Azurtropfen von Ur (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Feigling ------------------- »Die beiden geben ja schon ein sehr hübsches Paar ab, meinst du nicht?« Rin war für seine Verhältnisse eigentlich recht gut gelaunt gewesen. Er hatte beim Training seinen persönlichen Rekord gebrochen, war anschließend mit Nitori eine neue Schwimmbrille kaufen gegangen und hatte sich für den Abend mit ein paar Teamkollegen zum Billard verabredet. Gou war ihm in der Fußgängerzone entgegen gekommen und begleitete ihn nun seit einigen Straßenecken. Sie plapperte gut gelaunt vom Fortschritt ihres Schwimmclubs und Rin saugte stumm und widerwillig jedes Stück Information auf, das er über seine ehemaligen Freunde bekommen konnte. Dieser neue Kerl im Team, Rei, hatte offenbar Fortschritte gemacht und fing nun langsam an, Brustschwimmen zu beherrschen. Makoto hatte sich neue Goldfische zugelegt. Nagisa war erkältet. Und nun schien er ein ganz neues Stück Information zu bekommen. Vielleicht hatte Makoto letztendlich einer seiner vielen Verehrerinnen nachgegeben und war mit ihr ausgegangen. »Wer?«, wollte er wissen und warf einen Seitenblick auf seine kleine Schwester. Sie war so groß geworden. Und sehr hübsch. Vielleicht würde Rin bald anfangen müssen, Jungs böse anzustarren und sich bedrohlich hinter ihr aufzubauen, wenn der Ansturm begann. Dafür würde er neben seinem Schwimm- und Krafttraining schon noch Zeit finden. »Na, Makoto und Haruka-senpai«, antwortete sie mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er sich das selbst denken können. Aber Rin erstarrte mitten auf dem Gehweg und wiederholte ihre Worte dreimal, bevor er sich hundertprozentig sicher war, dass er es richtig verstanden hatte. »Was?«, gab er zurück und konnte spüren, wie seine Brauen sich über seiner Nasenwurzel trafen. Das war doch absurd. Makoto und Haru waren schon immer beste Freunde gewesen. Aber... sie waren doch sicher nicht... das war absolut lächerlich. Der allgemeine Gedanke an Haru mit irgendjemandem war... Doch eine leise Stimme in seinem Kopf sagte: Wenn Haru nicht mit Makoto zusammen wäre, mit wem denn dann? Gäbe es irgendjemand anderen, der mit Haru zusammen sein würde? Oder besser: Irgendjemanden, mit dem Haru zusammen sein wollen würde? Die Antwort war simpel und verdüsterte seine Stimmung drastisch. Nein. Niemand. An eine etwaige Ausnahme wollte er nicht denken, weil er sich selbst dann mit Gefühlen hätte konfrontieren müssen und dafür hatte er nun eindeutig keine Zeit. Und keine Lust. Und überhaupt war Haru ein fauler Nichtsnutz, der das Schwimmen nicht ernst genug nahm. Jawohl. »Makoto und Haruka-senpai! Es hätte mir ja eigentlich schon früher auffallen können, ich meine... sie sind wie füreinander geschaffen, denkst du nicht auch?« Rin hatte sich unterdessen wieder in Bewegung gesetzt und seine Hände in die Hosentaschen gestopft. In seinem Brustkorb wütete es ungewohnt und er versuchte sich vorzustellen, wie genau diese merkwürdige romantische Kombination zustande gekommen war. Er hatte Haru oft genug vom Wasser schwärmen hören, aber selbst wenn er versuchte, in seinem Kopf jeden Satz in diese Richtung, den Haru jemals gesagt hatte, umzustellen und Makoto einzusetzen... es klang lächerlich. Völlig undenkbar. »Tse«, machte Rin und strich sich die Haare aus der Stirn. Hoffentlich waren sie bald lang genug, sodass sie allesamt in einen Pferdeschwanz passen würden. »Wann soll das denn passiert sein?