Der Orden von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: 1. Kapitel --------------------- Die Kammer, die er zugewiesen bekam, war winzig, dunkel, kalt. Luca konnte nicht einmal beide Arme auf der schmalen Seite ausbreiten, ohne sich die Knochen anzustoßen. Der Boden war nackter, kalter Stein, die Wände feucht und schimmlig. Aber die Decke war weit über seinem Kopf. Verdammt weit. Am Ende des schmalen, langen Raums gab es ein Fenster, ein schmales, vergittertes Fenster, ohne Fensterläden oder Glaseinsätze. Ein Stehpult stand davor, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Das Bett nahm fast vollständig die restliche Länge des winzigen Zimmers ein. Immerhin, es war ein Bett, kein Strohsack. Luca trat wortlos vor dem schlanken, großen Magier ein und sah sich noch einmal, gründlicher, um. Hier gab es nichts interrasantes. Nichts, bis auf das Buch. "Die ersten Tage wirst Du allein wohnen. Wenn du dich einzugliedern weißt, wirst du bald in einen Schlafsaal verlegt. Aber das hängt von dir ab. Auch alle anderen Vergünstigungen hängen von deinem Verhalten und deinem Lerneifer ab. Verstehst du das, Luca?" Der Junge sah sich zu dem Magiermeister, seinem Meister um und nickte still. Der Mann machte ihm keine Angst. Wenigstens keine besonders starke. Nicht so, wie er seinem Vater und seiner Stiefmutter Angst eingejagt hatte. Luca dachte so kalt über seine Familie. Waren sie nicht alles was er hatte? Er empfand nichts für sie. Weder Liebe, noch Hass, noch spürte er den Zorn in sich, den er in sich trug, als sein Vater ihn an den Ordens- Magier verkaufte. Sein Vater hatte das Geld nicht nötig gehabt. Nie! Er zählte zu den reichsten und angesehensten Händlern Valvermonts. Aber es machte sich scheinbar nicht gut ein magisch begabtes Kind zu haben... Diese absolute Leere und Kälte mit der er an den Moment zurückdachte, erschreckte ihn zutiefst. Er hatte seinen Vater nie geliebt, aber er wusste wie sehr sein Vater ihn einmal geliebt hatte, wie sehr er ihn mit teuren Geschenken überhäuft hatte, um sich die Liebe seines Sohnes zu erkaufen. Der Junge legte sein Bündel auf das Bett. "Luca, du wirst es nicht leicht haben. Sie werden es dir schwer machen, dich mit ziemlicher Sicherheit misshandeln. Vielleicht sogar schlimmeres. Du bist jünger als jeder andere Schüler, den der Orden angenommen hat. Die wenigsten Jungen sind unter zwanzig, wenn sich ihr Talent zeigt. Du bist gerade mal neun Jahre..." Seine Stimme klang zum ersten Mal weich, freundlich, sanft und ernsthaft. In den letzten tagen, die sie miteinander verbracht hatten, glaubte der Junge mehr als einmal, dieser Mann bestehe aus Eis. Das kühle, distanzierte Verhalten, das bleiche, junge Gesicht des Halbelfen unter dem langen, silbrig weißen Haaren, die klaren, kalten, blauen Augen, die Tatsache, dass er selten auf Lucas Fragen antwortete und nur sprach, wenn er es für richtig hielt, hatten den Jungen davon überzeugt, dass Cyprian ihn verabscheute. Aber so, wie der Magie jetzt sprach, lag freundliche Wärme in seinen Worten, Sympathie. Luca sah ihn eine Weile schweigend an. Er konnte in Cyprians Gesicht sehen, dass er noch viel mehr sagen wollte, es aber nicht tat, weshalb auch immer. Der Halbelf fuhr mit seiner feingliedrigen, schmalen Hand über Lucas nachtschwarzes Haar und lächelte kurz. Dann gefror sein Blick wieder. Von einer Sekunde zur anderen wusste Luca, dass er wieder den unnahbaren Meistermagier vor sich hatte. "Schlaf jetzt. Morgen früh hole ich dich ab." Luca nickte wortlos. Erst als Cyprian den Raum verlassen und die Türe hinter sich geschlossen hatte, kam wieder ein Hauch von Leben in die schmale Gestalt des schwarzhaarigen Jungen. Er ließ seine Tasche auf die Pritsche fallen und öffnete den Kragen seiner Weste mit der linken Hand. Langsam spürte er wieder dieses Gefühl von absoluter Mutlosigkeit und Leere. Er war hier von Hundert oder mehr Jungen und Männern umgeben und doch einsamer als je zuvor in den gerade mal neun Jahren seines Lebens. Zurückgezogen und allein war er immer. Aber das war eine selbstgewählte Isolation. Er wollte nichts mit seinem Vater und seiner Mutter zu tun haben. Einzig zu seiner kleinen Schwester empfand er eine gewisse Wärme und Zuneigung. Aber auch das war eher Sorge, als Liebe. Nur hier, in dieser unsagbar großen Tempelanlage gab es nichts, dass ihm vertraut war, was er kannte. Das einzige, was ihm geblieben war, waren seine Kleider und was er in seiner Tasche mit sich trug. Ein Tintenfass, eine Schreibfeder, Kohle, ein Zeichenbuch und ein paar gepresste Rosen aus dem Garten seines Vaters. Luca legte seine Weste ab und zog sein Hemd aus der Hose. Er fror ein wenig. Hier war es verdammt kalt. Vermutlich erreicht nie auch nur ein Hauch Sonne diesen kleinen Raum. Aber hier war er nicht mehr der Sohn eines reichen Goldhändlers, sondern nur ein Junge. Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Pritsche und kramte aus seiner Tasche das Zeichenbuch hervor. Das Holz, aus dem Vorder- und Rückseite waren, war glatt und kühl. Vor noch nicht sehr langer Zeit hatte ihm sein einziger Freund dieses Buch geschenkt, nachdem er gesehen hatte, wie sehr Luca das Zeichnen liebte. Justin... Luca schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die kalte, feuchte Steinwand. Ihn würde er mehr vermissen als alles und jeden anderen auf dieser ganzen Welt. Der Elf war erst eine kurze Zeit mit Luca befreundet. Gerade erst ein halbes Jahr... Noch nicht einmal. Der Elf war viel älter als er, ein Mann, was bei einem Elfen mindestens 200 Jahre ausmachte. Aber Justin störte sich nicht daran dass Luca erst in ein paar Monaten, in der Zeit der Nebel, zehn Jahre alt wurde. Gerade in den letzten Wochen, bevor Luca an den Orden verkauft wurde, war er oft, auch gegen den willen seiner Familie, bei Justin, im Labyrinth. Luca schlug sein Zeichenbuch auf und nahm sich das zugeschnittene Kohlestück. Eine ganze Weile saß er reglos über dem leeren Pergament und starrte es an. Er ließ seine Gedanken treiben, seine Träume sein Bewusstsein überfluten. Langsam, ganz langsam kristallisierte sich ein Motiv für ihn aus seinen Träumen. Als er die ersten Linien auf dem Blatt zog, nahmen seine Gedanken Form an, wurden bildlich, wahr. Justin hatte ihm gezeigt, wie schön es war, nicht allein zu sein, nur mit seinen Gedanken und Wünschen, er hatte ihm gezeigt, wie man lebt. Schneller und schneller flog der Stift über das Blatt. An diesem Tag vor einem halben Jahr im Winter, diesem einen besonderen Tag, war etwas mit seinem Vater. Er hatte eine Nachricht erhalten, eines seiner Schiffe musste gekentert sein und ein paar andere hatte das Packeis im Hafen zerquetscht. Aber es war schon eine Weile klar, dass ein anderes Handelshaus alles daran setzte, Lucas Vater zu ruinieren. Und er hatte auch alle Beweise dafür. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, vielleicht konnte er sich jetzt endgültig dieser Plaggeister entledigen. Sybilla, Lucas Schwester war noch lange nicht in der Lage zu begreifen, was um sie herum vor sich ging. Sie rannte ihm hinterher, als er das Haus verließ. Er bemerkte sie nicht einmal. Nur Luca viel es auf. Er folgte ihr, so schnell er konnte. Aber kannte die Stadt nicht wirklich. Nie hatte er mehr gesehen, als den Weg, bis zum Zentral- Markt, oder den Schreinen und dem Hafen. Die vielen Menschen um ihn, die fremden Geräusche und Gerüche und der Lärm verwirrten ihn, machten ihm Angst. Immer wieder verlor er sie aus den Augen... und sie ihren Vater. Dem Zweispänner von Lucas Vater machten die Leute schnell Platz. Sie sprangen zur Seite... Der Grund, warum die Kinder ihrem Vater noch eine Weile folgen konnten, aber so schnell wie die Leute dem Wagen auswichen, so schnell wogten die Körper auch wieder zurück und machten es Luca immer schwerer, hinterher zu kommen. Luca setzte kurz den Kohlestift ab und sah auf, starrte die Wand ihm gegenüber an, als würde er dort die Ereignisse der Vergangenheit noch einmal sehen. Vielleicht tat er das sogar. Er erinnerte sich des Gefühls von tiefer Angst und Unsicherheit... ...denn, als er Sybilla eingeholt hatte, sah er seinen Vater nicht mehr und wusste zu allem Überfluss nicht, wo überhaupt sie beide waren. Sybilla hatte sich zu seinen Füßen hingekauert und weinte laut, schrie nach ihrem Vater und zog an Lucas langem Spitzen verzierten Hemd. Der Junge sah sich noch einige Sekunden lang unschlüssig um. Nun war er derjenige, der nicht die Nerven verlieren durfte. Schließlich war er Sybillas großer Bruder und musste sich um sie kümmern. Ein naiver, überspannter Gedanke, überlegte Luca jetzt. Besser gemacht hatte er jedenfalls nichts damit. Sybilla beruhigte sich erst wieder, als eine dickliche, stark riechende, alte Frau neben ihnen stehen blieb und sich zu dem weinenden Kleinkind hinabbeugte und sie mit fauligen, schlechten Zähnen angrinste. Egal wie ekelhaft Luca sie fand, er spürte auch, dass die Frau ihnen nichts Böses antun wollte. Behutsam strich sie Sybilla durch das hellblonde Haar. "Was hast du denn, Schätzchen? So schlimm kann es doch gar nicht sein. Ein so hübsches Mädchen wie du kommt doch sicher aus einem der Reichen Häuser auf dem Hügel, aus der Oberstadt..." Ein Schatten fiel über sie. "Weg da Weib," donnerte eine tiefe Stimme. "Lass die Kinder in Ruhe!" Luca fuhr herum und sah einen riesig großen, gepanzerten Mann mit tiefschwarzem Bart vor sich stehen. In der Rechten trug er eine Hellebarde und an seinem Gürtel hing ein schmuckloses, großes Schwert. Auch er roch unangenehm, nach schweiß und Alkohol. Sehr billigem Alkohol. Sybilla schrie auf und rannte fort. Luca konnte nichts daran ändern. So schnell er konnte, rannte er dem wuselnden blonden Winzling hinterher. Sybilla war klar im Vorteil. Sie war klein und niedlich und hatte somit jeden Vorteil auf ihrer Seite. Luca war für seine neun Jahre verdammt groß, genaugenommen sogar bereits etwas größer als sein Vater. Es dauerte Minuten bis er sie wieder eingeholt hatte. Und wieder weinte sie. Sie war so zerbrechlich und niedlich wie eine Porzellanpuppe. Ein Mädchen von fast perfekter Gestalt, für eine vierjährige. Langes, blondes, lockiges Haar, klare, offene, blaue Augen, rosige Wangen, zierliche, puppenhafte Händchen und Füße, rosige Lippen und die vollendete Grazie einer jungen Dame. Aber ihre geschwollenen, roten Augen , die Tränenspuren auf ihren Wangen machten das Bild kaputt. Luca kniete sich neben ihr in den Staub auf der Straße und schlang beide Arme um sie. Er selbst kannte Umarmungen nicht. Niemand nahm ihn in den Arm. Niemand sagte ihm je, dass er nicht allein war oder geliebt wurde, All das aber tat er nun. Und in diesem Moment waren seine Worte so ernst gemeint, wie vielleicht nie zuvor in seinem leben. Sybilla schlang ihre Arme um seinen Nacken und drückte sich mit ungeheurer Kraft an ihn. Die Wärme, die er die Umarmung in ihm für das kleine Mädchen wachrief, war ihm fremd, aber sie tat auch gut. Nach einer Weile, nachdem ihm klar wurde, dass sie ihn nicht loslassen würde, nahm er sie auf die Arme. Verwundert stellte er fest, dass sie nicht wirklich schwer war, und er sie völlig problemlos tragen konnte. Noch während er sich aufrichtete, sah er sich um. Die Menschen waren weniger geworden. Hier herrschte nicht mehr das Gedränge und der Lärm. Obwohl, an sich stimmte das nicht. Hier schrieen die Menschen nicht laut durcheinander. Nein, ganz