Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 10: Vermisst -------------------- Ich spürte, wie meine Augen sich schlagartig weiteten. Natürlich hatte ich diese Theorie selbst bereits aufgestellt, aber die Art und Weise, wie Scarlett mir gegenüber eben meinen Beinahe-Tod geäußert hatte, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Nur weil ich … Es war alles nur Zufall. Bloßer Zufall …   Das Gespräch der Gruppe hatte erneut begonnen und ihre unterschiedlichen Stimmen schwirrten verloren in meinem Kopf herum, ohne, dass ich ein Wort verstand. Mein Gefühl hatte mir das Leben gerettet. Ich selber war es, die die Situation richtig gedeutet und mich gerettet hatte. Niemand anderes; nur ich. Es gab also etwas in mir, dem ich vertrauen konnte. Vielleicht war es wirklich diese Kleinigkeit, die etwas ändern, etwas ausrichten konnte. Es war noch nicht vorbei.   „Wenn die Mistkerle ihren Opfern schon in ihrer eigenen Wohnung auflauern haben wir absolut nichts in der Hand! Wie sollen wir dagegen vorgehen?“ Erst jetzt bemerkte ich, dass der dritte mir unbekannte Mann aufgesprungen war und seine Hände zu Fäusten geballt auf dem Tisch lagen. Er war ein schlaksiger, großer Mann, sodass er sich sogar bücken musste, um im Stand das Holz vor ihm berühren zu können. „Widerliche Dreckskerle …“, fluchte der Weißhäutige. „Aber vielleicht …“, begann der Doktor, der zum ersten Mal an diesem Gespräch teilnahm, stockte dann aber. Er machte schon die ganze Zeit den Eindruck, als wäre er tief in Gedanken versunken. „Was aber?“ „Vielleicht … Wenn Amelina sagt, dass die Kerle in ihrer Wohnung waren und sogar etwas angefasst hatten, na, vielleicht …“ „Fingerabdrücke!“ Der laute Schrei des Schlaksigen ließ die gesamte Runde zusammenzucken. Eine Sekunde später sank er zurück auf seinen Stuhl. „Mat! Du hast recht! Wenn sich die Typen eine Weile in ihrer Wohnung aufgehalten haben ist es gut möglich, dass sie Spuren hinterlassen haben.“ „Wir haben zwar nicht viele Möglichkeiten solche Spuren auszuwerten, aber wenn wir die Jungs im Princeton um Hilfe bitten, kriegen wir vielleicht den einen oder anderen Namen raus! Das könnte uns ein ganzes Stück weiterbringen!“   Plötzlich schlug die Stimmung schlagartig um. Der Ausdruck ihrer Gesichter wandelte sich von einem resignierten, müden zu einem erwartungsvollen, triumphierenden. Die ganze Atmosphäre erschien auf einmal weniger schwer, als die Anwesenden bedeutungsvolle Blicke austauschten. „Dann müssen wir so schnell wie möglich die Wohnung durchsuchen und hoffen, dass dort niemand eventuelle Spuren verwischt hat. Wenn die Kerle irgendeinen Fehler gemacht haben, werden wir sie finden!“ Zustimmendes Murmeln erklang von allen Seiten und mir rutschte das Herz einige Stockwerke tiefer. Hatten die wirklich vor meine Wohnung zu durchwühlen? Wie wollte ihnen das unbemerkt gelingen? Mein Zuhause …   „Ich komme mit.“ Das aufgeregte Flüstern verstummte augenblicklich. Alle Augen richteten sich auf denjenigen, dessen leise, aber feste Stimme sie nicht erwartet hatten zu hören. Mich. „Vergiss es. So ein kleines Mädchen wie dich können wir auf so einer Mission nicht gebrauchen.“ Jaden. Natürlich. Alles andere hätte mich auch gewundert. Ja, beinahe schon enttäuscht. Ein Schalter in mir switchte innerhalb einer Sekunde von viel-zu-müde-zum-Sitzen-bleiben auf stures-kleines-Mädchen-Modus. Das konnte ich auch. „Natürlich. Keine Frage. Du bist hier der Profi. Vor allem würde es mich sehr interessieren, was du machen würdest, wenn dich einer meiner sehr neugierigen Nachbarn dabei beobachten würde, wie du mit einer Gruppe in weißen Alienanzügen und silbernen Aktenkoffern vor meiner Tür stehst. Ach, und der Fall, dass tatsächlich jemand – sagen wir mal meine Mutter – in meinem Wohnzimmer sitzt und auf meine Rückkehr wartet, könnte auch äußerst unterhaltsam sein.