Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 6: Regen ---------------- „Bin ich froh, dass heute schon Freitag ist. Diese Woche war eine wahre Katastrophe! Wenn der Rest des Schuljahres auch so schrecklich wird, na dann Prost Mahlzeit!“ Ich nickte nur. Darauf wusste ich nichts zu sagen. Obwohl sie wütend klingen wollte, schlich sich doch so etwas wie Unbehagen und auch eine Spur von Angst in ihre Stimme. „Ich werde dieses Wochenende jedenfalls keinen Schritt vor die Tür machen!“ „Das klingt nach einem guten Plan.“ Talamarleens Stimme war leise, zittrig. Sie hatte den Vorfall am Vortag nicht gut verkraftet. Ich machte mir wirklich Sorgen um sie. „Hey, Tala. Mach dich nicht verrückt. Versuche einfach es zu vergessen, okay?“ Genauso, wie ich es tat. Ich spürte ihren Blick auf meinem Gesicht. Ich war mir sicher, dass sie nach etwas ganz bestimmten suchte und befürchtete, dass sie es auch fand. „Genau! Schlimmer kann es ja nicht mehr werden!“ Wir drei zuckten bei Marys Worten gleichermaßen zusammen. Eine erdrückende Stille legte sich erneut über uns, so wie sie es heute schon den ganzen Tag getan hatte. Wir waren alle mehr betroffen, als wir uns das selber eingestehen wollten.   Ich lehnte meinen Kopf an den Baum, vor dem ich saß. Mein Mittagessen ruhte so gut wie unberührt auf meinen Knien. Die Finger hatten sich bereits darum verkrampft. Ich brachte es nicht über mich etwas davon zu essen. Die dunkelgrünen Blätter wehten sanft in dem leichten Luftzug, der gerade über den Schulhof fegte. Müdigkeit drückte mich nieder. Obwohl ich gut geschlafen hatte, fühlte ich mich total kraftlos. Diese ganze Aufregung brachte meinen Körper langsam dazu zu streiken.   Eine meiner Hände löste sich von dem nicht gegessenen Brötchen und umklammerte den Gegenstand an meinem Hals. Ich konnte das Seufzen nur schwer unterdrücken. Ich war schwächer, als ich gedacht hatte. Das erste Mal seit meiner Geburt hatte ich meinen Segensstein nicht neben dem Bett liegen gehabt. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl, aber nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Im Grunde war das ja auch blöd. Was sollte sich groß ändern, ob ich ihn mitnahm oder nicht? Als ob das Unglück mich nicht finden würde, wenn er nicht da war. Der Morgen war ziemlich ruhig verlaufen. Keine Hektik, keine Panik. Diesmal war ich der Zuckerwatte in meinem Kopf ausgesprochen dankbar gewesen. Doch sie verflog so schnell, wie sie gekommen war. Gerade, als ich die Wohnung verlassen wollte, fiel mir ein rotes Blitzen auf, das von meinem Wohnzimmertisch zu kommen schien. Ich wusste sofort, worum es sich handelte und mein innerer Kampf begann erneut.   Am Ende hatte ich gute 15 Minuten reglos im Flur verharrt, bis ich wütend über mich selbst ins Wohnzimmer gestakst war und die Kette in meine Hosentasche gleiten ließ, bevor ich das Haus verließ. Deswegen war ich auch 10 Minuten zu spät zum Unterricht gekommen. Doch als meine Lehrerin gerade anfangen wollte mich zu tadeln, waren ihr die vielen Verbände aufgefallen, die mich wie eine Mumie umhüllten. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, waren ihr die Worte regelrecht im Hals stecken geblieben. Daraufhin hatte sie nur gesagt ich soll beim nächsten Mal pünktlich sein und mich zu meinem Platz geschickt. Mary hatte mir erzählt, dass sie die Geschichte bereits erzählt hatten, denn immerhin war auch Talas Haut von einigen Pflastern und Kratzern übersät gewesen. Mein Anblick hatte sie also trotz Vorwarnung überrascht.   