Viele Déjà-Vus von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: befremdlich ---------------------- Vor ihnen liegen noch ein, höchstens anderthalb Meter der Veranda; ein halbrunder, steinerner Vorsprung, auf den sie hinaustreten und das Gebäude gerade so verlassen können. Doch der Boden endet in einer unebenen Kante, als sei er dann einfach eingebrochen und in die Tiefe gestürzt. Links und rechts der Eingangstür ist nicht einmal mehr die Veranda geblieben; das Fundament des Anwesens liegt brach. „Was für eine Hexerei ist das?“, murmelt Arin, während er aus geweiteten Augen in die Tiefe starrt. Auch der Abgrund ist von unnatürlich hellem Nebel erfüllt. Die weißen Schwaden sind so dicht, dass es unmöglich ist, bis auf den Boden zu blicken oder auch nur abzuschätzen, wie tief es hinuntergehen mag. „Das ist wirklich seltsam“, meint Malik. Seine Stimme klingt eigenartig fasziniert, ja, fast schwärmerisch – als würde die Erscheinung weniger Sorge als viel eher Interesse in ihm hervorrufen. „Wenn es sich so um das ganze Gebäude herum zieht, wüsste ich nicht, wie wir von hier weg kommen sollten.“ Arin schluckt, beginnt zu frösteln. Die eisige Kälte, die hier in der Luft liegt, hat seine Kleidung nun endgültig durchdrungen. Mit zitternden Fingern knöpft er seinen Mantel zu. Sind sie hier gefangen? Arin tritt vom Rand der Grube zurück und verengt die Augen, um in die Ferne zu blicken: Keine Spur von der anderen Seite, nicht einmal den Wald kann er erkennen. „Wie ist das überhaupt möglich?“, fragt Arin leise, mehr sich selbst als Malik. Er neigt den Kopf, sieht in den Himmel: Trübes Weiß. Hinter ihnen ragt das Anwesen empor, gerade noch so lassen sich drei Fenster des ersten Stockwerks erkennen – darüber nichts mehr, und selbst die Flügel des Gebäudes verlieren sich nach einigen Metern im Nebel. „Nun, das kann ich dir nicht sagen“, kommt es von Malik. Er wendet sich um und tritt mit tapsigen Schritten zurück in die Eingangshalle. „Lass uns versuchen, in die Bibliothek zu gehen. Durch die Fenster können wir vielleicht erkennen, ob es auf der anderen Seite auch so aussieht.“ „In die Bibliothek?“, fragt Arin und sieht Malik nach. „Warte!“ Er folgt ihm hastig. Drinnen ist Malik bereits auf halbem Weg in den Gang, der in den Ostflügel führt. Arin zieht die Tür zurück ins Schloss; das dumpfe Echo hallt für einige Sekunden durch die Halle. „Malky, wir sollten hier warten!“, ruft er Malik nach, hastet los und vertritt ihm einfach den Weg. Der Kleine bleibt stehen. Mit völlig ausdruckslosem Gesicht legt er den Kopf zurück und sieht zu Arin empor. „Wenn die Anderen zurückkommen, meine ich. Sie würden sich fragen, wo wir sind und...“, doch weiter kommt Arin nicht. „Du kannst mich nicht belügen“, fällt Malik ihm ins Wort, klingt schon beinahe pikiert. „Ich weiß, dass du Angst hast.“ Dann geht er an ihm vorbei. „Natürlich kannst du hier warten. Ich will aber in die Bibliothek gehen.“ Arins Herz rast, sein Atem geht schnell. Für einige Sekunden ringt er mit sich selbst, wirft erst einen flüchtigen Blick in die Halle und sieht dann wieder Malik nach, der mittlerweile in den Ostflügel eingetreten ist. Erneut bildet sich ein festsitzender, unangenehm drückender Kloß in seinem Hals. Arin könnte unmöglich allein hier stehen bleiben und einfach warten... „Moment!