagerhaus empor. Ab und zu hatte ich den Eindruck, etwas Helles aufblitzen zu sehen.   Aber was war das? Die Leute hier waren immer darauf bedacht, möglichst unauffällig zu sein! Wieso also diese auffällige Rauchsäule? Was gab es dort in diesem scheinbar abgesperrten Bereich? Meine Hände zitterten noch immer von den Neuigkeiten, die ich in den letzten Minuten erfahren hatte. Das Rascheln des Papiers in meiner Hand mischte sich unter das Pfeifen des Windes, der sich durch die Ritzen der langsam verfallenden Büroruine zwängte. Das Handy in meiner Hand war längst wieder in den Ruhemodus gewechselt und hatte die so wichtige Information wieder unter den Mantel des Schweigens gekehrt.   Jemand musste davon wissen! Ich musste das, was ich entdeckt hatte, unbedingt jemandem sagen! Bloß wem? Wem konnte ich wirklich vertrauen in diesem Haufen mir unbekannter Menschen? Doch ich musste mir eingestehen, dass ich nicht lange über diese Frage nachdenken musste. Ich hatte sie mir bereits selbst beantwortet. Mechanisch ließ ich den Bildschirm ein letztes Mal aufflackern, gerade so lange, damit ich das Gerät wieder in den Ruhemodus bringen konnte, steckte es dann in meine rechte und das gefaltete Blatt zurück in die linke Hosentasche und wandte mich von der Fensterfront ab. Ich folgte dem dunklen Gang, bis eine noch intakte Glastür zu einem Treppenhaus führte. Da ich dem wackeligen Geländer nicht traute und ich auch kaum etwas erkennen konnte, hangelte ich mich an der Wand entlang bis zu dem Stockwerk, an dem sich die Buchstaben ‚EG‘ in der Dunkelheit abzeichneten. Tatsächlich musste ich bloß aus dem Treppenhaus heraustreten, um bereits die Tür nach draußen zu erspähen. Wahrscheinlich längst verstorbene Menschen blickten mich aus ihren Gemälden an, als ich den Gang entlang eilte und mich durch die Drehtür nach draußen drückte. Zum Glück standen die einzelnen Glasflügel so, dass ich auch ohne Strom und großes Verdrehen des Gestells hindurch passte.   Ein bewölkter Himmel empfing mich und ein frischer Wind zupfte an meiner Kleidung. Von dieser Stelle hatte ich direkten Blick auf die sich emporkringelnde Rauchwolke. Nur ein großer Zaun und das Ende eines Lagerhauses versperrten mir den Blick auf die genaue Ursache. Ich hatte bereits unbewusst den halben Weg zurückgelegt, als mir etwas Merkwürdiges auffiel. Hatte McSullen nicht vor ein paar Stunden erst erwähnt, dass er das Bergwerk besser abriegeln wollte? Gehörten da nicht auch noch mehr Wachen dazu? Wieso also war niemand hier? Und außerdem … Wieso war mir eigentlich überhaupt niemand auf meinem Weg hierher begegnet? Wo waren alle hin? Waren sie etwa evakuiert worden? War niemand mehr hier? Niemand außer mir? Aber … Sie konnten mich doch nicht zurückgelassen haben! Auch wenn ich … wenn ich jeden, der vor meiner Tür stand, weggescheucht hatte … War das wirklich möglich?   Ich hatte den Zaun erreicht, der wie ein unförmiges Gebilde in der Dunkelheit der sternenlosen Nacht aus dem Boden aufragte. Meine Finger legten sich um das poröse Material des Maschendrahtzauns, als ich nach einem Eingang suchte. Nicht weit von meiner Position entfernt befand sich ein Durchgang, dessen Tür scheinbar nur lose im Schloss hing. Ich schlüpfte durch einen kleinen Spalt hindurch und stand nun direkt vor einem verschlossenen Eisentor. Auch hier schienen vor einigen Jahren einmal größere Geräte und