Am Ende des Weges von Flordelis (Dragon Quarter) ================================================================================ Untergang --------- „Du bist der Auserwählte...“ Mit diesen Worten hatte alles einmal begonnen. Elyon erinnerte sich daran, als wären sie eben erst gesagt worden, als stünde er noch immer vor dem riesigen Leib des Drachen, der mit zahlreichen Pflöcken an die Wand genagelt worden war. Er war bereits tot, ein verwesender Kadaver und doch hing er noch dort, sprach mit ihm, direkt in seine Gedanken hinein. Aber er war nicht dort. Der Gestank der Verwesung, der Anblick all der Skelette, der trostlose Raum, in dem Glühwürmchen das einzig Schöne waren, all das war nur ein Teil seiner Erinnerung, während er sich tausend Meter entfernt von diesem Ort befand. Er war noch immer unter der Erde, aber er war dem Himmel so nah wie nie zuvor. Den Kopf in den Nacken gelegt, konnte er, in über dreihundert Meter Entfernung, die metallene Schleuse sehen, das einzige, was ihn und alle anderen Menschen noch von der Oberfläche trennte. Magische Symbole glühten in einem sanften blauen Licht auf der Schleuse, fast als erwarteten sie sehnlichst, endlich gelöst zu werden und die Menschheit wieder an ihren alten Platz zurückzuführen. Es war inzwischen fast tausend Jahre her, seit jemand dort gewesen war. Tausend Jahre seit zuletzt jemand den Himmel gesehen, den Regen auf seiner Haut gespürt hatte, tausend Jahre seit die Menschen in einem Krieg alles verbrannten, ihren eigenen Lebensraum vernichteten und in den Untergrund flüchteten. Es gab niemanden mehr, der davon zu berichten wusste, wie es dort draußen gewesen war, nur noch Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben und dabei immer weiter mystifiziert worden waren. „Es ist an der Zeit... die Menschheit wieder zum Himmel zu führen.“ Mit dieser Überzeugung war Elyon losgezogen, quer durch alle Sektoren, ungeachtet der Gefahren, die im Untergrund lauerten und nicht selten von Menschen selbst erschaffen worden waren. Er hatte sogar die Regenten, die Herrscher dieser Welt, herausgefordert und war dank seines Bundes mit Odjn siegreich gewesen. Nichts und niemand konnte sich der Kraft eines Drachen widersetzen, es sei denn ein weiteres Ungetüm, aber keines hatte, neben Odjn, einen Pakt geschlossen. Der hinter ihm auf dem Boden liegende Deamoned stieß ein Ächzen aus, krümmte sich, presste eine Hand auf das blutende Loch, in dem einst sein rechtes Auge gesessen hatte. Selbst er, der oberste Regent, war unter den Fähigkeiten des Auserwählten und des Drachen eingeknickt, aber er lebte. Elyon lag nicht daran, ihn zu töten, auch Deamoned sollte das Recht haben, einmal in seinem Leben den Himmel zu sehen. Nur einmal sollte er das betrachten, von dem nur noch in Geschichten erzählt wurde und dessen Tor er so lange geschützt hatte. Elyon streckte die Hand aus, wollte die Vorrichtung betätigen, mit der die Schleuse geöffnet werden konnte und hielt unwillkürlich inne, als ihn mehrere Gedanken durchzuckten. Wer garantierte ihm, dass die Welt sich nach ihrem Untergang wieder erholt hatte? Woher wollte Odjn, eine künstliche, lange nach dem Krieg geschaffene Waffe das wissen? Und warum verlangte sie dann von ihm, die Menschen wieder nach draußen zu führen? War es ein Trick? Lud er den draußen lauernden Tod ein, wenn er diese Schleuse öffnete? Waffen wurden immerhin geschaffen, um zu zerstören, auch Odjn strebte sicherlich danach. „Warum zögerst du?