“ Die meisten Blicke verloren ihre Standkraft, als sie bemerkten, dass ich recht hatte, doch ich war noch lange nicht fertig. „Und da du ja genau weißt, was im Gegensatz zum Normalfall plötzlich anders ist, fällt euch die ganze Suche sicherlich ziemlich leicht. Immerhin sind hier Profis am Werk.“   Oh, wie ich ihn genoss. Diesen kleinen Moment des Triumphs! Der Ausdruck des Verlierens auf seinem Gesicht! Nach den letzten Stunden, in denen immer ich diejenige war, die am Ende ihrer Kräfte war und vor Todesangst kaum atmen konnte, war es einmal an ihm den Kürzeren zu ziehen. Dass mein Herz schon bei dem bloßen Gedanken an die äußerst gefährliche Unternehmung bis in meine Füße gerutscht war, musste ich ja ihm nicht auf die Nase binden. Das nervöse Zittern meiner Hände vergrub ich in den übergroßen Taschen meines Wollpullovers. „Sie hat recht, Jaden.“ Die Rothaarige versuchte die Situation mit einem vorsichtigen Lächeln zu lockern. Ihr Blick wanderte zwischen uns hin und her. „Sie kennt ihre Wohnung am besten. Weiß, wo die Typen etwas angefasst haben könnten. Wir haben nicht viel Zeit zum Suchen. Sehr wahrscheinlich beobachten sie die Wohnung. Auch, wenn es gefährlich werden könnte, Amelina ist unverzichtbar auf dieser Mission.“ Jaden ließ ein verächtliches Schnauben hören und hatte wieder den üblichen hasserfüllten Blick auf mich gerichtet. Es kostete mich alle Kraft, um mich ihm nicht zu entziehen. „Ich befürchte, ich muss dir zustimmen, Scarlett. Aber vor der Abreise müssen wir noch einiges vorbereiten.“ Der Weihnachtsmann kratzte sich am beharrten Kinn. „Bringst du sie bitte zu Aurelia? Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht sofort auf der Straße erkannt wird.“ „Natürlich. Wir werden uns unverzüglich darum kümmern.“ Die Rothaarige stand auf und ich betrachtete das als Zeichen für mich ebenfalls aufzustehen. Ich kämpfte mich auf wackeligen Knien zur Tür hinüber. Doch ehe ich meine Hand zur Türklinke ausstrecken konnte, kamen mir die filigranen, gut manikürten Finger der jungen Frau zuvor. Sie zögerte jedoch eine halbe Sekunde, ehe sie die Tür öffnete. Beim Hinausgehen wandte sie sich ein letztes Mal an die Männer. „Ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Mal erfolgreich sein werden!“   Die Tür schlug zu und das dumpfe Grollen huschte bedrohlich den dunklen Gang entlang, bis sich die gewohnte Stille über uns legte. Nur das Klackern der Absätze von Scarletts Pumps durchbrach wie stetiges Donnern die Einsamkeit, sodass meine leisen Worte ungehört hinter uns verhallten.   „Und vielleicht löst sich das Problem ja auch ganz von alleine …“   +++++   Obwohl ich nicht mal einen Tag in dem Bergwerk verbracht hatte, hatte ich beinahe vergessen, wie sich die unbeschreibliche Hitze des Sommers auf meiner Haut anfühlte. Ich hatte das Gefühl, dass schon nach nicht mal einer Minute ein neuer Sonnenbrand meine Schultern überzog. Auch, wenn natürlich nichts dergleichen zu sehen war.   Doch über dem Horizont waren die ersten Anzeichen eines Wetterwechsels kaum noch zu übersehen. Riesige, beinahe schwarze Gewitterwolken türmten sich dutzende Kilometer hinauf in den Himmel und die ersten Lichtblitze flammten zwischen den dunklen Ungetümen auf. Wie bissige Schlangen suchten sie sich zischend einen Weg in Richtung Erde. Ein weiteres Sommergewitter würde sich jeden Moment über der Stadt entladen. „Das kann uns nur helfen“, bemerkte Jaden, der auf der anderen Seite des Autos ebenso wie ich an die Karosserie gelehnt dastand. „Kommt drauf an, ob wir rechtzeitig ankommen, bevor uns der Himmel auf den Kopf fällt“, gab ich sarkastisch zurück. Ich hatte das Gefühl, dass das Zittern meiner Beine das ganze Auto zum Beben brachte. Ein belustigtes Schnauben ertönte. „Was ist los? Bekommt unsere kleine Heldin etwa doch Muffensausen?