Bloody Faces (Arbeitstitel) von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Bloody Faces 1. Teil: Archiv des Hauptquartiers der Polizei New Arden Im Schein staubiger, kleiner Lampen, deren alte Glühbirnen hinter ovalen Gitterkörben sitzen, zwischen schmalen, bis zur Gewölbedecke reichenden Regalen und grau lackierten Aktenschränken, sitzt Cpt. McNeal an einem großen Holztisch, einen Monitor vor sich, wie man ihn in Bibliotheken findet, um alte Zeitungsartikel zu lesen, und duzende großer, lederner Mappen, die an verschiedenen Stellen bereits gebrochen sind. Neben ihm liegen aufgeschlagen sein Notizbuch und ein Tonbandgerät, das gerade läuft und einen Text abspielt. "Montag, 27. Dezember 1999. 4. Opfer ohne Gesicht gefunden. Diesmal eine unbedeutende, kleine Stripperin, bei uns wegen Prostitution aktenkundig. Wieder die Altstadt, das alte Hafenviertel. Ich nehme an, es ist wieder unser Mann, auch wenn diesem Opfer der Hals mit einer Klavierseite zugeschnürt/ durchtrennt wurde... Verdammt, er wird jedes Mal brutaler! Letzten Eintrag löschen..." Band klickt kurz, läuft aber weiter. "Sie wurde auf der Straße neben dem Club umgebracht. Unmöglich, daß niemand etwas mitbekommen hat. Aber alle Befragungen enden im Schweigen. Die Leute haben Angst...". McNeal unterbricht und läßt das Band zurücklaufen und erneut abspielen, ohne jedoch genau hinzuhören. Auf dem Monitor fährt eine Seite des New Arden Chronical hoch. Eine Seite aus dem Jahr 1899. "Face Daddy's back!!" Unter der Überschrift ein Artikel über einen Mörder, der seinen Opfern die Gesichtshaut abzieht. Daneben ein Bild, eine Abbildung eines Salons, edel und teuer eingerichtet, seht sehr nach Villa aus. In einem Ledernen Sessel ein gut gekleideter Mann, den Schädel in unnatürlichem Winkel abgeknickt und von dem Gesicht nichts zu sehen. "In den frühen Abendstunden fand das Personal des Industriellensohns Eduard Currathers ihren Dienstherren tot im Salon seines Hauses auf. Der sofort herbeigerufenen Polizei erklärten sie, sie haben ihren Herren vor weniger als zwei Stunden noch lebend gesehen, als er sie unterwies, wie sie den Speisesalon für das alljährliche Weihnachtstreffen der Gesellschaft in seinem Hause, herzurichten hätten. Ihnen sei nicht aufgefallen, daß jemand das Haus betreten habe. Niemand hörte etwas, oder sah den Mörder. Nun sucht die Polizei auch unter dem Personal den Mörder..." Auf einer alten Ledermappe neben McNeals Tisch steht ein Datum: 1879, darüber liegen handschriftliche Notizen, die noch älter zu sein scheinen. Das Datum ist kaum mehr zu lesen. Vermutlich irgendein Tag im März 1826 oder auch 1828. McNeal sieht verwirrt aus, aber auch sehr entschlossen. Er vermutet, es handelt sich bei seinem Mörder um einen Nachahmungstäter, einen Irren, der sich Zugang zu den alten Polizeiakten verschaffen konnte, und im Stil der beiden ersten Serienmörder erneut mordet. Im Hintergrund erscheint ein etwas älterer Polizist auf den Stufen, ein, in braunes Packpapier eingewickeltes Päckchen unter dem Arm. "Captain," ruft er bereits von den unteren Stufen. McNeal dreht sich halb um, sagt aber nichts. Der Uniformierte kommt heran und gibt ihm das Päckchen. "Wurde gerade für sie abgegeben, Captain." McNeal nimmt es entgegen und wendet sich seiner Arbeit zu. Der Uniformierte geht. In einer geschwungenen Handschrift steht der Name McNeals auf dem Papier, mehr nicht. Erst will McNeal es zur Seite legen, öffnet es dann doch. Ein Buch, einfach, aus schwarzem Leder, liegt darin, ohne Titel, ohne Autor. McNeal schlägt es auf. Ein Tagebuch, uralt, von einem John McNeal, seinem Großvater. "Masters?!" Der Uniformierte hat schon fast die obersten Stufen erreicht, bleibt aber stehen "Sir?" fragt er. "Wer hat das Päckchen gebracht?" Ein wenig überrascht zuckt Masters die Schultern. "Ich weiß es nicht, Captain. Ich war kurz nicht an meinem Platz und als ich zurück kam, lag es da." Macht eine kurze Pause. "Stimmt damit was nicht, Sir?" McNeal schüttelt den Kopf. "Nein, schon in Ordnung Masters." Masters Zuckt die Schultern und geht. McNeal will das Buch zuschlagen, als ein handgeschriebener Zettel herausfällt. "Lesen sie es gründlich!" Dieselbe Handschrift, wie auf dem Umschlag. Obgleich McNeal der Auffassung ist, er habe hier genug zu tun, kann er sich der Aufforderung nicht entziehen. An einer, mit einem kleinen, gelben Klebezettel markierten Stelle schlägt er das Tagebuch auf und beginnt zu lesen. Montag, 23. Dezember 1899 Das verdammte Schicksal hat es auf mich abgesehen! Nicht nur, daß wir in New Arden überwintern müssen, nein, zum ersten Mal seit Jahrzehnten kam der Frost so überraschend, daß es nicht gelang alle Schiffe auf das Trockendock zu schleppen. Und ausgerechnet die Britannia, mein Schiff mußte vom Eis zerdrückt werden. Es ist selbst jetzt noch nicht frei zu bekommen und wenn der Frost nachläßt, wird vom Rumpf gerade noch genug übrig sein, um sie als Feuerholz zu verwenden!! Bis zum Frühling sitze ich in dieser verdammten Stadt fest! Ohne einen Job, ohne Schiff und ohne Geld, denn die Reederei zahlt uns Seeleute nicht aus. Die Verluste durch das zerstörte Schiff sind zu groß. Keinen Job, kein Schiff, keine Heuer. Ich hasse diese Stadt. Sie bringt nur Leid und Unglück. Zur Zeit wohne ich in einer kleinen Pension, zwischen dem Hafen und dem Bahnhof. Verblüffend sauber und ordentlich, bedenkt man, daß das hier New Arden ist. Mrs. Covenant, die Besitzerin, achtet sehr auf die Wahl ihrer Gäste, insbesondere, wenn es solche sind, die länger bleiben wollen, oder müssen...! John McNeal verläßt das Büro des Hafenverwalters (eine kleine Bretterbude, die erhöht steht, auf ein steinernes Lagerhaus gesetzt, ein reichlich groteskes Bild) und wandert scheinbar Ziellos durch die Hafenanlagen. Es widerstrebt ihm offensichtlich überhaupt, sich tiefer in die Stadt hinein zu wagen. Die engen, schmutzigen Gassen wirken auf ihn beklemmend, ängstigend. Schatten und Licht ergeben ein etwas überzeichnetes und fast krankes Bild. Noch ist es Tag, aber die Dämmerung hat die Kais bereits erreicht und den Rest von New Arden in Dunkelheit getaucht, die von Gaslicht und Kerzenschein aus den meisten Fenstern durchbrochen wird, was die Enge der Situation nur unterstreicht. Schließlich kehrt er, gedankenschwer zurück. Fast als leiten ihn Erinnerungen, Bilder, verwaschen wie in einem Traum, nimmt er einen anderen Weg, als den zu seiner Wirtin. Seit drei Tagen bin ich zurück, seit drei Tagen habe ich wieder die Alpträume. Es ist wie verhext. Zwanzig Jahre lang habe ich nicht einen Gedanken an sie verschwendet... Nein, das stimmt nicht. Ich kann andere belügen, aber nicht mich selbst. Ich habe oft an sie gedacht, ich habe sie oft in meinen Träumen gesehen und gehört, ihr Lachen, ihre Stimme, ihre Wärme. Manchmal dachte ich, bevor ich erwachte, sie sei bei mir, halte mich... Sie war immer da, in meiner Nähe, wie ein Schatten, ein Geist, der mich behütet hat. Aber sie ist nicht mehr die strahlende Schönheit, die mich seit meiner Flucht aus New Arden begleitete. In meinen Träumen ist sie das grausam zugerichtete Geschöpf, daß ich, in der Nacht, in der ich New Arden verließ. Kurze Erinnerungsfetzen zeigen eine bizarr steile Treppe, die auf ein Licht hinab führt, irgendwie verzerrt und verdreht. Eine zweite Szene zeigt einen Wohn- und Küchenraum, eine Petroleumlampe und ein fast verloschenes Feuer im Kamin. Durch die offene Türe wehen trockene Blätter und der Regen herein. Bevor die Flamme der Lampe erlischt, sieht man eine Gestalt in einem weiten Reifrock vor dem Kamin liegen. Die weiße Bluse hat sich dunkel gefärbt. Das Gesicht selbst ist vom Betrachter abgewandt, in einem bizarren Winkel. Das vorletzte Bild zeigt, in tiefe Schatten versenkt und wie durch Tränenschleier einen fast skelettierten Kopf und ein paar überbliebene Muskelstränge. Der Hals ist eine einzige klaffende Wunde, fast durchtrennt bis zur Wirbelsäule. Ein langgezogener Schrei. Im letzten Bild wird der Raum noch einmal dargestellt, noch verzerrter, noch finsterer. Ein Junge hockt auf dem Boden, in einem Nachthemd, das an den Knien von Blut durchtränkt wird, über der Frauenleiche, das Gesicht in den Händen verborgen... McNeal steht vor einem schmalen, verwitterten Haus, teils aus Stein, teils aus Holz gebaut. Ein Bretterzaun umgibt es, aber es fehlen bereits Planken daraus. Der winzige Vorgarten ist zu einem Urwald herangewachsen und hat selbst das verblichene For Sale Schild fast völlig verdeckt. Eingangstüre und Fenster sind dürftig vernagelt, sehr halbherzig, so als wolle der, der es tun mußte, lieber so schnell als möglich fort von dem Haus. Der Mond steht bereits am Himmel, aber immer wieder verdeckt von Wolken. Der starke Schneefall scheint immer wieder eine kurze Pause einzulegen. Dann reißt die Wolkendecke auf und für einen kurzen, furchtbaren Moment scheint das Haus von innen beleuchtet... Aber John, der unwillkürlich zusammengefahren ist, erkennt, das es nichts als eine Reflexion auf dem Glas war und auf dem Schnee, der durch das eingesunkene Dach hinein geweht worden war. "Das alte McNeal- Haus," murmelt eine Stimme aus dem Off. John wendet sich nicht um. Schräg hinter ihm steht ein alter Mann, dürr, gebeugt, häßlich wie die Nacht. Scheinbar jemand der auf der Straße lebt, so schmutzig und ungepflegt, wie er ist. "Seit der Nacht in der die McNeal- Witwe ermordet wurde, steht es leer. Niemand wollte da wohnen. Niemand. Und man wagt sich nicht, es abzureißen. Ihr Sohn, dieser halbwüchsige Bengel, ist in der selben Nacht verschwunden. Hol' ihn der Teufel!! Vielleicht ist der kleine Bastard es ja selbst gewesen, oder ihn hat auch Face