Begegnung von Norrsken ================================================================================ Julie & der Unbekannte ---------------------- Sie war spät dran. Eigentlich hätte sie die U-Bahn vor einer Minute nehmen sollen aber dann war Julie Long auf dem Klo mit der Zahnbürste im Mund eingeschlafen und der Drucker hatte einen Papierstau gehabt und nun musste sie dringend in die Gänge kommen um überhaupt noch vor Mrs. Rangarajan in der Redaktion anzukommen. Während sie ihre Stiefel schnürte wurde noch kurzerhand ihr Instagram-Account gecheckt — ihr iPhone hatte ihr beim hektischen Frühstück mitgeteilt, dass auf eines ihrer Fotos ein Kommentar veröffentlicht worden war — und sie versuchte ihre Atmung etwas zu verlangsamen. Panik würde ihr nun auch nicht weiterhelfen. ›lol, du wurdest schon wieder fotogebombt. sicher dass das keine absicht ist? liebe deine bilder‹, stand da auf dem Display und für eine Sekunde musste Julie breit lächeln. Nein, Absicht war es nie, dass der schwarze Haarschopf ihres mysteriösen Beinah-Nachbars häufig auf den Fotos, die sie von ihrem WG-Zimmer aus schoss, auftauchte. Sie kannte, um Himmels Willen, nicht mal seinen Namen oder seine Hausnummer. Nur dass er immer wieder mal – etwas besser, etwas weniger gut zu erkennen – auftauchte, das war ein witziger Fakt und sie fragte sich hier und da, ob er ihr vielleicht nicht auch folgte und sich immer darüber kaputtlachte, dass er ein Dauergast auf ihrem Account zu sein schien. Schnell scrollte sie hoch zum Foto selbst und suchte es nach ihm ab und — ja, da war er! Es war ein freundliches Lächeln in die Kamera und für eine Sekunde wünschte sie sich, die Auflösung wäre besser damit sie wenigstens wusste wie sein Gesicht genau aussah. Eigentlich hätte sie gerne noch weiter das Bild inspiziert, aber da fiel ihr Blick auf die Zeit und sie sprang entsetzt auf – die Stiefel nur halb geschnürt – und stolperte zur Tür hinaus. Beinahe hätte sie das Wichtigste, ihre Tasche und das Mäppchen mit ihrer Kolumne daneben, vergessen. Der Grimmauldplatz war still, so früh am Morgen, aber Julie sah gut zur Hauptstrasse, wo bereits reges Treiben herrschte. Blinkende Lichter machten sie darauf aufmerksam, dass es bald auch für sie an der Zeit war Geschenke für ihre Liebsten zu suchen. Veronica von der Arbeit hatte sie gefragt, ob sie diesen Sonntag Lust darauf hätte, mit ihr in Covent Garden bummeln zu gehen und eigentlich freut sich die junge Kolumnistin sogar darauf. Veronica redete ohne Punkt und Komma, folgte Julies Blog und ihrem Instagram und war die gewesen, die sie auf die Existenz des Fotobombers aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht machte die Anwesenheit ihrer Mitarbeiterin Julie deshalb so nervös. Veronica war aufmerksam — fast schon zu aufmerksam. Und ihre Entdeckungen mussten mit der Welt geteilt werden. Ohne wirklich darauf zu achten wohin sie lief, ließ sie sich von ihren Füßen zu ihrem Ziel, der U-Bahn Station einen Block weiter, tragen und eigentlich wären ihre Gedanken auch noch etwas länger bei Veronica geblieben, hätte sie nicht eine ihr bekannte Silhouette in ihrem peripheren Blickfeld an ihr vorbeigehen bemerkt. Auch wenn sie ihn nie in Person vor sich gesehen hatte, in Bewegung und im schwachen Morgennebel, der ohne Sonnenlicht eher matschig als romantisch wirkte, sie wusste ganz genau wer das war. Und bevor sie sich genau überlegen konnte was sie da tat hatte sie bereits auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre beinahe losgerannt. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich in Erinnerung rufen, dass man auf Beschattung normalerweise nicht einfach dem Zielobjekt hinterherrannte. Julie zögerte für eine Sekunde, beschloss dann, dass sie den Herren einfach ansprechen würde und rennen doch eine angemessene Aktion war und setzte wieder zum Sprint an. Doch sie sah kaum mehr als seine rechte Ferse, bevor auch die hinter einer Biegung verschwand. Und dann, zu dem Zeitpunkt an dem sie genug aufgeholt hätte, um wenigstens wieder einen Blick von ihm zu erhaschen war Mystery Man einfach weg. Wie von Zauberhand. Okay, nein, der Park war groß genug, um sich zwischen Bäumen und Büschen etwas unsichtbarer zu machen als man war. Vielleicht hatte er eine Abkürzung genommen. Oder er war wie Perry, das Schnabeltier aus Phineas und Ferb, in einem hohlen Baumstumpf untergetaucht und— Julie schielte auf ihr Handy und quietschte erschrocken. Oh nein, ihre U-Bahn fuhr in drei Minuten! Schwer atmend erreichte Julie das Bürogebäude des Guardians, beinahe zwanzig Minuten nachdem sie ihre Wohnung verlassen hatte. Mrs. Rangarajan stand bereits in der Tür ihrer kleinen Räumlichkeiten, die Arme verschränkt und streng wie eh und je mit dem dunklen, bereits silbern gesträhnten Haar zu einem straffen Knoten gebunden. Ihre Augen waren jedoch freundlich als sie der jüngeren Frau zum Gruß zunickte. »Schön dass sie mich heute doch noch beehren, Miss Long. Ich dachte bereits, wir würden auf ihre Kolumne verzichten müssen.« Zerknirscht streckte Julie ihrer Chefin den Text entgegen, säuberlich in einem Klarsichtmäppchen verstaut, und antwortete kleinlaut mit einem genuschelten: »Guten Morgen, Mrs. Rangarajan.« Aber innerlich – innerlich beweinte sie immer noch den Fakt, dass sie den Unbekannten einfach so verloren hatte. Es hatten sie doch kaum 150 Meter voneinander getrennt und auch wenn es albern war — sie glaubte tatsächlich daran, dass ihr Schicksal ihr etwas sagen wollte, wenn es ihn auf so vielen von ihren spontanen Fotos auftauchen liess. Immerhin liess sich nicht mal des Nachbars Katze (ein fettes, hässliches Vieh das aussah, als hätte es einen Strassenkampf gegen eine Taube verloren) so regelmäßig von ihr belichten. »Es ist okay, Miss Long. Sie dürfen gehen. Genießen sie ihren Tag, ein Kaffee würde ihnen für den Anfang bestimmt nicht schaden«, riss die Stimme ihrer Vorgesetzten sie aus ihren Gedanken. Sie würde nie darüber hinwegkommen wie süß dieser Anflug eines indischen Akzents klang. »Danke, Mrs. R. Nächstes Mal bin ich pünktlicher«, versprach sie verlegen und vergrub die Hände in den Taschen ihres warmen Trenchcoats. Mrs. Rangarajan lachte schallend und winkte mit dem Klarsichtmäppchen. »Na, versprechen sie mir da mal nicht zu viel. Bis nächste Woche, Miss Long.« Dafür, dass sie sich jedes Mal vor einer Abgabe so verrückt machte, so fand Julie, rentierte sich das viele Adrenalin so gar nicht. Nicht wenn sie jedes Mal mit einer leichten Mahnung im Unterton ihrer Chefin in die Freiheit entlassen wurde. Also brauchte sie erst mal einen Kaffee, um ordentlich wach zu werden. Trotz all der Zeit, die sie in der Gegend von King’s Cross verbrachte, war sie doch froh, als sie in der Victoria-Linie Richtung Oxford Circus saß und wusste, dass sie vom dortigen Bahnhof aus gut selbstständig zu einem Café Nero navigieren konnte (Starbucks lag auch auf dem Weg, aber das fühlte sich zu hipster an, zumal das garantiert ungesund für ihren Geldbeutel enden würde). Nachdem sie neben dem gewünschten Kaffee auch ein Käsebrötchen im Café gekauft hatte und glücklich auf einem Bissen herum kaute, fühlte sich Julie stark genug, um dem Londoner Stadtleben ins Auge blicken zu können. Sie war in Southwark aufgewachsen und eigentlich, so an und für