Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 8: Seelenlos -------------------- Das gleißende Licht blendete noch immer meine Augen. Auch nach der halben Stunde, die wir schon hier sein mussten. Nach der Dunkelheit, durch die wir uns lange bewegt hatten, war dieses grelle Licht richtig unangenehm. Und mein noch immer wild schlagendes Herz machte das Ganze nicht besser.   „So, das hätten wir.“ Die Stimme des Doktors erklang neben mir, als er sich von seinem quietschenden Stuhl aufrichtete und die weiße Box – in der sich das Verbandszeug befand – zurück in einen alten Medizinschrank stellte. Als er sich wieder lächelnd mir zuwandte, nickte ich ihm kurz zu und betrachtete die Frischen Bandagen und Pflaster an meinen Armen und Beinen. „Danke“, meinte ich leise und rutschte unruhig auf dem kleinen Krankenbett hin und her. Jaden war gleich, nachdem sie mich hier in die Krankenstation – wie sie es nannten – gebracht hatten, mit dem furchteinflößenden Typ verschwunden. Sie meinten nur, ich solle hier warten. Ein grauhaariger Mann hatte mich gleich beim Betreten des Raumes in Empfang genommen und meine Wunden versorgt. Er war wirklich nett. Etwas an ihm erinnerte mich an meinen verstorbenen Großvater, was mir bei jedem Blick auf ihn wieder bewusst wurde. Und mir ehrlich gesagt auch ein wenig unheimlich war. „Mach dir keine Sorgen, Amelina. Hier bei uns bist du sicher. Diese schwarzen Männer können dich hier nicht finden, das verspreche ich dir!“ Doktor Martens, den alle wohl nur Doc oder Mat nannten, hatte sich wieder auf den Stuhl vor mir gesetzt und sah mich aus seinen dunkelgrünen Augen an. Einige graue Haarsträhnen hingen ihm verschwitzt im Gesicht. In seinem Blick lag etwas Mitfühlendes, doch mein Kopf weigerte sich, sich darauf einzulassen. Ich rückte soweit auf dem Bett nach hinten, dass ich gegen die Betonwand stieß und zog meine Beine dicht an meinen Oberkörper heran, um sie anschließend mit meinen Armen an mich zu drücken. Meine schwarzen Haare schoben sich schwer über meine Schultern. „Aber ich will das hier doch gar nicht! Ich will zurück nach Hause! Meine Eltern, meine Freunde … Sie machen sich doch Sorgen um mich!“ Meine Stimme war so leise, dass ich sie selbst kaum hören konnte. Ein dicker Kloß blockierte meinen Hals, als ich daran dachte, wie meine Mutter bei mir anrief und ich nicht ans Telefon ging. Sie würde sich riesige Sorgen machen! Und nach spätestens einem Tag würde sie vor meiner Tür stehen, in der Annahme, mir wäre sonst was passiert! „Das kann ich sehr gut verstehen, aber du musst einsehen, dass es richtig war, was du getan hast! Du könntest sonst jetzt tot sein. Weißt du …“   Ich hörte kaum auf seine Worte, die wie ein Buch aus ihm heraussprudelten. Wollte sie auch gar nicht hören. Mir war es in dem Moment völlig egal, was richtig oder falsch war. Wieso war ich überhaupt mit Jaden mitgegangen? Warum hatte ich das getan? Wieso bin ich nicht sonst wo hin geflüchtet? Die Frau am Rezeptionstresen des Hotels hätte bestimmt die Polizei rufen können, wenn ich dort einen Aufstand gemacht hätte. Wenn ich meiner Familie doch bloß alles erzählen könnte …   Der Gedanke erschreckte mich. Wie ein schwerer Stein, der die Wasseroberfläche eines Sees durchbrach, kam mir plötzlich diese Idee. Warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht? So schnell, dass einige meiner Gelenke knackten, entrollte ich mich aus meiner starren Position und warf mich auf die rechte Seite des Bettes. Dort, auf dem kleinen, metallischen Beistelltisch stand meine schwarze Tasche. Die, die ich überall mit hinnahm. Die, in der ich alles Wichtige aufbewahrte. Ich griff mir den dreckigen Stoff und zog sie zu mir auf das Bett. Mit einer schnellen Bewegung zog ich den Reißverschluss auf und wühlte einige Sekunden im Inneren herum, bis der flache Gegenstand über meine Finger streifte. Beinahe schon abgrundtief erleichtert griff ich nach dem Gerät und nahm es in beide Hände. Wie die Tasche von meinen Beinen herunterfiel, bemerkte ich gar nicht. In diesem Augenblick zählte nur dieser eine Gedanke in meinem Kopf: Ich konnte sie anrufen! Ihnen alles erklären! Meine Eltern wussten bestimmt einen Ausweg!   