“, ruft er und spurtet los, ist nach einigen Schritten wieder neben Malik. „Ich komme natürlich mit.“ „Ja, natürlich tust du das.“ Der Gang ähnelt in beinahe jeder Hinsicht dem, den sie bereits zuvor durchquert hatten. Milchige, trübe Planen verhängen sämtliche Türen, Kabel ragen aus der Wand, wo Lampen hängen sollten und uralte Holzbohlen knarren unter ihren Füßen. Hier ist es nur heller, denn wo im ersten Stock auf beiden Seiten Türen waren, findet sich hier links eine Reihe schmuckloser Fenster. „Ich denke nicht, dass Ninas Team hier entlang gekommen ist“, sagt Malik schließlich. „Hier zeichnen sich keine Spuren im Staub ab.“ „Das Team, ja“, antwortet Arin sogleich und lacht gezwungen. „Wie sind die wohl hier raus gekommen? Gesprungen?“ Malik überlegt einige Sekunden, ehe er antwortet. „Ich denke nicht, dass sie suizidal motiviert waren.“ Im Vorbeigehen sieht Arin immer wieder aus den Fenstern, wird jedes Mal ein wenig langsamer, wenn er eines davon passiert. Zunächst scheint nur das trübe Nebelmeer den Blick in den Garten zu verwehren, doch Arin weiß es besser: Er kann unterhalb der Fenster nichts erkennen, weil dort nichts mehr ist... Schließlich muss er sich zwingen, nicht weiter nach draußen zu sehen. Vor ihnen knickt der Gang nach links ab, führt tiefer in das Gebäude hinein. Abermals sind beide Wände mit dicker Folie verhangen. Fenster finden sich hier keine mehr. Das spärliche Licht reicht noch für einige Schritte; dann verliert sich der Gang in der Dunkelheit. Arin starrt regelrecht in den Gang. Das Licht ... irgendetwas stimmt damit nicht. Selbst bei diesen spärlichen Lichtverhältnissen sollte der Gang wesentlich besser ausgeleuchtet sein, zumal sich ihm gegenüber ein Fenster befindet. Trotzdem scheint die Helligkeit regelrecht abzureißen, genau dort, wo der Gang abknickt. Eher beiläufig fällt Arins Blick auf den Boden. Weder er noch Malik werfen Schatten, dabei stehen sie direkt vor dem Fenster... Für einen Moment zweifelt Arin an seiner eigenen Wahrnehmung. „Malik, bitte lass uns doch auf die Anderen warten“, fleht er mit zittriger Stimme. „Dan hat die Lampe. Wir sehen hier doch kaum was!“ „Ich kann sehen“, versichert Malik, während er sein Haar zurück und hinter das linke Ohr streicht; es hält gut, so fettig, wie es ist. Er blinzelt zwei Mal mit seinem linken, ungewöhnlich großen Auge, dessen Pupille sich darauf zusehends weitet. Arin hadert, ringt nach Worten. „Und wenn dort hinten der Alte ist? Wenn er uns angreift oder so und wir fliehen müssen? Ich kann dich nicht tragen, so wie Viggo!“ „Er kann nicht hier sein“, ruft Malik, von einer Sekunde auf die Andere hörbar genervt. „Ich habe es dir schon gesagt: Ich spüre hier kein Leben außer uns. Wir sind allein!“ „Ja“, japst Arin, schluckt erneut. Schließlich folgt er Malik, der unbeeindruckt in den düsteren Gang tritt. „Eben...“ „Mann, hier mieft's“, grummelt Viggo, während er und Dando ebenfalls in einen Seitengang abbiegen; zwar im ersten Stock und im Westflügel, doch bei der annähernd symmetrischen Bauweise des Anwesens ist das kaum ein Unterschied. Der Gang ist nahezu identisch mit dem, den sie zuvor bereits durchquerten und befindet sich im gleichen, heruntergekommenen Zustand. „Meinst du?