Concordia von Nanatsu-Nee-Chan (Einigkeit und Auferstehung) ================================================================================ Kapitel 1: Narben, tote Brüder und andere Unannehmlichkeiten ------------------------------------------------------------ "People speak sometimes about the ‘bestial’ cruelty of man, but that is terribly unjust and offensive to beasts, no animal could ever be so cruel as a man, so artfully, so artistically cruel." - Fyodor Dostoyevsky Niemand hätte gedacht, dass es solche Auswirkungen hätte. Allein der Gedanke daran, dass das Volk etwas derartiges tun würde, erschien den damaligen Machthabern geradezu lachhaft. Einigkeit – was für eine törichte Vorstellung. Dieser Flickenteppich, der sich deutscher Bund nannte, das chaotische Etwas, das man nur ironischerweise als „Nationalstaat Italien“ betiteln könnte, wie kam man auf so etwas wahnsinniges, diese zerstrittenen Provinzen vereinen zu wollen? Das war doch ein Witz. Und doch zeichnete sich die Zukunft schon jetzt am Horizont ab. An diesem grauen Himmel im September 1814. Es war ein kühler Samstagabend, als der Kutscher das Signal zum Halt gab. Die Fahrt war beschwerlich gewesen, doch der weite Weg von Berlin nach Wien sollte sich lohnen, zumindest für einige Teilnehmer. Die Straßen der Hauptstadt Österreichs waren nur spärlich beleuchtet und als der junge Mann ausstieg, passte er auf, nicht in eine der Pfützen zu treten, die seine teuren Schuhe ruinieren könnten. Er zupfte seinen leicht zerknitterten Militärmantel zurecht und entfernte mit einer Handbewegung einige Schuppen auf den Schultern. Es war ein bedeutendes Treffen, da wollte man doch nicht schon bei der Ankunft einen schlechten Eindruck machen. Der weißhaarige Repräsentant seiner Nation, der auf den Namen Gilbert Beilschmidt hörte, hatte für das anstehende Treffen einen dunkelblauen Umhang aus Seide gewählt, eine schwarze Uniform mit goldenen Knöpfen und lederner Einfassung sowie einer edlen Verzierung mit Spitze an den Ärmeln. Im Vergleich zu den prunkvollen Königen war es schlicht, doch für einen hochgestellten Politiker war es angemessen. Und diese Rolle nahm er ein für diejenigen, die ihn nicht als das kannten, was er eigentlich war – die Personalisierung des Staates Preußen. Auf der anderen Seite halfen einige Gehilfen seinem Vorgesetzten Friedrich Wilhelm III. aus der Kutsche. Der brünette Herrscher lächelte sein Land warm zu und fragte ihn, ob er nicht etwas wärmeres zum anziehen bräuchte. Die sanften Züge des Hohenzollern und seine friedliebende Art ließen ihn zwar eher schwächlich wirken gegenüber den energischen Führungskräften in der Vergangenheit des ostdeutschen Staates, doch er war nicht zu unterschätzen. Gilbert schüttelte nur den Kopf und winkte ab. „Schauen wir lieber, dass wir schnell in das Gebäude gelangen.“ Friedrich nickte und befahl den Burschen, das Gepäck zu tragen. Beide wussten, wie viel Arbeit ihnen bevor stand. Doch heute würde es erst einmal ein formales Begrüßungskomitee geben, bevor es an die eigentliche Sache ging. Wien hatte sich nicht groß verändert seit dem letzten Besuch. Die weißen, blockartigen Häuser mit den zinnfarbenen Dächern als auch die großzügigen Verzierungen an den Fenstern und um das hohe, große Tor des Hauptgebäudes waren ihm vertraut, so oft hatte er hier mit dem Aristokraten Verträge abgeschlossen oder Verhandlungen bestritten. Die Nation lächelte verschmitzt bei dem Gedanken an seinen Cousin und ging erst dann los, als der Herrscher direkt neben ihm stand und ihm die wortlose Aufforderung gab, loszugehen. Er hatte noch nie ein leichtes Verhältnis mit seinen Verwandten gehabt. Mit Bayern war es ein ständiges Kräftemessen