« Er war nicht neugierig. Es interessierte ihn nicht. Haru konnte machen, was und mit wem er wollte. Aber so sehr er sich das auch einzureden versuchte, seine Eingeweide zogen sich trotzdem mit einem heißglühenden Gefühl zusammen, das Rin lieber nicht benennen wollte. Gou zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau. Sie wissen auch gar nicht, dass ich es weiß. Nagisa hat es mir erzählt und er meinte, die beiden wollen es noch ein wenig unter der Decke halten... also hätte ich es dir wahrscheinlich auch gar nicht sagen sollen«, murmelte Gou schuldbewusst und blickte ihn von unten herauf an. Er schnaubte ungehalten. »Keine Sorge. Interessiert mich nicht die Bohne, ich werds schon nicht weitersagen.« Seine Schwester strahlte dankbar zu ihm auf und für einen kurzen Moment wirkte ihre Körpersprache ganz so, als wollte sie sich bei ihm unterhaken. Doch Rin las in Gous Gesicht, dass sie sich nicht traute und beinahe bekam er ein schlechtes Gewissen. Beinahe. Sein Gehirn war wohl zu sehr mit anderen Neuigkeiten beschäftigt, als dass es jetzt auch noch Schuldgefühle hätte produzieren können. Makoto und Haru. Ein Paar. Absurd, absurd, absurd. Egal. Absolut egal. Denk nicht weiter drüber nach. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Gou besorgt und Rin schüttelte kaum merklich den Kopf, um sich und sein verräterisches Gehirn in die Realität zurück zu zwingen. »Was soll denn nicht in Ordnung sein?«, schnappte er und beschleunigte seine Schritte. Gou holte auf und beobachtete ihn mit großen Augen von der Seite, doch sie sagte nichts mehr. Vielleicht, weil sie seine abweisende Art mittlerweile gewöhnt war. Oder aus anderen Gründen, die er sich lieber nicht ausmalen wollte. * »Matsuoka-senpai, ist alles in Ordnung?« Nitori stand am Beckenrand und hielt eine Stoppuhr in seinen schmalen Fingern. Rin musste ihn nicht nach der Zeit fragen, um zu wissen, dass er selten so schlechte Runden geschwommen war. »Ja, alles bestens«, grollte er und stemmte sich am Beckenrand hoch. Es war wie verhext. Seit seiner unglückseligen Unterhaltung mit Gou konnte er sich nicht mehr richtig konzentrieren. Es war ja nicht so, dass er normalerweise beim Schwimmen nicht an Haru dachte. Da es sein Ziel war, Haru irgendwann zu schlagen, dachte er selbstverständlich oft über ihn nach. Vor allem beim Schwimmen, da es das Schwimmen war, was sie beide miteinander verband. Aber jetzt dachte er nicht mehr daran, wie er Haru eines Tages schlagen würde, nein. Jetzt huschten Bilder durch seinen Kopf, wie Makoto Harus Hand nahm, wie sie gemeinsam einen Film ansahen und Makoto mit seinem unausstehlich sanften Lächeln Haru zum Erröten brachte. Es war absolut lächerlich. Kein Wunder, dass er bei diesen bescheuerten Vorstellungen schlechte Zeiten schwamm. »Ich meine nur... irgendwie bist du nicht ganz du selbst...« »Nitori! Ich sagte, es ist alles bestens!« Rin war sich nicht mehr sicher, an welchem Punkt seines Lebens er sich in ein unnahbares und undankbares Arschloch verwandelt hatte, aber als er Nitoris Gesicht sah, musste er automatisch an Gou denken, die auch immer genauso dreinblickte, wenn er sie abwies. Wie ein getretener Hund. Es war eindeutig alles Harus Schuld. Wenn dieser Bastard nicht ein unverdientes Schwimmgenie wäre, dann hätte Rin nicht... »Ich bin sicher, dass es morgen wieder besser läuft, Matsuoka-senpai.