Daddy geholt..." Langsam, ohne eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht, wendet sich McNeal um. Einen Herzschlag lang braucht sein Gegenüber um ihn wieder zu erkennen. Eisiger Schrecken durchfährt den Alten, unbegründete, sehr wohl gerichtete Angst. Panisch fährt er herum und rennt, grotesk, die Straße hinab und verschwindet in einem schmalen, niedrigen Eingang. Erst jetzt wird John bewußt, daß plötzlich die ganze Straße still und tot da liegt. Fast, als habe die Stadt für einen Augenblick die Luft angehalten. Die wenigen schattigen Gestalten die sich hier draußen aufhalten, drängen sich tiefer in die Dunkelheit. "Ich habe sie nicht allein gelassen..." Eine Zeitungsseite des New Arden Chronical wird durch die Nacht geweht mit der Titelzeile "Face Daddy's back." In der Pension erwartet ihn bereits Mrs. Covenant und überreicht ihm mit der Abendausgabe des Chronical einen Brief. Anmerkung zur Pension. Schmales Steingebäude, vier bis fünf Etagen Hoch, eingeklemmt zwischen zwei wesentlich größeren Wohngebäuden und etwas in den Hintergrund gedrängt. Es führen einige Stufen zum Eingang und enden und einer winzigen, ebenfalls steinernen Veranda. Eine grün oder braun lackierte Holztüre mit altmodischem Glaseinsatz, in Bleifassung, führt in den Treppenflur, der sich an die rechte Hauswand schmiegt. Links befindet sich lediglich ein kleines Zimmer, ein schäbiger Salon, in dem Mrs. Covenant ihre neuen Gäste begrüßt und zumeist unter die Lupe nimmt. Zur Straße hin ist das Haus gerade breit genug für zwei Zimmer (zwei Fenster). Im Untergeschoß, zum Hof hin, befindet sich die Küche, die zwar von allen genutzt werden kann, aber in der die wenigsten Gäste sich selbst etwas zubereiten, zumal Mrs. Covenant den Raum als ihr Revier ansieht. Von dort aus geht eine kleine Milchglastüre, die in den Winzigen, sechs auf sechs Meter messenden Kräutergarten, der von den fast drei Meter hohen Ziegelmauern des Nachbarhofes begrenzt wird. Es fällt fast überhaupt kein Tageslicht an diesen winzigen Ort; und dennoch steht in dessen Mitte ein etwas verkrüppelter Wallnußbaum. In der ersten Etage befindet sich ihre Wohnung, in den darüber liegenden je drei Zimmer mit einem gemeinschaftlichen WC in der Zwischenetage. Ein einst wohl recht ordentliches Haus, heute aber Schäbig und verdrängt. Und wenn Mrs. Covenant nicht öfter ein "Zimmer Frei- Schild" aufhängen würde, hätte die Zeit und die Menschheit dieses Haus bereits längst vergessen. Außer der etwas älteren Mrs. Covenant (ca. 60 Jahre lebt auch noch ihre Schwiegermutter (ca. 85- 88 Jahre) hier, hat aber die Führung der Pension völlig in die Hände ihrer Schwiegertochter gelegt, was auch daran liegen könnte, daß die alte Dame im Rollstuhl sitzt, was sie nicht daran hindert ein äußerst flinkes Mundwerk zu haben. Zur Zeit hat das Haus nur wenige Gäste, aber diese leben hier dauerhaft. Einer von ihnen ist ein junger Mann (Anfang, Mitte Zwanzig), der Medizin studiert, ein mageres, blondes Kerlchen in wilden, unordentlichen Klamotten, daß, wenn er mal da ist, die seltenste Zeit aus seinem Zimmer kommt und über dessen Unordnung und Büchergewirr sich Mrs. Covenant ständig aufregt. Einmal bekommt John unter anderem mit, daß der junge Mann, Louis Philipp Llewellyn, die Pensionsbesitzerin furchtbar anschreit, weil sie bei ihm aufgeräumt hatte und nun einige seiner Aufzeichnungen fehlen, die äußerst wichtig gewesen sind. Außer ihm lebt dort ein Künstler, ein Maler, mit viel Talent und wenig Glück, ein Mann, der von einem Tag auf den nächsten lebt, den aber die ruhige, gemütliche Mrs. Covenant ins Herz geschlossen hat und ihm das eine oder andere nachsieht. Der Mann ist so etwa um die Vierzig, dunkelhaarig und etwas beleibter. Oft zieht es ihn an den Hafen hinunter oder aus der Stadt. Seine Bilder sind alle sehr schön und sehr verträumt und stellen so gar nicht das verderbte von New Arden dar. Die Stadt erhält in seinen Bildern einen unglaublichen, romantisierten Glanz. Sein Name, Joseph McNamarra. Der letzte, außer John, ist ein zurückgezogener, stiller Schwarzer, ein Bahnarbeiter, ein riesiger Mann, der einem erscheint, wie ein Berg aus Muskeln und Knochen. Selbst John erschrickt, als er zum ersten Mal auf Justin Lafait trifft. Lafait ist etwas über zwei Meter groß und schwarz wie die nacht selbst. Das einzige helle an ihm sind seine Perlen weißen Zähne und seine ungewöhnlichen Augen. Sie sind nicht Braun, oder fast schwarz, sondern blau, hellblau und leuchtend. Lafait ist etwa 35- 40 Jahre alt, trägt eine Brille mit dünnem Metallrahmen und spricht Englisch mit einem deutlich französischen Akzent. Er versteht sich besonders gut mit der alten Mrs. Covenant, die im Gegensatz zu ihrer Schwiegertochter ebenfalls Französisch spricht (Kunststück, beide stammen aus New Orleans). Im übrigen erweist sich Lafait als ungewöhnlich gebildet und intelligent. Erst gegen Ende der Geschichte erfährt John, daß Lafait ein Detektiv der Pinkertons ist, dessen Auftrag es ist, den Serienmörder aufzuspüren. Llewellyns medizinisches Wissen wird für John noch von Wichtigkeit sein, wie auch die Stärke Lafaits und sein beträchtliches Kombinationsvermögen, sein Wissen und seine Ruhe. Auch der verträumte Maler McNamarra* sollte nicht ganz ohne Sinn bleiben. *Könnte möglicher Weise Am Ende während oder vor dem Maskenball eingesetzt werden, um mit seinen Bildern und ihrer Schönheit Kain anzulocken, oder daß ein unbekannter Käufer (Kain) über seine Anwälte Zeitweise Bilder von Joseph McNamarra anfertigen läßt. Mrs. Covenant gibt John die Tageszeitung und den Brief, den John sofort neugierig in den Fingern dreht. Außer seinem Namen in einer eleganten, sauberen Handschrift steht nichts darauf, was John doch sehr wundert. Niemand außer der Hafenmeisterei weiß, wo er sich zur Zeit aufhält und ein Brief des Reeders hätte doch wenigstens Siegel oder Wappen getragen. Redselig, wie sie nun doch ist, erzählt Mrs. Covenant alles, was so den Tag hindurch passierte, während sie dabei ist, in ihrem Salon (Büro) die Teetassen und die Kanne wegzuräumen und Papiere zu ordnen. John hört ihr überhaupt nicht zu. Er steht im Foyer und wirkt ein wenig unschlüssig, den Brief zu öffnen. "Ma'am, wer hat den Brief gebracht?" fragt er, halb über die Schulter. Ein wenig konsterniert sieht sie auf und schließt den Porzelanschrank. "Der Briefbote, nehme ich doch wohl schwer an," giftet sie zurück. Dennoch weicht ihr Ärger leichter Sorge, als sie sieht, wie angespannt John zu sein scheint. Nach einigem Zögern reißt er den Umschlag auf. In der selben Sekunde öffnet jemand die Haustüre. Vier uralte Photographien und ein säuberlich ausgeschnittener Zeitungsartikel wehen zu Boden. Johns Augen sind weit vor Schmerz und die Erinnerungen versuchen ihn zu überwältigen. Eine gewaltige, schwarze Hand ergreift die Bilder, sammelt sie vom Holzfußboden auf. Eines der Bilder stellt eine kleine Familie dar, vielleicht dreißig Jahre her. Ein stattlicher Mann in einer Uniform, die schwer an Marine erinnert, eine wunderschöne, zarte Frau mit langen, hellen Locken, die im Nacken und am Hinterkopf von Samtschleifen gehalten werden und ein kleiner Junge, der irgendwie nichts davon zu halten schien, daß man ihn photographierte. Das zweite Bild zeigt vermutlich die selbe Frau, ein paar Jahre später in einem langen, weißen Sommerkleid, das helle Haar ergießt sich über ihre Schultern und die weiten Ärmel, aber ihr Lächeln ist verschwunden. Sie sieht sehr traurig aus. Die letzten zwei Bilder zeigen sie noch einmal, aber es sind Bilder eines Tatortes. Bilder einer Frau, die in einer Wohnküche auf dem hölzernen Fußboden liegt und der man die Gesichtshaut so grob abgezogen hat, daß bis auf wenige Muskeln einzig der Skelettschädel blieb. Ein Artikel des New Arden Chronical beschreibt: "Polizeipräsident Harding machtlos selbst unter Einsatz aller verfügbaren Polizeikräfte. Neuestes Opfer des Face Daddy ist die schöne Tänzerin Francine McNeal, die Witwe von Leutnant zur See, Henry McNeal. Wieder steht die Polizei nur ratlos da und weiß nicht, wie sie Face Daddy fangen soll. Nun mußten bereits neun Menschen sterben..." Vor John erhebt sich ein Berg aus Fleisch und Muskeln, Justin Lafait, der ihm schweigend Bilder und Artikel zurückgibt und an ihm vorübergeht, während er noch Mrs. Covenant grüßt und dann die Treppen hoch stapft. John aus seiner fast apathischen stille herausgerissen registriert erst jetzt, was für ein Ungeheuer von einem Mann an ihm vorbeiging. "Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mr. McNeal?" Lafait kommt für einen Herzschlag aus dem Tritt, was auch John auffällt und ihn, unbegründet mißtrauisch und ärgerlich reagieren läßt. Hatte der Schwarze etwa Zeit genug, die Zeilen des Artikels zu lesen? Konnte ein solcher Klotz überhaupt lesen? Mrs. Covenant scheint zu ahnen, daß John ärger und Mißtrauen gegen Lafait hegt. "Mr. Lafait," sagt sie gedämpft, nachdem sie hört, daß der Schwarze die Türe seines Zimmers hinter sich geschlossen hat, "... ist eigentlich sehr freundlich. Er kommt vom Süden her. Sein Englisch ist furchtbar, aber er spricht sehr hübsch französisch. Nun arbeitet er bei der Bahn. Eigentlich ist er nur sehr groß, aber so zuvorkommend. Ein echter Gentleman." Mrs. Covenant macht eine etwas alberne Handbewegung. "Und meine Schwiegermutter mag ihn. Sie sind ja beide aus New Orleans..." John geht geistesabwesend die Treppen hoch, was Mrs. Covenant dazu veranlaßt zu Stöhnen. "Die Jugend von Heute... Keine Zeit mehr für ein nettes Schwätzchen. Und dabei hätte mich doch zu sehr interessiert, was ihn so erschreckt hat..." Johns Zimmer ist ein quadratischer Raum