Maschinen hindurch geschafft zu worden zu sein, da mich die bloßen Maße des Eingangs bei weitem überragten. Doch ich war lange genug hier, um zu wissen, dass es in jeder größeren Tür auch eine Kleine gab. Wie erwartet entdeckte ich diese ein Stück weiter auf der rechten Seite und als sich meine Finger um das Metall legten, schwang sie widerstandslos auf, um mir Einlass zu gewähren. Drinnen sah ich zunächst nichts, außer noch mehr Schwarz. Doch schon nach wenigen Sekunden entdeckte ich flackernde Lichter, die sich in dem blanken Material der gegenüberliegenden Tür spiegelten. Neugierig durchquerte ich die anscheinend leere Halle und warf einen Blick durch den offenen Spalt.   Was ich dann sah, ließ mir den Atem stocken. Mein Gehirn bestreikte seinen Dienst und mein Körper war plötzlich seltsam leicht. Und trotzdem … Ich verstand sofort … Ich sah sie. Die 30 Menschen, die mir ihren Rücken zugewandt hatten. Die stumm und regungslos auf den brennenden Haufen alter Holzplanken starrten, der nur wenige Meter von einem anderen Gebäude errichtet worden war. Der Geruch von verbranntem Holz brannte in meinem Hals, doch ich nahm natürlich auch diese andere Note darin wahr. Und ich sah auch seine Quelle. Diese längliche Gestalt, die gerade von den Flammen verzehrt wurde. Das Letzte, was ich sehen konnte, bevor die Flammen endgültig den leblosen Körper verschlungen hatten, war das reine, kristallklare Himmelsblau dieses – wahrscheinlich nicht sehr wertvollen, dafür aber wunderschönen – Topas, der ihm nicht nur sein ganzes Leben lang zur Seite gestanden hatte, sondern das nun auch im viel zu führen Tod tun würde. So, wie es der Brauch war, würden sie von nun an auch im Jenseits unzertrennlich sein. Ich spürte die Tränen heiß in meinen Augen brennen, als ich ihn noch einmal in meinem Geist sah. An dem Tag, als wir uns kennengelernt hatten. Diese Stille, die über der Gesellschaft von Colins Beerdigung lag, war erdrückend. Nur das Knistern des Feuers, das von den Windböen immer wieder angefacht wurde, war zu hören. Meine Beine zitterten mehr denn je und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Weglaufen und mich wieder einschließen? Nein. Damit verdrängte ich nur die unaufhaltsame Wirklichkeit, aber ändern würde das nichts. Es gab etwas, das ich tun konnte, um diesem grausamen Mord einen Sinn zu geben. Ihn nicht unbedeutend wirken zu lassen. Und ich hatte sie bereits entdeckt. Diese Menschen, bei denen ich jetzt sein wollte. Den Menschen, denen ich vertrauen konnte.   So leise, als würden meine Füße den Betonboden überhaupt nicht berühren, ging ich Schritt für Schritt auf sie zu. Sie hatten mich nicht bemerkt. Ihre glasigen Augen waren auf den Tanz der Flammen gerichtet, in dem gerade ein guter Freund von ihnen für immer verschwunden war. Niemals mehr würden sie ihn wiedersehen. Niemals mehr würde er die Seelensteine erforschen. Das, was er über alles liebte, war am Ende der Grund dafür, dass er so jung gehen musste. Lautlos tauchte ich in die Mitte meiner beiden Freunde ab und nahm je eine ihrer Hände in meine. Ich blickte nicht auf, als sich unsere Finger berührten, doch ich spürte den kleinen Ruck, der durch ihre Körper ging. Doch ansonsten bewegten sie sich nicht. Stumm betrachteten wir die immer kleiner werdenden Flammen im Gedenken an einen lieben Menschen, den ich leider nie richtig kennenlernen konnte.   