« Rin betrachtete Nitoris unsicheren Gesichtsausdruck und seufzte. »Ja, wahrscheinlich«, murrte er und machte sich auf den Weg zu den Duschen. Er wünschte, Gou hätte ihm nicht erzählt, was sie von Makoto und Haru gehört hatte. Andererseits war er wütend auf sich, weil er sich überhaupt darüber Gedanken machte. Manchmal war es anstrengend, er selbst zu sein. Auf dem Heimweg bekam er eine der üblich gut gelaunten SMS von seiner Schwester. Sie schien nicht aufgeben zu wollen, obwohl er noch nicht einmal auf eine ihrer Nachrichten geantwortet hatte. »Wir gehen heute Abend bowlen, um Reis Fortschritt zu feiern. Wenn du nichts anderes vorhast, kannst du ja auch mal vorbeischauen!« Während er die SMS las, bekam er eine zweite, in der der Name des Bowlingcenters geschrieben stand. Er würde nicht dort hingehen. Ganz eindeutig nicht. * »Wie kamst du denn jetzt eigentlich drauf, Bowlen zu gehen? Du wolltest doch unbedingt Billard spielen?« Rin würdigte diese Frage nicht mit einer Antwort. Er nippte an einer Coladose und war sehr bemüht, möglichst unauffällig das Team zwei Bahnen weiter zu beobachten. Nagisa hatte sich gerade freudestrahlend um Reis Hals geworfen, weil die Brillenschlange alle zehn Kegel umgeschmissen hatte. Rin fand den Neuen komisch. Dauernd murmelte er unverständliches Zeug vor sich hin und lief Nagisa nach wie ein Schoßhündchen. Sein Blick wanderte zu Makoto und Haru hinüber, die ebenfalls ein Team bildeten. Sie saßen auf einer Bank, sehr dicht beieinander und Makoto hatte für sie beide gerade gekühlte Getränke besorgt. Mit der neuen Information, die er von Gou erhalten hatte, fiel ihm zum ersten Mal auf, wie dicht beieinander die beiden immer waren. Und Makoto sah ziemlich hingerissen aus, wenn er Haru ansah... und jetzt hatte er ihm die Hand auf die Schulter gelegt. »Rin! Du bist dran!« Er riss den Blick von seinen ehemaligen Freunden los und wandte sich der Bowlingbahn zu. Er war nicht besonders gut im Bowlen und er mochte es nicht wirklich. Wieso zum Henker hatte er sich dazu hinreißen lassen, herzukommen? Er konnte nur von Glück reden, dass Gou noch nicht freudestrahlend zu ihm herüber gekommen war, um sich zu begeistern, dass er tatsächlich gekommen war. »Ist das da drüben nicht dein altes Team, Rin?« Die Kugel rutschte ihm aus den Fingern und landete neben der Bahn in der Rinne. Großartig. Er hasste die Welt. »Ist mir nicht aufgefallen«, knirschte er ungehalten und wandte sich von der Bahn ab. Nitori beobachtete ihn schon wieder mit diesen großen, besorgten Augen. Am liebsten würde er zurück nach Australien gehen, wo er Haru nicht mehr sehen musste. Es war zum Verrücktwerden. Er warf einen schelen Blick hinüber zu den anderen. Gou klatschte begeistert als Makoto aufstand. Vielleicht war Makoto der Erste, den er wütend ansehen sollte, wenn es um seine kleine Schwester ging. Die Art und Weise, wie ihre Augen leuchteten, wenn sie ihn anschaute, war Rin nicht geheuer. Dann fiel ihm ein, dass Makoto jetzt mit Haru zusammen war. Zeigte Makoto Haru da gerade etwa, wie man eine Bowlingkugel richtig warf? Es war, als würde er sich in einer beknackten Teenager-Romantikkomödie befinden. War es wirklich nötig, dass Makoto und Haru so lange sehr dicht beieinander standen? Und dass Haru Makoto mit großen, aufmerksamen Augen ansah? Und dass Makotos Hände auf Harus lagen? »Rin-chan! Hey!