im Gegenteil. Die Straßen waren verhältnismäßig leer. Nur ein paar Frauen mit Waschkörben liefen hier durch die Straße und zwei andere Frauen, die am Backhaus standen. Musik drang aus verschiedenen Fenstern, Gesang, das Spiel von Laute und Spinett, Trommeln und Harfen, Flöte, Schalmei und Geigen, einiges, was furchtbar klang, einige, die Tonleitern übten, die weise, sanfte Stimme einer einzelnen Geige, die fast klang wie die Stimme einer Frau. Jemand fluchte laut und scheuchte ein Kind von den Stufen eines einfachen, mehrgeschossigen Lehmhauses. Luca hörte, dass der Mann den kleinen Jungen in das Handwerkerviertel schickte und ihm auftrug Pulver von Steinen und Metallen zu holen. Luca ging ein Stück weit die Straße hinab, gefolgt von fragenden Augen. An der nächsten Straßenecke versuchte er sich wieder zu orientieren. Ohne lange darüber nachzudenken ging er nach rechts. Sybilla hatte ihr Gesicht an seinem Hals, in seinem langen, tiefschwarzen Haar versteckt. Sie weint nicht mehr, aber ihre Haut war unnatürlich heiß... Luca beschleunigte seinen Schritt ein wenig. Er spürte dass ihnen jemand folgte. Immer wenn er sich umdrehte aber, war da nur ein Schatten, der sich manchmal ein wenig zu langsam verbarg, als dass er unentdeckt blieb. Aber Luca hatte auch den Eindruck, dass sein Verfolger nicht unentdeckt bleiben wollte. Die Gassen die er durchquerte wurden immer enger, immer menschenleerer. Luca war klar, er hatte sich völlig verlaufen und er ließ sich treiben. Angst? Nein, Angst empfand er keine. Nicht in dem Sinne. Es war eher eine art erwartungsvolle Aufregung und Nervosität, dass er einen Fehler machen konnte. In ihm erwachte etwas... Stärker als die paar Male zuvor. Und es wurde von einem Gefühl höchster Vorfreude begleitet. Er ließ sich freiwillig treiben, weiter und weiter weg von zu Hause. Aber auch weiter weg von den belebten Straßen und den bewohnten Vierteln. Sybilla wurde wieder etwas unruhiger. Ihre kleinen Händchen griffen noch einmal in Lucas Nacken nach und sie hob ihren Kopf ein wenig. Er fühlte ihr zusammenzucken ganz deutlich. Jetzt war es so weit, dachte er. Noch im Laufen löste er Sybillas Hände und setzte sie auf dem Boden ab. Rasch schob er sie in den nächsten Hauseingang und fuhr herum. Gerade noch rechtzeitig, um einem Schlag mit einem Sandsack ausweichen zu können. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass seine Gegner alle abgerissen aussehende Jungen und Mädchen waren, die einige Jahre älter waren als er... Aber nur einer von ihnen war größer als Luca. Vermutlich ihr Anführer. Er zählte etwa 14 Kinder. Luca setzte den Stift ab, legte das Zeichenbuch neben sich auf die Pritsche und stand auf um sich zu strecken. Ihm wurde schwindelig und schwarz vor den Augen. In den letzten Tagen hatte er fast nichts gegessen. Hunger hatte er schon seit Wochen keinen mehr. Seit... Luca senkte den Kopf. Er bereute den Enthusiasmus, den er an diesem verdammten Tag fühlte. War dieses Hochgefühl doch schließlich an seiner momentanen Situation schuld. Luca setzte sich wieder auf sein Bett und betrachtete unschlüssig das Ergebnis in seinem Buch. "Das war keine besonders gute Idee für solche hübschen, feinen Mädchen, hierher zu kommen," sagte der größte der Jungen lächelnd und spie aus. Luca sah ihn ruhig an. "Mädchen?" fragte er. Der Junge grinste noch ein wenig breiter. "Ach je, ein Junge, und was für ein hübscher. Du musst doch sehr beliebt sein, oder nicht?! Jemand wie Du kann ja nur als Lustknabe dienen..." Luca schnaubte ärgerlich. Ihm war durchaus klar, was der Junge meinte, aber nie in seinem Leben hatte er etwas vergleichbares getan. "Na komm, du willst doch... Du möchtest mich doch angreifen, oder nicht?!" rief ihr Anführer. Einer der anderen Jungen hob einen Knüppel drohend und ein anderer spielte mit einem langen Messer. Die meisten von ihnen waren allerdings unbewaffnet. Luca senkte den Blick ein wenig und lächelte. Leise begann er zu murmeln, Worte, die ihm selbst Fremd waren, die er begleitend für beeindruckend hielt. Die Jungen zeigten sich nicht wirklich beeindruckt, wie er feststellen musste. Aber das störte ihn nicht wirklich. Zwischen seinen langen, schmalen Fingern entstanden blaue Blitze. Die Luft roch leicht verbrannt... Die Mädchen traten zurück, scheuten sich, weiter in der Nähe Lucas zu bleiben. Selbst einige der Jungen wichen nach hinten... Aber nicht alle. Ihr Anführer lächelte nur Mitleidig. "Kannst du auch noch mehr?" Kommentarlos hob Luca die rechte Hand, ballte sie zur Faust und drehte sie mit dem Handrücken nach unten. Die blauen Blitze verschwanden und wichen einem grell weißen Glühen. Er öffnete die Faust, drehte die Hand und stieß die Handfläche vor, gegen den größten der Jungen. Ein grell leuchtendes Geschoss raste auf den Jungen zu. Und obgleich er auszuweichen versuchte, gelang es ihm nicht. Luca sah, wie sein Zauber den Jungen weit zurückschleuderte und er reglos liegen blieb. Nun rannte der größte Teil der Kinder fort. Bis auf eines der Mädchen. Sie kniete neben dem Jungen nieder und rüttelte an seiner Schulter und schrie immer wieder seinen Namen, aber der Junge regte sich nicht mehr. Erschrocken lief Luca zu ihr, schob sie ein Stück weit beiseite und untersuchte den Jungen mit fliegenden Fingern. Sein Hauslehrer hatte ihn in weit mehr unterrichtet als nur zu lesen, zu schreiben, zu rechnen und ein Verständnis für Kunst und Umgangsformen zu entwickeln. Aber von alledem wusste sein Vater nichts. Luca konnte malen, zeichnen, dichten, und auch heilen. Seine Finger tasteten nach dem Herzen des Jungen. Er schob den schmutzigen Stoff von Hemd und Jacke weg und fühlte über die magere, aber muskulöse