sich, hatte sie dieses ganze Stadtkind-Dasein so sehr intus, dass sie keine zwei Tage campen fahren konnte — etwas das ihrem Ex, Berry, unkontrollierte Lachanfälle beschert hatte — aber alleine, selbstständig zurechtkommen zu müssen, das fühlte sich für sie immer noch etwas einsam und schwierig an. Alles ging etwas leichter, wenn sie Essen im Magen hatte. Hey, vielleicht fand sie sogar ihre Weihnachtsgeschenke heut schon. Sie war immerhin auf der Oxford Street, wieso nicht gleich Ausschau halten? Für ihre kleine Schwester Ruby würde sie in den zahlreichen Bekleidungsgeschäften fündig werden. Sie trugen auch beide dieselbe Größe, was bedeutete dass sie sich sicher sein konnte, dass das, was auch immer sie kaufen würde (wahrscheinlich ein Oberteil), gut saß. Ob die es dann effektiv anziehen würde oder nicht, das konnte sie nicht so recht sagen. Ruby war im schweren Alter am Ende der Pubertät und stand darauf, Haut zu zeigen, auch wenn es rein praktisch keinerlei Sinn machte. Aber weggeben, das wusste Julie, das würde ihre Schwester ein Geschenk von Familienmitgliedern nie. Vielleicht erkannte sie in zwei, drei Jahren den wirklichen Wert hinter einer hübschen, unifarbenen Bluse, die keinen Ausschnitt bis zum Bauchnabel hatte. Ihr Bruder George war schon schwerer und Julie fand sich versucht, ihm eine Tüte superteuren Tee zu kaufen von dem sie wusste, dass er ihn gerne trank, aber es nie zugeben würde. Wenn sie ihm eine Packung schenkte, dann hätte er wenigstens einen Anlass so zu tun, als ob er ihn nur aus Pflichtgefühl konsumierte. In der Hinsicht waren alle drei Long-Kinder ziemlich gleich. Gerade hatte sie ein besonders hübsches Teesieb im Schaufenster erspäht, da zog eine Bewegung im Glas ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das konnte ja nicht wahr sein! War der Unbekannte vom Grimmauldplatz gerade an ihr vorbeigelaufen? Und sie hatte es gemerkt? Sie wirbelte herum und starrte für eine Sekunde auf seinen Rücken. Dann setzte sie sich in Bewegung. Aber jetzt! Für einen Augenblick waren die seltsamen Blicke die sie erntete auch egal, denn sie hatte ihn beinahe eingeholt. Fast! Wenn sie nun die Hand ausst– Julie kam zu einem abrupten Stop als ein Kleinkind ihr vor die Beine lief und sie beinahe den lauen Rest Kaffee auf das goldene Lockenschöpfchen leerte. »Warten sie!«, rief sie dem Unbekannten hinterher, allerdings viel zu leise, als das er sie über den Strassenlärm hören konnte. Und selbst wenn, er war schon zur Hälfte um die Ecke. Von seinem Standpunkt aus hätten jenste Leute nach ihm rufen können. Julie spürte wie die Luft aus ihr wich und sie entschuldigte sich halbherzig beim Kind und seiner Mama, die ihr ein zögerliches Lächeln schenkte. Die Frau sah ein, zwei Jahre jünger als Julie selbst aus und für einen Moment fühlte sie denselben Stich den sie auch jedes Mal verspürte, wenn sie bei ihrer besten Freundin Tara im Wohnzimmer saß und deren Kindern beim Spielen zusah. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass ihr Job, ihre Ziele alle so viel schwerer zu erreichen wären, wenn sie ein Kleinkind an der Backe hätte. Nein, für den Moment ging es ihr besser so. Und um dafür zu kompensieren, dass sie keine Sprösslinge hatte, würde sie George jetzt das verflixte Teesieb gleich mitkaufen. Ja, das klang nach einem guten Plan. Sie würde ein Teesieb kaufen, das das Doppelte des Eigenwertes kostete und Kinder oder mysteriöse Unbekannte, die immer auf ihren Fotos aufkreuzten, vergessen. Gegen Mittag hatte Julie eine beträchtliche Menge an Geschenken zusammenbekommen. Nun war nur noch ihr knurrender Magen zu bekämpfen und dann wäre sie glücklich. Sie