« Er zuckte kaum merklich zusammen, als Nagisas Stimme durch den Lärm zu ihm drang. Er sah, wie sein ehemaliger Teamkollege begeistert zu ihm herüberwinkte und nun hatten natürlich auch die anderen ihn bemerkt. Er wandte trotzig den Kopf ab und beobachtete stattdessen Nitori dabei, wie er sieben Kegel umwarf. Besser als sein erbärmlicher Wurf. Unweigerlich kam ihm die Idee, sich mit Nitori genauso zu verhalten, wie Makoto und Haru das taten, aber das war lächerlich, unnötig und vollkommen unbegründet. Sein Nacken kribbelte und als er einen weiteren Blick hinüber zur anderen Bahn warf, sah er, wie Haru ihn ansah. Sein Magen schlug einen Salto und er hielt für eine Sekunde die Luft an. Verfluchter Dreck. Er war lang genug weg von Haru. Wieso hatte er immer noch dieses ätzende Gefühl in der Magengegend, wenn er ihn ansah? Wie früher auch schon. Als würde er fallen. Rin hasste dieses Gefühl. Natürlich musste es so kommen, dass sie ihre Bahnen zusammen legten und sich in fünf Teams aufteilten. Natürlich musste er neben Haru auf der Bank sitzen, Gous und Nagisas und Nitoris Blicke auf sich ertragen und Makotos dauerndes Lächeln anschauen, wenn er Haru ansah. Es war zum Wahnsinnigwerden. »Vielleicht sollten wir die Teams neu mischen«, schlug Nagisa voller Enthusiasmus vor und klatschte begeistert in die Hände. Rin wollte protestieren, doch seine Stimme ging im Jubel seiner Teamkollegen unter und er beobachtete, wie sie alle sehr erpicht darauf zu sein schienen, mit seiner kleinen Schwester ein Team zu bilden. Abgesehen von Nitori. Der sah einfach nur ein wenig verloren aus, bis Nagisa sich auf ihn stürzte und verkündete, dass sie ein Team bilden könnten. Fast erwartete er dramatische Musik und Regen, als Makoto und Haru voneinander getrennt wurden und dann... »Bleiben noch Haru-chan und Rin-chan! Ich hab gesehen, wie du wirfst, Rin-chan, daran musst du wirklich arbeiten. Vielleicht kann Haru-chan dir zeigen, wies richtig geht, er hat’s ja grade erst von Mako-chan gelernt!« Nagisa war immer schon so gewesen. Alle Welt dachte, er wäre klein und unschuldig und niedlich und harmlos. Aber Rin wusste es besser. Nagisa war nicht zu unterschätzen. Er wusste ganz genau, was er wollte und er wusste auch, wie er die Dinge, die er wollte, bekam. Er hatte diesen Rei dazu überredet, sich dem Schwimmclub anzuschließen, obwohl der Kerl nicht schwimmen konnte. Rin befand, dass das alles über Nagisas Charakter aussagte, was man wissen musste. Er mochte harmlos aussehen, aber er war ein gewitztes, kleines... »Muss das sein?«, fragte Haru und er wusste, dass Haru jegliche Art von Anstrengung hasste. Außer, es ging ums Schwimmen. Oder um Makoto. Rin wollte sich gern über den Tisch stürzen und Makoto erwürgen. »Los, Rin, stell dich nicht so an!« Mikoshiba war ein anstrengender Vollidiot und Rin hätte auch ihn gern erwürgt. Und wenn er seinen Captain noch einmal schmachtend zu Gou herüber schauen sah, dann hatten sie eindeutig ein ernstes Wörtchen miteinander zu reden. Rin stand auf und verschränkte schnaubend die Arme. »Als könntest du mir irgendwas beibringen«, sagte er hochmütig zu Haru, der die Schultern zuckte und neben ihn vor die schwarze Linie trat. Rin nahm sich beherzt eine grüne Kugel und sah Haru direkt ins Gesicht. Er verabscheute diese blauen, gleichgültigen Augen. »Makoto sagt, man muss...« Harus Stimme war immer so ruhig. Rin bekam eine verfluchte Gänsehaut auf den Unterarmen, als Haru nach seiner Hand griff und ihm zeigte, wie er es machen sollte. Hinter ihnen am Tisch herrschte plötzlich eine schrecklich laute Stille und Rin spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg. Sie sahen jetzt genauso aus wie Makoto und Haru vorher. Makoto und Haru. Vielleicht, wenn er nicht weggegangen wäre...? Wenn du nicht so ein übermäßig stolzer Hornochse wärst, Rin, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Die Kugel schnellte über die Bahn und krachte in die Kegel. Rin trat zwei Schritte zur Seite und sah nicht einmal nach, ob er alle Kegel umgeworfen hatte. Stattdessen ballte er die Hände zu Fäusten und stapfte von dannen. »Rin-chan?