Brust des Jungen. Das Mädchen kam heran und schlug auf Luca ein. Sie schrie und weinte und versuchte Luca wegzuzerren. Mit einer kurzen Bewegung schüttelte er sie ab. "Du hast ihn umgebracht! Du Monster! Nur weil du reich bist, glaubst du, du könntest uns wie Wild jagen...! Nimm deine verdammten Finger von ihm weg! Du bekommst ihn nicht! Nie!!!" Bevor sie sich wieder auf Luca stürzen konnte, fuhr dieser herum und wich gerade noch aus, bevor sie ihm mit einem Stein den Schädel einschlagen konnte. Mit einer viel zu schnellen Handbewegung ergriff er ihre Handgelenke. "Hör mir zu!" bat er. "Bitte hör mir zu. Er lebt." Sie wehrte sich nun nur noch heftiger. "Er wird nicht sterben. Hörst du?" Er schrie nicht. Seine Stimme war nur ein sanftes Flüstern. Nach und nach wurde ihre Gegenwehr schwacher und schließlich brach sie in Tränen uns und brach zu seinen Füßen zusammen. "Du, Luca?" Luca zuckte zusammen. Sybilla musste alles gesehen haben. "Ist der Böse Junge jetzt tot?" "Er lebt," sagte Luca leise und kniete neben dem Jungen nieder. "Er ist nicht böse, Sybilla. Er ist arm." "Arm?" echote die Kleine verständnislos. "Was meinst du damit? Was ist das?" Das Mädchen hob den Blick und funkelte Sybilla aus verweinten Augen zornig an. Luca strich sich die Haare zurück und sah sie an. "Habt ihr uns angegriffen, weil wir reich aussehen?" fragte er sie ernst. Sie nickte verständnislos. "Entschuldige die dumme Frage." Er lächelte matt. "Bitte, hilf mir, ihn von der Straße wegzubringen. Er braucht jetzt Ruhe und Pflege." "A.... aber wir sind... aus..." stotterte sie. "Wir sind aus dem Labyrinth." Sybillas Augen verengten sich. Sie begann wieder leise zu weinen. Auch Luca erinnerte sich an die Erzählungen aus dem Labyrinth. Ein Böser, dunkler Ort. Luca schob seinen Arm unter den Kopf des Jungen und er richtete den bewusstlosen Jungen auf. "Sybilla, komm. Du musst keine Angst haben." Die kleine wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Augen und nickte. "Warum machst du das... Luca...?" fragte das andere Mädchen leise. "Warum verletzt du ihn erst und hilfst ihm dann?" Luca senkte den Blick. "Ich weiß nicht. Ich musste mich wehren und wichtiger als das war es meine Schwester zu beschützen." Sie nahm es kommentarlos hin. Schweigend trat sie um den Jungen auf der Straße herum und griff unter seinen linken Arm. Luca strich sich die Haare zurück und beugte sich wieder über die angefangene Zeichnung. Es fiel ihm schwer, sich wirklich auf seine Zeichnung zu konzentrieren, besonders, nachdem er sie einmal unterbrochen hatte. Er spürte, dass seine Gedanken wieder abdrifteten. Das Mädchen zeigte Luca den Weg durch einen völlig toten leeren Ring unbewohnter Häuser, der die Grenze zu dem bildete, was man das Labyrinth nannte. Nach fast einer Stunde erwachte der junge wieder. Er sagte eine ganze, lange Zeit gar nichts, denn er musste noch immer gestützt werden. Sprechen verbrauchte unnötige Kraft, und er hatte kein bisschen Kraft zu verschenken. Luca wusste das nur zu gut. Und er war froh um diesen Zustand. Seine kleine Schwester hielt sich an seiner freien rechten Hand fest. Sie hatte Angst. Ihre Finger waren feucht und sie Zitterte. Zudem hatte sie Fieber. Sie kamen nicht schnell voran. Zuletzt nahm Luca seine Schwester wieder auf den Arm. Eines wurde ihm nun Schussendlich klar. Heute Nacht würden sie nicht zu Hause schlafen. Der Junge, Kael, ermüdete zusehends, und Luca wusste, dass seine Kräfte aufgebraucht waren. Sein Zauber, er wusste nicht einmal, was es war, hatte Kael schlimmere Verletzungen beigebracht, als Luca es wollte. Darüber hatte er sich gefreut? Luca beschloss, seine Prioritäten zu überdenken. Überleben? Gut, sicher, aber nicht um jeden Preis, und Kael hätte er töten können... Sie mussten eine längere Rast in einem der alten Häuser einlegen. Wenigstens so lang, bis Kael wieder aus eigener Kraft laufen konnte. Alle Häuser rund um das Labyrinth herum waren verlassen, und die meisten davon in bemitleidenswertem Zustand. Sie suchten sich eines, bei dem das Dach und die Frontwand zur Straße hin noch in einem Stück waren. Der Eingang existierte auch noch, aber, als das Mädchen, Rehna, gegen das alte Holz drückte, fiel die Türe schlicht aus ihrem Rahmen und wirbelte Massen von Staub auf, als sie mit einem dumpfen Poltern zu boden fiel. Eine Menge kleiner, vielbeiniger Krabbeltiere huschte in den Schatten davon. Luca schauderte leicht bei ihre Anblick. Seine Schwester fing an zu weinen und klammerte sich fester an seinen Hals. Kael hob ärgerlich den Blick. "Seid doch still ihr Irren," murmelte Rehna. Luca sah sie schuldbewusst an und nickte. Behutsam wiegte er seine kleine Schwester und flüsterte ihr aufmunternde Worte zu. Kael verdrehte die Augen. Nach ein paar Sekunden hörte das kleine Mädchen auch wieder auf zu weinen. Leises schluchzen war das einzige, aber dennoch hallte es unheimlich und lang durch das leer stehende Gemäuer. Luca sah sich in dem halbdunkel des Hauses um. Es war ein Windfang und der Treppenaufgang. Ein paar Türen führten rechts der Treppe ab. Rehna sah Luca an. "Kannst Du ihn einen Moment allein halten?" fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Als sie Kael losließ, sackte Luca fast in die Knie. Kael knurrte ihn ärgerlich an. Aber, Luca sah auch, dass der Junge dabei hämisch grinste. "Sag mal, was kannst du denn außer Zaubern überhaupt?" fragte er spöttisch. Luca senkte den Blick und zog vor, nicht auf seine Frage zu antworten. "Du bist zwar so süß wie ein Mädchen, du riechst auch so gut und hast so weiche Haut, aber außer denen, die nichts dafür können zu schaden, kannst du nichts." Luca seufzte und nickte. "Vielleicht hast du recht." Kael