“, fragt Dando, bekommt dabei kaum die Lippen auseinander. Mit vor Anspannung leicht zusammengekniffenen Augen leuchtet er in die Schwärze vor ihnen: Planen zu beiden Seiten. „Ich rieche nichts.“ „Weil da qualmst wie 'n Schlot.“ „Ja, ja. Was auch immer“, beendet Dando die Unterhaltung, hält im Schritt inne. „Schau. Hier sollte es sein.“ Er leuchtet auf die milchig-undurchsichtige Plane rechts von ihnen. Wortlos tritt Viggo neben ihn, packt sie und reißt sie kraftvoll von der Wand; dichte, graue Staubflocken lösen sich, während sie lautstark raschelnd zu Boden geht. Es muss Jahre gedauert haben, ehe der Staub so dicht werden konnte. Und dahinter... „... the fuck?“, macht Viggo, während er ungläubig den Kopf neigt. Die Tür zum gesuchten Lesezimmer fehlt: Wo sie sein sollte, liegt das Mauerwerk blank – ein rotbrauner, von grauen Fugen durchzogener Quader, eingefasst von uralter Holztäfelung und Tapete. Dando unterdrückt einen Fluch. „Das kann ja wohl nicht…“, hebt er an, spart sich den Rest aber und sieht zu Viggo. „Was ist hier los?“ „Kein' Plan“, murmelt der nur. „Soll ich ma guck'n ob ich durchkomm'n kann?“ „Nein“, entgegnet Dando nach kurzer Überlegung, während er das Mauerwerk kritisch mustert. „Am Ende brichst du dir noch das Handgelenk und dann kann Malik seine Heilkräfte nicht einsetzen oder so. Warte mal...“ Er geht einige Schritte tiefer in den Gang, bis zur nächsten Folie. „Eventuell kommen wir über das angrenzende Bad rein. Da gab es auch eine Tür.“ „Okay“, meint Viggo schulterzuckend und tritt wieder vor ihn, um die betreffende Folie von der Wand zu reißen. Diesmal haben sie Glück: Eine alte, von tiefen Furchen durchzogene Holztür kommt zum Vorschein. „Na also“, sagt Dan leise und packt den Knauf; er knirscht beängstigend, doch das Schloss funktioniert. Ächzend zieht er die Tür auf, schiebt die Plane zurück. Sofort fällt Licht in den Flur, gefolgt von einer Woge beißenden Essiggestanks. „Hm?“, macht Dando, sieht hastig zu seinem Gefährten und dann wieder in den Raum. „Dat richst da nu aba auch, wa?“, grunzt Viggo, rümpft die Nase. „Ja, aber...“, entgegnet Dando stockend. Vorsichtig tritt er in das Zimmer. Kaltes, steriles Licht erhellt den Raum, ausgehend von einer einzelnen Leuchtstoffröhre, die wie verloren mittig an der Decke hängt. Sie flackert immer wieder, als würde sie bald durchbrennen oder als säße die Fassung nicht richtig. Die Luft ist warm und feucht – sie stinkt bestialisch. „Ey, es gibt noch Strom. Dat is gut!“, ruft Viggo. Dando ignoriert ihn, sieht sich irritiert um. Der Anblick des Raums sorgt dafür, dass sich irgendetwas in seiner Magengegend zusammenzieht: Alles ist versifft und verdreckt bis zum Äußersten. Reihen dünner Rohre verlaufen an den Wänden, uralt und verrostet, und es gibt kein Waschbecken, keine Dusche, nichts. Die Fliesen, die Wände und Boden bedecken, sind mit einer rotbraunen Kruste überzogen, als solche kaum mehr zu erkennen. Dando sieht nach rechts, flucht ungehalten. Die Tür ins angrenzende Zimmer existiert nicht; wo sie sein sollte, findet sich nichts außer verdreckten Fliesen. „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“, ruft er und fährt herum, sieht zu Viggo, der nun ebenfalls eintritt. Dan geht einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. „Altah, wat für a Gestank“, raunt Viggo nur, sieht sich um. Er stutzt sogleich und hebt eine Hand. „Guck' ma dort!