Ich nahm nur dumpf wahr, wie der Doktor protestierte, als er meine Absicht erkannt hatte. Routiniert streiften meine Finger über das Touchscreen, bis sie endlich den gewünschten Telefonbucheintrag gefunden hatten und ich nur noch kurz davor war, die Anrufen-Taste zu drücken. Viel Empfang hatte ich hier mitten im Berg natürlich nicht, aber sie schienen irgendwas angestellt zu haben, das es trotzdem ging. Doch es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis dieser Traum wieder zerplatze. Es war, als ob man mir alle Hoffnung, alles Leben mit einem Schlag aus dem Körper gesaugt hätte. Verzweifelt versuchte ich noch das Handy wieder an mich zu bringen, doch Jaden hatte den Raum bereits wieder durchquert. Das Telefon ruhte schwarz in seiner Hand. „Andrè wird sich darum kümmern. Wir können kein Risiko eingehen.“ Obwohl er die Worte zu dem Narbentypen in die entgegengesetzte Richtung sprach, konnte ich jedes Wort verstehen. Sofort beschlich mich ein ungutes Gefühl … „Was meinst du mit „sich darum kümmern“? Das ist mein Handy! Gib mir das wieder!“, zischte ich dem Rothaarigen entgegen und ignorierte die Blicke der beiden anderen Männer. Jadens eisblaue Augen starrten mich dunkel an. „Dein Telefon kann geortet werden und dass würde alle hier Anwesenden in Gefahr bringen. Geheime Verstecke sind nur gut, solange sie auch geheim sind.“ Der Glatzköpfige grinste, was seine kantigen Gesichtszüge merkwürdig verzerrte. „Freundlich wie eh und je, Jaden.“ „McSullen!“ Jetzt mischte sich auch der Doc ein und der seltsame Mann reagierte. „Das Mädchen hat keine Ahnung, was hier überhaupt vor sich geht! Könntet ihr beiden endlich aufhören mit eurem Machogehabe alles noch schlimmer zu machen? Sie ist schon so fertig genug!“   Der Raum wurde plötzlich ganz still und ich sah gebannt von einem zum anderen. Ein intensives Gefühl von Sympathie keimte in mir auf, als mein Blick auf dem Grauhaarigen verharrte. Der Doktor schien tatsächlich zu verstehen, was ich fühlte. Es gab also jemanden, der sich dafür interessierte, wie es mir ging. Doch die Augen des Mannes, der anscheinend McSullen hieß, waren unnatürlich dunkel und hart, was die Anspannung trotz allem in mir nur noch mehr schürte. „Ist ja schon gut, Doc. Spring mir nicht gleich ans Leder.“ Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Jaden. Geh und kümmere dich um das Telefon. Danach triff dich gleich mit der Crew.“ Der Rothaarige nickte und verschwand ohne einen weiteren Blick auf mich durch die Tür. Zusammen mit meinem Telefon. Panik erfasste mich erneut. „Nein! Gebt mir mein Handy zurück! Ich muss doch meinen Eltern Bescheid geben, wo ich bin! Meine Mutter wird sich riesige Sorgen machen! Und Mary-Sae, Talamarleen und die anderen! Ich kann doch nicht einfach verschwinden!“ Mein Atem ging stoßweise. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ungeschickt versuchte ich meine Wackelpudding-Beine von der Bettkante zu schieben, doch ich hatte kaum Gefühl darin. Mein ganzer Körper zitterte und kein Muskel gehorchte mir. „Amelina, Amelina! Hör mir zu! Es ist alles in Ordnung! Beruhige dich! Die Männer werden dich umbringen, wenn du ihnen in die Arme läufst! Du musst unbedingt hier bleiben! Hier bist du sicher! Aber du kannst deiner Familie und deinen Freunden nicht Bescheid sagen. Du könntest auch sie in Gefahr bringen!