hatte sogar Zeit gefunden, um in einem Buchladen und einer Papeterie zu stöbern. Sie wäre auch weiter auf der Suche nach einem Lokal durch die Gassen in der Gegend des Oxford Circus gestolpert, wenn sie nicht vor einem kleinen, verhuddelt wirkenden Pub inne gehalten hätte, um durch das staubige Schaufenster ins Innere zu linsen. Die Speisekarte, die ans Glas geklebt worden war, sah auch nicht allzu unappetitlich aus und viel, viel Wichtiger! – ihr mysteriöser Unbekannter saß, etwas abgewandt von ihr, zwei Tische vom Schaufenster entfernt! »Los, Julie Long, reiss’ dich zusammen«, flüsterte sie sich selbst Mut zu und betrat den Pub. Ihre vielen Plastiktüten machten viel zu viel Lärm und sie war ganz froh saßen nicht so viele Leute da, vor denen sie sich blamieren konnte. Zielstrebig marschierte sie auf den Tresen zu, wo ein Typ, der in seinem schicken weissen Hemd und mit einer Krawatte lose um den Hals nicht so wirkte als gehöre er in diesen verstaubten, kleinen Laden, den Tresen säuberte. »Äh, hätten sie einen Bierdeckel oder so? Ich würde dem Herren dort drüben gerne eine Nachricht hinterlassen.« Der Barista, einen Lappen in der Hand (ob er die scheinbar sinnlose Arbeit, den Pub staubfrei zu halten, hatte?), warf ihr einen skeptischen Blick zu und Julie riskierte es gehetzt über ihre Schulter zu schielen. Was sie da sah gefiel ihr allerdings weniger gut — ihr Zielobjekt sammelte langsam seine Besitztümer zusammen und sein Teller sah bedrohlich leer aus. »Wird’s bald?«, zischte sie und trommelte mit den Fingern auf das Holz unter ihren Händen. Herr Barista folgte ihrem Blick zögerlich, dann rückte er langsam mit einem Zettel heraus, den sie anscheinend für ihre unlauteren Zwecke verwenden durfte. »Danke«, stieß Julie etwas sarkastisch hervor, zückte einen Kugelschreiber und fand sich auf das Stück Papier starrend wieder, unsicher was sie nun schreiben sollte. Naja, ›Hallo‹ kommt nie schlecht an, lautete das erste Argument das ihr Hirn produzierte. Also malte sie in ihrer ordentlichsten Schrift erst mal besagte fünf Buchstaben. Dann stockte es wieder. Sie fühlte sich in diese ekligen Schreibblockaden hineinversetzt, als ob die Worte, die man will, im Kopf verborgen sind, aber man einfach nicht weiß, wo man sie zuletzt gesehen hat. ›Hallo. Du tauchst immer auf meinen Fotos auf.‹ Ja, ja, das klang okay – Moment mal. Was schrieb sie da? Und wie stalkerhaft klang das bitteschön? Nein, das musste man anders angehen. ›Hallo. Ich weiss nicht ob du es merkst, aber ich sehe dich auffällig oft am Grimmauldplatz. Wohnst du dort in der Gegend? Irgendwie landest du immer auf meinen Fotos, die ich vom Zimmer aus mache und–‹ Julie hielt mitten in der Schreibbewegung inne, las ihre Worte erneut durch die sich nach wie vor keinen Deut weiter weg von ›stalkerhaft‹ bewegt hatten. Dann stieß sie einen frustrierten Laut aus, packte ihren Kugelschreiber wieder ein und machte sich daran den Pub so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Sie würde woanders zu Mittag essen, hier hatte sie sich für lebenslänglich blamiert. Nur das verdatterte Gesicht des Typen am Tresen, das war unbezahlbar. Fast Grund genug um noch etwas zu bleiben. Aber nur fast. Tea time preschte unvermeidbar auf sie zu und als Julie das nächste Mal auf das Display ihres Handys schielte war es bereits an der Zeit nach Hause zu gehen. Ihre Kreditkarte würde ihr ohnehin sehr bald danken. Sie hatte es geschafft auch für ihre Freundinnen kleine Präsente aufzugabeln und das schränkte ihre Einkaufsliste für Covent Garden stark ein. Es bestand Hoffnung, dass sie nicht genug Zeit mit Veronica verbrachte, um über