“ Dando sieht in die Richtung: Links von der Tür, in der Ecke des Raumes, steht ein alter Röhrenfernseher, der ihm bisher gar nicht aufgefallen war. Das Kabel liegt daneben, wurde nicht eingesteckt. Es existiert auch keine Steckdose, in die man es überhaupt stecken könnte. „Was hat der denn hier verloren?“, murmelt Dan, während er einige Schritte auf den Fernseher zugeht. Irgendetwas ist damit. Er kann nicht sagen, was es ist, aber... „Un dann dort!“, ruft plötzlich Viggo – so laut, dass es nur so von den Wänden schallt. Dan zuckt zusammen, fährt abermals herum. Viggo steht an der Wand, dort, wo sie zuvor die Tür vermuteten. „Was ist denn?“, fragt Dando, während er zu ihm eilt, auf die Stelle sieht. Viggo schweigt. An der Wand steht etwas geschrieben, in all dem Schmutz und Dreck kaum zu erkennen. Dando neigt sich leicht nach vorn und justiert seine Lampe neu, um es besser entziffern zu können. Bei allem was mir heilig ist! Hätte ich gewusst, worauf das hier hinaus läuft, hätte ich einfach diese Pistole gegriffen und mich damit erschossen! Das hält man ja im Kopf nicht aus! Die Worte wirken, als seien sie in höchster Eile einfach in den Dreck gekratzt worden. In den vielen, kleinen Furchen schimmert das Weiß der Fliesen hindurch. Wer hatte das getan? Dando erkennt erst jetzt, wie dick diese Schmutzschicht eigentlich ist. Woraus genau sie besteht, vermag er nicht zu sagen, doch sie ist es, die diesen fürchterlichen Gestank verströmt – er brennt nun regelrecht in seiner Nase. „Meinst da, dat is von Ninas Leut'n?“, fragt Viggo, während Dando langsam von der Wand zurücktritt. Er runzelt nur die Stirn. „Keine Ahnung. Glaubst du, sie kamen hier rein und haben die Tür dann wieder zugehangen?“ Viggo grummelt einen Moment vor sich hin. „Vielleicht wolltin se ihre Spur'n verwisch'n.“ Dando überlegt einen Moment. „Der Staub“, sagt er dann, sieht aus dem Augenwinkel zur Tür, zu dieser Plane. „Die wurde seit Jahren nicht angerührt.“ „Ey, dat stimm“, sagt Viggo nickend. „Hier is keiner drin gewes'n.“ Dando schluckt, blickt auf die seltsame Nachricht. Ja. Keiner konnte hier gewesen sein. Aber wer hatte dann diese Zeilen geschrieben? „Das ergibt überhaupt keinen Sinn“, meint Dando noch, ehe er sich endgültig abwendet, ein paar hastige Schritte macht. Er beißt die Zähne zusammen. Auch wenn er es nicht zugeben würde: Die Angst sitzt ihm regelrecht im Nacken. Nicht nur, dass dieses Haus ein Anderes ist als das, was sie kennen; hier passt eins nicht zum anderen. Draußen ein baufälliger, dem Anschein nach uralter Flur – und hier plötzlich eine Leuchtstoffröhre und ein Fernseher? Nachrichten, die in den Dreck gekratzt wurden? Verschwundene Türen? Zu allem Überfluss konnten sie ihre Kräfte nicht einsetzen. Dando zieht Luft ein; erneut steigt ihm dieser Gestank in die Nase. Er lässt seinen Blick über die Rohre schweifen, folgt ihrem Verlauf und gelangt schließlich wieder zum Fernseher. Sogleich verengt er die Augen, geht noch ein, zwei Schritte darauf zu. Dieses Gefühl, dass es irgendetwas mit dem Fernseher auf sich hat, wird immer stärker. Dando kann nicht einmal