sah ihn groß an. "Das gibst du zu?" Er grinste. "Hochachtung, so was geben solche feinen Jungs sonst nicht zu." Luca schüttelte nur den Kopf. "Ich habe nie gearbeitet, nie gehungert oder kämpfen müssen. Ich glaube nicht, dass ich zu viel zu gebrauchen bin." Kael Griff nach dem Treppengeländer und hielt sich daran fest. "Du bist jedenfalls sehr ehrlich." Das Geländer zerbrach, als er sich etwas fester darauf stützte. Mit einer schnellen Bewegung griff Luca zu und hielt Kael fest. Er wusste nicht genau, woher er die Kraft dazu nahm, aber es gelang ihm. Erschrocken zuckte Kael zusammen, als er ein leises Knacken und danach ein lautes Bersten vernahm, und gleichzeitig neben Kael die gesamte Treppe hinauf zusammenbrach. Instinktiv krallte sich Kael in Lucas Hemd und drückte sich an ihn. Luca spürte Kaels Herzschlag und seine Angst. Rehna kam aus einem der Zimmer gelaufen und schrak zurück. "Seid ihr in Ordnung?" fragte sie ängstlich. Kael schluckte hart und nickte. Fast wiederwillig löste er sich von Luca. Rehna winkte sie in den Raum, aus dem sie gerade gekommen war. "Hier herein. Bleiben wir heute nacht hier." Rehna lag zusammengerollt, an ihren Bruder gekuschelt und schlief. Auch Sybilla war tief und fest eingeschlafen. Luca hielt sie in seinen Armen und wärmte sie, so gut er konnte. In den letzten Stunden war ihr Fieber nicht gestiegen, aber auch nicht wieder gefallen. Er konnte nicht schlafen. Seine Gedanken kreisten um das, was er getan hatte, wo er sich befand, und dass er zwar in Valvermont, aber endlos weit von zu Hause war. "Luca?" Der Junge zuckte zusammen. "Was denn?" Kael hob den Kopf. "Danke." "Wofür?" "Na ja, ich wäre jetzt vielleicht schon tot, wenn du mich nicht von der Treppe weggezogen hättest." Luca sah ihn an. Trotz der Dämmerung konnte er Kaels Gesicht erkennen wie bei normalem Tageslicht. Eine der vielen kleinen unerklärbaren Dinge an ihm. "Kannst du Sybilla und mich morgen nach Hause bringen?" Kael zuckte die Schultern. "Klar." "Weißt du, meine Familie wird sich sicher große Sorgen machen. Weniger um mich, aber Sybilla. Schließlich ist sie doch das einzige eigene Kind meiner Mutter." "Was erzählst du denn für einen Quatsch?" Luca setzte sich so behutsam auf, wie er konnte, damit er Sybilla nicht aufweckte. "Sybilla und ich haben nur den gleichen Vater. Ich glaube das sieht man auch recht deutlich. Sybillas Haar ist blond, meines schwarz, ihre Haut ist dunkler, meine hell..." Er lächelte. "Meine Mutter starb in dem Jahr meiner Geburt. Zwei Jahre danach heiratete mein Vater Sybillas Mutter, die sich bereiterklärte, ein solches Kind wie mich als ihres anzunehmen. Ich dachte sehr lang, sie sei meine Mutter. Aber irgendwann erzählte mir unser Koch, der schon ewig da ist, dass meine Mutter eine schwarzhaarige, elfenartige Frau war." Er zuckte mit den Schultern. "Mit Sybillas Geburt verlor meine zweite Mutter alles Interesse an mir. Ich wurde nur noch von Fremden erzogen." Behutsam strich er über Sybillas Gesicht. "Sie ist die einzige meiner Familie, die mit mir spricht und die einzige, die mich gern hat. Ich würde für Sybilla alles tun." "Reich sein schützt also auch nicht davor, einsam zu sein." Luca sah ihn unverständig an. "Jetzt bin ich so arm wie du auch. Und ich habe auch nur meine Schwester, wie du." Kael lächelte. "Ja, heute Nacht sind wir gleich, Morgen aber werden wir wieder der Arme und der Reiche sein." Luca lehnte sich zurück und schloss die Augen. "Vielleicht..." "Kael...!" murmelte Luca. Vielleicht war der arme Junge auch ein Freund für ihn gewesen. Er wusste es nicht. In dieser Nacht fühlte er sich jedenfalls Kael nahe. Näher als seiner Schwester. "... Luca, hörst du nichts?" Luca fuhr so schnell hoch, das seine Stirn mit Kaels kollidierte und er erst wieder benommen zurücksank. "Was in aller Welt..." Kael legte Luca seine Hand über die Lippen. "Still!!!" zischte er und machte eine Kopfbewegung zur Tür. Luca war in der selben Sekunde bewusst was Kael meinte. Sie hörten es beide, dieses nasse, schwere, unheimliche Schleifen, ein Geräusch, dass ihnen furchtbare Angst machte. Atemzüge schwer, asthmatisch, unregelmäßig und heiser. Etwas schlurrte an der Wand entlang, drückte sie ein Stück weit ein, als wäre es kein Mauerwerk, sondern dünnes Holz. Luca sog erschrocken die Luft ein. Kael erhob sich mühsam und sah sich in dem kleinen, leeren Raum nach irgendetwas um, was er als Waffe nutzen konnte. Luca hielt ihn am Arm zurück und erhob sich ebenfalls." Knacken und brechen von Holz... dann wieder dieses Schlurren, allerdings auf Stein. "Es entfernt sich," wisperte Luca. Er wollte sich gerade wieder ein wenig entspannen, als Schritte laut wurden, Gemessen, ruhig, langsam, und von vielen Personen. Luca huschte zur Tür und legte das Ohr dagegen. Er konnte einige geflüsterte, dumpfe Stimmen hören, die klangen, als hätten die, die Sprachen, sich etwas vor den Mund gebunden. "Lu..." Luca fuhr herum und hielt Kael den Mund zu. Wortlos drückte er ihn von der Türe zurück und zu Boden. Endlos schien diese nächtliche Prozession zu dauern, die nach unten ging, in die Gewölbe unter dem Haus. Erst als die letzten Schritte verstummt waren, ließ Luca Kael los und atmete tief durch. "Wer sind die?!" "Was weiß ich," entgegnete Luca leise. ""Aber ich will wissen was das war und wohin die gegangen sind. Bring du die beiden Mädchen hier raus." Kael sah ihn an, als habe Luca ihn gefragt, wie viel er täglich verdienen würde. "Bist du bekloppt?!" zischte er. "Ich laß' dir den Spaß nicht allein!!!" Rehna hob den Kopf. "Müsst ihr so schreien?!" Sie sah verschlafen zu ihrem Bruder hoch. "Nimm Sybilla und verschwinde zu Justin!" befahl ihr Kael. "Erzähl ihm, dass hier