“ Odjns dröhnende Stimme fuhr wie ein elektrisierender Impuls durch seinen Körper, ließ stechende Schmerzen in seinem Kopf entstehen. Der bislang so geduldige Odjn wollte ihn zwingen, seinen Willen weiter auszuführen, ungeachtet von Elyons eigenen Wünschen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es das richtige ist. Als er den Pakt mit Odjn geschlossen hatte, war er frei von jedem Zweifel gewesen. Er hatte die Welt verändern, die Menschen retten wollen – und doch stand er nun hier, nach all seinen Mühen und nachdem er Zeuge gewesen war, was die Menschen alles getan hatten. Er konnte sich nicht mehr bewegen und war vollkommen unsicher, ob er das wirklich tun sollte. Was wenn, flüstere ihm sein Unterbewusstsein, um den Zweifel zu nähren, es gar nicht sein Wille gewesen war? Wenn er mit dem ersten Kontakt mit Odjn von etwas infiziert worden war, das sein Denken beeinflusste und ihn bis an diesen Punkt getrieben hatte? Es gab unbestätigte Gerüchte, dass Menschen, die in direkten Kontakt mit einem hochentwickelten Genic kamen, in seinen Einfluss gerieten, dass sie krank wurden und dann unfähig waren, die Wahrheit von einer Lüge zu unterscheiden. Vielleicht war ihm das auch geschehen? In einem solchen Fall durfte er die Schleuse nicht öffnen, nicht, bevor er sich nicht vollkommen sicher war! „Narr! Du bist so weit gekommen, um aufzugeben?!“ Elyon griff sich an den Kopf, der jeden Moment zu platzen drohte, er schwankte. Odjns Zorn flutete durch seinen Körper, die Ungeduld des Drachen ließ ihn seine Beherrschung vergessen und trieb Elyon damit einen Schritt näher an den Abgrund, der sie beide voneinander trennen würde. Aber noch traute der Auserwählte sich nicht, zu springen. Vielleicht ist es die falsche Entscheidung!, verteidigte er sich in Gedanken. Vielleicht ist es dein Wille und nicht meiner. Ich werde nicht deine Marionette sein! „Du bist der Beschützer der Menschheit, du hast so hart für dieses Ziel gekämpft...“ Odjn wurde wieder sanfter, er spürte offenbar, dass er mit seiner aggressiven Art nicht weiterkam. Aber Elyon war entschlossen, nicht nachzugeben. Vielleicht. Aber ich kann nichts tun, wenn ich nicht davon überzeugt bin. Odjn grollte in seinen Gedanken, er spürte sicherlich, dass sein Auserwählter nicht gewillt war, sich einfach überzeugen zu lassen. „Lass mich wenigstens einmal den Himmel sehen...“ Die Bitte klang verzweifelt, als wäre es der Wunsch eines Sterbenden. Noch immer war Elyon unsicher, ob er die Schleuse wirklich öffnen sollte, aus Furcht, den Tod hereinzulassen. Aber Odjns Stimme klang deprimiert, kraftlos, verzweifelt... er wollte nur die Außenwelt sehen, einmal in seinem Leben. Ob es dessen Wunsch war, der auf ihn einwirkte, wusste Elyon nicht, aber er wollte ihn ebenfalls sehen, wollte wissen, wie es um die Welt stand und ob der Himmel wirklich blau war. Also warf er die Bedenken über eine lauernde Bedrohung über Bord und betätigte die Vorrichtung, mit der sich die Schleuse öffnete. Licht fiel durch den Spalt, heller und reiner, als er es je zuvor gesehen hatte, nicht einmal das grelle, weiße Licht des Center konnte damit konkurrieren. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich schützend die Hand vor Augen. Frische Luft strömte herein, sie war vollkommen anders als jene abgestandene und nicht selten verdreckte Luft, die man in Sheldar, der unterirdischen Hauptstadt, einatmete. Der Tod kam nicht herein, keine von Elyons Befürchtungen trat ein, was ihn schon einmal beruhigte. Nach oben führte nur eine Treppe, die an der Wand des kreisrunden Raumes angebracht war, aber die Aussicht, einen Blick nach draußen zu werfen, beflügelte Elyon, der durch Odjns Wunsch noch weiter nach vorne gedrängt wurde, so dass er die Entfernung gar nicht bemerkte, während er hinaufstieg. Als er schließlich nach draußen trat, fiel sein Blick sofort auf den Himmel, der wesentlich blauer war, als er es sich je vorgestellt hatte und er schien unendlich weit zu reichen. Nirgends gab es Balken oder Wände, die einem den Ausblick behinderten, die Bäume reichten nicht bis in den Himmel hinauf. Diese Weite erfüllte seine Brust, wollte ihn in die Knie gehen und voller Ehrfurcht in Tränen ausbrechen lassen. Noch nie zuvor hatte er einen Baum berührt, noch niemals das saftig grüne Gras unter seinen Füßen gespürt, nicht einmal einen Vogel singen gehört oder diese über sich