sagen, was den Eindruck auslöst – er ist einfach da, drängt sich ihm nahezu auf. Er geht leicht in die Hocke, um das Gerät besser sehen zu können. Der Schein seiner Lampe spiegelt sich grell im Bildschirm, blendet ihn. Dando zögert einen Moment, schaltet sie schließlich aus. Das Gerät ist sauber; weder auf der Mattscheibe noch auf dem massiven Holzkasten hat sich Schmutz abgesetzt. Müsste der Fernseher nicht verdreckt sein, so wie der restliche Raum? Vorsichtig streckt er eine Hand aus, um einen der zwei Drehknöpfe zu fassen, die sich rechts oben neben der Mattscheibe befinden. Solche Geräte werden seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt. Heute findet man sie praktisch nur noch in nostalgischen Trödelläden. Als Dando den Knopf dreht, geschieht nichts, aber was hatte er auch erwartet? Aus dem Augenwinkel sieht er auf den Boden, folgt dem Kabel des Fernsehers bis zu der Stelle, an der der Stecker inmitten von undefinierbarem Schmutz liegt. „Ey, cool!“, ruft plötzlich Viggo. Dando erschrickt. „Mann, hör' damit auf!“, faucht er und richtet sich mit einem Ruck auf, sieht wütend zu seinem Gefährten. Viggo richtet sich gerade auf. Er hält etwas in der Rechten: Eine Pistole. Dando weitet nur ungläubig die Augen, sieht auf die Waffe und dann wieder in Viggos Gesicht. „Se lag hier rum“, sagt Viggo, während er grinsend zu ihm kommt. „Wer se findet, kann se behalt'n.“ In seiner gewaltigen Hand wirkt die Waffe beinahe lächerlich klein. Dando zögert, zunehmend irritiert durch Viggos gelassene Art. „Du merkst aber schon, dass hier irgendwas nicht stimmt?“, fragt er und sieht ihn eindringlich an. „Na ja“, murmelt Viggo nur. Er streckt seinen massigen Arm aus, als wolle er mit der Waffe zielen. „Wat soll'n wa machin? Wenigstens ham wa nu 'ne Knarre.“ „Ist die überhaupt...“ Ein Schuss, ein Querschläger. Die Leuchtstoffröhre zerplatzt, von einer Sekunde auf die Andere hüllt Dunkelheit den Raum ein. Dando zuckt schreiend zusammen, setzt vor Schreck zurück und fällt beinahe über den Fernseher. Glassplitter gehen hörbar zu Boden. „Is geladen“, meint Viggo fröhlich. „Meine Fresse, du machst mich fertig!“, japst Dando, schüttelt den Kopf. Sein Herz rast. Als er die Rechte hebt, um die Lampe hinter seinem Ohr wieder anzuschalten, zittern seine Finger wie wild. „Altah, kannst dein' Lampe anmachin? Ich seh' nix“, grummelt Viggo. Dando kann hören, wie er ungeduldig von einem Fuß auf den Anderen tritt; es klingt, als wäre die Schmutzschicht feucht, als klebten Viggos Stiefel darauf. „Ich mache ja schon, ich...“ Er erwischt den Knopf nicht, stößt stattdessen gegen den Leuchtkörper. Die Halterung rutscht von seinem schweißnassen Ohr. Dando flucht, als er hört, wie das Lämpchen zu Boden fällt. „Verdammt noch mal, das kann doch nicht wahr sein!“, zischt er und geht langsam in die Hocke. „Beweg' dich nicht vom Fleck!“ „Altah, is se dia nu runter gefallin?“, fragt Viggo verwundert. Dando blinzelt mehrmals, streckt behutsam die Hände aus und senkt sie immer weiter gen Boden. Pechschwarze Dunkelheit umgibt sie. „Nein, im Leben nicht. Ich hab' sie aus Spaß weggeworfen“, knurrt er und tastet nach der Lampe. Weit weg kann sie nicht sein. Dando ächzt, als er den Boden berührt. Er ist ungewöhnlich warm und die Dreckschicht fühlt sich wie zäher, noch nicht ganz getrockneter Leim an, klebt spürbar an seinen Fingern „Igitt“, stöhnt er, als er über den Boden streicht. „Das ist ... pervers.