ihr Privatleben ausgequetscht zu werden. Dass sich dieses ohnehin mehrheitlich aus dem Herumsitzen auf der Couch und dem Fotografieren von allem Möglichen, angefangen bei Essen, zusammensetzte, würde sie nicht mal erwähnen. Das wäre peinlich und irgendwie klang das in ihren Ohren äusserst tragisch. Der große Nachteil an ihrer erfolgreichen Geschenkjagd war dass sie sich mittlerweile so gut wie ein Sumoringer durch die Masse bewegen konnte — ohne in Betracht zu ziehen, dass Sumoringer wahrscheinlich trotzdem flexibler als sie waren und man für einen japanischen Ringer-Koloss auch Platz machte. Ihre Erleichterung als sich die Türen der Bahn hinter ihr schlossen und sie die vertraute Umgebung der Station Highbury & Islington wahrnahm. Hier konnte sie sich wenigstens auch so bewegungsunfähig wie sie aktuell war ordentlich genug zum Ausgang lotsen. Sie schlug sich auch verhältnismässig gut, denn nach dem Stosszeitverkehr in der U-Bahn wirkten die Strassen von Islington beinahe leer (was eine glatte Lüge war, die Strassen in London waren selten wirklich ganz leer). Sie schaffte es am Supermarkt und am Buchladen vorbei ohne einen Unfall zu bauen und dann – dann war ihre Glückssträhne zu Ende. In der Hast einer alten Dame etwas Platz zu machen warf sich Julie einem anderen Passanten in den Weg und sie konnte nicht so recht sagen wie viele unterschiedliche Geschenkschachteln der arme Mann in die Magengrube bekam, denn kaum einen Augenblick später befand sie sich auf Kollisionskurs mit dem Asphalt. »Oh Mist, das tut mir furchtbar leid!«, hörte sie sich selbst sagen, schrill und etwas in Panik, während ihre nun aufgeschürften Handflächen hastig über den Boden strichen und versuchten, ihre gefühlte halbe Tonne Plastiktüten wieder zusammenzusammeln. Gut, dass war eigentlich nichts Zerbrechliches dabei. Wenn die Schokolade für ihre Mutter darunter gelitten hatte, würde sie eben woanders ein Geschenk suchen und die Schoki selbst essen. Für etwas gab es Schokolade ja. »Alles okay bei ih– ihnen?« Rot im Gesicht sah Julie auf, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass sie sich das Gesicht ihres Opfers merken wollte. Wer ihr da entgegenstarrte war erwartet unerwartet. Manchmal war Karma doch keine so fiese, gemeine Macht. Sie hätte ein Gespräch anfangen sollen, so viel war klar, oder wenigstens noch ein, zwei nette Worte zu seinem Haar oder seinem Mantel sagen sollen; der stand ihm wirklich gut. Und vielleicht hätte sie es auch wirklich getan, hätte nicht just in diesem Moment ihr Handy lautstark geklingelt und Julie das als Stichwort dazu gesehen sich aufzurappeln und gehetzt abzunehmen. »Hallo? Olivia? Ja, klar, äh, nur ist gerade etwas doof, ich bin gerade mitten auf der Stra-« Sie stockte. In der Sekunde, in der sie den Unbekannten außer Sicht gelassen hatte, war er wieder verschwunden. Wenigstens wusste sie nun, dass er im Licht des Schaufensters in dem sie kurz gesessen hatten einen Ansatz eines Grübchens in seiner linken Wange hatte und seine Augenfarbe kastanienbraun war. Und dass sein Haar von Nahem nicht zu einhundert Prozent pechschwarz sein konnte; eher war es ein dunkles Braun mit ganz, ganz leichtem Rotschimmer das in Kombination ziemlich gut aussah. »Was? Ob ich noch- Klar bin ich noch da! Sorry, ich war mit dem Kopf woanders.