Ein Meer aus Lavendel von Benjy ================================================================================ Kapitel 2: -----------             „Ich muss etwas gestehen.“   Ich setzte den Blinker und reihte mich mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel vor dem Sattelschlepper ein. Keine Sekunde später raste der Audi vorbei, der mir seit Beginn des Überholmanövers unangenehm am Heck geklebt hatte. Meine Gedanken rasten nicht weniger. Zu gerne würde ich dem Fahrer mein angefertigtes Portfolio über die sichtbaren sowie unsichtbaren Verletzungen eines Autounfalls zeigen, wohl wissend, dass es nicht zur Vorsicht oder Rücksichtnahme animieren würde, was zum Beispiel der mäßige Erfolg der abschreckenden Bilder auf den Tabakschachteln zeigte – wie ich zugeben musste.             „Chris? Hast du mich gehört?“ Ich sah zu Eric. Er hatte sich mir zugewandt. Wartend.             „Entschuldige. Ich war in Gedanken.“ Ein weiteres Mal fielen mir seine attraktiven Gesichtszüge auf, auch wenn Brille und Haare das meiste davon versteckten. Er war rasiert. Ich fragte mich, ob er es trocken oder nass tat. Die Verletzungsgefahr bei der Nassrasur war nicht zu unterschätzen und ich konnte mir vorstellen, dass Blinde die Trockenrasur bevorzugten. Vor allem, wenn sie allein lebten und sie niemand darauf hinweisen konnte, dass kleine Schnitte das Kinn zierten – das getrocknete Blut im Gesicht würde in der Öffentlichkeit wohl zu höchst unterschiedlichen Reaktionen führen. Mitgefühl. Betroffenheit. Belustigung. Wie erginge es mir, wenn ich Eric so sehen würde? Ich nahm meine Gedanken wieder an die Leine, damit sie nicht noch weiter undirigiert durch die Gegend laufen konnten und Eric weiter warten musste.             „Was meinst du damit, du müsstest etwas gestehen?“ Ich setzte an, den nächsten Lastwagen zu überholen.             „Muss ich mir jetzt Gedanke um meine Sicherheit machen?“, scherzte ich. Dies zu sagen, mag unsensible klingen, aber Eric hatte darauf bestanden, keine falsche Zurückhaltung zu zeigen. Dennoch kam ich nicht umhin, bei dem dominierenden Unterton der Frage ein Anflug von Entsetzen zu spüren.             „Gestehen ist vielleicht nicht das richtige Wort.“ Kommentarlos überging er meine Bemerkung und nun hatte ich noch mehr das Bedürfnis, mich erklären zu müssen.             „Ich steige sonst nie ein“, fuhr er fort, „ist heute das erste Mal.“             „Wie meinst du das? Du hältst dein Schild hoch, wartest bis jemand anhält und dann überlegst du es dir anders?“             „So in etwa.“ Seine Stimme hatte diese vergnügte Nuance, der mir zuvor schon aufgefallen war.             „Ich muss wohl etwas weiter ausholen, um es verständlich werden zu lassen.“ Stumm warf ich einen Blick auf Erics Hände, die mit dem Blindenstock spielten. Ob dies ein Zeichen von Nervosität war, vermochte ich nicht sagen, da mir dazu zu viele Anhaltspunkte fehlten. Aber würde ich seiner Stimme nach urteilen müssen, dann war er alles andere als unruhig.             „Ich glaube nicht, dass du dich in irgendeiner Form erklären müsstest. Wir kennen uns schließlich nicht. Dennoch muss ich zugeben, dass mich der Umstand, einem trampenden Blinden zu begegnen, schon neugierig gemacht hat, mich gleichzeitig aber auch bestürzt“, gab ich zu.             „Eben. Um genau diese unterschiedlichen Reaktionen zu sammeln, bin ich hier. Na ja, stehe ich in der Regel an Raststätten und fahre nicht mit.“ Er lachte. „Ich habe heute eine meiner eisernen Regeln gebrochen.“             „Soll ich mich jetzt gut oder schlecht fühlen, da ich für den Regelbruch verantwortlich bin?“             „Weder noch, denn du bist nicht der Grund dafür“, entschied er plötzlich ernsthaft, „die Hitze ist verantwortlich.“ Ich konnte aus dem Augenwinkel heraus sehen, dass er den Signalstock zwischen seine schmalen Oberschenkel geklemmt hatte und nach dem Rucksack zu seinen Füßen griff. Seine unerwartet forsche Antwort ließ mich enttäuscht zurück. Zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde fragte ich mich, warum Erics Auftreten einen so starken Einfluss auf meine Gefühlswelt hatte. Es war seltsam. Ich kannte ihn nicht, dennoch bewegte er mich. Ich beschloss, dass das Blindsein der Katalysator dafür war.             „Die Hitze?“, fragte ich ernüchtert.             „Ja, aber ich muss eben erklären, warum ich überhaupt hier stehe. Ein Freund von mir an der Uni leitet ein Forschungsprojekt über die Interaktion von Blindheit und Gesellschaft in bestimmten Situationen. Dies hier ist solch eine, für dessen Elaborat ich verantwortlich bin.“ Überraschung zeigte sich auf meinem Gesicht, wie ich im Rückspiegel erkennen konnte. Ein Forschungsprojekt?             „Das heißt, dein Freund hat sich blinde Testpersonen gesucht, um mit ihnen den zwischenmenschlichen Umgang in unerwarteten Situationen unter besonderen Voraussetzungen zu erforschen“, gab ich in meinen eigenen Worten wieder und konnte nicht vermeiden, dass ich dabei äußerst skeptisch klang. Weder kannte ich den Freund, vermutlich ein Professor, noch dessen Beweggründe. Vielleicht war er selbst blind, was ich aber nicht glaubte. Vermutlich wäre es von größerem Nutzen gewesen, alltägliche Situationen zu erforschen, als solche, die höchst selten anzutreffen waren. Eric hatte zudem in der Mehrzahl gesprochen, was bedeutete, es gab weitere ausgewählte Situationen. Eine blinde Sexarbeiterin vielleicht? Wollte ich es wirklich wissen?             „Testperson ist nicht ganz das richtige Wort. Aber ich muss zugeben, dass ich bisher nie darüber nachgedacht habe zu trampen. Somit ist es wirklich wie eine Art Experiment für mich, auch wenn es nicht vorsieht, tatsächlich mitzufahren, sondern an Ort und Stelle eine kleine Befragung durchzuführen“, erklärte Eric, der suchend im Rucksack herumtastete. „Würde es dir etwas ausmachen, dich dennoch zu interviewen?“ Ich sah zu Eric, der nun ein Diktiergerät in der Hand hielt und auf meine Antwort wartete. Sicher war ich mir nicht. Hatte ich doch auf eine zwanglose und freie Unterhaltung gehofft.             „Bevor du fragst, es ist anonym, recht kurz und mit offener Fragestellung. Dein Name wird später nicht auftauchen. Ich werde das Interview mitschneiden. Was denkst du?“             „Ich kann nicht behaupten, dass ich heute Morgen mit dem Wunsch danach aufgewacht bin, aber warum nicht.“             „Danke. Es ist auch gar nicht schlimm.“ Ich konnte die Freude über meine Entscheidung in seiner Stimme hören, was mich grinsen ließ.             „Das sagen sie alle“, stellte ich spöttisch fest, was ihn zum Lachen brachte.             „Okay. Wenn ich das Tonband starte, werde ich kurz ein paar Angaben zur Person erfragen. Anschließend eine Handvoll Fragen, deren Antworten eventuell zu der eine oder anderen Zwischenfrage führen könnte.“             „Aha. Da wird das ‚kurz’ schon relativiert.“             „Nicht wirklich. Kommt halt auf die Antwort an.“             „Dann sollte ich vielleicht so beantworten, dass es Zwischenfragen ausschließt?“, fragte ich im Scherz.             „Bloß nicht! Bitte keine berechnenden Antworten geben“, erwiderte Eric entgeistert. Jetzt musste ich lachen.             „Das war natürlich nicht ernst gemeint. Versprochen.“ Ich stellte die Musik aus – Andy mochte es mir hoffentlich verzeihen – und rückte etwas gemütlicher in den Sitz. Warf beiläufig einen Blick aus dem Seitenfenster auf die goldnen Felder, und schob augenblicklich die unangebracht aufblitzenden Bilder der letzten Nacht zur Seite. Die Augen wieder nach vorn auf die Straße gerichtet, lauschte ich gespannt den Geräuschen zu meiner Seite. Eric tastete erneut im Rucksack umher, ehe er sich anschließend entspannt im Sitz zurücklehnte und die neue Tonbandkassette auspackte. Diese setzte er mit Hilfe beider Hände ein. Ich vernahm, wie er einmal tief einatmete, wohl um sich für das Kommende zu sammeln, bevor zu sprechen begann.             „Kann ich beginnen?“             „Schieß los.“ Ich hörte, wie Eric das analoge Diktiergerät einschaltete und das Interview startete.   *****               „25. Juli. Erstes und einziges Interview. Gesprächspartner männlich.