mit einem Fenster gegenüber der Türe, grünen, durchaus sauberen Übervorhängen aus zerschlissener Seide und kitschig gerafften Stores und scheußlichen, verblichenen Seidentapeten, die irgendwelche Rosen in verzierten Rauten darstellen, die wiederum von feinen, ehemals dunkelgrünen Längsstreifen getrennt werden. Die Decke ist verhältnismäßig niedrig, oder erscheint wenigstens so, weil schwere, alte Holzkassettendecke. Der Boden besteht aus dunkel braunen Dielen, überdeckt von verschiedenen farblos wirkenden Teppichen, Läufern und Brücken, die wohl einst sehr edel und teuer waren, aber jetzt bis auf den Grund (Knüpfung) durch geschlissen sind. Gaslampen sind neben der Türe, rechts und links angebracht, sowie auf beiden Seiten der Türe. Das Bett steht links der Türe an der Wand, etwas versetzt, gegenüber ein schmaler, älter Kleiderschrank, aus dem immer leichte Klopfgeräusche dringen (Holzwurm). Rechts, neben der Türe befindet sich eine schwere Kommode, ein Waschtisch aus Ebenholz, mit Messinggriffen und einer grauen Marmorplatte, die der durchaus starke John im Leben nicht anheben wollte, dahinter, angebracht an der Kommode, ein Spiegel. Es steht jeden Tag eine weiße Porzelanschüssel und ein Krug frischen Wassers darauf, wie auch frische Handtücher und Waschlappen. In der Ecke hinter der Kommode befindet sich ein kleiner Kannonenofen. Mrs. Covenant verlangt von ihren Mietern, daß sie sich die Kohle zum Heizen selbst aus dem Keller neben der Küche hohlen. Rechts neben dem Fenster steht ein Tisch und ein Stuhl, beides aus altem Holz. Der Tischplatte täte Wachs oder Lack ganz gut, wie auch dem doch recht tiefen Fenstersims. Links des Fensters steht eine alte Seemannstruhe, die John gehört und rechts, neben dem Bett befindet sich ein Nachttisch, der, wie Bett und Kommode doch aus edlem Ebenholz besteht. Das Bett allein reicht in der Größe für drei Männer und dominiert das Zimmer mit seinem wuchtigen Aussehen. Ein weiterer Stuhl befindet sich nahe dem Bett. John nutzt ihn, um seine Kleider über die Nacht dort hin zu hängen. Das Zimmer ist der linke Raum, der zur Straße hin weißt, im dritten OG. Nachdem John sein Zimmer erreicht hat, verschließt er seine Türe sorgfältig hinter sich und lehnt sich erst einen Moment lang gegen das kalte Holz, die Augen geschlossen, leicht zitternd vor Aufregung und Anspannung. Ihm ist fast schwindelig und schlecht. Seine Rückerinnerung setzt ein. Klarer als die Traumbilder sieht er den Verlauf des letzten Abends, den seine Mutter erlebte, wieder vor sich. Der Moment, als sie nach Hause kam, müde und erschöpft von ihrer Arbeit. Sie Unterrichtete schon seit Jahren kleine, steifbeinige Mädchen aus guten Familien im Tanz. Manchmal erzählte sie John, der gerade selbst erst fünfzehn Jahre alt war, von den kleinen, reichen Dingern, die nur so lange reizend und hübsch anzusehen waren, so lang sie keinen Schritt gingen und den Mund nicht öffneten. Über ein Mädchen regte sie sich immer besonders oft auf. Louisa Brooke war ihr Name. Weder ihre Mutter, die einst einmal eine wenig talentierte Sängerin war, noch Mrs. McNeal bewegten das Mädchen zu mehr Grazie als ein Gassenjunge sie besaß. Mit der kleinen Louisa nahm aber auch ihre gleichaltrige, indische Zofe und Gesellschafterin an den Stunden teil, wie Mrs. Brooke sich ausdrückte, damit sich die Investition des Geldes überhaupt lohnte. Ashanti, Cora, wie sie von den Brookes gerufen wurde, bewies besondere Grazie und Talent zum Tanz. Einmal, im Sommer, hatte John seine Mutter von dort abgeholt und für einen kurzen Moment Ashanti gesehen. Seit dem holte er seine Mutter immer bei den Brookes ab. Natürlich lernte er auf diesem Wege auch Louisa kennen. Im Gegensatz zu der dunkeläugigen, schwarzhaarigen Ashanti, deren sanfte, braune Mandelaugen seinen Verstand reichlich verwirrt hatten, war Louisa tatsächlich so reizvoll wie ein blonder Besen, dem man nur versehentlich Mädchenkleider angezogen hatte. Aber er verstand sich gut mit dem knabenhaften Mädchen und begann jedes Mal zu stottern, wenn er in Ashantis Gegenwart etwas sagen sollte. John erinnert sich nicht mehr wirklich, über was er an diesem Abend mit seiner Mutter sprach. Aber es war lustig. Sie haben den ganzen Heimweg nur miteinander gelacht. An diesem Abend war alles zu perfekt. Bei der Erinnerung, wie er sich von seiner Mutter verabschiedet, um zu Bett zu gehen, treten John Tränen in die Augen. Das Bild der schlanken Dame, die in der Wohnküche am Kamin sitzt und ihm zulächelt, verschwimmt und wird schwarz. Das Nächste Bild zeigt ein halbes Duzend uniformierter Polizeibeamter, die wie Elefanten in der kleinen Wohnküche herum stampfen und einen Mittvierziger, ein ungewaschener, ungepflegter Mann in der Uniform eines Konstablers, der auf John einredet, sehr laut und sehr heftig. Der Junge, noch immer das blutige Nachthemd an und ein paar grober Arbeitshosen und Stiefel, sitzt neben dem Tisch, auf einem Stuhl, wagt nicht die Leiche, seiner Mutter anzusehen, die immer noch nicht zugedeckt wurde und preßt verzweifelt die Hände gegen die Schläfen. "Konstabler Payton..." murmelt John und durchschreitet das Zimmer. Zeitung und Bilder legt er sorgsam auf den Tisch und setzt sich. Erst jetzt fällt ihm der Artikel des Chronical ins Auge. "Face Daddy's Back!" Er ließt sich den Artikel etliche Male durch und betrachtet das Bild des toten Eduard Currathers. Müde, fast wie ein alter Mann, stützt sich John auf die splitterige Tischplatte und reibt seine schmerzenden Schläfen. Die Buchstaben beginnen vor seinen Augen zu verschwimmen und klaren sich wieder auf... und erst jetzt fällt ihm eine Notiz in der selben Handschrift auf, in der auch sein Name auf dem Briefumschlag stand. "Konstabler Leonard Payton kann Ihre Fragen beantworten." "Payton!!" John springt auf und verläßt das Haus. 24. Dezember 1899 Payton... Es stellt sich als ein echtes Problem heraus, den alten Mann zu finden. Angeblich, so sagte man mir auf dem Revier, auf dem er damals als Konstabler arbeitete, sei er noch im Dienst, aber niemand wußte da so recht, ob er immer noch dort sei. Gestern Nacht war ich noch auf zwei anderen Polizeistationen, aber keine Spur von Payton. Bei dem zweiten Revier sagte man mir, ich solle einfach das Hauptrevier aufsuchen. Dort wisse Man, wo sich Payton aufhielt. Heute Früh habe ich mein Glück versucht. "Konstabler" Payton muß die Leiter wohl hinauf gefallen sein. Jetzt ist er, noch immer so unausstehlich wie damals, bei der Kriminalpolizei und ein Inspektor. Aber, auch wenn er seine speckige Uniform gegen einen schlecht sitzenden Maßanzug eingetauscht hat, so ist er dennoch nicht weniger ungehobelt und widerwärtig wie eh und je. Ein kleines, helles Büro, zur Straße hin. Die beiden schmalen Rundbogenfenster stehen trotz der Kälte weit offen. Ihnen gegenüber befindet sich die Türe, auf der Hälfte mit einem Milchglaseinsatz versehen. Der Boden besteht aus nackten Dielen aus hellem Holz. Die Wände, insofern man sie sieht, sind bis auf etwa einen Meter fünfzig Höhe dunkelgrün gestrichen, der Rest, bis hinauf zur Decke war einst weiß. Von der Decke hängt eine Gaslampe mit Flaschenzug, und in der linken Ecke, neben den Fenstern steht ein Kanonenofen. Die Mitte des Raumes wird von einem schmutzigen, abgenutzten Schreibtisch eingenommen, der verhältnismäßig leer erscheint. An den Wanden stehen offene Regale, in denen sich das Chaos austobt und mehrere geschlossene Aktenschränke. Rechts der Fenster befindet sich ein Kleiderständer, über dem ein graubrauner Wollmantel hängt. Ein paar schlichte Holzstühle stehen wild in dem Zimmer verteilt und an einem winzigen Tischchen, neben dem sich ordentlich aufgestapelt etliche Lederne Aktenordner befinden, sitzt eine stille junge Frau, in einem schlichten Kleid an einer Schreibmaschine, die Haar hochgesteckt und eine Brille auf der Nase. Sie schreibt gerade einige Handnotizen ab. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mann, um die Sechzig, unrasiert, das helle Haar strähnig, den Maßanzug knitterig, als würde er darin schlafen. Falten haben sich tief in sein verbissenes Gesicht gegraben. Er hat helle, wache Augen, die nicht einmal unfreundlich wirken, im Gegensatz zu seinem Umgangston. Er kaut am Ende einer fettigen, glanzlosen Pfeife herum, während seine Hände die Morgenausgabe des Chronical in viele kleine Fetzchen zerreißen. John fühlt sich sichtlich nicht wohl unter dem Blick Paytons. Der alte Mann hat ihn wiedererkannt, bevor John etwas sagen konnte. Um ein Haar hätte ihn Payton wieder rausgeworfen. Seine Schreibkraft nimmt von all dem keine Notiz. Sie sitzt die ganze Zeit still an ihrem überfüllten Tisch und tippt. John fühlt sich unwohl und nervös, und das monotone Geräusch der Tasten beruhigt ihn nicht im Geringsten. "Himmel, mein Nemesis!" flucht Payton. " Ich ahne den Grund ihres Hierseins. Und wenn sie immer noch der selbe Rotzbengel von früher wären, wären sie auch schon längst draußen." John geht auf Paytons Worte nicht ein. Er ignoriert das genervte Gesicht und die angespannte Haltung seines Gegenübers. "Der Mörder..." "Face Daddy nennen ihn die Leute hier," fällt ihm Payton ins Wort. "Ist es der selbe, der meine Mutter getötet hat?" Johns Hände schwitzen und er sitzt völlig verkrampft auf dem unbequemen Holzstuhl. Payton sieht an ihm vorbei und schweigt. Sein Blick schweift in die Ferne. John ist sich nicht sicher, ob es etwas zu bedeuten hat. Soll es Paytons Art sein, es Wortlos zu bestätigen, oder will er nicht antworten? Was denkt und fühlt Payton hinter seiner ausdruckslosen Maske? "Ich bin mir nicht sicher, McNeal," sagt er leise. "Und ich dürfte nicht mit ihnen darüber