etwas vor sich geht, was nicht sein soll!" "Justin..." flüsterte Luca. "Kommt ihr aus dem Labyrinth?" Kael nickte nur knapp. Rehna stand auf und nahm das schlafende Kleinkind auf ihre Arme. Für sie schien ein Befehl ihres Bruders ein Gesetz zu sein. Wortlos verließ sie den Raum und huschte Lautlos aus dem Haus. Der Spur der anderen zu folgen fiel Kael nicht sehr schwer, genaugenommen trat er selbstbewusst aus dem Zimmer, machte zwei Schritte und rutschte aus. Er saß inmitten einer schleimigen Spur, die seine Kleider ziemlich ruinierte. Nicht dass sie nicht zuvor schon ziemlich gelitten hätten. Luca konnte sich sein Grinsen gerade noch verkneifen, als Kael nach Lucas Hand griff und sich an dem Jungen versuchte hochzuziehen und ihn dabei zu sich herabriss. Luca fiel Kael in die Arme und blieb leise lachend liegen. "Weißt du, das ist der schönste und abenteuerlichste Tag meines ganzen Lebens. Ich wünschte, das könnte immer so bleiben." Kael knurrte ärgerlich. "Klar, du liegst nicht mit deinem Hintern im Monsterglibber!" Vorsichtig, um nicht noch einmal in diesem Zeug auszurutschen, gingen die beiden Jungen weiter. Weil Kael in der diffusen Dunkelheit nichts sehen konnte, übernahm irgendwann Luca die Führung. Nachdem Kael ein weiteres mal stolperte und fast die Stufen zu den Kellergewölben hinab gestürzt wäre verließ er sich auf die offenbar besseren Augen Lucas. Mehr noch, er hielt sich freiwillig an Lucas Hand fest. Eine Art blindes vertrauen. Er wusste ja nicht, b er Luca trauen konnte, oder dass dieser in jeder Situation zu ihm stand, und ihn beschützte. Aber diese stille Übereinkunft, sein Vertrauen in Luca, bewiesen sich. Am Ende einer langen Treppe erwartete sie feuchte, kalte, hallende Finsternis. "Siehst..." Kael erschrak, wie weit man seine Stimmen hören konnte. Fast automatisch senkte er sie zu einem wispern. "Siehst du noch etwas?" Luca nickte, bis ihm bewusst wurde, dass Kael ihn nicht einmal mehr sah. "Ja, wenn auch nur wenig." Als sie die letzte Stufe verließen, traten sie in knöchelhohes, eisig kaltes Wasser, in dem sich definitiv etwas bewegte, sogar Lucas Fuß streifte, bevor sich die Kreatur in einen ruhigeren Teil der Halle trollte. Er vermied es, Kael auch nur ein Wort darüber zu erzählen. "Unheimlich, nicht?" Luca nickte und ging gezwungen ruhig weiter. Hier gab es keine Spur mehr, der sie folgen konnten. Nichts... Luca konzentrierte sich auf das wenige was er sehen konnte, um nicht auf etwas zu treten, was ihnen den Tritt übel nehmen konnte, oder, schlimmer, eine Spalte, in die sie hineintreten, und sich diverse Knochen brechen konnten. Luca nahm nicht an, dass sich hier jemand in einen Hinterhalt gelegt hatte. Dafür war es hier alles etwas zu hellhörig. Nach dem Echo ihrer Schritte zu Urteilen, musste sich der Raum ewig weit erstrecken und eine weit geschwungene Kuppel haben. Kael stolperte schließlich doch über irgendetwas und wäre auf die Knie gefallen, hätte Luca ihn nicht wieder eilig zu sich gezogen. Kael stolperte in Lucas Arme und hielt sich fest. Luca spürte nun nur zu deutlich Kaels Angst. "Warte, warte, bleib stehen, Kael," murmelte Luca. "Ich will versuchen, Licht zu machen." "Wie denn, ohne Zunder, Stein und Stahl?! Oder eine Fackel..." Ihm fiel gar nicht auf, wie laut seine Stimme sich an den Wänden und der Decke brach... Luca ließ einen Augenblick Kaels Hand los und konzentrierte sich auf das, was er wollte, eine kleine Lichtquelle. Nach ein paar Sekunden bekam er stechende Kopfschmerzen, aber... ein schwacher Lichtschimmer legte sich um seine Hand... und verschwand in einer winzigen Lichtkugel, die sich aus dem Schimmern löste... dann eine zweite, eine dritte... Kaels Augen weiteten sich ungläubig, als er die drei tanzenden Lichtkugeln vor sich herschweben sah. "Was... was ist das?" Luca lächelte. "Licht." "Aber wenn die uns sehen..." "Dann hätten sie uns schon längst gehört, oder?" Luca schmunzelte, als er Kaels betroffenes Gesicht bemerkte. "Wie hast du das gemacht?" Luca hob die Schultern. "Keine Ahnung." "Dafür, dass du keine Ahnung hast, machst du das richtig gut." Luca hörte nicht wirklich zu. Die tanzenden Lichter machten es hier nicht wirklich hell. Aber sie konnten wenigstens ansatzweise erahnen, wie groß dieses Gewölbe wirklich war, und dass das Wasser überall hier war. Es reflektierte in sanften, goldenen Prismen an den riesigen Sandsteinquadern, die die Decke des Tonnengewölbes bildeten. Alle 10, 12 Schritte gab es Alkoven in den Wänden, leeren Alkoven, wenigstens nahm Luca das an, denn er konnte nicht überall hineinschauen. Luca nahm Kael wieder an der Hand und zog ihn mit sich. Moose hatten sich auf dem Gemäuer abgelagert. Ketten und Haken hingen an manchen Stellen on der Decke herab, aber auch eiserne Fesseln und Ringe, die mehr an Folterinstrumentarien erinnerten, kamen aus den Wänden. "Was ist das?" wisperte Kael. "Die Überreste einer Folterkammer," murmelte Luca. Seine Lichtkugeln holten nun auch Gitterkäfige, die von der Decke hingen in das schummrige Licht. In den Käfigen, dicht unter Spinnweben und Staub verkrustet, sahen sie Reste von Knochen. Kael senkte den Kopf. "Himmel...!" Luca legte den Arm um ihn und wandte auch das Gesicht ab. Nie zuvor hatte er je Leichen gesehen... jedenfalls nicht so... Diesen hatte man schlimmeres angetan, als seine Kinderfantasie es zu erfassen vermochte. Kael fluchte leise. "Ist das nicht viel schlimmer als alles, was ein Dieb machen kann?" Luca sah ihn verwirrt an. "Worauf willst du hinaus?" "Meinen Vater haben sie gehängt. Er war ein Dieb. Aber zuvor haben sie ihn gefoltert, so dass er alles, was er nicht verbrochen hatte, gestand! Wir sind alle nur Diebe, keiner von uns hat je