Der Rest der Klasse war seltsam ruhig gewesen. Niemand hatte uns darauf angesprochen. Mir immer nur gute Besserung gewünscht. Wahrscheinlich hatte sie Talas starrer Gesichtsausdruck davon abgehalten, groß auf der Sache herum zu reiten. Immerhin sah sie wirklich so aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich konnte nur hoffen, dass Damian sie am Wochenende etwas beruhigen konnte.   „Damian wird das Wochenende bei mir schlafen. Meine Eltern sind ein paar Tage zu meiner Tante aufs Land gefahren.“ Ihr Versuch, das Thema zu wechseln und die Stimmung etwas zu heben, war mehr als offensichtlich, aber wir nahmen ihn gerne an. „Habt ihr was Spezielles geplant?“, fragte ich, um mich ihrem Beispiel anzuschließen. „Er hat uns ein paar DVDs besorgt. Außerdem wollen wir zusammen einen Nudelauflauf kochen.“ Sie blickte mich erleichtert an. „Er mag doch den Auflauf meiner Mutter so gerne und ich will ihm mal das Rezept beibringen.“ „Damian und kochen? Bist du sicher, dass das was wird? Vergiss nicht, er ist bei der Polizei und nicht bei der Feuerwehr.“ Mary kicherte über ihren Witz und auch uns anderen beiden schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht. Das Erste seit einer ganzen Weile. „Sag so was nicht! Er hat mir letzte Woche Spaghetti mit Tomatensoße gekocht! Die Nudeln waren nur etwas angebrannt und wir haben auch nur gute eineinhalb Stunden gebraucht, die Küche wieder sauber zu machen.“ Das Lachen, was in der Luft lag, tat uns allen mehr als gut. Es war, als würde es die schlechten Gedanken vertreiben. Sie einfach verscheuchen. Es wurde mir mehr und mehr klar: ich brauchte meine Freunde. Ohne sie würde ich das alles nicht überstehen.   Die Schulglocke klingelte und leitete die letzten zwei Schulstunden dieser Woche ein. Ich konnte es kaum noch erwarten mich endlich etwas auszuruhen.   .   Obwohl es erst Nachmittag war, lagen die ersten Schatten über den Hochhäusern der Stadt. Wolken waren aufgezogen und in der Ferne kündete ein rumpelndes Geräusch das nahende Gewitter an. Trotz der immer noch sehr schwülen Luft war bereits eine deutliche Abkühlung spürbar. Es lag der feine Geruch nach Regen in der Luft. Ich beeilte mich die Straße entlangzugehen, da ich natürlich keinen Regenschirm dabei hatte. Dem Wetterbericht hatte ich die letzten Tage scheinbar zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ich war einfach ein wenig abgelenkt gewesen.   Das Hochhaus, in dem meine Wohnung war, ragte vor mir wie ein dunkler Koloss in den Himmel auf. Seine eckige Form schien die Wolkendecke regelrecht zu zerschneiden. Das unheimliche Gelb des Himmels, tauchte die Straße in ein merkwürdiges Licht. Schnellen Schrittes verschwand ich durch die Haustür ins Innere des Wohnhauses und im gleichen Moment schaltete sich das Licht ein. Die Flure waren vollkommen leer. Ich schlüpfte in den schon bereitstehenden Fahrstuhl und nur wenige Momente später umfing mich die Dunkelheit meines Flures.   