reden. Das wissen sie." Er sieht zu seiner Schreibkraft hinüber und erhebt sich plötzlich. "Ich bin für einige Stunden unterwegs, Miß Meredith." Ohne aufzusehen, oder in ihrer Arbeit inne zu halten, nickt sie. "Ja, Sir." Payton nimmt seinen Mantel unter den Arm und winkt John, ihm zu folgen. Wortlos folgt John ihm, bis hinaus auf die Straße. Der Lärm der Pferdebahnen und des Verkehrs dringen auf ihn ein und verursachen ihm Kopfschmerzen. Unbewußt greift sich John an die linke Schläfe und kneift die Augen ein wenig zusammen, um das kalte Wintersonnenlicht besser zu ertragen. Sein älterer Begleiter steht direkt an der Bordsteinkante und winkt einer Droschke. Das Gefährt kommt heran und hält. Mit einer knappen Handbewegung bedeutet Payton John, einzusteigen, was dieser auch tut. "Cavendish Street," ruft er dem Kutscher zu, während er selbst in den offenen Wagen steigt und sich neben John nieder läßt. "Three Oaks?" fragt John ihn. Anmerkung: Three Oaks ist eine etwas weiter entlegene Gegend mit netten kleinen, nicht ganz so reichen Villen, die aus den Gründerjahren stammen. Payton geht nicht auf Johns Frage ein. "Hören sie, McNeal, für das, was ich tue, könnte ich sofort meine Stellung verlieren." Er streicht sich eine Strähne aus der Stirn. An ihnen ziehen die großen Stadthäuser und Geschäftsgebäude vorüber. An diesem Morgen befinden sich viele Menschen auf der Straße. Die meisten gehen ihrem Gewerbe nach. Geschäfte öffnen, Wagen werden abgeladen, Zeitungsjungen stehen am Straßenrand und brüllen die Schlagzeile des Chronical hinaus. Irgendwo, in der Menge, steht ein großer, schwarzer Mann, Lafait. Er sieht der Droschke hinterher... "Was ich ihnen jetzt alles erzähle, McNeal, bleibt unter uns." Mit der rechten Hand nimmt Payton seine Pfeife und klopft sie am Sitzrand der Droschke aus. "Ich bin bereits vorgewarnt worden, daß sie mir die Türe einrennen." Er sieht auf, ein wenig schadenfroh über das verwirrte Gesicht Johns. "Glauben sie allen ernstes, es würde keine kompetenteren Männer bei der Polizei geben als mich?" fragt er John leise. Ohne eine Antwort zu erwarten, spricht er weiter. "Von höchster stelle wollte man, daß ich in diesem Fall ermittele, genau, wie man vor zwanzig Jahren dafür sorgte, daß ich die Ermittlungen einstelle." "Was wollen sie mir damit sagen, Inspektor Payton?" John legt die Stirn in Falten. "Heißt das, sie..." "Ich bin wie sie, nur ein Bauer auf dem Spielfeld, McNeal," lächelt der alte Mann humorlos. "Bis zu Beginn der Mordserie war ich nichts als ein kleiner Konstabler, der wegen Trunkenheit im Dienst die meiste Zeit in der Ausnüchterungszelle in einer Polizeistation am Hafen verbrachte." Seine Mimik ändert sich. Er wird stiller, ernster. "Wissen sie, bis zu dem ersten Mord, Anfang Juli, schien mich die Welt vergessen zu haben. Dann, plötzlich, änderte sich alles. Ich wurde versetzt und befördert und alles begann von vorne." "Warum hat man ihnen den Fall damals entzogen?" Payton schüttelt still den Kopf. Nach einigen Sekunden antwortet er. "Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich doch auf der richtigen Spur war." Er lächelt gequält und zuckt die Schultern. "Nach der Ermordung ihrer Mutter starben noch siebzehn weitere Menschen. Es war verdammt schwer Hinweise zu finden. Ein Mörder, der keine Spuren hinterläßt und scheinbar wild und wahllos tötet, der nichts stiehlt, außer der Schönheit der Opfer, muß völlig wahnsinnig sein. Face Daddy bringt Männer und Frauen um, aus allen möglichen Schichten der Gesellschaft, eines jeden Alters. Das einzige, was diese Menschen verbindet, ist ihre außergewöhnliche Schönheit und die meisten von ihnen waren bekannt, auf die eine oder andere Weise. Ihre Mutter war einst eine bekannte Tänzerin, aber als er sie tötete, war sie fast ruiniert, kaum in der Lage sie und sich selbst durch zu bringen. Andere sind Persönlichkeiten der Gesellschaft, des öffentlichen Lebens, Politiker, Maler, Sänger, Adelige, Fabrikanten, Poeten..." Er verstummt. "Glücklich, wer in diesen Tagen ein abscheuliches Antlitz hat." Er seufzt und sieht John an. "Ein Wahnsinniger, der entweder abgrundtief häßlich ist, oder es sich einbildet." "Er, oder sie," John macht eine Handbewegung. "Wollen wir nicht ausschließen, daß es eine Frau ist, ist zutiefst fasziniert von allem Schönen. Verliebt in die Schönheit... Klingt für mich fast nach einer Frau." Payton zuckt die Schultern. "Damals haben wir den Gedanken auch nicht ganz ausgeschlossen. Aber vieles deutet darauf hin, daß es ein Mann ist. Spätestens die Art, wie er tötet. Einigen seiner Opfer hat er das Genick gebrochen." "Und wenn es zwei sind?" Payton zuckt die Schultern. "Glauben sie mir, McNeal, wir sind jeder Idee nachgegangen. Wir haben alle Spitäler und Irrenhäuser aufgesucht, alle Ärzte unter die Lupe genommen, jeden Künstler und Medizinstudenten, selbst die Polizeiärzte mußten sich verantworten. Ich habe drei mal hundert Mann zur Verfügung bekommen, um die Stadt zu durchkämmen, die Menschen zu befragen und alles zu überwachen. Und doch gelang es Face Daddy immer, unerkannt durch zu schlüpfen und zu morden. Wir sind hilflos und die Stadt zittert vor Angst vor einem Phantom, daß alles und jeder sein kann. Jemand, der sich mit Giften und Drogen auskennt, mit verschiedenen Waffen und weiß, wie man die Gesichtshaut abtrennt, ohne mehr als dieses Gewebe zu verletzen, jemand, der unter uns leben kann und wir bemerken ihn vielleicht gar nicht." John nickt nachdenklich. "So unergründlich wie die Morde eines Mannes in England, vor elf Jahren." Der Blick Paytons verdüstert sich. "Sie reden von den Whitechapel- Morden an den Nutten?" "Sie haben also auch davon gehört?" "Ich bin vielleicht ein Säufer, McNeal, aber die Geschichten um Jack the Ripper sind selbst bis hier her gedrungen." John nagt an der Unterlippe und wirkt völlig abwesend. "Genau so ungesehen..." An ihnen ziehen jetzt nicht mehr die großen Geschäfts- und Wohnhäuser New Ardens vorüber. Sie verlassen den Stadtkern. Schmutzige, kleine Wohnhäuser, die zu einer Fabriksiedlung gehören, mit winzigen Vorgärten, dominieren das Bild (ähnlich wie bei Dyckerhoff in Wiesbaden). Im Hintergrund raucht eine unbestimmbare Anzahl Schornsteine, schlank, hoch und rund, aus Ziegeln, gehörend zu einer wilden Ansammlung verschiedener flächiger, zwei, höchstens dreigeschossiger Gebäude. Schienen kreuzen die Straße, und aus einem Teil des Firmengeländes, das mit einer ungefähr drei Meter hohen Ziegelmauer umgrenzt ist, fährt ein beladener Güterzug. Hinter dem Zug wird ein Rolltor manuell geschlossen. In einiger Entfernung befindet sich eine Staßenbaukolonne, und schüttet Löcher im Kopfsteinpflaster mit Schotter auf. Ein kleines Automobil wird zur selben Zeit wegen des Güterzuges unsanft zum stehen gebracht. Obgleich die Sonne scheint und in jedem anderen Teil der Stadt noch Schneereste liegen, ist es hier Grau und trüb und deutlich wärmer als in den anderen Teilen der Stadt. Den Fabriken schließen sich größere und schmutzige Wohnhäuser an, Klötze, völlig schmucklos und vom Schlotqualm und der Kohle zum Heizen, die vor den Häusern abgeladen wird, braungrau, alle fünf Etagen hoch und mit schlichten Satteldächern und winzigen Fenstern versehen. Wäscheleinen spannen sich zwischen den etwa zwanzig bis vierzig Meter langen Häusern, die so nah aneinander liegen, daß selbst im Sommer lediglich Wärme, aber keine Sonne heran kommen kann. Die Gebäude sind nicht alle verputzt. Einige bestehen aus gelben Ziegeln. Aber von der Grundfarbe sieht man fast nichts mehr. Wenige Menschen sind auf der Straße. Wenn, dann ausschließlich Frauen. Einfache Frauen, die nicht besonders elegant oder modisch wirken, mit groben, oftmals unintelligenten Gesichtern und stumpfen, schlampig hochgesteckten Haaren. Sie tragen schwere Körbe, oder haben ihre Kinder auf dem Arm. Ein Mädchen fällt auf. Sie ist bleich, wie fast alle Menschen hier, aber außergewöhnlich feingliedrig und zart. Ihr blondes Haar trägt sie zu dicken Zöpfen geflochten. Die Arbeit scheint zu schwer für sie und neben ihr laufen drei Kinder, die vermutlich ihre jüngeren Geschwister sind. Als die Droschke vorbei rollt, sieht sie kurz auf und ihre großen, blauen Augen weiten sich für einen ganz kurzen Moment vor grauen. Ihr fällt der Wäschekorb aus den Händen und landet in einer schmutzigen Pfütze. John sieht, wie sie der Droschke nachblickt, entsetzt, zitternd vor Angst. "Haben sie das Mädchen bemerkt?" fragt er Payton, was dieser mit einem kurzen Nicken und einem schlichten Ja beantwortet. "Gab es hier in der Gegend auch schon Morde?" Payton bejaht erneut. "Vielleicht," spinnt John seinen Gedanken weiter, "hat ja doch jemand den Mörder gesehen. Vielleicht kam er sogar in einer Droschke, oder eines der Opfer wurde in einer Droschke oder Kutsche ermordet..." "Hören sie auf, zu spekulieren," knurrt ihn Payton an. "Glauben sie nicht, McNeal, wir sind selbst auf den Gedanken gekommen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, redet Payton weiter, zumal das eine der schnellsten Strecken von Three Oaks in die Stadt hinunter ist." "Three Oaks... was hat das alles mit Three Oaks zu tun?" Payton verzieht spöttisch die Lippen. "In Three Oaks gibt es ein Spital, das sich auf Geisteskrankheiten spezialisiert hat, wenn sie so wollen, eine Irrenanstalt, nur mit solchen Ärzten, die alle Versuche unternehmen, zu erforschen, was sich hinter der einen oder anderen Krankheit verbirgt, solche, die ihre Patienten eben nicht nur fort sperren." In die Augen des Inspektors tritt ein listiges Funkeln. "Die erste, wie Zweite Mordserie begann hier, in Three Oaks. Zuerst nahmen wir