“   Etwas in mir zerbrach in diesem Moment. Das Zittern stoppte. Die Panik verschwand und wich einer tauben Leere. Mein Körper erschlaffte. Die Bilder des Unfalls kamen zurück. Dieser weiße Kleinlaster … Sie hatten es auf mich abgesehen. Doch sie nahmen auch in Kauf, dass meine Freunde verletzt werden. Oder sogar Schlimmeres. Und es wäre meine Schuld gewesen. Mama, Papa, meine Freunde … Meine Hand wanderte zu meiner Brust. Dort, wo er versteckt hinter meinem Oberteil ruhte. So schwer, als würde er mich auf den Boden drücken wollen. „Ich will diesen blöden Stein nicht mehr.“ Die Worte waren kaum zu hören und doch wusste ich, dass der Doktor sie gehört haben musste, denn eine Hand lag plötzlich schwer auf meiner Schulter. „Sollen sie ihn doch haben! Ist mir doch egal. Ich will einfach nur … nach Hause.“   Sie brannten auf meinen Wangen. Heiß und nass. Ich schloss die Augen. Zog meine Beine heran. Rollte mich zusammen. Etwas in mir war zerbrochen. Nein. I c h war zerbrochen. Angst war das vorherrschende Gefühl. Und vor allem fühlte ich mich … hilflos. Ich stand einer Mauer gegenüber, die ich einfach nicht überwinden konnte. Es gab keinen Weg dran vorbei. Doch genauso wenig konnte ich zurückgehen. Etwas zog mich unbarmherzig vorwärts. Und ich wusste auch, was es war. Die Zeit. Sie blieb nicht stehen. Das Leben drängte mich weiter. Immer weiter weg von dem Weg, den ich bis vor ein paar Tagen noch gegangen war. Raus aus dem Licht; hinein in die Dunkelheit voller Schmerz und Angst.   Das konnte doch alles nur ein schlechter Scherz sein.   „Amelina? Kannst du mich hören?“ Ich schreckte auf, als das Gesicht des Doktors nur wenige Zentimeter vor meinem auftauchte. Erst in diesem Moment begriff ich, dass ich ausgestreckt auf dem Bett gelegen haben musste. Ich war völlig verwirrt. „Du hattest eine Panikattacke, aber jetzt ist alles wieder gut.“ Panik? Ich richtete meinen Oberkörper auf und ein stechender Schmerz schoss durch meinen Kopf. Kurz kniff ich lufteinziehend die Augen zusammen, ehe das Stechen wieder abklang. Der Raum war leer. Nur der Doktor und ich waren anwesend. Wann war McSullen denn gegangen? Wie lange war ich … weggetreten? „Was ist …?“, fing ich an, brach aber ab, als eine neue Welle Kopfschmerzen über mich hereinbrach. Nur wenige Momente später tauchten ein Glas Wasser und eine Tablette vor meinen Augen auf, was ich dankend annahm. „Den alten Grießgram habe ich vertrieben und der Kleine, Arrogante ist noch nicht wieder aufgetaucht.“ Ich musste schmunzeln, als ich anhand der Umschreibung McSullen und Jaden wiedererkannte. "Die quatschen viel, wenn der Tag lang ist. Sie mögen zwar gute Anführer sein, aber von Freundlichkeit haben die beiden wirklich noch nicht viel gehört. Kommt wohl davon, wenn man sich über zwei Jahre lang gegenseitig auf die Nerven geht." Das ließ mich aufhorchen. „Zwei Jahre?“ „Es dürften mittlerweile Zweieinhalb sein, wenn mich mein altes Hirn nicht im Stich lässt. Die beiden haben ganz schön Leben in die Bude gebracht, kann ich dir sagen. Erst seit ihrer Ankunft hier bei uns, konnten wir überhaupt etwas erreichen.“ Ich massierte mir mit den Fingen meine Schläfen und wartete darauf, dass die Tablette endlich ihre Wirkung entfaltete. „Erreichen? Was wollt ihr denn erreichen? Was war das hier für ein Ort?“ Der Stuhl knackte, als der Doktor sich gegen die Lehne sacken ließ. „Stimmt, du weißt gar nicht, was dir alles widerfahren ist. Ich kann dir eine kurze Einweisung geben, aber wir haben nicht viel Zeit, darum hör gut zu. Hier, in diesem bereits vor etlichen Jahren verlassenen Bergwerk, haben wir Unterschlupf gefunden. „Wir“ sind eine Gruppe von Menschen – so um die 30 -, die alle dasselbe Problem haben wie du, Amelina. Wir alle wurden wegen unserer Seelensteine gejagt.