Rabenherz (Die Macht der Krokaren) von FireLightning ================================================================================ Prolog: -------- Die drückende Sommerhitze war über Algahra hereingebrochen und verlieh der Landschaft sowie seinen Bewohnern nach dem langen und harten Winter wieder Farbe. Der Himmel erstrahlte jeden Tag aufs neue in einem herzhaften Blau. Die Gesichter der Menschen wurden bei der kleinsten Anstrengung so rot, dass man im Vorübergehen denken musste, sie seien in einen Farbtopf getaucht worden. Im ganzen Land vertrockneten die Getreidefelder und verwandelten sich in eine Art gelben Teppich aus sterbenden Pflanzen. Die Bauern verzweifelten und mit ihnen König Danilo. Der Anblick der Dürre stimmte Kathya traurig. Sie schaffte es - dank dem Kontrollzwang ihres Vaters - nicht oft über die Grenzen des Guts hinaus, aber, wenn Hella dieses Jahr eine Kutsche organisierte mit der sie in die stärker besiedelten Teile der Stadt fuhren, erwarteten sie unterwegs stets Felder, die in der Hitze der Mittagssonne eingingen. Es gab für sie keinen Schatten, kein Wasser, keinen Schutz. Und die Verantwortlichen konnten nur daneben stehen und hoffnungsvoll auf den nächsten Regen warten, der das Überleben der Pflanzen und damit die Sicherung ihrer Existenz bedeuteten. Es war ein grauenvolles Spiel, zu dessen Beobachtern sich leider auch Kathya zählen musste. Wenn es doch nur eine Möglichkeit für sie gäbe zu helfen! Sie hätte sich sofort aufgemacht, sie hätte alles getan um nicht nur den stillen Augenzeugen spielen zu müssen, sie hätte- "Kathya? Kathya, wo bist du?" Die zarte Stimme Hellas durchbrach ihre düsteren Gedanke und schob sie für die nächsten Minuten energisch beiseite.  "Hier, Hella. Am Schreibtisch." Sie drehte sich auf ihrem unbequemen Stuhl um und blickte zur Tür. Im nächsten Moment schob sich ein brauner Haarschopf mit freundlichem Gesicht durch den Rahmen, gefolgt von einem schlanken, zierlichen Körper, gehüllt in ein einfaches Magdgewand. Die junge Frau verzog jedoch sofort das Gesicht und seufzte, noch bevor sie einen Schritt über die Schwelle getan hatte. "Kathya, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du deine Haare kämmen und das Kleid anziehen sollst, das ich dir rausgelegt habe!", empörte sich Hella und trat auf ihr Bett zu. Darauf lag – unberührt – eine rote Tracht. Die Ärmel waren lang, zum Handgelenk hin breiter und mit Samt überzogen. Das Ende des Rocks reichte bei dem Mädchen bis zum Boden und ließ sie regelmäßig stolpern – was nicht zuletzt an den unbequemen Schuhen lag, die sie nur anzog, wenn man sie dazu zwang. Alles in allem war es grässlich in diesem Aufzug herumzustolzieren, als wäre sie eine verwöhnte Dame des königlichen Hofes, doch sie tat es Hella zuliebe. Die junge Magd war der einzige Lichtblick in Kathyas Leben und der Grund, weshalb sie nicht schon vor Monaten davon gelaufen war. "Sie werden dein Verschwinden mir in die Schuhe schieben wollen.", hatte sie ihr mit ruhiger Stimme zugeflüstert, "Dass es ihr eigener Fehler sein könnte, kommt ihnen dabei gar nicht in den Sinn. Bitte bleib." Die Dringlichkeit, die in ihrem Blick gelegen hat, hatte das Mädchen schließlich umgestimmt und sie zum Bleiben überredet. Viel mehr noch: Seit dem zwängte sie sich sogar Monat für Monat in ihre lächerliche Tracht, um bei der großen Clanversammlung ihrem Vater alle Ehre zu machen. Nach ihrem eigenen Wohlbefinden