an, daß von dort ein Patient ausgebrochen sei, oder sich öfter unerkannt Freigang verschaffte, was sogar zutraf. Aber der Mann war ungefährlich. Ein harmloser Kerl mit dem Verstand eines Kleinkindes und eben auch solch einem Gemüt. Er pflückt Blumen und bindet daraus ziemlich scheußliche Kränze für die Ärzte und Wärter. Niemand sagt etwas wenn er verschwindet. Jeder in Three Oaks kennt und mag ihn." "Ein Vortrag von Ihnen, und es gehört nicht zum Thema?" John scheint erstaunt. "Ich glaube nicht, daß es jemand aus dem Spital ist. Wir sind die Akten aller Männer und Frauen der letzten fünfzig Jahre durchgegangen." "Aber wir befinden uns auf dem Weg dorthin?" Payton nickt wieder. "Der Arzt, der die Klinik leitet, unterstützt unsere Ermittlungen so gut es ihm Möglich ist. Für Heute versprach er mir, wenigstens eine grobe Darstellung des möglichen Geisteszustandes unseres Face Daddys." John nickt unsicher. Wieder verändert sich die Gegend. Sie verlassen die eigentliche Stadt und rollen an verwirrend vielen Schienensträngen vorbei, entfernen sich aber langsam davon. Baumalleen säumen die Straße und Schnee liegt auf den Feldern und Wiesen. Obgleich es hier friedlich und ruhig ist, sieht man sehr wohl noch die Stadt. Das eine oder andere, etwas ältere, große Haus steht in einiger Entfernung. Diese Gebäude sind so alt, daß sie noch zu siebzig Prozent Holzbauten sind. Nur wenige sind aus Stein. Große, verwilderte Gärten und Parkanlagen umgeben die Häuser, einige nicht einmal umfriedet. Eichen und Ahornbäume dominieren das Bild. Mächtige, entlaubte Giganten, auf deren Ästen Schnee liegt. Plötzlich verliert Johns Gesicht seine beständige, leichte Verwirrung. "Bitte, Payton, werfen sie mir die Informationen Bröckchen weise vor!" Ein wenig ruhiger redet er weiter: "Offensichtlich will jemand, daß der Fall nicht nur weiter verfolgt wird, sondern dieses Mal aufgeklärt werden soll. Was ich dabei soll, ist mir zwar schleierhaft, aber wenn es der Ergreifung des Mörders meiner Mutter dient..." "Nicht so Pathetisch," knurrt Payton aus dem Mundwinkel, in dem bereits wieder seine Pfeife steckt. John wirft ihm einen leicht ärgerlichen Blick zu. "Warum ich?" "Ich bin alt, McNeal. Vor zwanzig Jahren war ich schon fast zu alt, um noch aktiv an einer Verbrecherjagd Teil zu nehmen. Sie, mein junger Freund, sind meine Beine und meine Augen; und, wenn es sie beruhigt, der, der für mich die Kugeln abfängt." Über Johns fassungsloses Gesicht grinst Payton nur müde. "Gewöhnen sie sich an den Gedanken. Oder glauben sie, es war ein Zufall, daß die Britannia hier, in New Arden anlegte? Der Hafen liegt nicht auf ihrer Route. Glauben sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich war fast vierzig Jahre lang Konstabler am Hafen." "Nein," murmelt John düster. "Scheinbar gibt es keine Zufälle." Three Oaks wird von alten, hölzernen, sehr schmalen Villen beherrscht. Häuser mit zwei, höchstens vier Etagen, Farbig angestrichen, in hellen Tönen (Weiß, Blau, Creme, gelb, etc.) und einem kleinen, Park artigen Garten außen. Schmiedeeiserne Zäune umgeben die Anlagen, manchmal sind nur flache, ein Meter hohe Steinmauern und eine Gruppe Eichen und Linden die Grenze der Grundstücke. Geschnitzte Balkonbalustraden, geschwungene Balken, die Vordächer und Balkone, Auskragungen und Veranden tragen, Hölzerne Treppen und gekieste Wege, geflankt von kleinen Sträuchern und Beeten, die im Frühjahr sicher Blumen tragen, dominieren das Bild. Das eine oder andere verschachtelte Steinhaus, dessen verschiedene Baustile sein Alter verraten, finden sich unter den ganzen hübschen, idyllisch gelegenen Villen. Im Hintergrund erhebt sich ein dichter, entlaubter Wald. Ein Ungetüm von schwarzem, verfilztem Holz. Von sehr weit aus dem Waldgebiet, hört man leise Geräusche eines Sägewerkes. Im Zentrum der Villenvorstadt, in ihrem Herzen, ein wenig erhoben über den, New Arden zugeneigten Teil der Stadt, das Spital. Das Gelände ist Gewaltig, größer als ein Häuserblock in der Innenstadt, umgeben von einer drei Meter hohen Mauer aus grauem Bruchstein, in deren Krone einzementiert Glasscherben sitzen, die ein Übersteigen zu einer schmerzhaften Kletterpartie machen. Das Tor ist eine symmetrische Ansammlung von schmiedeeisernen Stäben, durch die Kaum eine flache Hand paßt, die sich aber auf etwa vier Metern Höhe in einem Rundbogen treffen. Links, neben dem Tor befindet sich ein Schild, dick von Patina überkrustet, daß verkündet, hier befände sich New Ardens altes Spital. Bis auf die Bezeichnung Three Oaks Lunatic Asylum and Spital sind die restlichen drei Zeilen unleserlich. Obgleich das Haus eine Irrenanstalt ist, stehen beide Torflügel weit offen. Ein weit geschwungener Weg, gesandet, führt durch einen auffallend schönen, prächtigen Park, der selbst jetzt, im Winter, gepflegt und sauber aussieht. Ein paar große, kräftige Männer und Frauen, die trotz ihres Alters die Naivität eines Kindes in ihren Gesichtern tragen, arbeiten eifrig mit Hacken, Rechen, Reisigbesen und Heckenscheren im Park, dick eingepackt in wollene Pullis, Hosen und Mäntel. Zwei Männer, nicht weniger groß und Grob, aber definitiv in den Kleidern der Anstaltsaufseher, befinden sich unter ihnen, die Gesichter genauso gerötet, und irgendwie alles andere als unglücklich über ihren Job. Einige der etwas minderbemittelten Menschen lachen und winken der Droschke, als sie über den Sandweg vorüber rollt. Am Ende der Einfahrt erhebt sich ein verschachteltes Gebäude aus grob zurecht gehauenen graubraunen Steinen, die verdächtig an Paytons Mantelfarbe herankommen und nicht weniger Schmutzig sind. Der Bau ist gewaltig in seinem Haupthaus allein, wenn auch nur vier Etagen hoch. Eine Treppe, die sich über die gesamte Vorderfront erstreckt, drei Stufen hoch, führt zu einer doppelflügeligen Türe, aus wuchtigem, braunem Holz, mit Glaseinsätzen in dem oberen Drittel. Zwei steinerne Giganten von guten drei bis vier Metern Höhe, die sicher irgendwelche griechischen oder römischen Helden oder Götter darstellen sollen, flanken die Türe und zwischen ihnen, über der Türe, steht auf einem steinernen Band eingemeißelt, der Anfang des Hippokratischen Eids. *Text wird bei Gelegenheit nachgeliefert Auf der rechten Seite des Gebäudes sind die Fenster unvergittert, auf der linken hat man nachträglich Gitter angebracht. Gitter, die die Dicke von 2 cm überschreiten. Gedämpfte Laute dringen nach außen, stöhnen, weinen, unterdrückte Schreie und Flüche... Johns Blick verrät seine Abscheu und seine Angst vor dem, was sich in den Mauern verbirgt. Ihn durchflutet das Gefühlsgemisch. Der Gedanke, hierin eingeliefert zu werden, und vielleicht nie wieder hinaus zu können, treibt seinen Verstand, obgleich völlig unrealistisch, an den Rande faßbarer Panik. In seinem verstörten Zustand gelingt es ihm kaum, diese Vorstellung, die Bedrohlichkeit des Irrenhauses abzustreifen. Unbeholfen stolpert er neben Payton die Stufen hoch, ohne seine Bewegungen und Schritte selbst wahr zu nehmen. Plötzlich legt sich Paytons Hand um Johns Arm. Mit einem knappen Ruck gerät Johns Welt wieder in die Fugen zurück. Und obgleich das Haus nun nicht mehr der Eingang zur Hölle ist, behält es für John seinen boshaften, dunklen Eindruck. "McNeal, haben sie sich wieder unter Kontrolle?" John nickt Payton dankbar zu. Mit einer leichten Portion Mißtrauen betrachtet Payton den jungen Mann, bevor er nachdenklich den Kopf senkt und einen der schweren Türflügel aufstößt. "Ein furchtbares Gefühl, nicht?" Payton sieht John dabei an und beobachtet, wie dieser an ihm vorbei durch die Türe geht. "Vermutlich spürt jeder diese Panik..." Payton sagt noch mehr, aber John nimmt die Worte kaum noch wahr. Ihnen eröffnet sich eine gewaltige Eingangshalle, die sich über zwei Etagen Höhe ausdehnt. Vor ihnen führen vier Stufen aus dunkelrotem Marmor zu einer weit offen stehenden doppelflügeligen Türe aus glänzendem, poliertem Mahagoniholz, in das geschliffenes Glas gefaßt ist. Die Griffe sind Knäufe aus Messing. Rechts der wenigen Stufen steht in einem Alkoven die Büsten des Hippokrates ( siehe Lexikon S. 291). Auch auf der linken Seite befindet sich ein Alkoven, der allerdings leer ist. Der Wandputz hat eine leichte Cremefärbung und einzig die prachtvollen angedeuteten Ionischen Säulen und das Mäandermuster unter der Decke sind rein weiß, aber an den offensichtlichen Schattenkanten vergoldet. Vor ihnen eröffnet sich eine gewaltige, weitläufige Halle. Auch hier besteht der Boden aus Marmor. Wieder herrscht der dunkelrote Farbton hervor, wird aber immer wieder von weiß und schwarz unterbrochen. An sich bildet der Boden das Muster eines gewaltigen vieleckigen Mandalas, dessen Windungen fast einem Labyrinth ähneln. Direkt vor ihnen erstreckt sich eine weite Säulenhalle, die die Galerie der ersten Etage und die folgenden darüber trägt. Die Brüstungen bestehen aus Mahagoni, leicht gebaucht und gewölbt, spielerisch, im Jugendstil, der sich erfolgreich gegen den strengen Klassizismusbau durchzusetzen weiß. Zwei Treppenstränge winden sich in wichen Bögen um einen großen, fast an einen Vogelkäfig erinnernden Aufzug zur ersten Galerie. Im Erdgeschoß befinden sich sogar zwei Telefonapparate in hölzernen, mit rotem Leder und Seide ausgepolsterten Kabinen. Die Wände daneben werden von Gemälden Darwins (S. 139), Freuds (S. 228) und Stendhals (S. 670) geziert, alle drei als Portrait und in vergoldeten Rahmen. Das einfallende Licht kommt vom Eingangsberreich, den zwei winzigen Türmchen, die die Türen vorne, rechts und links der Statuen, flanken, fast wie winzige Erker, versehen mit je drei Fenstern pro Etage, auch wenn sie nie auf irgendeinem