« »Rin?« »Matsuoka-senpai?« Seine Finger kribbelten noch von Harus Berührung. Er war der größte Idiot unter der Sonne. Draußen angekommen atmete Rin mehrere Male tief durch. Die kühle Nachtluft tat gut auf seiner erhitzten Haut und er starrte hoch in den fast schwarzen Sternenhimmel. Es half nichts, ewig vor der Tatsache wegzulaufen, dass er Gefühle für Haru hatte. Er war bis nach Australien gegangen und hatte Haru mehrere Monate nicht gesehen und es hatte nichts geholfen. Frustriert und wütend auf sich und die ganze Welt lehnte er sich draußen gegen die Wand. Weggelaufen vor seiner Niederlage gegen Haru. Weggelaufen vor seinen Gefühlen für Haru. Weggelaufen, schon wieder. Vor Makoto und Haru, die dort drinnen und einfach so ein Paar waren. Wenn du nicht gerannt wärst, Rin, flüsterte eine kleine, gemeine Stimme in seinem Hinterkopf, dann wärst du vielleicht mit ihm zusammen. Und nicht Makoto. »Rin?« Er wirbelte herum und hielt einen Moment lang die Luft an. Da stand Haru mit seinem nichtsahnenden Blick und den Händen in den Hosentaschen. Rins erster Impuls war ihn anzufahren, sein zweiter war, zu rennen. Und dann war da noch der überwältigende Drang Haru zu packen und ihn zu schütteln und ihm zu sagen, dass es beinahe unerträglich war, ihn mit Makoto zu sehen... »Alles ok?« Rin blinzelte und starrte Haru an. Er war viel näher gekommen und hatte – sah er wenig besorgt aus? – den Kopf schief gelegt. »Wartet Makoto nicht auf dich?«, schnappte Rin ungehalten und verschränkte die Arme vor der Brust. Sieh ihn nicht an, dachte er sich und biss sich auf die Unterlippe, schau ihn einfach nicht an. Aber sein Körper hatte ihn schon so oft betrogen, wenn es um Haru ging und so huschten seine Augen hinüber zu ihm. »Makoto? Der bildet doch jetzt ein Team mit Rei«, sagte Haru verwirrt und Rin hätte ihn gern bei den Schultern gegriffen um ihn gegen die Wand zu drücken. Haru verstand nie irgendetwas. Er war ein ignoranter Vollidiot. Kein Wunder, dass sie so ein schlechtes Team abgaben. Ignoranz und Feigheit passten wohl einfach nicht besonders gut zusammen. Mal ganz angesehen von Harus Weltfremdheit... »Was willst du, Haru?« Rin erinnerte sich an die Zeit, als er Haru noch Nanase genannt hatte. Damals. Konnte man sich als so kleiner Knirps schon verknallen? Dass er dieses Wort überhaupt dachte, gruselte Rin unheimlich. »Nach dir sehen... Du sahst aus, als würdest du gleich kotzen«, erklärte Haru. Rin schnaubte. Zugegeben, wenn er sich Makotos und Harus schmalziges Verhalten in Erinnerung rief, war er kurz davor. Er musste diese Situation mit so viel Würde wie möglich überstehen. Deswegen ignorierte er Harus Bemerkung und räusperte sich. »Also... du und Makoto, huh?«, fragte er bemüht lässig. Haru runzelte die Stirn und sah ein bisschen so aus, als hätte man ihn gefragt, was genau er an Wasser denn so toll fand. »Was ist mit uns?« »Wann ging das mit euch beiden los?