Zu kalt zum Fliegen (Arbeitstitel) von Blacksad ================================================================================ Kapitel 1: Vor dem Sturm ------------------------ Es ist der Erste richtig kalte Tag nach einem langen Sommer, der Erste, an dem die Sonne nicht mehr die Kraft hat, den Raureif zu lösen, ehe er in die Erde und die Glieder der Menschen kriecht und sich dort breit macht - wie zu viel Bauschaum in einem engen Wandspalt - der Erste, der nach Frost riecht und der Erste an dem ich wieder den Bus nehmen sollte. Jetzt laufe ich an den Raureif bedeckten Grashalmen vorbei, die den Seitenstreifen des Gehwegs säumen wie eine gezuckerte, mattgrüne Stola. Meine Lungen saugen gierig die kühle Morgenluft ein. Zwei winzige Schneeflocken hauchen ihren letzten kalten Hauch auf meiner Zunge aus. Eine landet auf meiner Lippe und existiert einen Moment länger, dann schwindet auch ihre Lebenskraft dahin. Die Straßenlaternen werfen ihre matten Lichtkreise auf den spröden Asphalt und malen meinen Schatten unwirklich lang auf den Boden. Erst der mit lärmenden Schülern gefüllte Omnibus wischt die Stille der Nacht weg, wie seine Scheibenwischer die dünne Eischicht auf der Frontscheibe. Stöhnend wie ein alter Mann schnauft er an mir vorbei und biegt um die nächste Ecke. Ich kann noch eine Weile das flackern der Scheinwerfer sehen, dann erlischt auch dieses letzte Zeichen, was von seinem Auftauchen zeugt und die Einsamkeit hat mich wieder. Erleichtert seufze ich auf. Ich werde ihn nicht mehr erwischen und bin froh darüber. Ich hasse es mich durch die zugestellten Gänge zu zwängen, die immer von den gleichen ätzenden Gerüchten, über die gleichen uninteressanten Leute erfüllt sind. Wie schmieriger Smog wabern sie durch die Sitzreihen. Ich hasse es, dass jede beschissene Tasche einen Platz hat, sich breit und schwer in die hässlich gemusterten Polster schmiegt, während ich stehen muss. Ich hasse die Blicke mit denen ich durchbohrt werde und ich hasse die vorgehaltenen Hände hinter denen über mich getuschelt wird. Hier draußen trübt lediglich der Nebel, der wie ein zweites, scheinbar begehbares, Stockwerk über einer Landschaft, bei der der Wald aus Häuser besteht und durch den, wie ein Fluss aus Teer, die Straße fließt, die Klarheit des Morgens. Er lässt mich frösteln aber mustert mich nicht mit eisigem Blick. Er duldet mich wie ich bin und hüllt mich in seinen schützenden Umhang aus grauer Feuchtigkeit. Ihm ist es egal, das ich langsam bin, er hat Zeit. Meine unregelmäßigen Schritte hallen laut durch die Dunkelheit, die langsam von einem hellblauen Streifen am Horizont durchbrochen wird. Es wird noch ca. ein halbe Stunde dauern bis ich an der Schule ankomme. Damit werde ich ca. eine Viertelstunde zu spät bei Herrn Bauer im Deutschunterricht erscheinen und es werden sich ganz genau 26 Blicke auf mich richten, wenn ich im Türrahmen auftauche. Sie werden es als ungerecht empfinden, das ich keinen Ärger bekomme, ihr Groll gegen mich wird sich um plus-minus 10% erhöhen. Tatsächlich nickt mir der hagere Lehrer mit dem Schütteren Haar und der viereckigen Brille nur kurz zu, als ich so unauffällig wie möglich ins Klassenzimmer schlüpfe. Wenn du ein Krüppel bist, bekommst du so eine Art Freischein zum Schwänzen. Das gehört zu den wenigen Privilegien die dir bleiben, genau wie Behindertenparkplätze oder Verbilligte Kinokarten. Wir, damit meine ich Kain und Mich, nennen das den "Spastirabatt". Kain ist der einzige Typ aus der Gruppe zur aktiven Körperwahrnehmung, so eine Art Physiotherapie mit anschließender Hilfe zur Selbsthilfe, der in der Nahrungskette noch weiter unten steht als ich. Sein Hirn ist bei der Geburt Sauerstofftechnisch zu kurz gekommen, so dass das arme Schwein auf der rechten Körperhälfte quasi komplett gelähmt ist. Dadurch hängt auch ein Teil seines Gesichtes schlaff nach unten, was ihm mit Sicherheit einen Spitzen Job in jeder Geisterbahn einbringen würde, auf die meisten Mädchen allerdings eher abtönend wirkt und