Stockwerk enden, sondern einzig die Halle beleuchten. Weiteres Tageslicht fällt durch das verglaste Dach ein. Hinter den Treppen und dem Aufzug fällt ebenfalls Tageslicht ein. John gelingt der Blick dort hinaus, zu einem Wintergarten, der zwar schmal zu sein scheint, aber nichts desto trotz weitläufig, über die gesamte Hausrückseite. Die Türen, links und rechts des Säulenflures und auch die auf den Galerien, bestehen alle aus edlem Mahagoni und sind ebenso alle mit Messingbeschlägen und Griffen versehen. Etliche Schwestern in weißer Novizenkluft eilen über die Gänge, oder führen Patienten, fahren sie in Rollstühlen aus Korb und kümmern sich um kleine Kinder. Die Illusion eines Kurkrankenhauses platzt dennoch, angesichts der leisen, erstickten Schreie und einiger Patienten, die offenbar in geistiger Verwirrung umherwandern. Eine Frau, fast noch ein Mädchen, steht einfach nur bleich und teilnahmslos auf den Stufen, nah des Aufzuges und wiegt den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich kaum, als Payton John mit sich die Treppe hinauf zieht. Dennoch murmelte sie etwas. Ihre blassen, blauen Augen sehen durch John hindurch, und doch folgen sie ihm. "Schön wie die Nacht, schön wie das Blut," murmelt sie leise. "Er hat sie zertrümmert... ihr Schädel zersprang wie Porzellan." Obgleich das Mädchen sich nicht rührt und eigentlich keinerlei Gefahr von ihr ausgeht, versucht John sie zu umgehen. Der Blick ihrer Augen bleibt an ihm haften. Schauernd nimmt er es wahr, dreht sich aber nicht mehr zu ihr um. "Ihre Schwester war unter den Opfern des Mörders. Sie hat den Mord mit angesehen. Seit dem Tag ist sie verwirrt. Sie sagt immer nur das." "Kann man ihr nicht helfen?" Payton antwortet erst, als sie die erste Etage erreichen und sich nach rechts wenden, um auf der Galerie entlang zu gehen. "Deswegen ist sie hier. Aber es scheint hoffnungslos zu sein. Ihr Verstand ist völlig kaputt." John nickt und schüttelt zugleich den Kopf. "Sicher? Vielleicht will sie sich daran nicht wieder erinnern und versteckt sich hinter dieser leeren Fassade. Vielleicht gibt sie ihrer Umwelt sogar mit ihren sinnlos erscheinenden Worten einen Hinweis..." "Sie hören sich genau so an, wie der Doktor." Die Galerie vor ihnen endet in einer Art Kreuzung. Geradeaus endet sie in einem Treppenhaus, nach rechts erstreckt sie sich im Südflügel, nach links endet der Gang na zehn Metern an einem Fenster mit Blick auf den Park und den Wintergarten. Payton geht, ohne zu zögern, gerade aus, durch die breite Türe des Treppenhauses, die, wie alle Türen aus Mahagoni ist und einen geschliffenen Glaseinsatz hat. John folgt ihm. Erst als er im Treppenhaus steht, das im übrigen genauso verschwenderisch und prachtvoll ausgestattet ist, wie alles in diesem Haus (rote Marmorstufen, überdeckt von einem schweren, dunkelroten Läufer, der von Messingspeichen in der Falz zwischen Stufenauf- und Antritt festgehalten wird), bemerkt er, daß sich auf dem Zwischenpodest zum zweiten Stock anstatt eines Fensters eine dicke, verzierte Türe befindet. Payton winkt John ihm zu folgen und eilt recht schnell für sein Alter die Stufen hinauf, um die Türe aufzustoßen und auf eine Art voll verglaster Brücke zu treten. Die Überführung wird von einem filigranen Eisengestell getragen, was durchaus dem Zeitgeist des Jugendstils entspricht, aber keineswegs so hübsch und ansehnlich zu sein scheint, wie das Hauptgebäude. Viel eher erinnert das grüngraue Eisen an etwas Knochiges, mit lagen, dünnen Klauenfingern, die den halb ovalen Zylinder gefangen halten. Daran ändern auch die gefällig geformten Handläufe nichts, sowenig wie die, mit Blumenranken versehenen Glasscheiben in ihrer Fassung. Langsam folgt John Payton über diese Brücke und bleibt plötzlich stehen. "Was, zum Teufel, ist das?!" Er weißt mit der Hand auf das Gebäude, an dem die Überführung endet. Es ist ein wirklich extrem scheußliches Gebäude, grau und schmutzig, überwuchert von den dürren Resten wilden Weins und Efeus, ein Haus, sieben Etagen hoch, teils aus verputztem Stein (der Putz blättert in riesigen Placken ab, löst sich an anderen Stellen und wölbt sich. Die Farbe ist ein Ton, irgendwo zwischen einem verbrannten Industrieschlot und wirklichem, schwarzem Ruß, was darauf schließen läßt, daß das Haus schon einmal ausgebrannt wurde. Deshalb wohl auch der halbherzige Versuch mit den Rankpflanzen.), teils aus grauem, versteinertem Holz. Selbst die Form des Hauses ist irgendwie widerlich. Der zentrale Körper ist wie ein Winkel geformt, der vom neuen Haupthaus absteht. An beiden Endpunkten des Hauses befindet sich jeweils eines Art von Turm, die den Zentralbau um eine Etage überragt. Auf dem Winkelbau befindet sich ein Mansarddach, daß aber oben abgeflacht ist, anstatt eine First zu bilden. Ungefähr Unterarm lange Spitzen umgrenzen den flachen Teil des Daches. Oben existieren winzige Gauben über die oberen zwei Etagen, die oval geformt sind. Alle Fenster sind Klein, fast quadratisch und vergittert. Scheinbar existiert kein anderer Zugang vom Hof aus. Die Türe ihnen gegenüber ist weder aus Holz, noch prächtig. Es ist ein Monstrum aus Eisen, mit einem kleinen Gitter und einer Klappe, damit der, der hinter der Türe steht, hindurch sehen kann. Bevor Payton die Türe erreicht, öffnet sich bereits die Klappe und der Ausschnitt zweier heller Augen in einem blassen Gesicht werden sichtbar. Hinter ihm scheint es Dunkel zu sein. "Der Inspektor," knurrt eine tiefe Stimme. Gleichzeitig erklingt das rascheln eines doch sehr großen Schlüsselbundes und sieben Schlüssel werden gedreht, bevor die Türe nach innen aufgezogen wird. Tatsächlich gibt es nur zwei Gaslampen in den Wänden, die einen kahlen, grauen Flur beleuchten, von dem aus vergitterte Türen in engen Abständen abgehen. Der Gestank und der Lärm ist unbeschreiblich. John denkt in diesem Moment an die Verhältnisse auf dem Schiff, und daß es selbst dort nicht so stank. Pfleger, oder eher Wärter, in weißen Kleidern, sowie Ordensschwestern, bemühen sich auf recht rabiate Weise Ruhe in die Menge zu bringen. Beim vorübergehen bemerkt John, daß mehr als die Hälfte aller Zellen doppelt, manchmal sogar dreifach belegt sind. Hier drinnen ist es kalt und zugig, und es riecht nach Fäkalien und Rauch. Einer der Irren pinkelt wie selbstverständlich auf den Flur, ein anderer Brüllt laut und schlägt sich an den Gittern den Schädel blutig. Pfleger eilen herbei, mit metallenen Eimern. Beide Männer werden mit eisigem Wasser, auf dem noch dünne Eisschollen glitzern, übergossen, was den einen irre brabbelnd nach hinten stürzen läßt, den anderen aber zur Raserei treibt. Payton zieht John am Ärmel seiner Jacke mit sich. "Dieser Gestank, der Qualm... was ist das?" Sie erreichen das Zentrum des Gebäudes, daß in dem Winkel völlig entkernt ist, bis auf einen gewaltigen Schornstein, der von jedem Stockwerk aus mit gewaltigen, rostigen Eisenschellen gehalten wird. Eiserne, fast frei schwingende Treppen mit hölzernen Stufen führen um den Schornstein in weitem Abstand herum, miteinander verbunden durch Stege und Galerien. Hier sind die Wände nackter, verbrannter Stein. "Im Keller werden die Leichen verbrannt. Der Schlot führt den Qualm nach oben. Aber der ist an einigen Stellen nicht mehr unbedingt dicht." Er deutet in eine Richtung, die wohl noch hinter dem Haus liegen muß. "Es gibt hier auch einen Friedhof. Aber nachdem einige Irre mal draußen die Gräber aufgewühlt hatten und auch ein Zaun mit richtigen Lanzenspitzen nicht viel brachte, hat man sich entschlossen die Toten zukünftig zu verbrennen. Nach den Meisten, die hier enden, fragt ohnehin niemand mehr." John schweigt, als er hinter Payton die Treppen hinabsteigt. Die Stege schwanken oftmals bedenklich unter Johns Gewicht, was daran liegen mag, daß sie einzig mit Ketten an den jeweiligen Decken und den Stahlverstrebungen des Schornsteins befestigt sind. "Was wollen sie hier, Payton?" Der alte Mann dreht sich halb im Laufen zu John um. "Was wohl." Seine Miene verrät einiges an Ungeduld, zugleich aber auch etwas Unsicherheit und Angst. Es ist die selbe Mischung irrationaler Gefühle, die auch John wie einen unsicheren Jungen erscheinen lassen. Außerhalb Johns Sicht, ein wenig weiter oben, steht eine schlanke, blonde Gestalt, ein unrasierter junger Mann in einem langen, weißen Kittel. Llewellyn, Johns Nachbar. Seine Blicke folgen John nachdenklich und deutlich mißtrauisch. Payton führt John hinab, bis sie sich selbst unter dem Straßenniveau befinden. Aber im Erdgeschoß enden die wackeligen Stufen hinab. Noch immer umgibt den Schornstein nichts als ein weiter Schacht, und noch immer wird das endlose, steinerne Ungeheuer nur von rostigen Eisenklammern gehalten. Um weiter hinab zu gelangen, wendet sich Payton nach links, in den Flügel, der eigentlich wieder in die Richtung des Haupthauses zurück führt. Hier ist der Flur zwar wesentlich besser beleuchtet, aber dennoch scheint es nicht heller zu werden. Im Gegenteil. Alles wird um einige Schatten reicher, düsterer. Vielleicht eine Optische Täuschung, denkt John. Dennoch entgeht ihm nicht die Kälte hier, der Hauch von etwas ungreifbaren, unbeschreiblichen. Man sagt, erinnert sich John dunkel, daß Häuser immer ein wenig von dem annehmen, was in ihnen lebte und geschah. Im Moment möchte er sich wirklich keine Vorstellung von dem machen, was schon alles in diesem Ding geschehen sein mochte. Das Haus hat im Erdgeschoß seine Personalräume, die Büros und die Aufenthaltszimmer, was John nicht schwer fällt festzustellen, denn die meisten Türen, einfache Holztüren, unlackiert, mit schäbigen Glaseinsätzen darin, stehen weit offen. In einigen