« Haru blinzelte und seine Stirn lag nun so tief in Falten, als hätte Rin Schwimmen zum schwachsinnigsten Sport unter der Sonne erklärt. »Du weißt doch, seit wann wir befreundet sind«, antwortete er offensichtlich verwirrt und Rin verdrehte die Augen. Wenn Haru noch langsamer denken würde, dann würde er bald rückwärts schwimmen. Immerhin, dann könnte er Haru vielleicht endlich besiegen. »Ich meine, seit wann ihr ausgeht«, schnappte Rin ungeduldig. Er hatte nicht die ganze Nacht Zeit sich mit seinen Gefühlen und Harus schleichenden Denkprozessen auseinander zu setzen. »Wir gehen nicht aus«, erwiderte Haru nun vollkommen perplex und starrte Rin an. Er hatte es an diesem Abend schon mindestens hundert Mal gedacht, aber verfluchte Scheiße, er hasste diese Augen. Sie hatten fast dieselbe Farbe wie ein Pool. Zum Kotzen. »Dann hab ich mir euer Geturtel da drin wohl nur eingebildet«, meinte Rin sarkastisch. Er wollte gern so tun, als würde ihn all das nicht kratzen, aber er konnte den hoffnungsvollen Hüpfer, den sein Herz gerade getan hatte, nicht leugnen. Vielleicht hatte Gou sich ja geirrt. Aber wieso sollte sie...? »Ja, hast du wohl«, meinte Haru schulterzuckend und wandte sich zum Gehen. Rin rang mit sich. Er wollte gleichzeitig, dass Haru ging und sich ein für allemal zum Teufel scherte und dass er blieb. Verdammter Drecksmist. »Heißt ja nicht, dass das nicht noch werden kann.« Die Worte waren ihm entschlüpft, bevor er weiter darüber nachdenken konnte, was er da eigentlich sagte. Es klang, als würde seine Zunge Haru nun dazu überreden wollen, sich doch noch an Makoto heran zu schmeißen. Womöglich waren die beiden ja auch doch zusammen und dies war nur Harus und Makotos Wunsch, weiterhin alles unter der Decke zu halten. Er hatte Gou versprochen, es nicht zu erzählen. Aber immerhin hatte er so getan, als wäre er selbst auf diese Idee gekommen. Haru blieb stehen und musterte ihn. Rin würde diese Tatsache mit ins Grab nehmen, aber unter Harus Blick wurde ihm wahnsinnig heiß. »Makoto ist mein bester Freund«, sagte Haru leise und Rin spürte einen leichten Stich. Wahrscheinlich hatte Haru es nicht so gemeint, aber Rin hörte hundert Vorwürfe in diesem einen Satz. »Manchmal...«, sagte Rin und hörte zu seinem Entsetzen, dass seine Stimme zu einem Krächzen verkommen war, »verlieben sich auch Freunde ineinander.« Wann hatte seine Zunge beschlossen, ihn zu verraten und noch tiefer in die Scheiße zu reiten, als er ohnehin schon drin steckte? Er hatte gerade beschlossen, dass eine Flucht das einzig Richtige war, um dieser verkorksten Situation zu entkommen, aber da packten zwei sehr entschlossene Hände nach seinen Handgelenken und er landete mit dem Rücken an der harten Betonwand. »Willst du mir irgendwas sagen?«, murmelte Haru und sein Gesicht war eindeutig viel zu nahe. Nicht nahe genug. Rins Herzschlag beschleunigte sich und er schluckte schwer. »Was sollte ich dir denn sagen wollen?«, höhnte er, doch seine Stimme klang nicht einmal halb so herablassend, wie er es gern gehabt hätte. Vermutlich hörte auch Haru das leichte Zittern. Scheiße. »Warum du sauer bist, dass ich angeblich mit Makoto ausgehe?« Rins Magen machte mehrere Saltos und sein Herz vollführte einen wahren Trommelwirbel. Die Situation erinnerte ihn an die Szene am Zaun, als er Haru gesagt hatte, dass er für ihn schwimmen würde... Jetzt war es zwar andersrum, aber auch schon damals hatte Rin daran gedacht, wie es wohl wäre, Haru zu küssen. »Ich bin nicht–« Er kam nicht dazu, sich zu verteidigen. Nicht, dass er wirklich gewusst hätte, was er sagen wollte. Aber Rin hatte eindeutig nicht damit gerechnet, dass Haru einfach die wenigen Zentimeter zwischen ihnen