Meine Hand wanderte zu dem Lichtschalter neben der Tür, doch etwas ließ mich innehalten. Ein merkwürdiges Gefühl kroch meinen Körper hoch und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Es war ganz still. Nur der Donner, der durch die dicken Mauern gedämpft wurde, schälte sich durch die heran brechende Nacht. Mein Atem ging ungewöhnlich schnell, aber ich begriff nicht warum. Woher kam dieses schlechte Gefühl? Warum stieß mich meine eigene Wohnung in diesem Moment ab? Wieso fühlte ich mich so unbehaglich? In meinen Ohren rauschte das Blut, während ich mir den Flur noch einmal ganz genau ansah. Die Schemen meiner Kommode und des Schuhschrankes zeichneten sich gegen die weiß gestrichenen Wände ab. Nur wenig Licht fiel durch die offen gelassenen Türen. Eigentlich sah alles aus wie immer, doch ich konnte meinen Körper nicht dazu bringen sich zu bewegen. Etwas hielt mich an der Stelle, an der ich gerade stand. Hatte meine Handtasche wirklich dort auf dem Boden gelegen, als ich gegangen war? Und der Regenschirm … Lag der nicht auf der anderen Seite der Kommode?   Erneut lief mir ein Schauer über den Rücken und ich spürte, wie die Panik wuchs. Was war bloß los mit mir? Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete ich die Haustür erneut und griff nach dem nahen Regenschirm. Die Tür hinter mir schloss sich und ich eilte die Treppen hinunter. Den Fahrstuhl beachtete ich gar nicht. Dieser war mir gerade zu langsam. Ich huschte durch die Haustür und trat in den eben einsetzenden Regen hinaus. Ich konnte gerade noch den Schirm aufspannen, ehe ein Wolkenbruch auf mich nieder ging. Innerhalb weniger Sekunden stand eine zentimetertiefe Wasserschicht auf der Straße.   Meine Füße trugen mich; weg von dem Haus. Ich spürte, wie die Panik abebbte, jedoch nicht verschwand. Je länger ich lief, desto bescheuerter kam ich mir vor. Was bitte sollte diese Aktion? Wieso flüchtete ich aus meiner eigenen Wohnung? Wie blöd war ich eigentlich? Nur weil eine Tasche auf dem Boden lag? Oder wegen eines Regenschirms? Deswegen lief ich grade in Sommerklamotten und nassen Schuhen durch ein schweres Unwetter? Vielleicht … Ja, vielleicht hatte meine Mutter doch recht. Vielleicht konnte ich wirklich nicht auf mich aufpassen. Ich war wohl lange nicht so erwachsen, wie ich gerne sein wollte.   Der Regen prasselte ohrenbetäubend auf meinen Regenschirm ein. Der Donner, der nun zwischen den Hochhäusern widerhallte, ließ die Erde erbeben. Blitze warfen für Sekundenbruchteile ihr Licht auf die beinahe ausgestorbene Stadt. Kaum ein Mensch war auf den Straßen und nur wenige Autos quälten sich durch die Wassermassen, die sie wie kleine Wellen auf dem Meer vor sich her schoben. Die Lichter der Stadt funkelten in jedem einzelnen Tropfen und malten verzerrte Gemälde auf die Straßen.   Ich hielt inne, als ich die große Kreuzung am Ende des Blocks erreicht hatte. Auf der anderen Straßenseite grüßte mich der sonst so einladend wirkende Westside Park, der jetzt jedoch im zuckenden Licht der Blitze einen weniger freundlichen Eindruck machte. Ein erneutes Krachen schoss über meinen Kopf hinweg und ließ mein Herz ein weiteres Mal kurz aussetzen. Es war wohl wirklich an der Zeit, wieder nach Hause zu gehen und diesen blöden Tag einfach zu vergessen. Am besten gleich diese ganze Woche.   Ich schob meine Umhängetasche zurecht und wandte mich in die Richtung, aus der ich gekommen war. Doch ich konnte lediglich ein paar Schritte machen, ehe sich mein Körper versteifte. Ich starrte auf die schwarze Limousine, die nur wenige Meter von mir entfernt am Bordstein parkte. Kein anderes Auto war zu sehen. Mein Atem stocke und mein Herz raste, als ich bemerkte, dass die Seitenscheibe herunter gekurbelt war. Etwas Schwarzes, Glänzendes wurde mir entgegengestreckt und alles in mir verkrampfte. Ich wollte schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus. Ein heftiger Ruck zog mich zur Seite. Nur eine Sekunde, bevor etwas an meinem Gesicht vorbeizischte. Ich stolperte vorwärts, ohne zu wissen, wohin ich ging. Mein Herz verkrampfte in meiner Brust und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. „Jetzt komm schon! Schnell!