wurde bei diesem ewigen Krieg unter Clanoberhaupt-Anwärtern schon lange nicht mehr gefragt; ihr Vater Adamo wollte lediglich seine Brüder übertrumpfen. Seufzend erhob sich Kathya und nahm das Kleid an sich, als Hella es ihr mit vorwurfsvoller Miene entgegenhielt. Sie hielt es an, prüfte die Ärmel, legte es um die Taille, doch es schien tatsächlich noch zu passen. Ich muss anfangen mehr zu Essen, schoss es dem Mädchen durch den Kopf, während sie ihr einfaches Hemd mit weitem Kragen und die braune Baumwollhose abstreifte und stattdessen den "Roten Tot" über zog. Voller Abscheu betrachtete sich im Spiegel, doch Hella schlug entzückt die Hände zusammen und eilte in den kleinen Empfangsraum, der Kathya meistens zum Lesen zur Verfügung stand. Sie folgte ihr. Das Zimmer war recht spärlich eingerichtet und verbarg ihren Reichtum und ihre adelige Herkunft. Zwei Sessel standen vor einem Ziertisch auf einem farbenfrohen Teppich, der dem Parkett einen scharfen Kontrast bieten sollte. Bücherregale reihten sich an den Wänden entlang. Die Fächer waren bis zur Gänze hin gefüllt und ließen die Mauern dahinter verschwinden. Fackeln brachten in der Nacht oder in der Abenddämmerung unzählige Schatten zum Tanzen. Es war gemütlich und mehr als sie jemals für nötig erachtet hätte, auch wenn sie durch vermeintlichen "Freunde" aus anderen Clanen öfters darauf hingewiesen wurde, wie arm die Kiapo doch seien – in finanzieller, wie auch geistiger Hinsicht. Obwohl das natürlich völliger Stuss war. Entschlossen nahm Hella Kathyas Metallkamm zwischen die Finger ihrer rechten Hand und setzte sich seitlich auf die gepolsterte Fensterbank. Auffordernd klopfte sie auf das freie Kissen vor sich und wartete, bis das Mädchen sich darauf nieder gelassen hatte. "Muss das sein?", fragte sie und betrachtete argwöhnisch den mit Edelsteinen besetzten Läuserechen. Sie hielt diesen Luxusgegenstand für recht unnötig und den Umstand, dass sie sich die Haare kämmen musste, eben so sehr. Doch die junge Magd lachte nur erheitert und begann vorsichtig ihre blonden Haare zu ordnen und in Form zu bringen. Währenddessen blickte Kathya geistesabwesend aus dem offenen Fenster. Die Jungen hatten schon mit dem Kampftraining begonnen. Gerade waren Nereo und George in den umzäunten Sandplatz getreten und standen sich mit gezogenem Holzschwert gegenüber. Sie warteten auf ein Zeichen des Trainers und beobachteten mit wachsamen Blick jede Bewegung ihres Gegenübers. Das Mädchen malte sich in Gedanken schon einen schnellen, routinierten Kampf aus, der höchstens ein Ringen beinhaltete. Keine geschickten Täuschungen würden ausgetauscht werden mit dem man seinen Kampfpartner mehr erniedrigen könnte, als mit einem bloßen Kräftemessen. Das sah bei den fortgeschritten Schülern schon ganz anders aus, die nicht mit Stärke sondern mit Klugheit und Wendigkeit punkteten. Nun gab der Trainer endlich sein Zeichen und die beiden Jungen schlugen ihre Schwerter gegeneinander. Der Klang des Aufschlags war dumpf. Nereo wagte nach einiger Zeit einen Schritt nach vorne und zwang George so zu einem Ausfallschritt. Er drückte mit der freien Hand gegen den oberen Teil der Klinge und ließ sich nicht davon beeindrucken, dass sein Kampfpartner es ihm nachmachte. Jetzt stand es Kraft gegen Kraft, Kathya seufzte enttäuscht. Dieses Fechten war wirklich zu erwarten gewesen, aber trotzdem konnte sie ihren Ärger darüber nicht ganz verbergen. Sie