überbrücken würde. Seine Lippen waren ungewöhnlich weich. Rin hatte sie sich immer ein wenig trocken vorgestellt, wegen all des Wassers, in dem Haru sich dauernd aufhielt. Er befreite seine Handgelenke aus Harus griff und schmale Finger verhakten sich mit den seinen. Rin stand unter Schock. Harus Augen waren geschlossen und aus der Nähe erkannte Rin selbst in der schummrigen Dunkelheit ein paar Sommersprossen. Sein Herz hatte scheinbar den Dienst versagt. Und gerade, als er ebenfalls seine Augen schließen wollte, ertönte ein lautes Juchzen und anschließendes Jubeln. Haru schien es nicht eilig zu haben, sich von Rin zu lösen, doch Rin spürte wie seine Wangen feuerrot anliefen, als er seine Teamkameraden und seine alte Schwimmmannschaft inklusive seiner begeisterten Schwester vier Meter weit entfernt stehen sah. »Endlich«, rief Nagisa und führte einen kleinen triumphierenden Tanz auf. Gou zwinkerte ihm zu. Und plötzlich begriff Rin, dass Nagisa, dieser kleine Teufelsbraten, und seine schamlose kleine Schwester ihm absichtlich diese Lüge mit Haru und Makoto aufgetischt hatten. Makoto lächelte freundlich wie immer, Nitori hatte einen hochroten Kopf und die Hände vors Gesicht geschlagen, Mikoshiba grinste so breit, dass Rin sicher war, dass er bald Muskelstarre kriegen würde und Nagisa sah so selbstzufrieden aus, dass Rin ihn nur allzu gern erwürgt hatte. Rei wirkte vollkommen verwirrt und Rin konnte es ihm nicht verübeln. Haru seufzte. »Was für ein Elend«, murmelte er und zu Rins großer Überraschung zog Haru ihn mit sich, weg von der großen Gruppe, die nun enttäuschte Rufe verlauten ließ. Als wäre das hier eine Bühnenshow. Rin beschloss, sie allesamt später umzubringen. Haru zog ihn mit sich um ein paar Ecken des Bowlingcenters, bis sie schließlich vollkommen im Dunkeln standen, weil hier keine Leuchtreklame oder Straßenlaternen Licht spendete. Eine Weile lang standen sie schweigend in der Finsternis und Rin spürte ihre ineinander verhakten Finger überdeutlich. Was genau war eigentlich passiert? Wieso zum Henker hatte sein Leben plötzlich eine 180-Grad-Drehung hingelegt? »Wirst du wieder wegrennen?«, fragte Haru schließlich leise und nicht zum ersten Mal war Rin von seinem ehemaligen Freund überrascht. Haru wirkte immer völlig weltfremd, aber er nahm doch viel mehr von seiner Umwelt wahr, als man manchmal dachte. »Pf... vor dir? Sicher nicht«, schnaubte Rin. Womöglich würde sein Herz gleich explodieren. »Sind wir...«, Haru schwieg einen Moment und Rin ertappte sich dabei, wie er den Atem anhielt, damit er auch ja kein Wort verpassen würde. »Sind wir wieder Freunde?« Rin knurrte verlegen. »Heißt das ja?« »Man Haru, halt einfach die Schnauze! Du bist doch sonst auch nicht so gesprächig!« Rin griff nach Harus Gesicht und presste seine Lippen erneut auf Harus. Hoffentlich würde Haru so den Mund halten. Doch Rins Gebete wurden nicht erhört. »Das heißt hoffentlich, dass wir auch wieder gemeinsam schwimmen?« »Haru...« »Und Australien ist hoffentlich auch vom Tisch?« »Haru!« »Ich hab dich vermisst...« Rin blieb sein nächster Fluch im Hals stecken und er schluckte hörbar. Was sollte er dazu sagen? Ganz offensichtlich war Haru im Gegensatz zu ihm kein Feigling. Er rang mit sich und spürte die Worte auf seiner Zunge, doch sie krallten sich widerspenstig dort fest. Komm schon, Rin, schimpfte eine innere Stimme mit ihm, hör endlich auf ein Feigling zu sein! »Ich dich auch.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)