“ Bitterer Geschmack breitet sich in seinem Mund aus, sein Speichel fließt wie wild. Er muss schlucken. Und dieser Gestank! Was war hier nur geschehen? Was klebt jetzt an seinen Fingern? Sekundenlang tastet er sich durch die Dunkelheit, berührt immer wieder diesen widerwärtigen Boden, streicht darüber; ihm wird schlecht. Endlich stoßen seine Finger an kühles Metall. Dando seufzt erleichtert, hofft darauf, dass die Lampe noch funktioniert. Er drückt den Knopf. Sogleich durchdringt blendende Helligkeit die Schwärze, als das Lämpchen tatsächlich aufleuchtet, seinen Lichtkegel in Richtung der Tür und hinaus auf den Flur, auf die Plane wirft... ... und auf etwas Anderes, das sich schnell aus dem Licht zurückzieht, hinter der halb geöffneten Tür verschwindet. Dando reißt die Augen auf, japst erschrocken und fährt so schnell empor, dass er beinahe erneut das Gleichgewicht verliert. „Ey, wat is?“, fragt Viggo. Er sieht irritiert erst zur Tür, dann zu Dando. „Da draußen ist jemand!“, ruft Dan und sieht alarmiert zu seinem Gefährten. „Wer?“ „Woher soll ich das denn wissen?“, zischt Dando und eilt an Viggos Seite. „Ich hab' gesehen, wie...“ „Is da wer?!“, ruft Viggo lautstark in Richtung der Tür, neigt sich etwas nach vorn. Keine Reaktion erfolgt. „Altah, ich glaub' da is niemand.“ Viggo grinst schräg. Dando schweigt betreten, bringt es nicht fertig, die Tür aus den Augen lassen. Der Lichtkegel zuckt hin und her, mitsamt seiner zitternden Hand. Irgendetwas war dort. Wie ein nackter Fuß, der aus dem Licht tritt, kaum dass es auf ihn fällt – aber auch nur für einen Moment. War der Fuß nicht eigentümlich bleich? Doch alles ging viel zu schnell, als dass Dando den Eindruck wirklich hätte erfassen können. Dann fällt sein Blick erneut auf die wellig und zerknittert daliegende Plastikplane. Eigenartige Schatten fallen darauf und hier und da spiegelt sich das Licht auf der Folie. „Hab' es mir wohl nur eingebildet“, murmelt Dando, blinzelt ein paar Mal. „Ich glaub's auch“, sagt Viggo, kichert hämisch. „Da bist a bissl nervös.“ Dando presst die Lippen zusammen, ignoriert die Bemerkung und geht einige Schritte. Abermals sieht er zur Wand ihnen gegenüber, zu dieser Nachricht, oder was auch immer die Zeilen nun darstellen. Wieso sind die Türen verschwunden, die in den angrenzenden Raum führen? Was solle das? Wieso dürfen sie dort nicht hinein? Dando stutzt. Wieso kam ihm jetzt der Gedanke, dass sie in den Raum nicht ... dürfen? Er tauchte spontan einfach in seinem Kopf auf, genauso wie der Eindruck, dass irgendetwas mit diesem Fernseher sein muss, zwingt sich nun regelrecht auf. Dan schüttelt den Kopf, blinzelt mehrmals. „Wat mach'n wa nu?“, fragt Viggo, reißt ihn so aus seinen Überlegungen. Dando braucht einen Moment, ehe er antworten kann. Nachdenklich sieht er sich um, richtet den Schein seiner Lampe kurz zur Tür, zu Viggo, diesen Worten an der Wand, schließlich dem Fernseher. „Nun, wir ... kommen ja nicht weiter. Lass uns zurück zu den Anderen gehen.“ Der Blonde zuckt mit den Schultern. „Wenn da meinst?