“ Ich biss mir auf die Lippe, um die aufkommenden Beschimpfungen besser herunterschlucken zu können. Jetzt war nicht die Zeit für so etwas.   Ein knarzendes Geräusch im Inneren des Kleinwagens ertönte und eine verzerrte Stimme verkündete den Start unserer Mission. Das Zeichen für uns. Schnell stiegen wir zurück in das kleine, silberfarbene Auto und Jaden steuerte uns über die Stadtgrenze. Wir hatten einen Umweg von gut einer halben Stunde in Kauf genommen, um die Stadt nicht über dieselbe Straße zu betreten, auf der wir sie letztes Mal verlassen hatten. Ich fühlte mich unwohl. Aus reiner Gewohnheit wanderte eine meiner Hände immer wieder in Richtung meines Halses. Dort, wo er normalerweise hing. Mein Segensstein. Doch diesmal fasste ich nur ins Leere. Es war mir wirklich schwergefallen zuzugeben, dass es viel zu gefährlich war, ihn mitzunehmen. Dass die Gefahr deswegen erkannt zu werden oder den Anhänger in der Aufregung zu verlieren sehr groß war, war unbestreitbar. Dieses Risiko konnte ich einfach nicht eingehen. Doch einfach in meinem Zimmer liegen lassen konnte ich ihn auch nicht. Es hätte mich innerlich zerrissen nicht zu wissen, ob etwas mit meiner Kette passiert war oder nicht. Ohne meinen Seelenstein war ich rein gar nichts. Letzten Endes hatte ich sie Aurelia bis zu meiner Rückkehr anvertraut. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Das war meine einzige Möglichkeit.   Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Hals, als wir meiner Wohnung immer näher kamen. Die Stadt lag beinahe verlassen da. Die Tatsache, dass es früher Sonntagnachmittag war und die bedrohlichen Wolken jeden Moment eine beträchtliche Menge an Regen auf uns niederregnen lassen würde, lockte wohl nicht viele Menschen vor die Tür. Trotz des freien Tages. Ein Geruch, den ich sehr gut kannte, hing in der Luft und schlich sich sogar durch die teilweise offenen Scheiben des Wagens. Er beantwortete meine unausgesprochene Frage nach dem Verbleib der Bewohner. An jeder Ecke duftete es erneut nach gewürztem Fleisch und Würsten vom Grill. Über den Balkonen und Gärten der Häuser hingen kleine Dunstwolken und vermischten sich mit dem Grau über ihnen. Beinahe hätte sich bei dem Gedanken an die Menschen, die eben noch draußen zusammen gegessen und gelacht hatten, und nun panisch vor dem kommenden Regen flüchteten, ein kleines Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. Doch dieses Lächeln blieb mir im Hals stecken.   Wir hatten das Viertel erreicht, in dem ich wohnte, und das seltsame Gefühl einer erfüllten Vorahnung machte sich in mir breit, als ich das Erste ganz in der Nähe an einem Laternenpfahl entdeckte. Trotz des schummrigen Lichtes sah ich jedes einzelne von ihnen. Beinahe so, als würden sie von selbst leuchten und sich als Bilder in meine Augäpfel brennen. Die Fotos darauf waren nicht groß. Zwei kleine Bilder; direkt nebeneinander angeordnet. Eins hatte ich bisher nie gesehen. Es zeigte eine junge, schwarzhaarige Frau umgeben von ihren zwei besten Freundinnen. Sie grinsten fröhlich der Kamera entgegen, während eine mit ihrem ausgestreckten Arm das Handy hielt und den Auslöser betätigte. Das andere zeigte dieselbe junge Frau auf einem Passfoto, das mittlerweile auch schon ein Jahr oder älter sein musste. Darunter prangten einige wenige Buchstaben in einer Größe und Farbe, die jeden Betrachter unfreiwillig auf sich aufmerksam machten. MISSING. Das Kleingedruckte konnte ich nicht lesen. Nur die Nummer am unteren Ende – eine Handynummer – kam mir sehr bekannt vor. Dutzende Male hatte ich diese in meinem Leben bereits gewählt und jedes einzelne Mal bohrte sich nun drängend in meinen Kopf. Wie eine glühende Klinge.   