Ich wusste weder, wie lange wir dort Hand in Hand standen, noch wie viel Zeit seit meiner Ankunft vergangen war. Das einzige, woran ich den Lauf der Zeit messen konnte, war das Aufbrechen der Trauergäste. Ich erkannte aus den Augenwinkeln die junge Frau und ihr Baby, der ich sehr kurz nach meiner Ankunft hier im Bergwerk begegnet war, und auch ein älteres Ehepaar, welches ich vom Sehen kannte. McSullen, Scarlett, Doktor Martens und selbst Sebastian und Emily, die die Zeremonie ebenfalls reglos betrachteten. Auch die Männer rund um Elias Huxley, gingen nur wenige Zentimeter an uns vorbei, doch ich würdigte sie keines Blickes. Und sie uns wahrscheinlich auch nicht. Sehr bald waren wir alleine. Das Feuer war heruntergebrannt und lediglich ein glühender Haufen schwarzen Staubs glimmte noch als Mahnmal in der Dunkelheit. „Ich hatte dich abholen wollen, doch du hattest mich weggeschickt. Ich dachte … du wärst gerne dabei gewesen.“ Adelios Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich wusste, dass er mich nicht ansah und das war in diesem Moment auch gut so. Keiner von uns dreien hatte etwas gegen ein bisschen Zeit für sich selbst einzuwenden. „Ich muss mit euch reden“, sagte ich, doch meine Stimme war mir selbst fremd. Ich umfasste ihre Hände stärker und zog sie ein Stück an die Seite. Dort, von wo aus Colins letzte Ruhestätte  wegen einer Hauswand nicht mehr zu erkennen war, stand eine Reihe von Kisten, zu denen ich sie führte. Dort angekommen ließ ich sie los und setzte mich auf das kalte, feuchte Holz, um nicht länger Angst haben zu müssen, zusammenzubrechen. Hier in diesem Hinterhof, der uns von allen Seiten her von der Außenwelt abschirmte, wähnte ich mich soweit in Sicherheit, dass ich ihnen meinen Fund zeigen konnte.   Ich wühlte in meiner Tasche und zog den zerknitterten Zettel heraus. Zitternd hielt ich ihn Jaden entgegen, der zusammen mit Adelio vor mir stehengeblieben war. Ganz automatisch griff der Rothaarige nach dem Gegenstand, fasste mit der anderen in seine Hosentasche und hielt wenige Sekunden später sein Handy griffbereit. Kurz darauf beleuchtete die eingebaute Taschenlampe die nahe Umgebung. Erst in diesem Moment konnte ich die Jungs richtig sehen. Sah die schneeweiße Haut, was bei dem gut gebräunten Adelio ziemlich merkwürdig aussah. Sah die Reste der Tränen, die sie vergossen hatten. Und ich sah den Schmerz in ihren Augen. Sie konnten nach außen hin so ruhig rüberkommen, wie sie wollten. Ich wusste es besser. Ich sah, was in ihrem Inneren vor sich ging. Und es zerriss mich schmerzlich.   Jaden entfaltete den Brief und begann zu lesen. Der Braunhaarige tat es ihm Gleich, indem er seinem etwas kleineren Freund über die Schultern sah. Ihre Augen weiteten sich mit jedem Wort, welches sie lasen. Die Trauer in ihren Augen wich einer Erkenntnis, die sogleich in Wut und Verzweiflung umschlug. Gerade, als sie den Brief zu Ende gelesen hatten und nun auf die mit Bleistift geschriebenen Zahlen starrten, fand ich meine Stimme wieder. „Ja. Das sind die Koordinaten ihres Hauptquartiers“, meinte ich voller Überzeugung. Ich wusste nicht, wann ich beschlossen hatte, diesem Gedanken zu glauben, doch ich war sicherer denn je, dass es genauso sein musste. „Und es liegt hier in Summer Hills. Direkt in dem berühmten fünf-Sterne-Luxushotel ‚Lifetime Palace‘. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)