“, brummt er und geht langsam zur Tür. Dando folgt ihm zögernd. Wieder hinaus auf den pechschwarzen Flur, wo er sich sicher ist, etwas gesehen zu haben. Im Gehen wendet er sich ein letztes Mal um, blickt über die Schulter zu diesem Fernseher, ehe er den Raum verlässt und Viggo folgt, der bereits halb im Zwielicht verschwunden ist. Dando beeilt sich, zu ihm aufzuschließen. Dieser Fernseher... Als er nun über ihn nachdenkt, scheint ihm plötzlich, als käme er ihm bekannt vor; als hätte er ihn bereits einmal gesehen. Und nicht nur das: Der ganze Raum hatte etwas merkwürdig Vertrautes, sogar diese Zeilen, die Pistole, die Viggo mittlerweile hinter seinen Gürtel geklemmt hat. Doch sogleich dämmert ihm, dass diese Eindrücke nicht stimmen, dass sie falsch sind. Dando ist sich sicher, all das gerade zum ersten Mal gesehen zu haben. Was hat das nur alles zu bedeuten? „Sag mal“, hebt Dando an, während sie durch den Flur schreiten. „Kam dir der Raum bekannt vor? Das Bad, meine ich.“ „Nee“, brummt Viggo nur. „Wieso?“ „Keine Ahnung“, meint Dando ausweichend. „Hätte ja sein können.“ Von den merkwürdigen Gedankengängen, die ihm bei all dem durch den Kopf schießen, will und wird er Viggo nichts erzählen. Er würde es ohnehin nicht verstehen. Während im ersten Stock Dan und Viggo gerade noch dabei sind, das merkwürdige Badezimmer zu untersuchen, setzt unten Malik unbeirrt einen Fuß vor den Anderen. Arin folgt ihm geflissentlich, die Augen weit aufgerissen und die Arme verschränkt, zitternd vor Anspannung. Ohne Lichtquelle sieht er hier überhaupt nichts, abgesehen von einem dezenten, grünen Schimmer knapp vor ihm, an genau der Stelle, an der Maliks linkes Ohr zwischen seinem Haar hervor lugt. Könnte er nicht... „Nein, ich kann nicht heller leuchten“, murmelt Malik, der seine Gedanken liest, mit ausdrucksloser Stimme. Arin kichert gezwungen, sieht sich aus den Augenwinkeln um. Überall Schwärze. Er kann nicht einmal einschätzen, wie weit die Wände von ihm entfernt sind. Alles in Arin schreit danach, umzukehren und zurück in die Halle zu rennen; doch mittlerweile sind sie so tief in das Anwesen vorgedrungen, das der Weg zurück länger wäre als der zu dieser Bibliothek, in die Malik will. „So“, sagt der Kleinere von beiden schließlich, als er abrupt inne hält, zur Seite tritt. Arin stößt beinahe gegen ihn. Malik wendet sich um, legt den Kopf zurück und sieht zu Arin empor. „Vor uns ist die Tür, aber sie ist mit einer Plane verhangen. Du musst sie abreißen.“ Arin stutzt, starrt in die Dunkelheit. Er kann nichts erkennen, abgesehen von Maliks sanft leuchtendem Gesicht, seinen schmalen Lippen und diesem Auge, das ihn ohne jeden Ausdruck nur anstarrt. Wie ein Gespenst. „Die Plane? Ich sehe hier...“, beginnt Arin. Malik unterbricht ihn einfach. „Sie ist genau vor uns. Ich bin nicht stark genug, um sie selbst zu lösen.“ „Okay“, murmelt Arin und tritt vorsichtig vor, streckt die Arme aus. Er streicht über pelzigen Staub. Die Plane raschelt unter seiner Berührung. Sogleich juckt aufgewirbelter Staub in seiner Nase, klebt an seinen Fingern – er fühlt sich an wie Mehl. Sekundenlang versucht Arin, die Plane zu packen, doch sie ist zu straff gespannt. Er bekommt sie einfach nicht zu fassen. Immer mehr flockiger Staub löst sich, erfüllt die Luft mit unangenehm modrigem Geruch. Das Zeug beginnt, sich auf Arins Gesicht und in seinem Haar abzusetzen; er kann es fühlen. Ächzend kneift er die Augen zu, um zu verhindern, dass etwas von dem Dreck hinein gelangt. „Arin, richte dich auf, greife die Plane oben und reiße sie dann von der Wand!