Obwohl ich versuchte sie zurückzuhalten, verwässerten bereits zahllose Tränen meine Augen. Ich fühlte mich, als würde ich ersticken. Immer wieder starrte ich auf die Flyer, die an jede mögliche Stelle entlang des gesamten Häuserblocks geheftet waren und jedes Mal versetzten die Fotos – Fotos von mir – mir einen schmerzhaften Stich ins Herz. Ich wandte meinen Blick ab und versuchte ihn verzweifelt auf die raue Oberfläche des Armaturenbretts zu richten, um meine Umgebung nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Sekunden später trommelten riesige Regentropfen auf die Scheiben und verzerrten die Welt vor dem Seitenfenster zu einer wirbelnden, grauen Masse. Ich nahm das alles nur am Rand wahr. Ich konzentrierte mich darauf, wieder regelmäßig zu atmen und die Tränen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um in Selbstmitleid zu versinken. Ich hatte nur eine Chance das Ganze zum Guten zu wenden, wenn ich mich jetzt zusammenriss. Zum Zusammenbrechen war später immer noch Zeit.   Der Wagen hielt abrupt und ich wandte meinen Blick zurück zum Seitenfenster. Die verschwommene Silhouette der Haustür meines Wohnhauses lag nur wenige Meter von unserem Parkplatz entfernt. Es würde also gleich losgehen. Jadens Blick schweifte immer wieder angespannt über die beinahe menschenleere Straße. Lediglich die zahlreichen, geparkten Autos der ansässigen Bewohner tupften bunte Farbkleckse in die graue Betonlandschaft. Wie kleine Blumen auf einer gemalten Wiese. Ich sog erschrocken die Luft ein, als Menschen dicht an meinem Fenster entlangliefen. Erst beim zweiten Blick erkannte ich zwei jüngere Frauen in sommerlichen Outfits, die sich kichernd gemeinsam unter einen Klappregenschirm zwängten und versuchten nicht allzu nass zu werden. Es dauerte nur Sekunden, ehe sie von den Hochhäusern verschluckt wurden.   Ansonsten schien alles ruhig und verlassen. Wir konnten die Sache also schnell hinter uns bringen. Ich streckte mich ein letztes Mal, zog das von Scarlett geborgte, rote Kleid zurecht und sorgte dafür, dass auch die letzte Strähne meines schwarzen Haares ebenfalls unter der blond gelockten Perücke verschwand. Ich knetete meine vor Schweiß nassen Finger ein letztes Mal und streckte meine Hand nach der Autotürklinke aus, als sich plötzlich etwas Warmes auf meine nackte Schulter legte. Ich zuckte vor der Hand zurück und drehte mich um. Jaden starrte mir entgegen. Sah direkt in meine Augen. Seine Hand ruhte auf meiner Schulter; sein Körper war leicht in meine Richtung gebeugt. Sein Blick war so … intensiv, so ungewohnt freundlich, dass sich in mir sofort so etwas wie Misstrauen regte. Wenn auch ein anderes Gefühl dieses deutlich überlagerte. Meine Haut glühte unter seinen Fingern. „Das könnte durchaus gefährlich werden. Geh keine unnötigen Risiken ein.“ Wenn seine Stimme nicht so monoton und geschäftsmäßig geklungen hätte, hätte ich wirklich angenommen, er könnte sich doch ein wenig Sorgen um mich machen. So hingegen klang es eher nach einer gewollt netten Version von „Steh mir nicht im Weg“. Trotzdem versuchte ich die Stimmung (und mich selber) nicht weiter aufzuheizen und nickte bloß zur Bestätigung. Gleich darauf zog er seine Hand zurück, um sich ebenfalls seiner Autotür zuzuwenden. Schnell zog ich an dem kleinen Plastikgriff und war erleichtert die frische und inzwischen ein wenig abgekühlte Luft in meinen Lungen zu spüren. Der Regen perlte angenehm warm von meiner verschwitzten Haut ab.   