“ Die Stimme ließ mich aufschrecken. Erst in dem Moment nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Die dunklen Bäume des Westside Parks zogen an mir vorbei, während ich durch den Park hechtete. Ein junger Mann hatte meinen Arm fest umklammert und zog mich mit sich. Ich musste mehrmals blinzeln, um die Regentropfen aus meinen Augen zu vertreiben, damit ich ihn sehen konnte. Erst da bemerkte ich, dass ich den Regenschirm gar nicht mehr in der Hand hielt.   Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, zischte wieder etwas an mir vorbei und ich spürte eine unangenehme Hitze, als es mich fast berührte. Ich zuckte zurück und ein Schrei entwich mir, als sich unter das andauernde Donnern noch andere Schritte mischten.   Ich schloss die Augen, als heiße Tränen in ihnen brannten. Wollte gar nicht wissen, was hinter mir passierte. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Meine Beine waren wie Wackelpudding und ich konnte, nein, ich wollte keinen Schritt mehr weiter. Die Angst lähmte mich. Panik übernahm meinen Körper; mein Denken. Ich wollte nur noch, dass es aufhörte. Doch der feste Griff um meinen Arm verstärkte sich nur noch und zog mich unnachgiebig weiter. Ich spürte, wie Äste gegen meinen Körper schlugen und versuchte den Tränenschleier wegzublinzeln. Der Junge hatte mich in das dichte Gebüsch gezogen und hechtete mit mir im Schlepptau über den matschigen Untergrund. Mit jedem Schritt schien ich mehr und mehr zu versinken und ich hatte kaum noch genug Kraft meinen Fuß zu heben. Wieso konnte es nicht endlich vorbei sein? „Du gibst jetzt nicht auf, kapiert?“ Er zog stärker; ich taumelte ihm hinterher. Mein Atem ging stoßweise und mein Oberkörper verkrampfte schmerzhaft. Ich wollte, dass er mich endlich losließ. Endlich stehen blieb.   Als ob er meine Gedanken gehört hatte, bog er plötzlich scharf nach rechts und drückte mich hinter einem schäbigen Gebäude auf den Boden. Ich sah mich um und erkannte etwas, was aussah wie alte Türen eines Toilettenhäuschens, Bretter und anderen Müll, der hier achtlos abgeladen wurde. Da, wo es niemand sehen sollte. Ich krabbelte ungeschickt in eine Lücke zwischen dem Müll und der Ziegelsteinwand und zog meine Beine eng an meinen Körper. Der Junge kauerte sich direkt vor mich in die Dunkelheit. Mein Atem ging schnell und mein Herz hämmerte ungeheuer laut gegen meinen Brustkorb. Das Zischen in meinen Ohren schien alles andere zu übertönen. Ich hatte Angst, dass ich uns verraten könnte.   Die Stille war erdrückend. Ich wagte es kaum zu atmen. Bloß keinen Millimeter bewegen. Als der Junge sich plötzlich etwas entspannte und sich mir zuwandte, zuckte ein greller Blitz über den Himmel, sodass ich endlich sein Gesicht sehen konnte. Ich musste schlucken, als ich ihn erkannte. Diese kupferroten Haare. Das war doch nicht möglich?! Wieso war ER hier? Doch ich wagte es nicht, etwas zu sagen. Ich beobachtete, wie er in der Tasche seiner Lederjacke kramte und ein Handy hervorzog. Das Licht seines Displays flackerte auf und ein leiser Fluch kam über seine Lippen. Ich drückte mich enger an die rostige Tür an meinem Rücken. Er warf erneut einen Blick über seine Schultern, als wollte er sich vergewissern, dass die Verfolger uns noch nicht gefunden hatten. Doch ich war mir sicher, dass wir das längst gemerkt hätten, wenn es so wäre. Oder auch nicht mehr. „Verdammt, wir können nicht zurück“, zischte er fast lautlos und hob seinen Blick. Wir sahen uns tief in die Augen und ich zuckte zurück. Sein Blick jagte mir Angst ein.   