leider, warum auch immer - Ist in seinem Fall nämlich geradezu masochistisch, sind Mädchen so ziemlich das einzige wofür Kain sich interessiert. Er denkt sich bei jedem Discobesuch, auf dessen Eintrittspreis er natürlich "Spastirabatt" erhalten hat, eine andere, irre Geschichte aus, wie er zu seiner Behinderung gekommen ist. Das ist nämlich das Ding mit dem Krüppel sein: Wenn du dein Bein bei einem waghalsigen Backside Kickflip über eine Grube mit vergifteten Speerspitzen verlierst und es nachdem dir ein von Tony Hawks persönlich gesponsertes, internationales Expertenteam eine hochmoderne Sportprotese gebaut hat, gleich nochmal probierst. Nur um danach auch noch Querschnittsgelähmt zu sein (- aber Hey, du hast gekämpft und nie aufgegeben) bist du ein Held und alle bewundern dich. Ich persönlich finde das ja weniger geil, und viel mehr einfach nur unheimlich Bescheuert, aber so ist das nunmal: Du musst für deine Behinderung Schuften. Wenn du sie einfach vom lieben Gott zur Geburt geschenkt bekommst hat die Welt allerhöchstens Mittleid für dich übrig. Kain und ich sind also die einzigen von Gott beschenkten in der Gruppe, was dazu führt, dass wir in den Augen der Anderen erstens: Nichts zu heulen haben, weil wir ja garnicht wissen wie es ist 656 voll funktionsfähige Muskeln zu haben, deswegen zweitens: Kampfgeistlose Schlappschwänze sind, die ernsthaft Glauben es gäbe bessere Arten ihre Zeit zu verschwenden als in der Reha abzuhängen um den kleinen Zeh nach zehn Jahren schmerzhafter Therapie wieder einen Pikometer zur Seite bewegen zu können, was uns, drittens: Auf die hintersten Plätze der Krüppelgesellschaft katapultiert und weil ich mich immerhin noch vorwärts bewegen kann, ohne mir zwei Räder unter den Arsch zu Schnallen belege ich nicht der allerletzte Rang auf der Looserliste. Womit wir wieder bei Kain wären, der auf Grund dieser Faktoren der einzige ist der mit mir redet, obwohl ich kein Mädchen bin. Nicht das wir Freunde wären, wir sind einfach gezwungen uns miteinander abzugeben. Ich setze mich auf meinen Platz direkt neben der Tür und breite meinen Ordner, die Lektüre, Mäppchen und Collageblock über den ganzen Tisch aus. Eigentlich ist er für zwei Schüler gedacht, wie alle anderen Tische auch, aber der Stuhl neben mir dient lediglich als Sitzplatz für den Overheadprojektor. Das Warnwestenorangene Kabel, dass aus seinem kastenförmigen Körper ragt windet sich wie Gedärm auf dem schmutzigen Linoliumboden des Klassenraumes. Und durch sein spiegelndes Auge kann ich die Schüler in den hinteren Reihen beobachten. Zwei Mädchen, deren Namen ich mir, wahrscheinlich weil diese und die dazugehörigen Persönlichkeiten so bedeutungslos sind wie der obligatorische Kühlschrank am Nordpol, nicht merken kann, stecken ihre Köpfe tuschelnd zusammen. Dabei wandern ihre Blicke immer wieder in Richtung Oliver, gegen den ein Kühlschrank am Nordpol noch geradezu überlebensnotwendig ist. Der hingegen guckt gelangweilt aus dem Fenster, an dem gerade eine Abordnung an Fünftklässlern vorbeimarschiert, vermutlich um Wasserproben für den Biounterricht aus dem nahegelegenen Fluss zu bergen. Ich reiße meinen Blick los, nur um ihn kurz darauf auf die schmutzig grüne Steppe an der Frontseite des Klassenraumes zu Heften. begleitet durch das klacken der Kreide auf dem Schiefer schreibt Herr Bauer mit maschinellen Bewegungen die Hauptaspekte von Goethes Faust an die Tafel. Die Bögen der s-Buchstaben wirken dabei genauso kantig wie die Schultern und genauso wenig schwungvoll wie die Bewegungen des alten Lehrers. Mit einem besonders lauten "Klack" setzt er schließlich einen Punkt hinter den offenbar letzten Aspekt und holt rasselnd Luft. Und dann macht Herr Bauer das, was alle Lehrer, bevorzugt am Anfang oder Ende des Schuljahres, nämlich wenn die Aufmerksamkeit der Klasse stark zu wünschen übrig lässt, machen: "Ich empfehle denjenigen, die den Faust trotz Ferien und der längst abgelaufenen Frist immer noch nicht gelesen haben dies zeitnah nachzuholen. In zwei