und mit den Habsburgern hatte er vor noch nicht so langer Zeit noch um Schlesien gekämpft. Mit Sachsen hatte er vor wenigen Jahren erst die Schlacht bei Jena und Auerstedt verloren und seitdem hatte er auch mit diesem deutschen Staat kein Wort mehr gewechselt, sodass er nicht wusste, wie die launische Frau wohl reagieren würde. Aus diesem Grund waren solche Treffen schon immer Zündstoff gewesen für irgendwelche Streitereien. Seufzend fasste sich der Weißhaarige an die Stirn und rieb sich die immer noch existierende Narbe, die ihm der Franzose zugefügt hatte. Und es war nicht die einzige, sein ganzer Körper war übersät von Wunden und Schnitten und sonstigen Zeichnen des Krieges die nicht so schnell verschwinden würden, so viel war sicher. Ja, nicht nur seine nervige Familie war anwesend, auch noch der größte Störenfried Europas war mit von der Partie. Das konnte wirklich heiter werden. Aber wenn das nicht von vorne hinein klar wäre bei dem ersten Treffen aller Großmächte, was dann? Endlich im Ballhaus angekommen, verbeugten sich die Türöffner unnötig tief vor den Besuchern und ein Offizier zeigte ihnen den Gebäudekomplex und führte sie über die steinernen Treppen zum Beletage. Sichtlich gelangweilt gähnte die Nation, was ihm einen mahnenden Blick seines Königs einbrachte. Er hatte all diese sinnlosen Einweisungen schon so oft gehört, dass ihn nur noch gravierende Regeländerung wirklich überraschten. Jeder Verhandlungsraum seiner Nachtbarländer war ihm bekannt, in manchen hatte er sogar seine Lieblingsstühle und quengelte herum, wenn die Einrichtung geändert wurde. Nach dem üblichen Zinnober samt Begrüßungsreden und Vorstellungen betraten sie endlich das Büro Metternichs. Es war stilvoll im frühklassizistischen Stil eingerichtet, seidene Kissen drapiert auf teuren Eichenmöbeln und ein großer Schreibtisch sowie Sitzgelegenheiten für seine Besucher. „Setzen Sie sich, Eure Hoheit.“ Klemenz Wenzel Lothar von Metternich war ein braunhaariger Mann mittleren Alters in vornehmer Kleidung und mit einer sehr eigenen Art. Die beiden Preußen nahmen Platz und der Österreichische Außenminister begann zu sprechen: „Sie sind der dritte Gast, der in den letzten Stunden angekommen ist. Auf die anderen wird noch gewartet, wir hoffen, dass bis morgen Mittag alle anwesend sind. Ihre Zimmer befinden sich im Nebengebäude, es wird bestens für Ihr wohl gesorgt. Den Habsburgern ist Ihr Wohlergehen von großer Bedeutung.“ Das war gut, so hatte er genug Zeit für die Angelegenheit bezüglich seines Bruders Ludwig – aber dazu später, beschloss der Preuße und beendete damit den Gedanken daran. Schließlich wandte Metternich sich an die Nation selbst. „Und natürlich Ihres auch, Herr Beilschmidt.“ Die Nation lächelte ihn höflich an, doch er wusste, dass es gelogen war. Vielleicht empfand der Außenminister Gilbert als sympathisch, doch es war klar, dass er Preußen nicht ausstehen konnte. Er war Österreicher, was konnte man anderes erwarten? „Des weiteren gedenke ich, alles wichtige auf Morgen zu verschieben. Sie müssen von der langen Reise von Berlin nach Wien recht erschöpft sein. Wir werden ein Bad für sie bereitstellen, wenn es Ihnen genehm ist, Eure Hoheit Wilhelm.