“ Als Stoff raschelte, blickte ich auf und sah gerade noch, wie der ältere Mann ein großes Skalpell aus seiner Kitteltasche zog. Während die Klinge durch eine transparente Plastikhülle geschützt wurde, prangte ein kleiner, trapezförmiger Stein im Metall des Stils. Er schimmerte, je nach Lichteinfall, in einem dunklen Grün, das bis ins Braun reichte. „Das ist ein bräunlichgrüner Edpidot. So, wie ich ihn hier in der Hand halte, ist er gute 1500 Euro wert. Das ist zwar bei Weitem nicht das Außergewöhnlichste, was es da draußen gibt, aber die Männer sind nicht wählerisch, wenn es um Geldbeschaffung geht. Außerdem sind so kleine, weniger wertvolle Edelsteine leichter zu verkaufen.“ Ein trauriges Lächeln huschte über seine blassen Lippen, als sein Blick auf dem Stein lag. „Natürlich war ich nicht das Ziel Nummer eins und nach ihrem gescheiterten Angriff haben sie mich wahrscheinlich längst wieder vergessen, aber als ich Hilfe brauchte, habe ich sie hier gefunden. Und irgendwie bin ich dann geblieben.“ Er nickte kurz. „Denn hier kann ich helfen.“   Er wandte seinen Blick von dem Segensstein und sah mir direkt ins Gesicht. Er schien etwas darin zu suchen und es anscheinend auch zu finden. „Aber du musst dir keine Sorgen machen, Amelina. Hier werden die Männer dich nicht finden. Jeder glaubt, dass dieses Gelände nach einem schlimmen Chemieunfall vor gut 30 Jahren lebensgefährlich verseucht sei.“ Ich schreckte zurück. Verseucht? Doch der Doc lachte nur. „Glaub mir, wir wissen es besser! Es gibt hier nichts, was uns schaden kann! Sonst wären wir natürlich nie hierhergekommen!“ Ich nickte hölzern und irgendwie nicht ganz so überzeugt. Er lächelte. „So, es wird Zeit“, meinte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Ein guter Freund wartet auf dich.“ Er erhob sich von seinem Stuhl und streckte mir eine helfende Hand entgegen. Ein bisschen wackelig war ich noch auf den Beinen, aber zumindest die Tablette schien mittlerweile zu helfen. Auch mein wilder Herzschlag hatte sich soweit beruhigt, dass ich wieder richtig atmen konnte. „Wie fühlst du dich?“ „Ich … Es geht mir gut“, antwortete ich knapp, da mein Hals sehr kratzte. „Das freut mich“, lächelte der Doc und begleitete mich langsam zur Tür, vor deren Schwelle uns gewohnte Dunkelheit empfing. „Überanstreng dich die nächste Zeit nicht. Du brauchst dringend noch etwas Ruhe.“ Ich nickte. „Komm, ich bring dich noch schnell dahin, damit du dich hier in diesem Irrgarten nicht verläufst. Und Amelina“, fügte er noch mit einer Ernsthaftigkeit in seiner Stimme hinzu, die mich erschaudern ließ, „Auch wenn du es gerade nicht recht glauben kannst, wir werden dir helfen, das verspreche ich dir.“   +++++   Der Raum wirkte ungewöhnlich freundlich für eine steinerne Kammer, die tief in einen Berg gehauen war. Bunte Bilder von Landschaften säumten die geraden Wände. Seen, Berge, Wälder und Blumenwiesen verliehen dem Zimmer einen Eindruck von Freiheit und Sorglosigkeit. Auch einige schön drapierte Stoffvorhänge zierten die Wände, was die kalten Mauern beinahe verdeckte. Ein hölzernes Regal ruhte an der gegenüberliegenden Wand, das von einer schweren Last aus Büchern auf den Boden gedrückt wurde. Mehrere kleine Teppiche füllten den Großteil des Raumes aus und zauberten bunte Flecken in das Grau. Außerdem befanden sich noch eine Sitzecke, bestehend aus zwei sesselähnlichen Stühlen und einem kleinen Glastisch, sowie ein Schreibtisch samt Bürostuhl in dem Zimmer. Eine kleine Glühbirne, die von einer Papierlampe umgeben war, baumelte friedlich von der Decke. Für einen Moment vergaß ich wirklich, wo ich mich gerade befand. Es war unglaublich, dass so etwas in einem alten Bergwerk existierte.   „Du musst Amelina sein, hab ich recht?