Wochen habe ich von jedem von ihnen einen Aufsatz zu den Fragen: was für ein Menschen und Weltbild vermittelt uns Goethe durch Mephisto und welches durch Faust? Auf meinem Tisch liegen. Ende der Stunde, sie können gehen." Seine Lunge produziert erneut ein Geräusch, das klingt als sei sie das verfrühte Echo der Schulglocke, die wenige Sekunden später losschrillt. Die Luft knistert unangenehm aufgeladen als ich vom Kollektiv der Klasse aus dem Raum Geschwemmt werde. Die Reaktionen auf die Ankündigung des Aufsatzes reichen von Total geschockt bis extrem ansgepisst und reiben aneinander wie die Schultern der Schüler. Die Pausenhalle hat den Charme eines Konzertsaals. Es ist mindestens genauso eng und der Geruch von Schweiß mischt sich in der Luft, zwar nicht mit dem von Alkohol, aber die Kombination mit Leberwurstbrot ist nicht gerade angenehmer. Unter der Haupttreppe schlurft der Grottenolm in immer gleichem Tempo von links nach rechts. Er hat eine abartig helle Haut, trägt eine Brille die seine sowieso schon Glubschigen Augen in Angsteinflößendem Maß vergrößert und die Wenigen Haare, die auf seinem schrumpligen Schädel noch sprießen, kringeln sich oberhalb seiner Ohren in krautigen Büscheln. Der Grottenolm ist die Pausenaufsicht und um es mal freundlich auszudrücken Grottenschlecht in seinem Job. Ihm entgehet so ziemlich alles, was einem entgehen kann und wenn er doch mal was mitbekommt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er es rechtzeitig von seiner Höhle zum Ort des Geschehens schafft, ungefähr so hoch, wie die Chance fünf mal hintereinander im Lotto zu gewinnen. Da man auf den Grottenolm nicht zählen kann, gibt es im Grunde nur zwei Strategien die Pause zu überleben: Entweder du hängst mit den Herdentieren rum oder du schließt dich "dem Rudel" an. Die Herdentiere sind ein Haufen Schüler, meistens mit dem selben Interesse z.B. Rauchen, Hochbegabt sein, Schauspielen, Musik machen etc., die Ohne erkennbare Führungsspitze und deshalb verhältnismäßig unorganisiert aufeinander hängen. Ihre Stärke begründet sich in der Masse. Hast du Stress mit einem, hast du Stress mit allen. "Das Rudel" hingegen wird klar von einem Alphaschüler angeführt, bevorzugt Mannschaftskapitäne oder ähnliches, der denen, die sich ihm anschließen -Den Lemminge - bedingungslosen Schutz im Austausch für bedingungslose Loyalität bietet. Springt er von einer Klippe springt der Rest hinterher. Da ich kein großer Fan von Kollektivem Selbstmord bin und auch nicht über besondere Talente verfüge verbringe ich die Pausen in einer Ecke auf dem Raucherhof. Ich bin eigentlich kein Raucher, ich mag Zigaretten nichtmal besonders gerne aber da Nikotinkonsum definitiv das einfachste Kriterium ist, um seine Herdenzugehörigkeit zu demonstrieren, habe ich mich dafür entschieden. Ich denke es gibt dümmere Gründe mit dem Rauchen anzufangen, als seine Haut retten zu wollen. Die Packung Pall Mall die ich, nachdem ich meinen Stammplatz auf der Raucherstange ,einem langen Lattenzaun der den Raucherhof einrahmt, bezogen habe, aus meiner Tasche Fische, warnt mich in Massiver Druckschrift davor das "Rauchen die Haut altern lässt" -Welch Ironie. "Hey, Marathon! hast du Kippen?" Marathon ist mein Spitzname und ebenfalls Ironie. Ronja hat sich vor mir aufgebaut. "Klar, willst du eine?" Biete ich, als Antwort auf diese rein Rhetorische Frage, großmütig an und ignoriere dabei die Tatsache, dass ihre ausgestreckte Hand vor meinem Gesicht baumelt. Nachdem Ronja die Zigarette, in Ermangelung an Interesse die jugendliche Spannkraft ihrer Haut zu erhalten, mit einem Zug auf die Hälfte ihrer Länge reduziert hat und die Glut in der nebligen Morgenluft wie ein leuchtendes Insekt direkt vor ihrer Nase auf und ab hüpft, lehnt sie sich neben mich an die wackligen Holzbretter. Ihre klapprigen Beine, die in einer Rosa Strumpfhose stecken und von den sie eines angewinkelt gegen den Zaun drückt, während das andere durchgestreckt die Verbindung zum Boden sichert, erinnern mich an die