“ Der König nickte zustimmend und Gilbert lehnte sich etwas im Sessel zurück. Welche Länder wohl schon anwesend waren? Vermutlich die, die am nächsten lagen, also die Schweiz und Bayern. Der Weißhaarige musste ein frustriertes Stöhnen unterdrücken. Das fing ja schon einmal ausgesprochen gut an. Er drehte den Kopf, als sein Herrscher ihn ansprach und befahl, schon die Suite aufzusuchen, die für ihn bereitgestellt worden war, während dieser sich frisch machte. Nun, das war also der erste Tag der Verhandlungen. Preußen war gespannt, was da auf ihn zukam. Die Österreicher mochten italienischen Baustil. Egal ob es toskanische Säulen waren oder Torbogen aus der Renaissance, das Ballhaus bot eine wunderbare Mischung aus verschiedenen südländischen Baustilen, die wunderbar harmonierten und dem Ganzen einen Hauch von Sonne und Meer verliehen. Gilbert konnte es ihnen nicht verübeln, denn wenn Veneziano und seine Geschwister eines beherrschten, dann war es Trend-setting. Das Zimmer, auf dessen Boden er gerade einige Stapel Papier ausgebreitet hatte und diese nach Datum und Relevanz ordnete, war nobel und bedacht möbliert. Der Mann hatte die dunkelblaue Militärjacke ordentlich über die Stuhllehne gelegt und studierte mit gerunzelter Stirn einige ältere Schriften, die er sich von Zuhause mitgenommen hatte. Sie stammten noch aus einem Archiv des Dreißigjährigen Krieges, und es waren fast 200 Jahre alte Aufzeichnungen, die Soldaten und Offiziere über die Kriegsvorgänge und Taktiken verfasst hatten. Er tat dies nicht aus reinem Vergnügen, er war vielmehr auf der Suche. Schon seit einiger Zeit spukte dieser Gedanke in seinem Kopf herum und wollte ihn einfach nicht loslassen – nun hatte er nach Langem endlich wieder die Muse, sich dem zu widmen. Die Arbeit zuhause ließ nicht zu, sich nebenbei auf Recherche zu begeben, und so hatte er es auf den Aufenthalt in Österreich vertagt. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie in den ersten zwei Tagen erst einmal das übliche pompöse Begrüßungsspielchen unter Adeligen spielen würden – auch wenn das seines Erachtens völlig überflüssig war, da sie sich eh schon alle kannten. Soweit er informiert war, war ein Ball geplant, nachdem alle Teilnehmer erschienen waren, und sein vom Krieg und der Kutschfahrt gepeinigter Rücken und seine ausgelaugten Gliedmaßen schmerzten schon beim Gedanken daran, den Wiener Walzer tanzen zu müssen. Aber jetzt war keine Zeit, um sich über solche Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Das, was er da suchte, war etwas, das schon seit mehreren Jahrzehnten als verschollen galt. Um genauer zu sein handelte es sich um eine Person. Um genauer zu sein, war diese Person nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges unauffindbar gewesen. Und keiner hatte sich sonderlich Mühe gemacht, nach ihr zu suchen. Sie war unwichtig geworden, nicht einmal ein Zinnsoldat auf dem großen Schlachtfeld der Politik. Und doch fühlte Preußen, dass ebendiese gefallene Schachfigur ihm von Nutzen sein konnte: Das heilige Römische Reich Deutscher Nation. Seitdem 1806 die offizielle Auflösung bekannt gegeben wurde, schien sich keiner mehr für ein geeintes Deutschland mehr zu interessieren. Doch der Preuße konnte nicht anders, als weiter zu suchen. Er wollte nur wissen, wo sich der Leichnam befand. Irgendwo musste er stecken. Und wenn er ihn ausgraben musste. Gilbert wusste selbst nicht, was ihn dazu trieb. War es der Instinkt einer Nation, der ihn leitete? Oder nur eine dumme, egozentrische Laune? Beides war so leicht zu verwechseln. Der Instinkt einer Nation gründete auf Expansion, Überlebenswillen und Machtstreben, Vollkommenheit, Einflussnahme und Vereinnahmung. Eine dumme Laune war dasselbe, nur ohne dem Ziehen in der Brust, dass einen Vorwärts drängte. Seufzend stapelte der Mann die Blätter neu und ordnete sie nun nach Orten. Vielleicht konnte man ein lokales Muster erkennen, anstatt ein zeitliches? Irgendetwas musste doch den Aufenthaltsort verraten. Nationen hinterließen Fußabdrücke in der Geschichte. Und so auch ihr Tod. Egal ob es ein seltsames Ereignis gab, dass im ganzen Land an einem bestimmten Zeitpunkt auftrat, oder eines, das einen bestimmten Radius betraf – das konnte, nein, das musste ein Hinweis sein. „Was tust du da?