Trotzdem warteten wir nicht lange und eilten die wenigen Meter die Straße hinunter. Der Vorhang aus Wasser war so dicht, dass wir kaum mehr als einige Meter weit gucken konnten. Alles andere wurde wie in grauen Nebel gehüllt. Erst als wir die Tür des Gebäudekomplexes erreicht hatten, hielten wir inne. Meine Haustürschlüssel lagen bereits oben in der gemusterten Handtasche bereit, sodass sich der Eingang innerhalb weniger Sekunden öffnete und wir wieder im Trockenen standen. Nun musste es schnell gehen. Wir liefen hinüber zur Treppe und ignorierten den wartenden Aufzug. So sollten wir die Chancen minimieren jemandem zu begegnen. Außerdem wären wir auf der Treppe viel flexibler. Meinten die anderen zumindest. Und die mussten es ja wissen. Während des ganzen Weges hielt ich meinen Kopf nach unten gerichtet, um die strähnigen Haare der Perücke mein Gesicht verdecken zu lassen. Jeder bunte Klecks der wild gemusterten Steintreppe brannte sich mit erschreckender Intensität in meinen Kopf. Jede Sekunde rechnete ich damit, dass etwas passierte. Ein verblüffter Aufschrei, das Öffnen einer der Haustüren oder – was noch viel schlimmer war – das Aufflammen eines so stechenden Schmerzes, der nur von einer Schusswunde verursacht werden könnte. Niemand durfte wissen, dass ich hier war. Niemand durfte mich erkennen … So schnell, aber auch so leise wie möglich, erklommen wir die vier Etagen, bis wir vor meiner dunkelgrauen Wohnungstür standen. Ich warf einen kurzen Blick auf den Eingang meiner direkten Nachbarn und stellte erleichtert fest, dass der Platz im Flur, auf dem immer Schuhe standen wenn jemand Zuhause war, wie so oft leer war. „Die Nachbarn sind nicht da“, bemerkte ich leise, um Jaden über meine Entdeckung zu informieren und widmete mich ohne seine Antwort abzuwarten dem Schloss. Die Tür klickte und glitt auf. Sofort schob sich der Rothaarige an mir vorbei, um als erster die Wohnung zu betreten. Mir war das gar nicht mal so unrecht. Mehr und mehr überkam mich ein schlechtes Gefühl und musste erneut gegen die Tränen kämpfen. Würde mir das jetzt jedes Mal so gehen, wenn ich mein Zuhause betrat? Würde ich hier nie wieder ohne Angst leben können?   Ich ließ die Tür hinter mir leise ins Schloss fallen und sah gerade noch, wie Jaden in mein Schlafzimmer verschwand. Heute Morgen hatte ich noch gedacht, dass es mir furchtbar peinlich wäre, wenn er meine Wohnung durchsuchen würde, doch seltsamerweise blieb das Gefühl aus. Bis auf Angst und Unsicherheit schien ich gar nichts empfinden zu können.   Es dauerte nicht lange, bis ein melodisches Geräusch die Stille zerriss. Panisch zuckte ich zusammen, bis ich begriff, dass das das Zeichen war, auf das ich eigentlich hatte warten sollen. „Mach auf“, meinte Jaden, der gerade das Badezimmer verlassen hatte, und schaltete sein Handy wieder stumm. Ich drückte den Schalter, um die Haustür zu öffnen und wartete ungeduldig, bis ich mehrere Männer durch den Spion erkennen könnte. Zögerlich fasste ich nach der Klinke und ließ die Gruppe eintreten. Das waren sie also. Drei weitere Männer - allesamt mit Koffern bewaffnet - betraten meinen Flur und ich ließ sie gewähren. Ich wusste nicht viel über sie. Nur, dass sie von einem Forschungsinstitut kamen, an dem junge Wissenschaftler in allen Bereichen lernten und ausgebildet wurden. Daher kam wohl auch die Ausrüstung (Die natürlich nur „ausgeliehen“ war). Nervös stand ich in der Ecke und wartete auf meinen Einsatz. Jaden erklärte ihnen kurz die Lage, was die Männer lediglich mit einem Nicken bedachten. Als das Gespräch endete, wandten sich alle in meine Richtung. Der blonde Mann, der mir am nächsten Stand, nickte mir zu und ich verstand.   Ich schob mich an der Meute in meinem kleinen Flur vorbei und betrat das Wohnzimmer. Sofort befiel mich ein Gefühl von Zuhause-Sein. Der ganze Trott – aufstehen, zur Schule gehen, mit meiner Mutter telefonieren – erschien plötzlich nicht mehr wie ein Traum. Es fühlte sich für einen kurzen Moment wieder real an. Doch die Realität holte mich schnell wieder ein. Das Krachen des Donners nahm ich gar nicht wahr, als ich im Schein der gelegentlichen Blitze das Zimmer inspizierte. Tatsächlich fielen mir einige Sachen auf, die mir merkwürdig vorkamen. Die Angst umklammerte mein Herz fester. „Da, der Glastisch. Die Fernbedienung liegt da sonst nicht und die Tischdecke ist ein wenig verschoben. Zu weit links. Das Regal. Die beiden Vasen sind vertauscht. Die Gardine. Die Befestigung hat sich abgelöst.