bekamen so eine große Chance und dann verschwendeten sie ihre Zeit mit dummem Kräftemessen. Warum nicht einmal Übungen anwenden, die den Gegner überlisteten? Aber das kam den kämpfenden Jungen offensichtlich nicht in den Sinn. Sie dachten, Stärke sei das einzige was zählt und keiner wollte nachgeben um letztendlich zu Siegen. Kathya wäre es völlig anders angegangen, da war sie sich sicher. Hella riss sie schließlich aus ihren trüben Gedanken. "Ach, Mädchen. Was machst du immer mit deinen Haaren? Sie sind bereits so verfilzt, dass man meinen könnte, ein Vogel hätte darin sein Nest gebaut." Sie spürte ein ziepen und heulte leise auf. Die Magd blieb jedoch erbarmungslos und hantierte weiter mit ihrem blonden Haarschopf. Schließlich begann sie, ihr warme Metallstäbe hineinzudrehen, was das Mädchen nur widerwillig hinnahm. Ihre Haare würden die nächsten drei Tage lockig bleiben.  "Können wir die Locken das nächste Mal nicht weg lassen?", fragte Kathya hoffnungsvoll und betrachtete sich in dem kleinen Handspiegel, den Hella ihr reichte, nach dem sie die Metallstäbe entfernt hatte. Natürlich, in Verbindung mit ihren blauen Augen, der Stupsnase und dem schmalen Kinn sah das ganze beinahe hinreißend aus und brachte die älteren Herren regelrecht zum dahin schmelzen, aber passte es auch zu ihr? Zu der wahren Kathya? "Du weiß, dass Adamo das nicht gerne sieht.", erwiderte sie und setzte sich dem Kind gegenüber, "Außerdem bist du ein hübsches Mädchen, von jungen 8 Jahren. Du kannst dich auch mal verschönern, sonst läufst du ständig nur in Jungenkleidung herum." Sie lächelte sanft und strich ihr eine gelockte Strähne aus dem blassen Gesicht. Völlige Stille folgte, in der nur die Jungen auf dem Kampfplatz störten, wie sie ächzend wieder und wieder ihre Holzschwerter gegeneinander schlugen. Ein dumpfer Aufschlag, wieder und wieder, bei dem sich mit einem Mal etwas in Kathya regte. Sie wandte sich an die junge Magd, die die Kämpfenden auf dem Sandplatz ebenfalls betrachtete. Ein stämmiger Knabe hatte gerade seinen schwach wirkenden Kampfpartner nieder gerungen und warf triumphierend die Fäuste in die Luft. Das Ergebnis war wohl für niemanden überraschend, denn seine Kameraden waren von seiner Darbietung schlicht gelangweilt. "Hella?" "Ja?" "Wieso bekommen bei den Kiapos die Mädchen keinen Kampfunterricht?" Hella schien überrascht zu sein, besann sich jedoch schnell und antwortete mit ruhiger Stimme. "Das ist nicht nur bei euch so. Mädchen werden nie der Kampfkunst unterwiesen, das ist einfach nicht üblich und mit den Traditionen auch nicht vereinbar." "Welche Traditionen?", wollte Kathya wissen, "Dass die Frau Zuhause bleibt und sich um die Kinder kümmert, während der Mann zum Ritter ausgebildet und in den Krieg geschickt wird?" Die Magd nickte und bestätigte damit die Befürchtungen des jungen Mädchens. Das ist alles so.. veraltet! "Aber wir leben im Frieden! Nordas und Kyvarla sind verbündete von Algahra und können uns auf Grund des Vertrags überhaupt keinen Krieg erklären.", erwiderte sie aufgebracht und pustete energisch die blonden Locken zur Seite, die ihr dabei ins Gesicht fielen. Hella nahm ihre Hand und strich behutsam mit dem Daumen darüber. Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. "Glaube mir, die Kampfkunst zu beherrschen bringt nur zu viel Verantwortung mit sich. Außerdem kannst du damit später nichts anfangen, Frauen werden nicht zum Ritter ausgebildet", sagte sie sanft und seufzte, "Bitte schlag dir diese Idee aus dem Kopf. Ich möchte, dass weder du noch ich in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Das würde alles unnötig kompliziert machen." Es war wieder einmal die Dringlichkeit in Hellas Augen und die Bestimmtheit ihrer Stimme, die Kathya dazu brachte zuzustimmen. Wahrscheinlich hatte sie recht, was sollte sie mit der Kampfkunst anfangen? Ritter konnte sie nicht werden und zum Weglaufen war ihr das Leben von Hella zu wichtig – Adamo war ein gefährlicher Mann, wenn er wütend war; es wäre ihm geich, dass die junge Magd nicht Schuld an Kathyas Verschwinden war. Sie wollte ihr nicht schaden, nur um ihre eigenen, egoistischen Interessen durchzusetzen. Das lag nicht in ihrer Natur. Schließlich erhob sich Hella und verabschiedete sich mit einem Knicks. "Meine kleine Kathya wird langsam erwachsen.", schniefte sie und wandte sich zum Gehen, "Wir sehen uns morgen. Und benimm dich bitte bei der Versammlung!" Mit diesen Worten war sie im Gang verschwunden und ließ Kathya alleine zurück. Das Mädchen beobachtete noch eine Weile, wie die Jungen eine neue Technik übten, bei der sie nicht so recht verstand um was es ging, bis sie sich entschloss ein letztes Mal einen Blick in den Spiegel zu werfen. Der Rock des roten Kleids fiel locker und in Falten zum Boden hin, die Ärmel passten sich wundervoll an. Kathyas blonde Locken und die hellen, blauen Augen fügten sich harmonisch in das Bild der Kiapo ein. In den roten Schuhen lief sie etwas gehemmt, lies sich ihre Unsicherheit jedoch nicht anmerken und schritt erhobenen Hauptes durch den Raum. Das würde ihrem Vater sicher gefallen. Sie sah sehr edel und erwachsen aus, obwohl sie bei diesen Temperaturen schon jetzt schwitzte, und würde die Töchter seiner Brüder mit ihrem außergewöhnlichen Aussehen sicher übertrumpfen. Mit ihren braunen Haaren und den grünen Augen sahen sie nicht anders aus als jede andere Kiapo auch. Kathya jedoch hatte ihre Haarpracht und ihre Iris von ihrer Mutter – einer eleganten Jarek – geerbt und stach damit deutlich aus der Masse heraus. Das freute natürlich ihren Vater, doch sie selbst fand es für ihre Zukunft auf dem Gut nicht unbedingt förderlich. Noch einmal betrachtete sie sich und ihren Aufzug und je länger sie in den Spiegel sah, desto mehr kämpfte sie gegen ein Gefühl des Ärgers und der Unsicherheit an. Wieso sollte sie nicht einfach mal etwas anderes ausprobieren? Zum Beispiel hatte sie schon immer die leichten Gewänder der Kämpfer bewundert. Ein Oberteil, das kurz über den Knien endete und ebenfalls verbreiterte Ärmel aufwies, wurde zu einer leichten Baumwollhose getragen. Der Saum steckte in hellbraunen Lederstiefeln und ein Gürtel um die Taille diente zur Aufbewahrung von Dolchen und dem einzigen Schwert, das ein Kämpfer trug. Es war einfach und praktisch und überhaut nicht zu vergleichen mit Kathyas Kleidern, die daneben extravagant und protzig wirkten. Und sie passten deutlich besser zu ihr. Unerwartet brach eine Woge von Eigensinnigkeit über Kathya herein, woraufhin ihr eine Idee durch den Kopf schoss, die sie gleich darauf wieder verwarf. Ich kann doch nicht.. - oder doch? Was wird Vater dazu sagen? Traut er sich, mich vor der Menge an Clanmitgliedern zurechtzuweisen? Entschlossen schritt das Mädchen auf ihren Schreibtisch zu und zog eine der vielen kleinen Schubladen mit den silbernen Knäufen auf. Sie wühlte