jemanden umgebracht..." Luca strich ihm in einer unbewussten Geste über das Haar. "Dein Leben muss furchtbar sein." "Solang Justin da ist, werden wir nie allein und unglücklich sein." "Justin," wiederholte Luca leise. "Dieser Justin muss wunderbar sein." Kael ging nicht darauf ein. Er löste sich von Lucas Hand und blieb stehen. Sein Blick streifte traurig die Käfige an der Decke. "Was die wohl getan haben?" "Einige reiche Männer machen das, weil sie spaß daran haben," entgegnete Luca düster. "Mein Lehrer hat davon erzählt. Er sagte, er sei dem entkommen. Als er so alt war wie ich, ist er an einen reichen Mann verkauft worden, der unbeschreiblich grausames mit ihm gemacht hat. Ich habe seine Narben gesehen. Er sagte, er sei froh, nun nur noch Kinder zu unterrichten und zu erziehen..." "Aus Spaß?!" Kael schüttelte den kopf und sah Luca an. "Das ist doch krank, oder?" Luca schloss die Augen. "Ja." Am Ende dieser endlosen Folterkammer erreichten sie ein paar Stufen zu einem Podest und eine halbrunde Türe, beschlagen mit Eisenbändern, die zwar rosteten, aber die Türe durch noch massiver aussehen ließen. Vorsichtig versuchte Kael sie aufzustemmen und taumelte in den nächsten Raum, als er merkte, wie leicht sich die Türe öffnen ließ. Erschreckend leicht. Kael fand gerade noch sein Gleichgewicht wieder, bevor er weitere Stufen hinabstolpern konnte, und sich dort vielleicht noch den Hals brach. "Verd...!" Kael schluckte den Satz herab. Am Fuße der Stufen sah er Licht schimmern und hörte murmelnde Stimmen. Luca war schnell an seiner Seite und noch schneller an ihm vorüber. Lautlos huschte er die Stufen hinab, viel schneller als Kael es konnte. "Luca..." "Warte hier, Kael. Lass mich erst nachsehen. Wenn uns Gefahr droht kannst du vielleicht noch weg." Kael nickte, ging aber auch die Stufen hinab, vorsichtig, denn hier war wieder diese Schleimspur, die das Treppen laufen zu einem halsbrecherischen Unterfangen machte. Nach einer Weile hatte er Luca wieder eingeholt, der sich in den Schatten der Treppe geduckt hielt. Vor ihnen, ein paar Schritt entfernt, gab es einen Durchgang. Das Licht von Kerzen und Fackeln drang heraus und tauchte alles in unheimliches, rotes Licht. Verstärkt wurde der Eindruck durch die Gestalte in den roten Samtroben, Mantelcapes, die ihre Gestalt vollständig verbargen. Mehr noch. Ihre Gesichter verschwanden hinter Masken. Einige derer waren aus Porzellan, andere aus Metall oder Stoffen, Holz oder Kristall. In jedem Falle waren ihre Gesichter verborgen. Viele Stimmen murmelten. Es hörte sich nicht gleichmäßig an, eher wie eine Diskussion, wie aufgeregte, erwartungsvolle, aber ach ängstliche Worte. Dann, plötzlich, rasselten Ketten, und eine nackte Gestalt wurde, an Händen und Füßen gefesselt, über eine Seilwinde bis zur Decke hoch gezogen. Der Mann hing Kopfunter da. Sein Körper blutete aus unzähligen Wunden. Seine Hand- und Armgelenke waren ausgekugelt. Sie hatten ihn geschoren und seine Augen waren zwei leere Höhlen. Aus seinem Mund lief Blut. Er wimmerte leise, unartikuliert. Luca stöhnte auf. Kael drängte sich dicht an Luca und sah aus tränenverschleierten Augen zu dem Mann hinüber. "Können wir ihm nicht helfen?" fragte er leise. Luca sah in die Menge und schätzte kurz ihre Chancen ab. "Das sind mindestens 30 Leute und ich glaube nicht, dass der Mann da noch sehr lange lebt. Selbst wenn es uns gelingen sollte..." "Hast du angst?" Luca sah Kael an. "Nein. Nur das, was ihm jetzt noch helfen kann ist ein mächtiger Heiler, oder jemand, der seine Leiden beendet. Mit ihm fliehen ist nicht möglich, wenn es uns gelingen sollte ihn dort oben freizubekommen. Er kann nicht laufen..." Luca senkte den Blick. "Egal. Du hast recht. Wir können ihn nicht so sterben lassen." Kael erhob sich. "Vielleicht gelingt es mir, den Mechanismus zu finden, der ihn da oben hält und ich herunter zu holen." "Ich kann schnell laufen. Wenn ich sie auf mich aufmerksam mache, laufen sie vielleicht hinter mir her. Dann kannst du ihm helfen. Aber... wie bekommen wir ihn von da weg?" Kael nickte nachdenklich. "Wenn wir ein Versteck für ihn fänden, dass die anderen ihn nicht finden... Dann haben wir auch eine Chance ihn heil hier herauszubekommen. Wenn ich nur jemand im Labyrinth bescheid geben könnte... wenn ich nur..." Die Stimmen waren verstummt... ohne dass die beiden Jungen es bemerkt hatten. Erschrocken hielten sie inne. Eine kleinere Gestalt löste sich aus der Menge und schritt ein paar Stufen hinauf zu dem Opfer. "Einer unserer Brüder hat uns verraten, seinen Herren. Unsere Aufgabe ist es, unsere Herren zu Schützen, was immer da kommen mag. Dieser Mann hat seinen Herren im Stich gelassen und folgte seinem eigenen Willen. Das ist falsch! Er muss für seine Untreue bezahlen. Unser aller Herr, der, dem wir uns verpflichteten, wird ihn nun richten!" Hinter der kleinen, zierlichen Gestalt richtete sich ein Ding auf, unbeschreiblich, furchtbar, hässlich, ein Geschöpf, dass nur aus geifernden, zahnbewehrten Mäulern zu bestehen schien, , aus dünnen, peitschenden Wurmfortsätzen aus Schleim und Klauen, die sich immer in ständiger Veränderung befanden, immer wieder in den Originalleib zurückflossen und sich erneut bildeten, glotzenden Augen und die aussahen als gehörten sie Hunderten von Wesen. Das Geschöpf schimmerte schwarz-grün und maß bis zur Decke hoch, nachdem es sich aufgerichtet hatte. Kael zuckte zusammen, fuhr auf und versuchte sich abzuwenden, aber er konnte nicht. Tränen rannen über seine Wangen. Er war blass wie ein Toter und seine Augen flackerten, als wolle sein Geist umkippen. Auch Luca spürte einen deutlichen Ruck in seinem Bewusstsein, der ihn an seinem Verstand zweifeln ließ. Ihm