“ Der Preuße war es schon gewohnt, dass Friedrich oft ohne sich bemerkbar zu machen in sein Haus oder sein Zimmer schneite, weshalb er nicht gerade überrascht war, dessen Stimme zu hören. Der Hohenzoller hatte nasses Haar und trug etwas bequemere Kleidung, die jedoch immer noch sehr nobel aussah und eindeutig die eines Adeligen war. Eine junge Bedienstete trug seinen Mantel und die Schuhe, die er bei der Reise getragen hatte, und stellte sie vorsichtig ab bevor sie sich mit einer leichten Verbeugung verabschiedete und dann verschwand. „Ach, nur etwas Nachforschung, nichts weiter.“ „Was denn genau?“ „Nur einige Zeitungen, ich informiere mich noch wegen des Kongresses...“ Der König sah sein Land nur mit einem leicht müden Blick an und lächelte dann. Er setzte sich auf einen Stuhl und begutachtete eine dort bereitgestellte Weinflasche, ein Geschenk des Hauses. „Ich kenne euch Nationen inzwischen lange genug, um zu wissen, dass ihr keine Zeitung zu lesen braucht.“ „Auslandsnachrichten sehr wohl!“ „Als wären die dir nicht längst bekannt. Lüg mich nicht an, ich seh doch, dass das keine aktuellen Aufzeichnungen sind. Das hier -“ Er hob irgendein vergilbtes Blatt auf und entzifferte mit zusammengekniffenen Augen den altdeutschen Text, während er sich das Haar zurück kämmte. „ - Ist von 1648. Denkst du, das wird heute Relevanz haben?“ Der König holte zwei bauchige Gläser aus dem kleinen Regal über dem Schreibtisch und füllte eines mit Wein und reichte es der Nation, welche einen Schluck nahm, schluckte und dann zufrieden nickte. Es war üblich geworden, dass Gilbert auf Reisen unter anderem die Aufgabe des Vorkosters übernahm. Das sparte Personalkosten und rettete gegebenenfalls ein Menschenleben. Auf die Entwarnung hin füllte der Herrscher beide Gefäße und trank schweigend, während er sich die Dokumente genauer ansah. „Das hier stammt von einem Offizier der bayrischen Armee im Krieg gegen Österreich. Ein Protokoll über den Kriegsverlauf. Was willst du denn damit?“ kommentierte er schließlich. Sein Land sagte nichts nur und studierte weiterhin die Schriftstücke. Es war noch nicht spruchreif, nicht im Geringsten, weshalb sollte er unnötig Theorien und Ideen preisgeben, die er mit nichts bestätigen konnte? Andererseits könnte das den König erst recht misstrauisch machen und zum Nachfragen bewegen. Es war eine wirklich unschickliche Lage. „Sagen wir es so, es geht um eine Familienangelegenheit, die etwas älter ist. Um es konkreter auszudrücken, handelt es sich um einen nahen Verwandten“ „Du hast viele Verwandte, Gilbert. Drück dich deutlicher aus.“ „Nein, nicht diese Idioten, die mir das Leben schwer machen. Es ist ein kleiner Junge, der seit damals als verschwunden gilt und seit 1806 ist er für tot erklärt worden.“ Der Hohenzoller hielt inne und stellte langsam sein Glas ab. Es dämmerte ihm, auf was sein Land da hinaus wollte, doch so sicher war er sich nicht. Was zur Hölle hatte der Albino da ausgeheckt, und vor allem, warum ausgerechnet jetzt nach fast zwei Jahrhunderten? Das machte keinen Sinn. Der Braunhaarige rieb sich die Stirn und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Warum ausgerechnet jetzt?“ „Sie können ja ins Bett gehen, wenn Sie wollen.“ „Das meinte ich nicht, Preußen. Warum jetzt? Der Dreißigjährige Krieg ist schon Ewigkeiten her, warum also jetzt?“ „Ich habe da so ein Gefühl, dass wir ihn brauchen werden.