eine Weile inmitten der Federn, Perlen, Stifte und anderen Zeichenutensilien, bis sie plötzlich aufsah und mit einem Ruck etwas metallisches hervor zog - die Jarek-Schere ihrer Mutter, die sie für ihren Arbeit als Schneiderin benutzt hatte, bevor sie von ihnen gegangen war. Kathya schob den wehmütigen Gedanken an eine blonde, zierliche Frau, die sich über eine Arbeitsbank beugte und einen Pelzmantel bearbeitete energisch beiseite und besah sich die Schere genauer. Die zwei mit Rubinen besetzten Griffe glänzten im grellen Sonnenlicht, das durch das offene Fenster drang. Die beiden Klingen waren scharf und bereit, den Stoff ihres Kleides zu bearbeiten.  Vorsichtig, und bedacht darauf nicht mit dem geschärften Metall abzurutschen, setzte sie an ihrem Rock an, drückte ihre Hand zusammen und ließ die Schere durch die Falten gleiten. Es ging ohne Ziehen, ohne Zerren und nach ein paar Sekunden rutschte ein großer Teil des roten Stoffes zu Boden. Danach trödelte sie den entstandenen Saum auf, zog eine lange Baumwollhose über ihre nackten Beine und schlüpfte in ein paar Lederstiefel, bei denen sie die Öffnung nach außen umgeschlagen hatte. Tief atmete sie durch und betrachtete sich abermals im Spiegel. Erleichterung und Zufriedenheit machten sich in ihr breit und verdrängten das Gefühl von Angst, die sie bei der Erinnerung an ihren Vater verspürte. Es würde schon alles gut gehen, er würde sich nicht trauen, Kathya vor der Clanversammlung anzuschreien - jedenfalls hoffte sie das. Jetzt gibt es jedenfalls kein zurück mehr. Mit klopfendem Herzen stolzierte Kathya dem Herrenzimmer im unteren Stockwerk entgegen. Schon von weitem hörte sie den anhaltenden Lärm, klirrende Gläser und vereinte Stimmen. Offenbar fand gerade eine Diskussion statt, ansonsten hätten nicht so viele Leute gleichzeitig die Stimme erhoben. Sie straffte sich, bevor sie leise die verzierte Holztür aufdrückte und durch den kleinen Spalt schlüpfte. Vor ihr breitete sich der Salon des Gutes mit seinem riesigen Eichentisch und dem edlen Silberbesteck aus, an dem sich bereits die restlichen Kiapos niedergelassen hatten und eifrig miteinander plauderten. Allein Fackeln und ein Kaminfeuer erhellten den fensterlosen Raum und verströmten eine unheimliche Wärme. Als nun die riesige Tür hinter Kathya, lauter als gewollt, ins Schloss fiel drehte sich das Meer aus Köpfen zur ihr um. Ihre Blicke blieben an ihrer Kleidung hängen und glitten daran herunter, während sich die Augen erstaunt weiteten. Lass dir nichts anmerken, raunte sie sich selbst zu. Sie stellte sich an die kurze Seite der Tafel und sah nun dem Clanoberhaupt Dicodan direkt in die erheitert blitzenden Augen. Er war ein alter, gutmütiger Mann, der die Dinge, die um ihn herum geschahen, meist anders beurteilte als seine Gefolgsleute ohne sich daran zu stören. Sein langes, weißes Haar war stets im Nacken zusammengebunden und unterstrich die kantigen, aber freundlich wirkenden, Gesichtszüge. Kathya mochte und bewunderte ihn zutiefst. "Clanoberhaupt Dicodan." Sie verneigte sich anmutig. "Kathya. Bitte setz dich.", erwiderte der Greis höflich und wies auf ihren Stuhl, der nur wenige Meter entfernt am Tisch wartete. Das Mädchen nickte und wandte sich ab. Die Köpfe folgten ihr. Beobachtet mich nicht so, ihr Aasgeier, dachte sie verärgert, stoppte abrupt und warf einen vielsagenden Blick in die Runde, worauf hin sich promt jegliche Augenpaare von ihr lösten und stattdessen in die Luft oder auf ihre Teller starrten. Kathya lächelte zufrieden.  