eines Flamingos. Vermutlich weil sie ein schlechtes Gewissen hat, weil weitestgehend ich ihren Nikotinkonsum finanziere fühlt sich Ronja gelegentlich genötigt ein paar mehr Worte mit mir zu wechseln, als es erfordert eine Zigarette zu erbetteln. "Hast du es mitbekommen? Im Rudel gibt es offenbar Kämpfe um die Vormachtstellung." "Aha..." erwidere ich vage. "Einer der Lemminge behauptet er hätte Oliver vor einer Schwulenbar rumlungern sehen. Wenn du mich fragst ist das reine Schikane! Vermutlich will er schlechte Stimmung gegen ihn machen um im richtigen Moment selber das Rudel zu übernehmen." Ich zucke mit den Schultern. "Dir ist auch alles egal oder?" Ich zucke erneut mit den Schultern. "Man Marathon mit dir kann man echt nicht reden!" Sie schüttelt den Kopf und stößt sich vom Zaun ab. "Man sieht sich." Mit einem "schnip" landet ihr Zigarettenstummel neben mir im feuchten Gras und gibt ein leises Zischen von sich, als der Tau das rot glühende Köpfchen benetzt. Ich behalte lieber für mich, das mir Oliver, in-, oder exklusive seiner Lemminge, und wo er sich herumtrieb am Arsch vorbei geht, zumal es ein offenes Geheimnis ist, dass Ronja total auf ihn steht, was aber so ziemlich für jedes Mädchen der Schule gilt. von den paar Gruftis, bei denen eine klare Geschlechtszuordnung sowieso unmöglich ist, mal ganz abgesehen. Ich Wette Kain würde Morden und schlimmeres um mit ihm Tauschen zu können. Der Rest des Schultages zieht sich wie zu lange gekauter Kaugummi und ist auch genau so langweilig wie dieser schmeckt. Also bin ich froh nach der Letzten Stunde endlich das Schulgebäude hinter mir zu lassen, wie ein Cowboy die Stadt. Zuhause wartet neben einer halben Schweinshaxe Kain auf mich. Das ist nicht Symbolisch gemeint, der Typ hockt wirklich direkt daneben und grinst mich mit der funktionsfähigen Seite seines Gesichts an. Mom: "Noel, Du hast Besuch." Ich: "Hab ich gemerkt Mom, der Rollstuhl blockiert die Klotür." Kain: "Sorry, Man!" Mom: "Noel!" Ich: "Mom!" Kain: "Man, wir müssen Reden Man!" Ich: "Man, ich hab nen' Namen Man und das klingt als wolltest du mit mir schlussmachen Twoface. Mom, ich esse später was wir sind in meinem Zimmer. Wenn du die Tür knallen hörst kannst du kommen und mir helfen über ihn hinweg zu kommen." Mom: "Noel! Das ist nicht witzig!" Ich: "Ich weis!" Kain: "Danke für das Essen Mam, und nehmen sie es ihm nicht übel, das ist die Pubertät." Nachdem meine Mom genickt hat, als sei Pubertät die ultimative Erklärung für alles, wuchtet Kain mit seiner funktionsfähigen Körperhälfte die nicht funktionsfähige in den Rollstuhl und rollt in mein Zimmer, wo er sich vor dem Fenster Positioniert als sei er der Pate höchstpersönlich. "Wo ist Gorbatschow?" Erkundigt er sich mit einem gebieterischen Unterton in der Stimme, der mir Respekt abverlangt. "Keine Ahnung. Wiso, ist seine Anwesenheit in irgend einer Weise von Bedeutung?" Erkundige ich mich. Gorbatschow ist ein Kater, nicht mein Kater, dass würde er als Beleidigung empfinden. Also einfach ein leicht übergewichtiger, ich würde nicht sagen fett, weil er das vermutlich ebenfalls als Beleidigung empfinden würde, weißer Kater. Er heißt Gorbatschow weil er über seinem linken Ohr einen Beigen Fleck hat der, ohne zu übertreiben, absolut identisch mit Russengorbatschows Feuermal ist. "Alles ist von Bedeutung mein Freund" erwidert Kain "Aber es gibt Dinge die von größerer Bedeutung sind als Andere. Und von allergrößter Bedeutung ist, dass ich am Wochenende ein Date habe" "Aha und wer ist sie?" Hake ich nach und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Bislang hatte Kain kein Date, dass nicht in ein absolutes Desaster ausgeartet ist. "Marie, zweiundzwanzig Krankenschwester aus Kiew." fasst Kain zusammen. "Und was denkt sie, wer du bist?" Damit wären wir beim Grund für Kains Katastrophendates: Er lügt jedes mal das sich die Balken biegen. "Generalmajor Henning Kranz, zweiunddreißig Kriegsversehrter aus Afghanistan." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)