“ Preußen gestikulierte hilflos während er nach den richtigen Worten suchte, doch er konnte es dem anderen Mann mit besten Willen nicht erklären, ohne nicht davor einen mehrstündigen Vortrag über das Wesen und die Instinkte von Nationen zu halten. Das hier war wirklich eine Angelegenheit, in der Menschen vorerst nichts verloren hatten. Doch wie konnte man es dem Monarchen möglichst schonend beibringen, ohne abweisend zu wirken? „Das klingt alles ziemlich skurril.“ merkte dieser nur an, und Preußen lächelte entschuldigend. In solchen Situationen merkte man erst wieder, welche Kluft sich zwischen ihnen auftat. Für den jungen Mann waren zwei Jahrhunderte eine unglaublich lange Zeit, für den Albino hingegen waren es seine Jugendjahre. Nach einigen weiteren Minuten, in denen der eine Wein trank und der andere in alten Papieren wühlte, verabschiedete sich Wilhelm und ging auf sein Zimmer. Es war bereits sehr spät und Morgen würden weitere Machthaber und deren Länder aufkreuzen. Preußen hingegen verbrachte seine Nacht auf dem kalten Boden sitzend und analysierte Zeit und Ort nach den Fußspuren seines verschollenen Bruders. Es gab mehrere Muster, nach denen man vorgehen konnte. Zuerst wären da Augenzeugen, was noch das einfachste und offensichtlichste Anzeichen war. Dann waren da seltsame Phänomene, wie Kopfschmerzen in einem bestimmten Gebiet ohne Zusammenhang mit anderen körperlichen Beschwerden. Ein weiteres Indiz war eine urplötzliche Orientierungslosigkeit, die ebenfalls lokal beschränkt war, Verwirrtheit, Konzentrationsschwäche oder innere Leere. Sie alle traten im Radius von etwa 200 Metern auf, was leider nicht sehr viel war. Erst wenn man direkt vor der Leiche stand, konnte man es merkbar physisch wahrnehmen, wenn der ganze Körper zitterte von der freigesetzten Energie und den uralten Erinnerungen, die ihm Raum hingen wie ein betäubendes Gift. Entweder das. Oder es trat im ganzen Land für einen kurzen Moment dasselbe Phänomen auf, und zwar bereits genannten. So gesehen konnte jeder kleine Migräneanfall einer süddeutschen Magd verdächtig sein. Um es zusammen zu fassen, es gab viel zu viele Ansätze und viel zu wenig Arbeitsmaterial. Und doch begann er zu suchen. -.- „Es hat doch keinen Sinn!“ fluchend kickte die Nation ein Kissen quer durch die Suite. Es war bereits Mitternacht, er hatte schon vier Stunden lang recherchiert und er war auf nichts nennenswertes gestoßen. Preußen vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte geschlagen. Dann nahm er sich schließlich das noch gefüllte Weinglas und nahm einen großen Schluck. Warum machte er das überhaupt? Nur wegen eines dummen Gefühls? Das genauso gut von einer Magenverstimmung kommen konnte? Das war doch wirklich lächerlich. Doch irgendetwas sagte ihm, dass es mehr war als nur das. Tief in seinem innersten, weit über die menschlichen fünf Sinne hinaus, ausgelöst mehr durch Trieb als Logik, rumorte dieser Gedanke. Er ließ ihn nicht los, egal mit was er sich versuchte abzulenken. Bedeutete es, dass sich da etwas im Volk zusammenbraute? Nach den ganzen Kriegen wäre es kein Wunder, dass sich neue politische Gruppen bildeten, doch was hatte sein lange verschollener Bruder damit zu tun? Das heilige römische Reich deutscher Nation war schwach gewesen. Es hatte kaum Einfluss auf das innenpolitische Geschehen, war ein mittelalterliches Konstrukt in einer modernen Welt, kaum fähig in der neuen Ordnung die alten Regeln durchzusetzen. Schon damals bewegte es sich im Krieg ungeschickt und musste schließlich im Kampfesgewirr zugrunde gehen, aber keiner hatte es mitbekommen, so beschäftigt waren sie alle damit gewesen, ihren Brüdern und Schwestern Schwerter in die Kehlen zu rammen. Bei dem Gedanken daran musste der Preuße säuerlich grinsen. Dieser Flickenteppich aus zerstrittenen, starrköpfigen deutschen Ländern hatte doch keine Chance, je einen einzigen Staat zu bilden. Das konnte