“ Erschrocken wandte ich den Kopf zum Schreibtisch und bemerkte jetzt erst den Mann, der mir von dort aus entgegen sah. Seine dicken, schwarzen Haare umrahmten ein jung wirkendes Gesicht, in dem Augen in der Farbe von Milchschokolade mir entgegen blickten. Eine verwaschene Jeans und ein kurzärmeliges Hemd verstärkten den Eindruck nur. Ich besann mich auf die Frage und nickte zur Antwort. Der Schreibtischstuhl knatschte, als er sich erhob und mir die Hand entgegenstreckte. Höflich erwiderte ich den Händedruck. „Freut mich sehr, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Colin Ambush. Aber nenn mich doch bitte Colin. Das Siezen macht mich so alt. Ich bin ein anerkannter Wissenschaftler, der sich mit Segenssteinen beschäftigt.“ Er lachte. „Zumindest habe ich das, als ich noch da oben war“, grinste er und deutete mit seinem Finger Richtung Decke. „Komm, setz dich.“ Ich folgte seiner Einladung und ließ mich dankbar auf einem der Stühle nieder. Wie aus dem Nichts zauberte er plötzlich einen Teller voller Kekse und eine frische Kanne Tee hervor und stellte sie zwischen uns auf den Glastisch. Der fruchtige Duft von verschiedensten Beeren erfüllte den Raum und kleine Dampfschwaden stiegen aus der Tasse auf. Beherzt griff ich mir ein paar Kekse und ließ mich tiefer in das Polster des Stuhls sinken.   „Leider kann ich dir nicht mehr bieten, als ein paar trockene, pappige Kekse. Der Supermarkt befindet sich blöderweise nicht gerade um die Ecke.“ Ich verschluckte mich beinahe an dem Keks und würgte ihn etwas unbeholfen herunter. „Ah. Nein, danke. Kekse sind wirklich gut“, sagte ich schnell und griff nach der Tasse Tee, um den Hustenanfall im Keim zu ersticken. Wieder ein Lächeln. Doch diesmal mischte sich etwas anderes in seine Augen. „Würdest du ihn mir mal zeigen? Deinen Segensstein?“ Die Fragen waren gut durchdacht und vorsichtig ausgesprochen. Er hatte also schon von meinem … kleinen Ausraster gehört. Ohne ihm zu antworten legte ich den letzten Keks in meiner Hand in den Mund und zog an der silbernen Kette, bis das Herz samt Stein aus meinem Oberteil glitt. Ich öffnete den Verschluss und hielt ihm das glänzende Stück Metall entgegen. Ehrfürchtig öffnete er seine Handfläche, sodass ich ihm den Stein darauflegen konnte. Es war ganz still. Neugierig, und auch ein wenig beunruhigt, beobachtete ich seine Reaktion, als er mit seinen Fingern über den tropfenförmigen Diamanten strich. Sein Gesicht zeigte lediglich Interesse, doch ich hatte das Gefühl, als hätte sein Körper sich ein wenig angespannt.   „Ein wirklich schöner und außergewöhnlicher Edelstein“, durchbrach er nach einigen Minuten des Schweigens die Stille. „Einen so feuerroten Diamanten habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Wirklich außergewöhnlich.“ Ich nahm mir einen neuen Keks und knabberte nervös daran herum. Colin zauberte eine kleine Edelsteinlupe hervor, die mich mit ihrem ausgeklappten Flügel stark an ein Fernglas erinnerte. „Absolut rein. In diesem Zustand wahrscheinlich mehrere Millionen Euro wert“, meinte er, als er sein Auge an das kleine Glas presste und ich schluckte hart, als er diese immense Summe nannte. Immer wieder drehte und wendete er meinen Stein und hielt ihn jedes Mal anders gegen das Licht, um eine neue Fassette an ihm zu entdecken. Ich empfand diese Art des Starren als ziemlich unwohl, fast so, als würde es mir gelten und nicht dem Stein. Als würde er durch den Stein in mich hinein sehen.   Mein Körper spannte sich von Sekunde zu Sekunde mehr an, bis ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr aushielt. „Und, was sagst du? Ist dir irgendwas … Merkwürdiges daran aufgefallen?