hinwegziehen gesehen. Das alles war Schönheit in reinster Perfektion, wie ein Mensch es niemals errichten könnte, nicht einmal wenn er sein ganzes Leben damit verbringen würde. Er musste der Versuchung widerstehen, sich ins Gras zu legen, den Himmel zu beobachten, bis die Sonne unterging, wie es in den alten Geschichten berichtet wurde und dabei die Zeit zu vergessen. Nein, nicht nur das, er wollte alles vergessen. All die Menschen im Untergrund, die nicht wussten, dass er über ihr Schicksal entschied, die nicht einmal wussten, dass es ihn gab und die nicht ahnten, welch schwere Entscheidung er nun zu treffen hatte. Aber dieser Gedanke brachte ihn unweigerlich wieder zu seinem Auftrag zurück und plötzlich stellte sich nicht mehr die Frage, ob es gefährlich war, die Menschen an die Oberfläche zu bringen. Stattdessen tat sich ihm ein anderes Problem auf: Er wusste nicht, ob die Menschen es verdient hatten, all diese Wunder zu sehen. Vor etwas weniger als tausend Jahren hatten sie all diese Schönheit gedankenlos vernichtet, den Untergang ihrer eigenen Rasse eingeläutet und dasselbe taten sie nun mit ihrem aktuellen Lebensraum. Sie verpesteten die Luft, teilten Menschen nach ihren Fähigkeiten in Nummern ein und diejenigen, die das Pech hatten, ein Low-D zu sein, mussten in Bezirken leben, in denen die Luft derart verdreckt war, dass niemand von ihnen alt wurde. Nein, niemand von ihnen hatte das hier verdient, kein einziger! „Dein Entschluss steht also fest?“ Unter freiem Himmel, umgeben von so viel Licht und Schönheit, klang Odjns Stimme wesentlich weniger eindringlich, weniger bedrohlich. Er klang müde, erschöpft, die Kämpfe und die Diskussion mit Elyon mussten an seinen Kräften gezehrt haben. Ich werde die Menschen nicht zum Himmel führen. Es tut mir Leid, Odjn. Er glaubte, den Drachen seufzen zu hören, er war enttäuscht und Elyon verübelte ihm das auch nicht. „Du warst mein erster Auserwählter. Es fällt mir nicht leicht, dich gehenzulassen.“ Aber du musst!, beharrte Elyon in Gedanken. Ich kann deinem Willen nicht mehr folgen. Mit dieser Einstellung gab es keine Möglichkeit, ihn weiter als Wirt zu behalten und das nahm Odjn die Möglichkeit, sich doch noch einen anderen zu suchen, der die Menschen in Freiheit führte. Jemand, dessen Wille mit dem des Drachen übereinstimmte, bis zum Ende. Es war also besser für sie beide, wenn diese Verbindung beendet und der Pakt für unwirksam erklärt wurde und das müsste auch Odjn begreifen. „Dann werde ich das Programm beenden. Lebe wohl, Elyon... Origin...“ Es war ein kurzer, stechender Schmerz – und im nächsten Moment war die Verbindung, die er in den letzten Tagen gespürt hatte, fort als wäre sie nie dagewesen. Odjn hatte ihn verlassen, mit einem traurigen Gefühl, das ihm als Waffe bis dahin sicherlich unbekannt gewesen war. Er war nun endgültig wieder frei, auch wenn seine Gedanken noch immer unter dem fremden Einfluss standen. Seine erste Handlung wäre es, die Schleuse wieder zu schließen, sie zu bewachen und dann auf einen Auserwählten zu warten. Irgendwann würde jemand kommen, der das Programm bis zum Schluss erfüllte und er wollte derjenige sein, der diese Person am Ende testete, selbst wenn das seinen Untergang bedeuten würde. Erst wenn die Person gekommen war, die ihn töten könnte, war die Menschheit reif genug, wieder ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen. Es war treffend, wie er fand. Der Untergang von etwas Altem war immer die Geburt von etwas Neuem. Wenn sein Tod nötig war, um die Menschheit in ein neues Zeitalter zu führen, dann würde er dieses Opfer jederzeit eingehen. Mit diesen Gedanken kehrte er wieder unter die Erde zurück, um die scheinbar endlose Treppe hinabzusteigen und seinen neuen Posten als oberster Regent und Beschützer der Welt anzutreten, bis zu seinem eigenem Untergang am Ende des Weges eines anderen Auserwählten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)