“ War das ich, die da sprach? Ich kannte diese Stimme nicht. Sie hatte so etwas … Mechanisches an sich. Und doch spürte ich es. Ich fühlte, wie jedes Wort in meinem Kopf vibrierte. Wie ich darum kämpfte, stark zu sein.   Auch in den anderen Räumen entdeckte ich einige winzige Dinge, die mich störten. Doch bei den meisten wusste ich nicht, ob vielleicht doch ich die Verursacherin war. Stand die Tasse wirklich da, als ich gegangen war? Hatte ich das Geschirrtuch runtergeschmissen? Warum lag mein Seidenschal auf der Kommode und hing nicht an einem der Haken? Doch es hieß, dass ich mir da keine Gedanken drüber machen und einfach weiter machen sollte.   Erst, als ich nichts mehr entdeckten konnte, gingen die Männer an die Arbeit. Ich warf einen kurzen Blick in einen der silbernen Koffer und entdeckte eine ganze Laborausrüstung. So wie sie die Fernsehkriminologen immer bei sich trugen, wenn sie einen Tatort untersuchten. Das war meine Wohnung, mein Zufluchtsort, also. Ein Tatort.   Ich verließ die Küche und zog mich in den Flur zurück. In einer dunklen Ecke nahe der Tür blieb ich stehen. Ich wollte nicht stören. Konnte nicht zusehen. Nervös fuhr ich mir mit den Händen über die immer noch nassen und verschorften Unterarme. Verbände wären zu auffällig gewesen, also mussten diese für die Tarnung weichen. Der Doc hatte zwar Protest eingelegt, doch das hatte niemanden gestört. Mir wurde immer noch ein wenig schlecht, wenn ich die lange Narbe und die vielen Kratzer sah und vermied es daher meine Arme eingehender zu studieren.   Ich zählte die Blitze, die durch die verschiedenen, offenen Türen in den Flur fielen und verzerrte Muster auf den Holzboden zeichneten. Es war totenstill. Ich konnte kaum glauben, dass außer mir noch weitere vier Personen anwesend waren. Selbst beim Gehen schienen sie keinerlei Geräusche zu machen. Es war richtig unheimlich. Erst als neben mir zwei weitere Personen im Flur auftauchten verstand ich, dass das Ziel vorerst erreicht war. Die beiden jungen Männer verließen als erste die Wohnung, danach folgte der Dritte von ihnen, bis nur noch Jaden und ich da waren. Wir ließen erneut einige Minuten vergehen, bis der Rothaarige stumm in Richtung Tür zeigte. Das Zeichen zum Gehen. Er schlüpfte als erster hindurch, doch ich zögerte. Wollte ich wirklich gehen? Konnte ich mich nicht einfach hier einschließen und warten, bis die ganze Sache vorbei war? Warum musste ich gehen, obwohl ich bleiben wollte? Doch ich kannte die Antwort. Ich hatte es bereits selbst erlebt. Doch gerade, als ich ihm folgen wollte, fiel mein Blick noch einmal auf die Kommode neben der Tür. Das Buch, welches meine Eltern mir zum Geburtstag geschenkt hatten, lag immer noch verlassen da. Mein Geschenk. Extra für mich ausgesucht. Meine Eltern … Was sie jetzt wohl machten? „Komm schon!“ Ich zuckte zusammen und eilte aus der Tür.   Dass ich das Buch mitgenommen hatte, bemerkte ich erst, als wir bereits die Treppe herunter eilten. Das ältere Ehepaar, das gerade den Fahrstuhl betrat, als wir auf der untersten Etage angekommen waren, beachtete uns nicht eine Sekunde lang. Die Anonymität der Großstadt. Manchmal hatte sie doch Vorteile.   Der Regen war stärker geworden. Ich schlang meine Arme schützend um das Buch und hätte dabei beinahe meine Handtasche fallen gelassen. Wir huschten über den nassen Beton und ich seufzte geräuschlos, als mich das Metall des Autos wieder umschloss. Jaden verschwendete keine Sekunde und lenkte den Wagen sofort aus dem Wohnviertel heraus. Wenig später waren wir nur noch ein Kleinwagen von vielen.   