Er wandte sich ab und erhob sich langsam, um sich lautlos zu der Ecke des Gebäudes vorzutasten. Vorsichtig sah er um die Ecke, bevor er sich wieder zu mir umdrehte und mir mit einem Handzeichen bedeutete zu ihm zu kommen. Doch ich konnte nicht. Mein Körper zitterte wie Espenlaub. Mir war unheimlich schlecht und ich bekam kaum Luft. Und mir war so kalt. Die wenige Kleidung, die ich trug, war völlig durchnässt. Ich konnte da nicht wieder raus. Diese Männer … Ich wollte nicht sterben!   Ich zuckte zusammen und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als sein Gesicht nur Zentimeter von meinem auftauchte. Ich blickte starr in seine meerblauen Augen. „Komm. Wir können nicht hier bleiben.“ Er streckte seine Hand nach mir aus. „Ich verspreche dir, dass ich dich in Sicherheit bringen werde. Dafür musst du mir aber vertrauen.“ Sein Gesichtsausdruck war plötzlich so anders. Ich hätte es beinahe als freundlich bezeichnet, wenn er nicht ein hämisches Grinsen aufgesetzt hätte. „Du kannst doch nur gewinnen. Alleine kriegst du eh nichts auf die Reihe.“ Unglaublich. Er machte sich tatsächlich in so einer Situation über mich lustig. Doch leider hatte er recht.   Ich löste meine steife Hand, die ich um meine Knie geschlungen hatte und reichte sie ihm. Er zog mich sofort auf die Füße und sogleich verschwanden wir, begleitet von einem dröhnenden Donnerschlag, im Dunkel des Parks.   .   „Was wollten diese Kerle von mir?“ Mittlerweile hatte ich meine Stimme wiedergefunden und fühlte mich so sicher, dass ich es wagte, etwas von mir zu geben. „Du meinst, außer dich tot zu sehen?“ Wieder so ein Spruch. Ich schnaubte. „Soweit ich weiß, gibt es meistens einen Grund dafür jemanden umzubringen. So war es jedenfalls in allen Actionfilmen und Krimis, die ich bisher gesehen habe.“ Trotz der Situation, in der ich mich befand, konnte ich mir ein bisschen rumgezicke nicht verkneifen. Dieser Typ schaffte es immer wieder mich zu reizen.   Wir spähten um die Ecke eines Hauses, ehe wir die Straße weiter heruntereilten. Immer darauf bedacht uns von niemandem sehen zu lassen. Nervös blickte ich mich nach jedem Auto um, welches über die nasse Straße rollte. Ich hatte absolut die Orientierung verloren. Wir waren aus dem Park geflüchtet und hatten uns immer in dunklen Gassen aufgehalten. Diesen Teil der Stadt kannte ich nicht, doch ich hatte das Gefühl, als ob wir nicht zu meiner Wohnung wollten. Den Ort, an dem ich jetzt unbedingt sein wollte.   „Wo gehen wir hin?“, versuchte ich es erneut. „So weit weg wie möglich.“ Das war es. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Als wir gerade wieder in eine Gasse einbogen, hielt ich ruckartig inne. Da der Junge noch immer meine Hand hielt, zwang ich ihn so ebenfalls anzuhalten. Ein verwunderter Ausdruck trat auf sein Gesicht, als er sich mir zuwandte. „Hey, was tust du? Wir müssen hier weg!“ „Nein.