“ Ich bereute meine Worte, schon in diesem Moment, als sie meinen Mund verließen, doch ich wusste, dass es bereits zu spät war. Ich hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Colin ließ seine Hände sinken und sah mich an. Plötzlich galt das Starren also tatsächlich mir. Ein helles Geräusch ertönte, als er die Lupe auf den Tisch vor sich legte und mir meine Kette in die Hand legte. Ganz behutsam. Beinahe so, als könnte die kleinste Erschütterung den Gegenstand zerstören. Ich rutschte tiefer in das Polster und ließ meinen Seelenstein nicht mehr aus den Augen. „Was meinst du mit „merkwürdig“?“ Mein Magen verkrampfte. Manchmal hasste ich es, wenn die Leute auch zwischen den Zeilen lesen konnten. „Na ja …“, meinte ich leise und knetete nervös meine Finger. Jetzt war es sowieso zu spät. „Mich haben alle immer für etwas … Besonderes gehalten. Wegen des Steines. Aber … Er hat mir nur Pech gebracht. Diese ganze Sache hier! Und … Und … Einen Freund habe ich auch noch nicht.“ Ich fragte mich selber, ob die letzten Worte überhaupt hörbar gewesen waren. Es hatte sich angefühlt, als wären sie nur heiße Luft gewesen.   Eine Weile blieb es still. Mein Blick lag weiterhin auf meinem roten Diamanten, sodass ich keine Ahnung hatte, was in dem Wissenschaftler vorging. Jedenfalls wurde mir in diesem Moment bewusst, dass ich mir solche Menschen immer anders vorgestellt hatte. Wissenschaftler waren für mich verrückte, alte Typen in weißen Kitteln und mit einer Frisur, als hätten sie gerade in mehrere Steckdosen gleichzeitig gefasst. Immer aufgedreht und am wirren Zeug reden. Warum war er dann also so … ruhig? „Amelina.“ Ich zuckte zusammen, als mein Name ertönte. „Lass mich dir ein bisschen was über Segenssteine erzählen, ja?“ Er wartete auf eine Antwort. Ich nickte kurz. „Jeder Mensch wird mit einem Edelstein in der linken Hand geboren. Der Hand, die nah am Herzen liegt. Dafür, dass Segenssteine, oder auch oft Seelenssteine genannt, unser Leben bestimmen, wissen wir sehr wenig über sie. Wir kennen weder den Grund für ihre Art, die Farbe oder die Größe. Warum wurdest du mit einem Diamanten geboren? Warum ist er feuerrot? Liegt es an den Steinen der Eltern?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Meine Mutter besitzt einen orangefarbenen Feueropal und mein Vater einen braunen Zirkon. Das … würde nicht passen“, überlegte ich laut. „Es sind nicht die Eltern, nein“, fuhr Colin fort. „Wir haben Untersuchungen angestellt und viele Großfamilien erforscht, aber nirgends ließ sich ein Muster erkennen, egal, was wir auch versuchten. Es gab keinen roten Faden, der sich durch die Familien zog oder etwas, das auf die Herkunft der Steine schließen ließ. Wir stehen also diesbezüglich noch immer auf dem Schlauch. Doch es gibt einige Ansätze, die jedoch teilweise sehr verrückt klingen. Liegt es an uns? Bestimmen wir bereits vor unserer Geburt wer wir sein werden? Oder entwickeln wir uns analog zu den Steinen? Ist es also von vorn herein festgelegt, wer wir sind? Doch wer bestimmt es dann?“ Er nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. Das Getränk hatte bereits aufgehört zu dampfen. „Ein geschätzter Kollege von mir hatte einmal seine Theorie mit mir und der Welt geteilt. Er meinte, die Farbe der Steine hinge von der Farbe unserer Seele, unserer Aura ab.“ Ich schluckte. „Die Farbe unserer Seele?“ „Ja. Schon seit Jahrhunderten sind die Menschen der Meinung, dass jedes Lebewesen eine dünne, leuchtende Aura umgibt, die je nach Wesenszügen in verschiedenen Farbnuancen erstrahlt.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Meisten hielten seine Idee für unsinnig und völlig verrückt. Es konnte bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden, dass wir eine Seele besitzen und unsere Aura eine bestimmte Farbe hat. Doch ich glaube daran. Unser Wesen und die innere Kraft unserer Steine sind im Einklang. Wir ergänzen uns gegenseitig, wie zwei Seiten einer Medaille. Darum ist es den Seelenssteinen auch möglich unseren ewigen Partner zu finden. Unser zweites Ich.