Während sie sich auf ihr weiches Kissen sinken ließ, verebbte nach und nach die anhaltende Stille und machte erneut aufflammenden Gesprächen Platz. Allerdings – so fiel ihr auf – stierte ein Kiapo immer noch wütend vor sich hin: Adamo. Ihr Vater hatte die Hände, zu Fäusten geballt, links und rechts von seinem Teller auf der Tischplatte platziert und sah nicht gerade glücklich drein. Als Kathya schließlich zwischen dem intensiven Durcheinander von Stimmen und einem Schluck Wasser seinen schweren Atem an ihrem Ohr vernahm, war ihr bereits bewusst, dass etwas schreckliches auf sie zu kam. "Kannst du mir erklären, was das soll?", presste er zwischen seinen Zähnen hervor. Sie schluckte und wagte es nicht ihm in die Augen zu blicken. Sie waren mit Sicherheit ein Meer aus Wut und Abscheu. "Was meinst du?", fragte sie unsicher. Es war vielleicht nicht die beste Taktik, aber im Eifer des Gefechts war ihr nichts besseres eingefallen. "Du weißt genau, was ich meine. Das hier-", er zog fest an ihrem Ärmel,"-ist nicht das, was ein Mädchen bei einer Clanversammlung tragen sollte. Hat dir Hella kein Kleid heraus gelegt?" "Doch!", erwiderte das Mädchen energisch, wurde jedoch im nächsten Moment wieder kleinlaut, "Das ist das Kleid." Adamo lachte freudlos auf und ließ von ihr ab. "Das wird Konsequenzen haben, Fräulein. Dafür werde ich sorgen." Kathya lief es eiskalt den Rücken hinunter. Was meint er damit? Er wird doch nicht Hella zur Verantwortung ziehen! Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun! Den ganzen Abend über beobachtete sie ihren Vater, der nach ihrer verheißungsvollen Auseinandersetzung jedoch wieder guter Dinge zu sein schien. Er wirkte auf einmal, völlig ohne Vorahnung, wie ausgewechselt. Als würde er sich über etwas freuen. Als würde er sich darüber freuen den Verantwortlichen für Kathyas Auftreten – den es nicht gab – zur Verantwortung zu ziehen. Denjenigen, der ihn so sehr vor seinen Brüdern und dem gesamten Clan blamiert hatte. Sie ahnte furchtbares. Als Kathya am nächsten Morgen plötzlich eine fremde Magd, die ihr persönlich zu alt und zerstreut war, zur Verfügung stand, wusste sie, dass etwas passiert sein musste. Hella war nicht mehr da und ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Niemand konnte ihr Auskunft darüber geben, wo ihre Freundin sich befand und aus unsicheren Quellen erfuhr sie, dass das Gerücht, die junge Magd sei davon gelaufen, weil sie es nicht mehr aushielt für die adligen Kiapos zu arbeiten, die Runde machte. Zum Anfang glaubten es nur argwöhnischsten, aber nach einiger Zeit nahm ihnen das gesamte Personal jedes ihrer Worte bezüglich Hella ab. Nein, sie würde mich nicht alleine lassen. Ich habe sie geschützt und sie mich. Sie würde nicht einfach so davon laufen. Dies waren die einzigen positiven Gedanken, an die sich das junge Mädchen über Wochen und Monate hinweg verzweifelt festklammern konnte und die ihr schließlich und endlich zu der schwersten Aufgabe ihres Lebens verhalfen: Kathya würde eine verborgene Kämpferin werden. Sie würde sich für Hellas Verschwinden und die auszustehende Einsamkeit rächen, die es ihr beschert hatte. Selbst wenn ihr Vater tatsächlich in die Sache verstrickt sein sollte. Und der Schwur und der Eid eines jeden Kämpfers besiegelte ihr Schicksal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)