unmöglich der Grund für die Suche nach seinem Bruder sein, oder? Verwirrt ging Gilbert im Zimmer auf und ab, während er sich einige Unterlagen mehr oder weniger genau ansah. Nein, das war doch absoluter Wahnwitz. Und überhaupt, konnte man mit einer uralten Leiche eines kleinen Jungen überhaupt etwas anfangen? Je weniger es Aussicht auf Erfolg gab, desto mehr Zweifel taten sich auf. Die Nation versuchte sie mit etwas Alkohol zu verscheuchen. Wenn sein Gefühl im sagte, dass das hier wichtig war, dann war es das auch. Punkt. Er ordnete die Blätter erneut um und begann von vorne. Irgendetwas musste er doch übersehen haben, ein kleines Detail vielleicht, ein winziger Hinweis auf den Aufenthaltsort des Leichnams, irgendetwas! Ein künstlerisch begabter Soldat hatte in einem Briefumschlag Unmengen von Skizzen an seine Verwandten geschickt, doch es waren meist nur Landschaften und Häuser zu sehen. Gerade als Preußen beinahe den Brief in zwei Teile zerrissen hätte, fiel etwas auf den Boden. Es handelte sich um einen zusammengefalteten vergilbten Zettel, der anscheinend im Couvert eingeklemmt gewesen war. Er hob es mit etwas zittrigen Händen vom Boden auf und entfaltete ihn. Es war eine Zeichnung, vermutlich vom selben Künstler angefertigt. Das Papier war vergilbt, doch man konnte dennoch erstaunlich viel erkennen – es war das Bild von einer kleinen Burg, und im Vordergrund konnte man einige Soldaten stehen sehen, die einen Kasten trugen. Etwas neugierig drehte er das Blatt Papier um, sodass ich die beschriftete Rückseite sehen konnte. Die ersten Zeilen waren ziemlich belanglos und waren hauptsächlich Grüße an Familienmitglieder im Norden, doch gerade als er es weglegen wollte, wurde es interessant: „Das Kriegsende naht und wir haben viele Verluste gemacht, doch der traurigste war dieser Bub. Er war so tapfer und musste doch so früh sterben. In seinem Gedenken habe ich diese Zeichnung erstellt. Vielleicht können Sie, Herr General, diese Nachricht seinem in Brandenburg lebenden Bruder überbringen. Ich werde nicht mehr dazu kommen, Berlin zu besuchen.“ Hastig wendete er den Brief und kniff die Augen zusammen. Ja, mit etwas Fantasie konnte man einen Sarg erkennen, den die Männer dort trugen. War das wirklich möglich, oder war das nur eine Verwechslung? Es gab viele Zivilisten, die umgekommen waren. Doch warum ausgerechnet aus Brandenburg, und vor allem, warum dem Bruder und nicht der Mutter – war diese etwa tot, oder gab es überhaupt keine? Es waren eindeutig Anzeichen, doch so recht wollte Gilbert seinen Augen nicht trauen. So einfach konnte es doch jetzt wohl echt nicht sein. Und wenn doch? Er ging alle möglichen Handlungsoptionen durch. Er könnte jetzt noch kurz zur Staatsbibliothek der Österreicher laufen und recherchieren, wo genau man diese Burg finden konnte. Allerdings ließ man ihn um diese Uhrzeit nicht mehr rein. Auf Gut Glück aufbrechen klang abenteuerlich, doch es war bis Morgen viel zu wenig Zeit für einen langen Ritt. Zudem, wo mit der Suche anfangen? Hierbleiben und nach dem Kongress sich dem Thema zu widmen war die sinnvollste und nervenschonendste Lösung. Allerdings auch die, die seine Geduld am meisten herausforderte. Er gähnte und legte das Dokument beiseite. Er würde es einfach separat aufbewahren und den Ort aufsuchen, sobald er wieder Zeit hatte. Mehr als nichts finden konnte er ja nicht. Es war eine Spur. Vage und kaum ausreichend für seine Ziele, doch immerhin. Jetzt war es erst einmal wichtig, die alte Ordnung wiederherzustellen. Alles andere konnte warten. Egal was kam, der Friede in Europa hatte vorrang. Nun, nur solange es zu Preußens Vorteil war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)