“ Es gab eine kurze Pause, so, als ob mir die Möglichkeit gegeben wurde, die erste Feststellung zu korrigieren.             „Alter?“             „38.“             „Beruf?“             „Rechtsmediziner.“ Erneut eine Pause. Diese ließ sich schwerer einordnen. War es Überraschung auf seiner Seite, oder sollte ich anmerken, ob ich als solcher auch arbeitete? Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, durchkreuzte seine nächste Frage meine Gedanken.             „Gibt es Menschen mit Sehbehinderungen im Bekanntenkreis?“             „Nein“, antwortete ich zuerst, relativierte es aber im nächsten Moment, „obwohl, wenn ich an die beginnenden Sehstörungen von in die Jahre gekommenen Bekannten denke, dann ja, auch wenn niemand vollständig erblindet ist.“ In der Ferne sah ich, dass sich der Verkehr zu stauen begann. Ein Umstand, der den Renovierungsarbeiten der Fahrbahn zuzuschreiben war, und in dessen Wirkungskreis wir gleich eintraten. Es würde dann eine Zeit lang im gemäßigten Tempo vorangehen, bevor es anschließend beinah nahtlos in den stockenden Verkehr des Autobahnkreuzes überginge. Danach waren es nur noch wenige Kilometer, bis wir unser Ziel erreichten und mir fiel ein, dass ich überhaupt nicht wusste, wo ich Eric absetzen sollte.             „Kommt es häufiger vor, dass Sie Anhalter oder Anhalterinnen mitnehmen?“             „Häufig würde ich es nicht nennen, aber hin und wieder wenn es passt.“             „Wenn es passt? Gibt es Ausschlusskriterien?“, hakte Eric das erste Mal nach.             „Mit ‚passen’ meine ich, dass ich in der Stimmung dafür sein muss“, erklärte ich, „wobei es in der Tat ein Ausschlusskriterium gibt. Ich nehme niemanden mit Hund mit.“ Ich würde also einen Blinden mit Blindenhund eiskalt stehen lassen. Jetzt stand ich wohl gar nicht gut dar. Sicher war ich mir nicht, aber ich hatte den Eindruck, ein unterdrücktes Lachen gehört zu haben.             „Was war Ihr erster Gedanke, als Sie feststellten, dass der Anhalter blind ist?“ Im Geiste wanderte ich zu dem Moment zurück. Sofort durchströmten mich erneut Neugier, Sorge und Zweifel. Laut sagte ich: „‚What the hell!’ trifft es ganz gut.“             „Was genau versteckt sich hinter ‚What the hell!’?“             „Ein ziemliches Potpourri an Empfindungen“, begann ich zu erklären. „Ich dachte erst, meine Augen hätten mir einen Streich gespielt. Daher habe ich angehalten, um mich zu vergewissern. Unglaube und Neugier standen zu Beginn wohl im Vordergrund. Eigentlich hatte ich auch nicht vor, jemanden mitzunehmen. Aber ich konnte dann einfach nicht mehr weiterfahren, nachdem ich angehalten hatte.“             „Was ist dann aus dem Hintergrund vorgerückt?“             „Bitte?“, irritiert sah ich zu Eric.             „Sie haben gesagt, dass anfangs Fassungslosigkeit und Wissensdrang Ihr Handeln bestimmt hat“, beseitigte er meine Verwirrung, und fuhr fort „was war dann dafür verantwortlich, dass Sie doch einen Platz im Auto anzubieten hatten?“             „Ach so.“ Ich nahm mir einen kurzen Moment, um nachzudenken. Unbewusst wischte ich mir dabei mit der Hand den Schweiß von der Nasenspitze, den ich anschließend im Haar verteilte. Die Richtung des Interviews war schwer zu lesen. Es war ersichtlich, dass es momentan darum ging, herauszufinden, was die ersten subjektiven Reaktionen waren. War das dann schon alles? Im Prinzip gab es da nicht wirklich viel zu erforschen, wie ich fand. Natürlich könnten die Fragen bezüglich der Gefühle und Reaktionen noch mehr in die Tiefe gehen, um so zum Bespiel den individuellen Nährboden für jene herauszuarbeiten. Aber das konnte ich mir bei besten Willen nicht vorstellen, da dann eine extrem psychologische Komponente der Befragten in den Mittelpunkt rücken würde, wo es doch in erster Linie um den Moment des Aufeinandertreffens ging. Was konnte also noch kommen? Vielleicht eine Art Wissenstest über die Welt der Sehbehinderungen, um diese Antworten dann in Beziehung zu denen der ersten Reaktion zu setzen. Durchaus eine Möglichkeit, über die ich nachdenken würde, wäre ich Teil des Forschungsteams.             „Haben Sie die Frage verstanden? Oder soll ich sie wiederholen?“ Erics Stimme riss mich aus den Gedanken.             „Nicht nötig“, rief ich hastig. Das anhaltende formelle Siezen hinterließ einen fahlen Nachgeschmack, wie ich feststellen musste. Ich wünschte, wir würden zum Du oder den Vornamen zurückkehren können.             „Ich denke, das müsste Besorgnis gewesen sein. Vielleicht auch ein Hauch Paternalismus.“             „Inwiefern paternalistisch?“ Ich zögerte einen Moment mit der Antwort.             „Insofern, dass das Trampen für einen blinden Menschen viel gefährlicher ist, und er es im Hinblick auf das eigene Wohlergehen besser unterlassen sollte. Und damit meine ich nicht das blinde Einsteigen an sich, das eh für alle gleich ist, sondern eher die häufig weniger barrierefreie Gestaltung der Raststätten“, erklärte ich. „Barrierefreiheit ist ein Ideal, dass nie vollständig erreicht werden kann, sich dessen Umsetzung zudem auch den Gegebenheiten anpasst. Daher lassen sich Rampen, abgeflachte Bordsteinkanten, breite Eingänge oder Toiletten eher finden, als ein Terminal, dass dem Nutzer per Knopfdruck eine Lagekarte beschreibt. Soll heißen, Menschen im Rollstuhl werden nicht nur als reine Mitreisende im Auto gesehen, sondern eben auch als aktiv Reisende – wenn auch die Zahl schwindend gering ist. Blinde hingegen können nur passiv teilnehmen.“ Ich merkte, dass meine Begründung ausschweifender war, als ich es beabsichtigt hatte. Die Stille, die nun folgte, fühlte sich unangenehm an. Was mochte Eric jetzt denken? Nur weil ich bevormundende Gedanken hatte, hieß das nicht, dass ich auch dafür wäre, sie zum Beispiel per Gesetz zum Wohle der Person zu verankern – was sowieso nicht möglich wäre, dass es gegen Artikel 2 des Grundgesetzes verstoßen würde. Ich brach die anhaltende Ruhe im Raum und dachte gleichzeitig, dass Andy dafür eigentlich viel besser geeignet wäre.             „Ich sollte vielleicht klarstellen, dass ich niemandem das Trampen verbiete“, setzte ich nach, „meine irrationale Besorgnis lässt sich wohl aufgrund meiner Unwissenheit erklären. So denke zumindest ich.“ Ich sah zu meinem stummen Beifahrer rüber, der, wie es schien, intensiv nachdachte. Er fuhr sich dabei abwesend mit der Zunge über die Lippen und hinterließ eine feuchte Spur. Ich hielt den Atem an.             „Sie sagen also, dass Ihre Bedenken weniger stark ausgeprägt wären, wenn Sie mehr über die Welt von Blinden wissen würden?“, brach Eric den Zauber.             „Schon möglich. Ich mein, es ist schwierig etwas zu verstehen, etwas einzuschätzen, was einem unbekannt ist.“ Unwohl rutschte ich im Sitz umher, und nicht nur, weil mir der Schweiß am Rücken klebte. Ich war froh über die Ablenkung, die sich vor mir auftat. Der stockende Verkehr löste sich endlich. Ich konnte wieder Geschwindigkeit aufnehmen.             „Das Mindeste, was der Mensch in solch einer Ausgangssituation machen sollte, ist offen und tolerant zu reagieren. Da aber Berührungspunkte im Alltag relativ selten sind, kann auch nicht wirklich ein Lernprozess stattfinden. Die Aufklärung findet, wenn überhaupt, meist nur theoretisch statt. Da kann es beim tatsächlichen Aufeinandertreffen, trotz Wissen, dennoch zu Hemmungen kommen.“             „Verstehe. Damit wären wir auch schon fast am Ende. Eine letzte Frage habe ich aber noch. Gibt es etwas, was Sie einen blinden Menschen schon immer fragen wollten?“ Irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass das Interview viel zu abrupt endete. Nicht, dass es mich störte. Vor allem, da dann noch etwas Zeit für eine freie Unterhaltung blieb, aber meine letzten Offenbarungen nagten an mir. Sie belasteten, weil ich mich jetzt fragte, was Eric von mir dachte, und wie sich das auf die nächsten Minuten auswirken würde. Ich befreite mich davon und dachte über die letzte Frage nach. Gab es etwas, was ich schon immer wissen wollte? Eigentlich nicht. Würde es als Desinteresse ausgelegt werden? Vielleicht sollte ich etwas fragen. Soviel dazu, keine berechnenden Antworten zu geben. Gut, in dem Fall eine Frage zu stellen.             „Dass Blinde durchaus träumen können, habe ich während meiner Ausbildung gelernt. Es ist verständlich, dass es da einen Unterschied gibt zwischen denen, die von Geburt an blind sind und denen, die es später wurden. Gibt es neue Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Träume von Menschen, die die Welt nie gesehen haben?“ Ich hatte keine Ahnung, warum mir diese sehr akademische Frage über die Lippen rutschte. Hätte ich doch viel lieber wissen wollen, ob Eric in der Lage war, im Stehen zu pinkeln. Aber mit dieser geistlosen Frage hätte ich mich wohl endgültig ins Abseits geschossen. Ich sah kurz rüber. Ein Lächeln zierte seine Lippen.             „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den aktuellsten Forschungsstand wiedergebe, aber ich versuche es mal“, begann er konzentriert. „Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass die Träume gänzlich ohne „optische“ Eindrücke stattfinden. Sprich, sie lediglich aus der Verarbeitung der anderen Sinneseindrücke bestehen. Inzwischen ist bei Tests herausgefunden worden, dass einige in der Lage sind, optische Wahrnehmungen im Traum im Nachhinein zu zeichnen, auch wenn diese Bilder sehr ungelenk erscheinen mögen. Gemessene Hirnströme zeigten zudem, dass genau der Teil der Hirnrinde im Schlaf aktiv ist, der für Verarbeitung optischer Sinneseindrücke verantwortlich ist“, beendete Eric die Erklärung.             „Verstehe.“             „Ich hoffe, die Antwort ist ausreichend?“ Eric klang leicht unsicher.             „Natürlich. Vielen Dank.“             „Ich bedanke mich ebenfalls für das Interview, das hiermit geschlossen wird.“ Ich hörte das endgültige Klicken des Diktiergerätes und es schien, als würde damit ein unsichtbarer Vorhang zwischen uns geliftet. Befreit atmete ich ein und griff zum Radio.             „Was dagegen, wenn ich die Musik wieder anstelle?“ Auch wenn mich das ungewöhnliche Forschungsprojekt neugierig gemacht hatte, wollte ich doch das Interview nun so schnell wie möglich vergessen. Ich hoffte, dass Eric nicht von mir erwartete, diese Thematik Teil unserer Unterhaltung werden zu lassen. Denn, viel lieber wollte ich mehr über ihn herausfinden. Mir war dabei natürlich klar, dass ich nur auf allgemeine Fragen zurückgreifen konnte, die eben in so einer Situation angebracht waren. Wir waren schließlich keine Freunde, sondern Fremde.             „Nein“, antwortete Eric abwesend, der das Diktiergerät gegen eine Wasserflasche eingetauscht hatte.             „Besondere Wünsche? Auch wenn ich nicht glaube, dass ich etwas auf dem Player habe, dass deinen Geschmack treffen würde.“             „So? Und der wäre?“ Mit einer Gegenfrage hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte absolut keine Ahnung, welche Musik er hören könnte. Er war mindestens zehn Jahre jünger. Die Band auf seinem T-Shirt war mir auch unbekannt. Ich überlegte kurz und entschied mich für eine scherzhafte Antwort.             „Justin Bieber vielleicht?“ Er lachte und ich mit ihm.             „Der mag ja ganz niedlich sein, aber meine Musik ist das definitiv nicht.“ Ich wusste nicht, worüber ich mehr verwundert war. Die Tatsache, dass er Herrn Bieber als niedlich bezeichnete, oder wie er als Blinder überhaupt wissen konnte, wie der Teenieschwarm aussah. War er also nicht immer blind gewesen? Bevor ich nachhaken konnte, bremste Eric mich.             „Erasure ist schon okay. Wie weit sind wir noch entfernt?“ Seine Frage rief mir meine eigene ins Gedächtnis zurück.             „So circa 20 Minuten, würde ich sagen. Wo soll ich dich eigentlich absetzen? Ich muss zum Institut für Rechtsmedizin. Soll ich dich zur Uni bringen, oder hast du etwas anderes im Sinn?“             „Uni ist okay, wenn es kein Umweg für dich ist.“             „Liegt auf dem Weg.“ Das wäre geklärt. Aber die viel interessantere Angelegenheit um Justin Bieber musste ich noch herausfinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)