« ❅ Nachdem sich Julie erfolgreich durch das eisige Treppenhaus gekämpft hatte (und sich dabei nicht übel wie ein Adipose aus Doctor Who vorgekommen war, mit den Armen so voll beladen) und sich eine Tasse Tee gebrüht hatte stand eine wohlverdiente Runde Nichtstun auf dem Sofa in ihrem Zimmer an. Julie lebte nach wie vor mit der Annahme, dass die Anschaffung des Möbelstücks das Beste war, das ihr je eingefallen war. Und so saß sie für eine Weile nur da, tief in den weichen Kissen vergraben, und checkte alles Mögliche auf ihrem iPhone, bevor sie sich dazu entschloss, ihren Laptop anzuwerfen und nachzuschauen, ob Mrs. Rangarajan eine Mail geschickt hatte. So praktisch das Weiterleiten der elektronischen Post aufs Handy auch war, Julie las lieber am großen Bildschirm. Außerdem konnte sie so gleich wieder mit dem Tippen für die nächste Woche anfangen. Wenigstens so tun, als tat sie etwas dafür, dass sie nächste Woche nicht wieder so eine Hetze hatte. Sie zog die Beine dicht an ihren Oberkörper heran, zückte ihr kleines Notizbuch und ihren Kugelschreiber und begann mit der Recherche. Irgendwann, im Laufe des frühen Abends, tauchte auch ihre Mitbewohnerin Angela auf, einen Teller Irish Stew in der Hand. »Da, du Wahnsinnige«, meinte sie und stellte das Abendessen auf den Schreibtisch. »Dachte mir doch, dass du jetzt Schuldgefühle schiebst und versuchst vorzuschreiben, obwohl du nächste Woche trotzdem einen Mordsstress haben wirst.« Julie warf Angela einen düsteren Blick zu und schälte sich zögerlich aus dem weichen, warmen Umfeld, das sie sich aus Decken und Kissen geschafft hatte. Sie liebte ihre neue Wohnstätte, aber manchmal wünschte sie sich, sie wäre an eine gut bezahlbare WG mit besserem Heizungssystem geraten. Bevor sie an Angela und Wally dachte, die beide kein Problem damit hatten ihr Essen zu bringen, wenn sie bis spät in die Nacht furios vor sich hintippte oder sie zu Trinkabenden entführten. »Jetzt schau mich nicht so finster an, wir wissen beide, dass es die pure, ungeschminkte Wahrheit ist. Ich will gar nicht wissen wie das wird wenn du erst mal in einem Verlag angestellt bist. Dann werden wir die Manuskripte vor dir verstecken müssen und so.« Angelas Ton war trocken wie die Wüste Gobi und beim Gedanken daran, dass sie so etwas wahrscheinlich wirklich tun würde — Julie bei der Arbeit behindern bis sie sich ansatzweise wieder wie ein normales, menschliches Wesen verhielt und zu orthodoxen Zeiten ihren Bedürfnissen nachging — war irgendwie zum Lachen. Verkneifen konnte Julie es sich nicht so recht. »Erzählst du mir von deinem Tag?«, fragte sie stattdessen und schenkte ihrer Mitbewohnerin ein strahlendes Lächeln. Angela seufzte und ließ sich neben Julies Fleckchen auf dem Sofa nieder. Ha! Niemand konnte dem Zauber der Couch widerstehen. Auch Angela nicht. Und du bist dir sicher, dass der Typ hier in der Gegend wohnt?“ Das Gesicht ihrer Gesprächspartnerin war skeptisch, aber Julie nickte bekräftigend. »Aber ja doch! Ich meine, das kann kein Zufall sein, dass er auf so vielen Bildern, die ich vom Fenster aus mache, zu sehen ist!« Angelas Augenbraue wanderte noch etwas zu ihrem Haaransatz und Julie wusste, jetzt hatte sie verloren. Für ihre realistische Mitbewohnerin war das seltsame Konzept des unbekannten Fotobombers wohl statistisch zu unrealistisch oder so. Mathematiker. »Sieh’ bloß zu, dass du da nicht an einen Stalker gerätst oder so«, mahnte Angela nach einem stillen Augenblick und erhob sich seufzend aus der Couch. Julies leeren Teller nahm sie gleich mit sich mit und dann war Julie wieder alleine. Als ob die Stille sie plötzlich erdrücken würde, entwich ihr alle Luft und sie sackte für eine Sekunde in sich zusammen, bevor sie sich nach dem Laptop ausstreckte. Oder- nein. Nein, sie würde jetzt nicht weiterschreiben. Irgendwie hakte da ein Satz schon seit einer gefühlten Ewigkeit und vielleicht brauchte die Formulierung Raum zum Atmen. Außerdem war ihr Kugelschreiber tot und der