“ Fasziniert richtete ich meinen Blick auf Colin. Er lächelte, als er meinen interessierten Blick bemerkte. „Das heißt also, dass wir mit den Steinen verbunden sind?“ „Oh ja, und noch mehr als das.“ Er nahm sich einen Keks und begann nachdenklich daran zu knabbern. „Wir teilen mehr als die Erfahrung gemeinsam „geboren“ zu werden. Wir teilen ein ganzes Leben. Gefühle, Erlebnisse und Freude und Leid. Er ist beinahe schon ein Teil unseres Körpers. Darum fühlen wir uns auch so unwohl, beinahe schon krank, wenn der Stein einmal längere Zeit nicht in unserer Nähe ist. Auch, wenn einige Menschen es leugnen: Wir können nicht ohne einander existieren.“ Jetzt sah er wieder auf mich. „Darum ist es auch keine gute Idee mit dem Gedanken zu spielen, ihn einfach herzugeben.“ Ich spürte, wie mir das Blut sofort ins Gesicht schoss. Eine sehr unangenehme Wärme brannte auf meinen Wangen. „Aber ich … ich dachte …“, begann ich, verstummte dann aber. Ja, was habe ich eigentlich gedacht? „Natürlich hast du daran gedacht, weil es dein gutes Recht ist. Du hast Angst, das verstehe ich. Du wehrst dich gegen diese Änderung in deinem Leben und möchtest nichts sehnlicher, als wieder nach Hause zu gehen. Aber glaube mir, das ist nicht die Lösung. Du wirst doch bestimmt schon davon gehört haben, oder? Menschen, die depressiv, ja sogar verrückt geworden sind, nachdem ihnen der Segensstein entwendet wurde oder sie ihn verloren oder verkauft haben. Jeder einzelne wurde dadurch an den Rand der Verzweiflung getrieben. Und ein sehr großer Teil davon hat seinem Leben ein Ende gesetzt.“   Ich zuckte bei seinen Worten zusammen, denn ich wusste, dass sie wahr waren. Die beste Freundin meiner Mutter hat genau das durchmachen müssen. Ihr Stein wurde gestohlen, als sie auf offener Straße überfallen und ihr die Handtasche geklaut wurde. Obwohl sie unverletzt blieb, hat sie den Verlust ihres Seelenssteins nie überwunden. Auch ihre Familie hatte ihr nicht helfen können. Zwei Monate später hatte man sie erhängt in ihrem Schlafzimmer gefunden. Sie hinterließ zwei kleine Kinder. „Es gibt immer Spekulationen, wenn solch ein Fall publik wird“, erzählte Colin weiter „und viele zweifeln daran, dass der Tod dieser Menschen mit dem Verlust ihres Edelsteins zusammenhängt, doch die Zahl der Fälle, die sich mit dieser Theorie deckt, ist erschreckend hoch. Manche Menschen mögen stark genug sein, sich ein Leben ohne diesen Teil ihrer selbst aufzubauen, aber viele sind es eben nicht. Und aus diesem Grund solltest du diese Entscheidung nie unüberlegt und aus einer Laune heraus treffen. Du würdest deine Seele verlieren. Es könnte dich zerbrechen.“   Mein ganzer Körper zitterte, als es mir wirklich bewusst wurde, was Colin mir damit zu sagen versuchte. Es gab verschiedene Arten des Sterbens. Ich hätte alles nur noch schlimmer machen können. „Ich … ja, ich glaube, du hast …“ Ich blickte erneut auf und stockte, als ich ihn sah. Innerhalb weniger Sekunden schien sämtliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen zu sein und Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Die schwarzen Haare von Schweiß getränkt. Was war denn plötzlich …? „Colin? Ähm, geht es dir nicht gut?“ Seine Hände verkrampften sich vor seinem Bauch und um seine geschlossenen Augen verzog er leidend das Gesicht. Ich wollte gerade aufstehen und zu ihm gehen, als er das Gleichgewicht zu verlieren schien und mit einem leisen „Verdammt …“, vom Stuhl rutschte.   Das Letzte, was ich wahrnahm, war der riesige Blutfleck, der sich rasend schnell auf seinem grauen Hemd ausbreitete, ehe mein eigener Schrei laut in meinen Ohren dröhnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)