wurde Schwindlig und schlecht, und als das Geschöpf mit seinen Tentakeln und Armen und Krallen über den hilflosen, schutzlosen Körper des Mannes tastete, fast zärtlich und zugleich gierig, stülpte sich sein Magen endgültig um. Weinend übergab er sich, bis nichts mehr in seinem Magen war, und er nur noch Galle herauswürgte. Kael hatte sich wieder neben Luca auf die Stufen zusammengekauert und drängte sich so eng er konnte an Luca. Luca krallte sich ebenso fest an Kael. Durch den Druck spürte er nicht mehr, wer von ihnen beiden mehr zitterte, und wessen Herz schneller und lauter pochte. Luca sah, wie einer der Tentakel sich in den Mund des Mannes drängte und mit furchtbarer Leichtigkeit seine Mundwinkel ausriss. Luca konnte sehen, wie sich der Tentakel tiefer in den Mann hinein drängte. Luca konnte seinen Blick nicht abwenden, sowenig wie Kael, der sich fest gegen Lucas Brust drückte, als wolle er in seinen jüngeren Gefährten hineinkriechen. Etwas drängte sich in den Hals. Der Mann versuchte zu schreien zu würgen... Seine Augen öffneten sich weit, aber da war nichts, mit dem er noch sehen konnte. Unbeschreibliche Schmerzen musste er ertragen. Ein Teil der Tentakel schlang sich um den Torso und zerdrückte seine Rippen wie trockenes Holz... Luca war kurz davor vor Angst und Schmerz und Mitleid den Verstand zu verlieren. Etwas, die Anwesenheit dieses Geschöpfes, machte sich wie eisige Finger, die nach seinem Herz, seiner Seele tasteten, breit. Schmerzen... sein Schädel pochte, sein Magen war ein verkrampfter Klumpen und sein Herz fühlte sich an wie ein Stein. In ihm manifestierte sich das Bild, sickerte in sein Bewusstsein und entfaltete sich in seiner ganzen Grausamkeit. Dieser Mann dort wurde von einem unaussprechlichen Wesen zu Tode gefoltert. Irgendwann spürte Luca den Schmerz des Mannes, Körperlich, als wäre er der, der dort hing und starb, Stück um Stück. Schmerz und Pein füllten sein Bewusstsein bis zum Rand. "NEIN!" Luca sprang auf und riss sich von Kael los, hob beide Hände, schrie und schrie und schrie... Dann endete der Schmerz. Plötzlich. Stille umfing ihn. In seinem Kopf war nichts mehr. Nur das Rauschen seines wilden Blutes. Er taumelte vor Schwäche. Blitze tanzten vor seien Augen und ihm war so übel wie nie zuvor in seinem ganzen Leben. Seine Beine gaben unter seinem Körper nach und er stolperte in den Gang hinein. Schmerzhaft fiel er auf die Knie. "Luca..." Luca erkannte kaum noch Kaels Stimme. Sie war endlos weit fort. Und er glaubte nicht, sie noch erfassen zu können. Und dennoch war sie sein Rettungsanker in der diffusen Stille seines Kopfes. Luca spürte, wie Kael ihn zu sich zog und festhielt. Sehen konnte er nicht viel. Immer wenn er die Augen öffnete, kippte das Bild vor seinen Augen in alle Richtungen. "Komm zu dir!" Luca gelang es. Irgendwann hielt das Bild ruhig, wenn auch zitternd und er konnte sich wieder konzentrieren. Aber alles Magie, die den Tag hindurch in seinen Adern gekocht hatte, war fort. Mehr noch. Ein Teil seiner selbst war fort. Ihm wurde klar, dass er wieder gezaubert haben musste, und er eigentlich schon nicht mehr die Kraft dazu hatte der Magie, die nach da war eine Form zu verleihen. "Was..." Kael zerrte Luca auf die Füße. "Komm, wir müssen weg!!!" Aus den Augenwinkeln bemerkte Luca noch dass die Masse roter Gestalten sich gegen ihn erhob und dann bebte das Gewölbe unter einem unglaublichen, unmenschlichen Gebrüll, als stürbe diese Bestie. Kael zerrte Luca hinter sich her, die Treppen hinauf und durch die endlose Folterkammer... Ihm war nur zu klar, dass sie es nicht schaffen konnten. Hinter ihnen waren unzählige Männer und Frauen und sie waren voller Zorn und erbittertem Hass... Irgendwann riss sich Luca los. "Lauf," keuchte er atemlos. "Vielleicht kann ich sie aufhalten." Kael zischte eine Antwort, wollte nach Lucas Hand greifen und wurde von ihm fortgestoßen. Dann ging alles unheimlich schnell. Kael macht noch einmal den Versuch, Luca mit sich zu ziehen, da der Junge bereits wieder vor Schwäche taumelte. Zugleich tauchten die ersten Verfolger in der Folterkammer auf. Die ruhige Wasseroberfläche zerbrach wie Glas. Dann explodierte eine Flammenwand zwischen den Jungen und den Fremden. "Justin!" Luca drehte sich endlos langsam herum... Seine Glieder schmerzten Höllisch und der betäubende Druck in seinem Kopf stieg ständig weiter. Hinter Kael sah er etwas, jemand. Eine schmale Gestalt, deren Haar brannte... Dann umfing ihn endgültig die Ohnmacht. Luca erinnerte sich noch zu gut an sein Erwachen in den dunkel grünen Seidentüchern und an das schmerzhaft schöne, reine Elfengesicht, die Haut, die Schimmerte wie Opal und die langen, weichen, kupferroten Locken, die das zauberhafte Gesicht wie ein Flammenmeer umspülten. Diese dunklen, wundervollen Mandelaugen, wie nachtblaue Seen... Die zarten Lippen, die filigrane Gestalt. In der ersten Sekunde entflammte Luca schon für Justin. Und er wusste auch mit welcher Liebe und Aufmerksamkeit er von dem Elfen behandelt wurde. Vor einigen Tagen hatte ihm Justin gesagt, dass es nie einen anderen in seinem Leben geben würde, den er so lieben und verehren würde, wie Luca und er ihn immer erwarten würde... Luca spürte die Liebe, die hinter den Worten seines Freundes steckten, aber er begriff noch lange nicht die Tragweite dahinter. Luca sah die Zeichnung an. Es war ein Bild Justins, aber auch ein Zusammenschnitt all dessen, was er an dem Tag erlebt hatte. Mutlos ließ er das Zeichenbuch sinken und rollte sich auf seinem unbequemen Nachtlager zusammen. Obgleich es noch hell war und er nichts an diesem Tage gegessen hatte, schlief er sofort ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)