“ Ich starrte ihn an. Versuchte möglichst bedrohlich und würdevoll auszusehen, doch die Tränen, die schon in meinen Augen brannten, ließen mich vermuten, dass wohl eher das Gegenteil der Fall war. „Nicht bevor du mir endlich sagst, was hier los ist!“ Er schüttelte den Kopf und verstärkte den Griff an meinem Arm. Ich stemmte mich mit allem was ich hatte dagegen. Obwohl er mich locker hätte mitziehen können, blieb er nach wenigen Schritten stehen und sah wieder zu mir. Ich kämpfte noch immer mit mir. „Ich wurde gerade auf offener Straße von einer Gruppe bewaffneter, schwarz gekleideter Männer überfallen und durch die halbe Stadt gehetzt. Ich könnte jetzt genauso gut tot sein und habe keine Ahnung warum! Verdammt.“ Ich fühlte, dass die Tränen nun frei über meine Wangen liefen, wo sie sich mit dem Regen vermischten.   Der Druck an meiner Hand wurde kurz etwas kräftiger und der Junge legte seinen Kopf schief. Seine rötlichen Haare klebten nass an seiner leicht gebräunten Haut. In seinen blauen Augen glänzte etwas, was ich nicht lesen konnte. „Hör zu. Ich erkläre dir alles später. Wir müssen verschwinden und zwar jetzt. Diesen Männern ist es egal, ob wir leben oder tot sind. Die sind nur hinter deinem Edelstein her und dabei machen sie vor nichts halt.“   „Meinem Edelstein?“ Meine Stimme klang erstickt. Nicht mehr als ein beinahe lautloses Flüstern. „Dann müssen wir … zur Polizei.“ Damian. Er konnte mir helfen. Er konnte mich vor den Männern verstecken. Die Polizei konnte das. „Nein. Das geht nicht. Die können dir nicht helfen.“ „Ich muss zur Polizei! Sofort!“ Ich drehte plötzlich völlig durch. Versuchte meine Hand von seinem Griff zu befreien. Irgendwo hier musste doch eine Wache sein! Jemand, der mir helfen konnte! Irgendjemand! „Nicht, hör auf! Glaub mir, die Polizei ist machtlos! Die haben absolut keine Ahnung! Ich weiß, wer dir helfen kann! Aber ich kann dich nur beschützen, wenn du endlich mit mir zusammenarbeitest anstatt gegen mich!“ Ich stockte und hörte auf mich zu wehren. Mein Geist war seltsam leer. Er schien meinen Gefühlsumschwung zu bemerken und ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er mich weiter in die Dunkelheit hineinzog.   Meinen Stein? Sie wollten meinen Segensstein? War es wirklich das? Waren all die Vorfälle, die mir in den letzten Tagen passiert waren, gar kein Zufall? Der Busunfall? Der Kleinbus gestern? Und das komische Gefühl, welches mich in meiner Wohnung beschlichen hatte? Hat dort etwa jemand … auf mich gewartet? Wären mir diese Männer im Wohnzimmer entgegengesprungen und hätten mich einfach umgebracht? Erschossen?   War ich zum Tode verurteilt?   Bilder drängten sich in meinen Kopf. Die lächelnde Familie im Fernsehen. Unschuldige Kinder neben ihren stolzen Eltern, die noch ein erfülltes Leben vor sich gehabt hatten. Leere Augen, die stumm in den Himmel starrten. Rotes Blut, das sich über den schmutzigen Asphalt ergoss. Ein Feuer, das im Hintergrund heiß loderte. Und ein Bild von mir mit weit aufgerissenen Augen, die nie wieder etwas sehen würden …   Ein erstickter Laut drang aus meiner Kehle und mein Körper versagte endgültig seinen Dienst. Ich spürte mich nicht mehr. Meine Beine waren verschwunden. Nicht mal den kalten, schlammigen Untergrund konnte ich spüren, als ich auf der Stelle zusammensackte. Eine Stimme versuchte von weit her zu mir vorzudringen, doch ich konnte sie kaum wahrnehmen.   Ich war tot. So gut wie tot. Aber warum?   Ach ja, ich war ja etwas Besonderes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)