Das rote Tuch 2 von Crevan ================================================================================ Prolog: Ikarus -------------- Es kam nicht schleichend, sondern ganz plötzlich. Du hattest ihn bereits oft gesehen, so oft, unzählige Male, darum erschien euer unliebsames Aufeinandertreffen - ein gezwungenes, aus reinem Zweck heraus - als solch ein düsteres Szenario wie jedes andere zuvor. Spannungsgeladen war es; die stickige Luft so dick, dass man sie hätte schneiden können. Doch da war auch etwas anderes, ein wärmendes Gefühl, das mit spitzen Fingern nach dir haschte, dich erfasste und beutelte, dir leise und mit Engelszungen zuwisperte. Es wollte dich nicht mehr loslassen, bohrte seine scharfen Nägel in deine zu dünne Haut. Er war ein Lichtfunken in der Dunkelheit deines tristen Alltags, in dessen Trott du bis zu diesem Zeitpunkt gelebt hattest. In diesem zähen Klumpen aus stumpfem Missmut, Trauer um einen toten Bruder, Reue, tiefer Rachsucht, Bitterkeit und haltloser Angst, war er strahlend hell. Ja, du sahst ihn an, zum tausendsten Male, und dieses Mal war es... anders. Du hast es gehasst; ihn gehasst. Du hattest dich die ganze Zeit über so verloren gefühlt und nun plötzlich wolltest du, dass er, er!, dich rettet. Du machtest dein Lebensglück von ihm abhängig, wolltest nicht mehr alleine sein, hast nur mehr ihn gesehen. Du wolltest seinem Licht folgen, seinem sanften Flügelschlag lauschen, ihm alles glauben, was er sagt. Dem Adler. Dies war der Punkt, an dem es anfing weh zu tun. Denn die Welt ist ein Ort voller Qualen, Gefühlen, die einen zerreißen und kopflosen Menschen, die dich enttäuschen. Immer und immer wieder. Du wolltest nicht mehr so naiv sein deine matten Augen vor dieser Wahrheit zu verschließen. Und dennoch... Du starrtest ihn an, sahst ungebrochen in das gleißende Licht, obwohl es dich so sehr blendete. Deine großen Augen schmerzen und deine Sicht verschwamm zu vielen tanzen Farben und Formen; dennoch konntest du deinen hungrigen Blick nicht von ihm reißen. Wie eine kleine Motte wurdest du von den warmen Flammen in seinen goldenen Augen angezogen; die schleichende Panik davor wieder allein zu sein und in die eisig kalte Dunkelheit zurück zu fallen war zu groß. Sie schüttelte deinen schwachen Körper. Er war deine Sonne. Und du warst Ikarus. Unaufhaltsam gen Sonne fliegend - denn sie rief dich verlangend zu sich - war nicht mehr viel von deinen Flügeln übrig. Doch du beachtetest dies nicht, denn die lockende, sirenenhafte Stimme versprach dir viel. So viel. Du hast ihn gehasst. Dein gebrochenes Herz schrie und wollte dir aus der Brust hervorspringen, dich warnen, doch du hieltest ignorant auf deine Sonne zu und ließt es bluten. So nahe bei dem Feuer, das dich schon einmal verbrannt hatte, war es so heiß, dass du dich nicht mehr imstande sahst zu atmen; du kniffst deine glasigen Augen vor dem Aufschlag zu. Vielleicht war es Vertrauen. Und du flogst empor - ins Licht. Du warst nicht Ikarus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)