nächste Vorrat befand sich in der Schublade ihres Schreibtisches. So sehr sie lieber auf dem warmen, weichen Sofa sitzen würde, irgendetwas musste sie nun tun. Mit einem gequälten ›uff‹ hievte sie sich also auf die Füße und tapste zum Schreibtisch. Der Flieger überraschte sie und beinahe wäre sie quiekend zurück aufs Sofa gestolpert. Es benötigte viel mehr Akrobatik als man glauben würde, um das Fenster zu öffnen und den Papierflieger erfolgreich ins Innere des Hauses zu holen. Zweimal hätte Julie ihn beinahe fallen gelassen und dann hätte sie in Mrs. Smythes Garten klettern müssen, um ihn zurückzubekommen. Ob das ein Unfall gewesen war? Wer warf schon mit Papierfliegern, um diese Jahreszeit? Und gegenüber sah sie niemanden am Fenster stehen, diese Option fiel also auch weg. Vorsichtig faltete sie das Blatt auf und musste sich zusammenreißen, um sich nicht an der Sauklaue, die sich ihr präsentierte zu erschrecken. »Du kannst das entziffern«, sprach sie sich Mut zu, bevor sie damit begann, den Sinn hinter den Glyphen zu suchen. Sie las die Nachricht gerade oft genug, damit der Sinn dahinter zu ihr durchsickern konnte, bevor ein Licht bei ihr aufging. Ein schneller Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Hoffnungen. Tatsächlich. Das war ihr Fotobomber. Nun stellte sich nur noch die Frage wie er dazu gekommen war, ihr eine Nachricht über Papierflugzeug zu schicken — ach was, wie diese Nachricht überhaupt zu ihr gekommen war! Aber dafür war gleich Zeit, erst mal sollte sie raus auf die Straße! Hastig schnappte sie sich ihr Smartphone und rannte aus dem Zimmer. Draußen auf der Straße angekommen sah Julie wohl aus, als wäre sie vor Wölfen davongelaufen. Sie konnte sich gut denken, dass ihr Haar vollkommen geladen, durch die Reibung von Schal und Trenchcoat, und der ganzen Eile in alle Richtungen abstehen musste. Sie erwischte sich dabei wie sie sich, trotz des schnellen Blicks aus dem Fenster, überrascht fühlte. Irgendwie hatte sie während der Hast des Mantelanziehens, Schuhefindens und Schalaufstöberns beinahe damit gerechnet, dass sie sich verguckt hatte und der Typ auf der Straße wer völlig anderes war — oder, noch schlimmer, bloß ein Hirngespinst! Sie brachte keine Grußworte hervor, aber hob zögerlich die Hand um zu winken, auch wenn es wohl etwas sinnlos war. Aber wer hätte ihr schon geglaubt, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug? Es schlug sogar so laut, dass sie erst eine Weile brauchte bevor sie seine Worte richtig verarbeiten konnte. Lud’ er sie gerade zu einer heißen Schokolade ein? Weil sie ihn mit ihren Weihnachtseinkäufen gerammt hatte? Solche Dinge passierten doch nur in Filmen wie Love Actually oder so! »Äh. Ich meine, ich würde mich freuen!«, antwortete sie, sich dessen bewusst, dass die Sekunden die ihr Hirn zum Rattern gebraucht hatten bereits das Maß an Anstand, das gängig war, überschritten hatten. Zögerlich streckte sie die Hand aus. »Ich gebe aber zu, dass die, äh, Umstände unserer Begegnungen wohl etwas seltsam sind, deshalb – können wir von Vorne anfangen?« Sie fühlte wie sich ihr Gesicht noch etwas mehr rötete. »Ich bin Julie. Du bist auf total vielen von meinen Fotos, ganz ohne Absicht. Und ich würde mich sehr darüber freuen, mit dir eine heiße Schokolade zu trinken.« Entzückt beobachtete sie wie sich sein Lächeln weitete, Zähne blitzten und da – tatsächlich, sich Grübchen in beiden Wangen bildeten. »Hi Julie, ich bin James.« Und seine Hand war warm und groß, sicher doppelt so groß wie die ihre, sein Grinsen strahlend. »Schön, dass ich deine Fotos bereichert habe.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)