Büros wurde der selten dämliche versuch unternommen, die Wände zu tapezieren, mit wenig Erfolg. Scheinbar nehmen die verbrannten Steine keinen Leim an. Jemand hat die Bahnen aus Stoff oder Papier angenagelt(!), wie auch diverse Bilder von Landschaften, die den allgemeinen Eindruck verbessern sollen. Aber spätestens der Blick aus den Fenstern zerstört das. Von den Gittern einmal abgesehen, hat man einen wunderschönen Ausblick auf einen zugewucherten Friedhof, einzig von einem schmucklosen, dünnen Gitter eingezäunt, das schon lange im Besitz des Efeus ist. Aus einigen Büros ist eifriges Tippen auf Schreibmaschinentasten zu hören. Payton führt ihn bis an das Ende des Ganges, bis zu einer doppelt verriegelbaren Eisentüre, die nun einen Spalt weit offen steht. Wie überall, dringt auch hier kein Lichtschimmer hinaus. Zudem stinkt es nach Moder, Alter und verbranntem Stein und Holz. Payton schiebt die schwere Türe auf. Hier ist es tatsächlich noch wesentlich dunkler und Johns Augen brauchen Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Kälte schlägt ihnen entgegen. Eine furchtbare, feuchte Kälte, die schlimmer ist, als der Frost und der Schnee draußen. Sie kriecht unter Johns Kleider und läßt ihn fast erstarren. Nachdem sich Johns Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt er vor sich eine steinerne Wendeltreppe. Payton zieht die Türe hinter sich zu. Stille... Johns Gedanken und Gefühle gefrieren mit der Kälte und der plötzlichen Stille. "Passen sie auf, McNeal," murmelt Payton. Seine Stimme klingt gedämpft, wie alle Geräusche, ihre Schritte, das Rascheln ihrer Kleider, ihrer Mäntel, wie in einem dichten Schneetreiben. "Die Stufen sind immer leicht vereist; selbst im Sommer. Keine Ahnung, wie Dr. Shoemaker das aushält." "Was ist da unten?" "Die Labore, die Zimmer verschiedener Ärzte hier... und noch weiter unten..." Payton zuckt die Schultern und schiebt seine Pfeife in den anderen Mundwinkel. "Ich will's nicht so genau wissen." Vorsichtig tastet er sich an der Wand entlang und steigt vor John hinab. "Das Haus hat so viele Etagen nach unten, wie nach oben, McNeal. Nur die ersten Zwei Kellergeschosse werden von der Anstalt genutzt. Zwar sind schon einige tiefer hinab gestiegen, aber angeblich sind die Tiefkeller zum Teil verschüttet oder eingestürzt. Andere sagen, sie haben dort eine Verbindung zu den Kanälen gefunden, wieder andere, daß dieses Ding in seinen unteren Geschossen gewaltig sein soll, eine Katakombenstadt unter Three Oaks, und jemand darin leben soll. Wieder andere behaupten, sie hätten dort die Ruinen und Überreste anderer, unheimlicher Bauten gefunden, prächtiger und viel älter. Aber die meisten, die dort hinabstiegen, sind jetzt hier Patienten. Deshalb wurde der Durchgang hinab versperrt und versiegelt." "Wollen sie mir eine Kindermär verkaufen, Payton?" John ist nicht halb so überzeugt von seinen Worten, wie er gerne möchte. Und Payton entgeht Johns Unsicherheit keineswegs. Der Inspektor bleibt auf den Stufen stehen, nimmt seine Pfeife aus dem Mundwinkel und dreht sich halb zu dem jungen Mann um. "McNeal, falls sie es noch nicht bemerkt haben, ich jage einen Mann, oder vielleicht auch eine Frau, der seit, soweit ich es geschichtlich, aus Aufzeichnungen zurückverfolgen konnte, nun schon seit den ersten Tagen dieser verdammten Stadt diese Morde begeht... seit den Tagen der Mayflower, und länger! Glauben sie mir, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist es ein Nachahmungstäter, oder seit fast vier Jahrhunderten tötet ein Wahnsinniger außergewöhnlich schöne Menschen und zieht ihnen das Gesicht vom Schädel!" Er schluckt hart. "Und langsam gewinne ich den Eindruck, daß wir es hier mit einem Unsterblichen Mann zu tun haben." "Sie phantasieren, Payton," entgegnet John, doch in seinen eigenen Ohren hören sich die Worte schal an, nicht ganz richtig. Payton senkt den Blick. "Wie schon erwähnt gibt es jemanden, der von uns will, daß wir diesen Mann finden, jemand, der uns immer wieder auf die richtige Fährte bringt und uns unterstützt." Seine Fingerknöchel knacken ein wenig, als sich seine Faust um seinen Pfeifenkopf schließt. "Es ist eine Tradition, McNeal. Solche Männer wie wir gibt es ebenso lange, wie den Irren, den wir Face Daddy nennen." "Unmöglich!" John steht fassungslos auf den glatten Stufen. "Nein, eben nicht!" Paytons Blick scheint für Sekunden zu brennen. "Schon mein Vater und mein Großvater haben dieses Ding gejagt, beauftragt von einer Person, die sie weder gesehen, noch je gesprochen hätten. Und es existieren reichlich Spekulationen, wer er ist, aber zugleich haben sie darüber nie mit ihren Familien geredet." "Woher also nehmen sie ihr Wissen, Payton?" Selbst die Ironie in McNeals Stimme entgleitet ihm, was ihn ein wenig ärgert. Seufzend schüttelt Payton den Kopf. "Man schickte mir ihre Aufzeichnungen und Unterlagen, Zeitungsausschnitte, handgeschriebene Berichte, Dinge, die schon sie erhalten haben mußten, noch als sie junge Männer waren. Ich sollte ihre Nachfolge antreten. Seit ich vierzehn Jahre alt bin, weiß ich von dem Mörder und von dem, der uns mit Hinweisen versorgt. Und wenn ich sterbe, wird meine Tochter für ihn weiter arbeiten, und ihre Kinder und immer so weiter, bis es irgendwem gelingt, Face Daddy zu vernichten." "Sie wissen, was sie da sagen?" Der alte Herr sieht John einen Moment still an, ernst, klar, wie John ihn nie zuvor gesehen hat. "Wer ist er, der Mann, der von uns verlangt, einen Mörder unschädlich zu machen, der allem trotzt, was ihm bisher entgegen gestellt wurde? Ist es nicht möglich, daß uns der Mörder selbst diese Hinweise schickt? Daß er mit uns ein ganz perverses Spiel treibt?" "Der Gedanke drängt sich auf und würde eine Theorie unseres Irrenarztes hier bestätigen." "Warum machen wir diesen Irrsinn mit? Warum springen wir, wenn er es will?!" "Beantworten sie mir diese Frage, McNeal. Warum sind sie seinen Ködern gefolgt, hier her, und zu mir?" Einen Moment schweigt John betreten, sieht dann zur Seite, in den Schatten. "Weil mich die Neugier dazu antreibt und weil ich wissen will warum meine Mutter sterben mußte." "Sie war außergewöhnlich schön und begabt. Jeder in dieser Stadt wußte, wer sie war. Seine Opfer sind alle außergewöhnlich schöne Menschen. Alle. Wenn es nichts gibt, was sie verbindet, so doch diese unfaßliche Schönheit." "Na, dann sind wir beide ja sicher vor ihm," murmelt John. Und seine Stimme klingt nicht besonders humorig. Über ihnen, an der Türe knirscht der Steinboden leise. Schritte, gedämpft, wie alles hier, kommen näher. Ohne es selbst gleich zu bemerken, geht John ein wenig schneller und rutscht dabei immer ein wenig. Der alte Mann vor ihm bewegt sich nicht nennenswert schneller. Aber irgendwie jagt John allein das Knirschen einen tiefen Schrecken ein. Scheinbar endlos windet sich die Steintreppe, und je weiter sie hinab kommen, desto kälter wird es. Selbst die Wände überziehen sich nun schon mit einer dünnen Schicht Eis. Immer noch fühlt sich John von etwas unsichtbar Grauenhaften gejagt, nur durch die schnellen, leisen Schritte hinter sich. Wahrscheinlich nur ein Arzt, eine Schwester, ein Pfleger. Aber trotz allem Logischen, allen vernünftigen und naheliegenden Möglichkeiten, entwindet sich seiner Phantasie etwas unbeschreiblich grauenhaftes. Es ist dieses Haus, denkt John, dieses elende, verfluchte Gemäuer. Nicht das Irrenhaus, nicht die ganzen armen, geist- und seelenlosen Geschöpfe. Es ist das Haus selbst. Und nichts was Payton darüber gesagt hatte, war Ausschlag gebend für seinen Eindruck. Er konnte es so deutlich wie die Kälte spüren, so, als verzerre etwas in diesem Haus jeden Eindruck ein wenig ins Pervertierte. Erschreckend plötzlich enden die Stufen auf einem Gas beleuchteten Gang, der definitiv breiter und heller ist, als alles oben. Auch der seltsame Eindruck von Stille verschwindet plötzlich wieder. Alle Geräusche stürmen auf John nun unangenehm grell und laut ein. John zieht die Brauen zusammen. Irgendwie ist es John gelungen, den alten Mann hinter sich zu lassen. Schnaubend und deutlich ärgerlich kommt Payton, einige Sekunden nach John in das Licht zurück und er hält sich die Ohren. "Verfluchter Effekt!" Ein wenig ungeduldig wartet Payton, bis John zu ihm aufschließt. Wieder ändert sich die Ansicht des Hauses völlig für John. Tatsächlich sind die Gänge hier heller und breiter, die Decken sind höher, wuchtige, schwere Tonnengewölbe (siehe Architektur und Baukunst, S. 38/39). Vor allem reicht der Gang weiter hinaus, über die eigentlichen Grundrisse der oberen Geschosse. Wenn Johns Augen nicht täuschen, zieht sich das ersten Kellergeschoß bis unter das neue Klinikgebäude. Immer wieder gibt es in regelmäßigen Absänden einen Quergang, der nicht weniger breit ist, als der zentrale Flur. Große, portalartige, doppelflügelige Eisentüren zweigen in weiten Abständen vom Hauptgang ab. Die Wendeltreppe ist in einer Art Treppenturm an eine Wand geschmiegt. Aber wie auch in den Etagen oben, befindet sich hier, im Zentrum, dem Winkel, den das Gebäude macht, der selbe, Träger gestützte Schornstein, gleichermaßen Verbrannt, wuchtig und stinkend. Und auch hier geht von ihm etwas unbeschreibliches aus, etwas bedrückendes. Und auch hier riecht man den Gestank nach verbranntem Fleisch und Haar und Stoff. Die Wände sind aus wuchtigen Steinquadern, wie auch aus feinen, kleinen, gebrannten Mauerziegeln, als habe jemand versucht die Lücken zu stopfen, die die Jahre dem Gemäuer zugefügt haben. Auf den meisten der kleinen Steine sind seltsame Muster eingebrannt, die John wage an Runen und Schutzsymbole erinnern. Für einen Moment schießt ihm