Ich holte tief Luft und merkte erst jetzt, dass ich sie bei unserer Flucht angehalten haben musste. Meine Lungen schrien bereits nach Sauerstoff. Erst, als die dunklen Riesen im Rückspiegel langsam immer kleiner wurden, begriff ich, dass wir es geschafft hatten. Die ganze Aktion hatte keine 15 Minuten gedauert. Jetzt, wo ich wieder atmen konnte, musste ich zugeben, dass ich ein wenig beeindruckt war. Ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich so heimlich, still und leise vonstattengehen konnte. Und wenn die Spuren jetzt noch einen kleinen Hinweis geben konnten, konnte ich vielleicht bald wieder nach Hause …   Meine Finger krallten sich fester um den Handgriff der Türverkleidung, als Jaden auf die betonierte Straße abbog. Zwar war das nicht die Straße, auf der ich das erste Mal in Richtung Miene gefahren war, aber das hieß nicht, dass die noch in viel besserem Zustand war. Immerhin war sie mit unserem Kleinwagen noch befahrbar. Wenn man den größeren Schlaglöchern auswich, jedenfalls. Kurz bevor wir das Bergwerksgelände erreicht hatten, bog Jaden in einen kleinen Trampelpfad ab und stellte den Motor ab. Ich musste wohl ein fragendes Geräusch von mir gegeben haben, denn der Rothaarige wandte sich mir kurz zu. „Wir gehen von hier an zu Fuß. Unser Versteck würde auffliegen, wenn ständig Autos in ein abgeriegeltes Gelände fahren würden.“ „Und das Auto?“ „Darum kümmert sich später jemand. Und hör bitte auf zu weinen, ja? Für eine Möchtegernheldin war das wirklich nicht schlecht.“ Ich zuckte zusammen. Was? Ich hob meine zitternden Finger und erschrak, als ich wirklich etwas Feuchtes auf meinen Wangen spürte. Oh nein, nein, nein! Wieso bloß? Beschämt wischte ich die lästigen Spuren von meiner Haut. „Ich weine doch gar nicht. Das ist nur der Regen“, meinte ich kleinlaut und hätte mich selber für diesen Spruch ohrfeigen können. Wie kindisch und klischeehaft war das denn bitte? „Na dann ist ja gut. Und jetzt komm.“ Kurz bevor Jaden als erster ausstieg, konnte ich noch ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. Machte er sich schon wieder über mich lustig?   Die Tür schlug hinter ihm zu und ich warf einen letzten, resignierten Blick auf die Wassertropfen, die immer noch gegen die Frontscheibe schlugen, bevor ich ihm widerwillig nach draußen folgte. Als das kalte Wasser auf meine Haut traf, zuckte ich kurz zusammen. In der Stadt hatte es sich irgendwie angenehmer und wärmer angefühlt. Zumindest war ich froh, dass ich es geschafft hatte, das dicke Buch doch noch in der eigentlich zu kleinen Handtasche zu verstauen. So würde es wenigstens keinen Schaden nehmen.   So schnell ich konnte hüpfte ich über Stöcke und Steine und zwängte mich durch dichtes Gebüsch, um Jaden wieder einzuholen, dem es scheinbar nicht mal in den Sinn gekommen war, auf mich zu warten. Vielleicht hoffte er ja, dass ich mich verlief und elendig im Wald verhungerte? Also, den Gefallen würde ich ihm sicher nicht tun! Das schwere Buch in meiner Tasche verfluchend, kletterte ich über eine riesige, umgefallene Eiche, die meinen Weg versperrte; immer darauf bedacht das Kleid nicht zu zerreißen. Beinahe erleichtert sprang ich die letzten Zentimeter von der Astgabelung herunter, nur um kurz darauf erschrocken innezuhalten. Direkt vor mir ragte ein drei Meter hoher Elektrozaun in den verregneten Himmel, dessen Top durch zusätzlichen Stacheldraht verstärkt wurde. Da wollten wir wirklich drüber? „Amelina, hier drüben!“ Ich drehte mich zu der Stimme um und sah, wie Jaden bereits ungeduldig auf mich wartete. Mir einer Hand schob er das Metall des Zauns soweit zur Seite, dass ein Durchkommen an dieser Stelle ohne Probleme möglich war. Und Strom gab es offensichtlich auch nicht mehr. Ich schlidderte durch den Matsch zu ihm hinüber und duckte mich durch die Öffnung. Der beinahe schon bekannte Anblick von verrostetem Metall und geborstenem Beton begrüßte mich und es dauerte nicht lange, bis sich einige Schatten zu lösen schienen. Als Jaden neben mich trat, nickte er den zwei durchnässten Männern zu, welche uns bedeuteten ihnen zu folgen. Nervös schloss ich mich der kleinen Gruppe an und wartete darauf, dass die Dunkelheit des Gebirges mich wieder verschluckte.   +++++   Der Aufruhr war groß gewesen. McSullen hatte bereits auf uns gewartet. Und auch die anderen Herrschaften der Verschwörungsgruppe kamen sofort herbeigeeilt, als sie von unserer Ankunft hörten. Mir hingegen war das alles egal. Mir war kalt, ich war klatschnass, hatte Hunger und war müder als je zuvor. Dass ich die nasse Perücke schon eine Weile hinter mir her schleifte, schien ebenfalls niemanden zu stören. Mich am wenigsten. Konnte Jaden denen doch alles erzählen. Ich kleines Mädchen hätte das wahrscheinlich eh nicht gut genug gemacht.   „Aurelia? Bring Amelina doch bitte in ihr Zimmer, ja?“ Ich war aufgeschreckt, als ich meinen Namen gehört hatte und bemerkte die Anwesenheit der Blonden, die ihrem … Freund gerade um den Hals hing, erst in diesem Moment. Widerwillig schien sie ihn loszulassen, verabschiedete sich mit den Worten „Bis gleich“ und zog mich regelrecht hinter sich her. Warum sie es so eilig hatte, konnte ich mir gut denken. Sofort, als sie bei mir war, griff sie in eine ihrer Hosentaschen und streckte mir die Hand entgegen. Dort lag er. Funkelnd. So, wie ich ihn zurückgelassen hatte. Überglücklich nahm ich die Kette mit meinem Segensstein entgegen und legte sie sogleich wieder um. Das vertraute Gewicht drückte Sekunden gegen meine Haut. Wir waren erst wenige Meter weit gekommen, ehe ein lautes Schrillen ertönte und die junge Frau etwas aus ihrer Tasche zog: Ein altes Funkgerät.   Ich verstand nicht viel, nur, dass es wohl doch Schwierigkeiten gegeben hatte. Zwar nicht bei uns, aber bei den anderen Männern. Waren sie entdeckt worden? Ging es ihnen gut? Doch ich war zu müde, um groß den Mund zu öffnen und zu fragen. Ich beobachtete ihren starren Gesichtsausdruck noch eine Weile, ehe sie das Funkgerät zurück in ihre Hosentasche steckte und mich grob bei den Schultern packte. „Es ist nicht mehr weit bis zu deinem Zimmer, okay? Das schaffst du auch alleine! Ich muss dringend wieder zurück!“ Ich nickte hölzern. „Super. Nur noch da vorne“´, sie zeigte auf die nächste Abbiegung, „nach rechts, dann wieder rechts und noch einmal links, dann erkennst du schon das Badezimmer. Mach dich erst einmal frisch und ruh dich aus. Ich komme später nochmal vorbei!“   Und schon war sie weg und ich alleine. Ich seufzte tief. Mit schweren Schritten folgte ich ihren Anweisungen und konnte tatsächlich, trotz der außergewöhnlichen Dunkelheit, am Ende des Ganges die Tür zum Badezimmer erkennen. Eine oder sogar mehrere Lampen mussten wohl defekt sein. Doch einen geraden, ebenen Gang würde ich wohl auch noch im Dunkeln entlanglaufen können. Und trotzdem … Dieses beklemmende Gefühl ließ mich einfach nicht los. Ein leises Knartschen hinter mir ließ mich ruckartig innehalten.   „Gib ihn mir …“ Mein Atem stockte. Ich spürte, wie sich jedes einzelne meiner Haare langsam aufrichtete. Da war doch …? „Ist … da wer?“ Meine Stimme klang ungewöhnlich laut in der Dunkelheit. Wieso war ich auch gerade an einer Stelle stehen geblieben, die das Licht so gut wie gar nicht erreichte? Ich sollte einfach weitergehen und so tun, als hätte ich nichts gehört. Schnell. Doch ich hätte es vorher wissen müssen. So etwas wie „Glück“ hatte ich nicht.   Ich konnte nicht mal einen Schritt machen, ehe ich schmerzhaft mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Das einzige, was ich in der Dunkelheit erkennen konnte, waren die wirren Augen des Mannes, der auf mir saß und mich mit aller Macht auf den Boden drückte. Der Schrei blieb mir in der Kehle stecken.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)