ein eigenartiger Gedanke durch den Kopf. Was, wenn es tatsächlich all die Geister und Ungeheuer gibt, an die viele Völker glauben, die er bis heute auf seinen Reisen gesehen und kennen gelernt hatte? Denn einige der Prägungen ähneln wirklich entfernt Schutzsymbolen verschiedener anderer Kulturen. Vorsichtshalber schiebt er die Lösung dieses Rätsel auf einen anderen Zeitpunkt. Langsam wird ihm all das hier zu seltsam und schon längst zu unwirklich... Aber auch hier, wo all diese Symbole sitzen, sind die Wände Ruß geschwärzt. Obgleich es hier unten immer noch bitter kalt ist, läßt sich das Klima hier fast ertragen, wenigstens für John. Stimmen, Unterhaltungen, dringen durch die Türen. Auch hier laufen viele weiß gekleidete Männer und Frauen in weißer Nonnentracht umher. Ein dichtes Gewusel an manchen Punkte sogar, immer an den Türen offener Säle. Reichlich sehr junger Gesichter entdeckt John unter diesen Personen. Vermutlich sogar Studenten, überlegt er. Weiter hinten, aus einem der anderen Räume tritt ein Mann, ungewöhnlich groß und stattlich, und mit dichtem Haupthaar und Backenbart versehen, dafür, daß er etwa in dem selben Alter wie Payton sein mußte. Der Mann reckt sich und sieht sich um. Scheinbar sucht er jemand... und nickt zufrieden, als er Payton entdeckt. Er winkt den Polizeibeamten zu sich. Besagter Arzt, denkt sich John und folgt Payton in einen der Säle. Etwas wie das, habe ich noch nie gesehen. Ein gewaltiger, quadratischer Raum mit Rängen und Sitzreihen, die sich hoch staffeln. An der Decke hängen Lampen und dicke Ketten mit Haken, wie man sie für geschlachtetes Vieh benutzt. An zwei, drei dieser Haken hängen Käfige, in denen je ein Mensch sitzt, hilflos, die Hände um die Gitter gekrampft... Als wir kamen, gab Dr. Shoemaker die Anweisung, die Käfige herab zu lassen und die Menschen in ihre Zellen zurück zu bringen. Furchtbar... "Sie wollten das Profil des Mörders, Inspektor Payton." Shoemaker wirkt noch etwas größer und irgendwie vitaler als Payton. Vielleicht liegt es daran, denkt John, daß sein Haar und sein Bart noch immer rot waren und er selbst von Shoemaker um fast einen Kopf überragt wird. Shoemaker ignoriert die Anwesenheit von John völlig. "Dieser Mann ist besessen, auf eine Art, wie auch ich sie noch nie..." Schritte verharren und zur selben Zeit verstummt Shoemaker. John fährt herum. "Was wollen sie hier?!" Eine schlanke, in einen dicken, schwarzen Pelzmantel gehüllte Person lehnt im Rahmen der doppelflügeligen Rundbogentüre. Eine eiskalte Selbstsicherheit geht von ihr aus, von ihrem Verhalten, wie sie da lehnt, lässig, gegen alle Konventionen. Langes, goldblondes, glattes Haar liegt offen auf dem Dichten, wertvollen Pelz. Klare, hellblaue, kalte Augen, die irgendwie eine Spur von boshaftem Zynismus in sich tragen, mustern die Szene. Obgleich sie nicht sofort als Weiblich zu erkennen ist, verbirgt sich unter den Herrenkleidern eine Frau. Auch ihr Gesicht wirkt eher Androgyn, schmal, die Nase gerade, fein gezogen und für eine Frau des Momentanen Schönheitsideal zu lang, die Augen ein wenig zu schmal, obgleich sie groß sind und die Lippen zu dünn, so daß ihr Mund zu groß wirkt. Die Hände in den schwarzen Lederhandschuhen sind etwas zu lang für eine Frau, und zu schmal für einen Mann. Zudem ist sie unglaublich groß. Die Frauen überragt sie sicher, und selbst die meisten Männer sind nicht so groß wie sie... Johns Erinnerung beginnt aus seiner Vergangenheit das Bild eines schmalen, zu großen Mädchens zu spinnen, die blonden Zöpfe widerspenstig und wie geflochtenes Stroh, die zu hellen Augen schmal, fröhlich, lachend, das edle Kleid immer zerrissen, und schmutzig. Und in ihrer Begleitung ein Mädchen gleichen Alters, eine zauberhafte, braunäugige Inderin, beide damals gerade zwölf Jahre... "Sind sie zum schnüffeln hier, oder wegen ihrer indischen Freundin?!" "Auch ihnen einen bezaubernden guten Morgen," lächelt sie und deutet mit dem Kopf ein nicken zu allen anwesenden Herren an. Die Stimme, so kühl, so herb, rauh, als habe sie eben etwas aus Shoemakers Worten gehört, daß sie verletzte. "Louisa," murmelt John fassungslos. "Louisa Brooke." Ihr Kopf ruckt hoch, als sie ihren Namen hört, aber eine weitere Reaktion erhält John nicht. "Im übrigen, lieber Doktor Shoemaker, bin ich privat hier. Aber ihr Monolog begann auch recht interessant." Sie lächelt völlig humorlos. "Insofern haben sie auch meine Neugier geweckt." "Ich will nicht meine Worte morgen in ihrer Zeitung abgedruckt sehen!!" "Ich bin kein Reporter der London Sun," entgegnet sie kühl. "Ich nenne zum einen meine Quellen immer erst zu Ende, wenn sich der Fall erledigt hat, zum anderen wissen sie genau, daß ich selbst den Fall gelöst wissen möchte." "Verschwinden sie, wenn ich ihnen die Medikation für Ashanti gebe?" fragt Shoemaker fast verzweifelt. "Ich könnte auch an höhere Stellen weitergeben, was sie mit einigen der ihnen anvertrauten Menschen machen." Sie lächelt wieder und beobachtet Shoemaker, dessen Mundwinkel zucken. Nach einer Pause senkt sie leicht den Kopf und sagt, ohne ihn dabei anzusehen sagt sie: "Ich habe genügend Material über diese Klinik, um sie als ein nicht minder schreckliches Monster darzustellen, als Face Daddy. Und hoffen sie bitte nicht, daß ich Skrupel haben könnte. Weder ihnen gegenüber, noch diesem Irren, der Menschen das Gesicht nimmt." Irgend etwas hat sie verändert, denkt John bestürzt. Sie ist kälter als Eis. Und sie scheint ihn tatsächlich in der Hand zu haben. Shoemakers Selbstsicherheit hat ein Knax bekommen, John kann sehen, wie er mit sich ringt, wie sich sein Gesicht ein wenig verzerrt. "Seien sie sich sicher, sie waren schön längst geliefert, wenn ich sie nicht noch bräuchte." Während sie das sagt, sieht Louisa ihn direkt an, die Augen schmal, zu Schlitzen verengt. Es scheint fast als stünde sie selbst in Flammen. "Face Daddy, wie sie ihn nennen," Shoemaker begegnet ihrem Blick, zuckt aber sofort wieder zurück. "Ist besessen von allem schönen..." "Das wissen wir alle!" donnert ihn Louisa an. Shoemaker erschrickt sichtlich. "Nein, lassen sie mich das genauer ausführen." Eine Braue Louisas zuckt erwartungsvoll hoch. "Es ist so, daß er alles schöne verehrt. Damit meine ich ebenso Gegenstände." Er sieht Payton an, als erwarte er von dem alten Polizisten, daß er ihm Unterstützung geben könnte. Doch Payton schweigt. "Ich nehme an, er bemächtigt sich allem, was seinen hohen Ansprüchen genügt. Es kann ein Mensch sein, aber genauso ein Bild, eine Blume, eine Vase, ein Kleidungsstück. Ich nehme also nicht an, daß er in den Katakomben hausen wird. Viel eher paßt zu ihm ein stattliches Haus, eine etwas einsam gelegene Villa. Das ließe weiter darauf schließen, daß er selbst sehr ordnungsbewußt und eitel ist." John sieht zu Payton hinüber. "Seltsam dieser Schluß." "Nein," murmelt Payton. "Man hat einige der Toten, nach ihrem Tot noch ein, zwei Mal gesehen. Das bedeutet..." John wird bei der Ausführung dieses Gedanken übel. "...er nimmt die Gesichter wie eine Maske." "Es gibt eine sehr offensichtliche Annahme. Er selbst," führt Shoemaker weiter aus. "...ist sehr häßlich, oder hat durch einen Unfall sein Gesicht verloren. Was daraus resultiert, er sucht nach dem Idealen Gesicht. Zumal es keine Möglichkeit der hundertprozentigen Konservierung gibt, oder er versucht einen Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Mannes oder der Frau zu übernehmen." "Er versucht jemand anderer zu sein..." grübelt John. "Ich sehe es eher ein wenig anders." Shoemaker sieht zu Louisa hinüber und macht ein etwas gequältes Gesicht. "Ich nehme an, er sucht nach einem besonderen, bestimmten Gesicht, einem Mann, einer Frau, ich weiß es nicht. All das andere könnte für denjenigen eine Herausforderung darstellen, daß er sich zeigt..." John sieht Payton alarmiert an. "Wir werden von dem anderen benutzt, diesen Mörder aufzuspüren und unschädlich zu machen..." Payton nickt nachdenklich. Brooke sieht für einen Moment irritiert aus. "Er will wieder leben können. Aber was," gibt Payton zu bedenken, wenn die Annahme falsch ist, und Face Daddy einfach nur Spaß am Töten hat?" "Nein, dieser Mann hat sich in diesen Tötungszwang erst hineingesteigert," entgegnet Shoemaker. "Gut, vielleicht sammelt er auch nur gerne Gesichter, aber ich glaube eher er eifert einem Ideal hinterher und kann es nicht erreichen. Mittlerweile ist in ihm die Sehnsucht danach zu einer irren Besessenheit geworden. Und durch irgend etwas hat auch er jede Skrupel verloren." "Vielleicht hat er sich verrannt," murmelt John nachdenklich. "Vielleicht hat er irgendwann den getötet, dessen Gesicht er will, ist darüber verrückt geworden und hat es ignoriert. Nun sucht er diesen anderen den es nicht mehr gibt..." John reibt sich die Stirn. Sein Denkfehler hat ihn gerade persönlich angesprungen. "Wer aber gibt uns dann die Hinweise?" grübelt er laut. "Möglicher Weise stimmte ihre Annahme, McNeal. Vielleicht ist der Mörder auch unser Schutzpatron." "Zwei Persönlichkeiten in einem Menschen?" Shoemaker hebt die Brauen. "Ein interessantes, aber noch nicht wirklich erforschtes Gebiet. Aber es gibt Theorien und Unterlagen berühmterer Kollegen, die diese Idee verfolgten. Und ich selbst glaube daß es diese Persönlichkeitsüberlappungen gibt. Folgen wir dieser Idee..." "Nein," unterbricht ihn Louisa. "Ich weiß, daß es zwei Männer gibt." John und Payton sehen sie erneut aufgeschreckt an. "Miß Brooke..." Louisa unterbricht Payton mit einer Handbewegung. "Beantworten sie sich die Frage selbst. Inspektor Payton." Sie also auch, überlegt John. Aber warum? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)