“, befiehlt Malik mit hörbar genervter Stimme. Arin zieht scharf Luft ein, muss husten, als ihm prompt der Staub in der Nase brennt. Ruckartig fährt er herum, atmet tief ein und presst die Lippen aufeinander. Er richtet sich auf, streckt die Arme empor und tastet nach dem Ende der Plane. Immer mehr Staub rieseln herab und auf sein Gesicht. Arin pustet, um die pelzigen Flocken von seinen Lippen zu entfernen – mit mäßigem Erfolg. Schließlich streicht er über kleine, metallene Teile; offenbar wurde die Plane an den Türrahmen geklammert oder genagelt. Ächzend hakt er seine Finger ein. Langsam wird ihm die Luft knapp; der Drang, einen tiefen Atemzug zu nehmen, wird immer stärker, doch alles in ihm sträubt sich dagegen, da er dabei unweigerlich diesen Dreck inhalieren würde. Mit aller Kraft reißt Arin an der Folie, immer wieder. Von einem dumpfen Reißen begleitet lösen sich die ersten Halterungen. Er reißt noch drei, vier Mal daran. Plötzlich gibt die Plane unerwartet unter seinem Gewicht nach; er hat so viel davon gelöst, dass sie raschelnd auf ihn nieder fällt. Arin setzt ächzend zurück, erschauert vor Ekel. Er kann beinahe spüren, wie er aus der Staubwolke heraus tritt, saugt gierig Luft ein. Hektisch klopft er sich die Hände am Mantel ab, streicht immer wieder durch sein Haar, über sein Gesicht, nur um diesen widerlichen Schmutz von sich herunter zu bekommen. „Igitt, igitt, igitt!“, zischt er angeekelt, schüttelt mehrmals den Kopf und sein Haar. Modriger, schimmliger Geruch umgibt ihn. „Das war aber eine schwere Geburt“, meint Malik, während er an ihm vorbei tritt. „Nun wollen wir hoffen, dass die Tür nicht verschlossen ist.“ Sogleich dringt Licht in den Flur, als Malik einen der zwei Türflügel öffnet und mühsam nach innen schiebt. Arin blinzelt mehrmals, um seine Augen an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen; das Erste, was er dann sieht, sind seine von grauem, puderartigem Staub bedeckten Hände. Hastig klopft er sie mehrmals ab. Das Pulver schimmert im Zwielicht, von Schwarz zu silbrigem Grau; als wäre es gar kein Hausstaub. Viel eher erinnert es ihn an den Puder, der die Flügel von Motten bedeckt. Es geht nicht ab. Arin klopft immer wieder seine Hände aneinander, wischt über seinen Mantel, den rauen Stoff seiner Jeans. Das Pulver bleibt kleben. „Igitt“, murmelt er. Klebte es auch in seinem Gesicht? Plötzlich schwindet das Licht, Türscharniere knarren. Arins Blick weitet sich. Er sieht von seinen Händen auf, nur um noch zu bemerken, wie die Tür zur Bibliothek gerade zufällt. Der dumpfe Knall, als der Flügel wieder im Rahmen landet, verhallt im Korridor – ungewöhnlich laut und lang. Pechschwarze Dunkelheit umgibt ihn. Arin setzt vor. „Malik?!“, ruft er. Dann stößt er gegen die Tür, fühlt das kühle, trockene Holz an seinen Händen, tastet hektisch nach dem Knauf. Eine Sekunde später, er hat ihn noch nicht gefunden, dreht er sich bereits; Arin kann ihn knacken hören. „Oh“, macht drinnen Malik. Seine Jungenstimme klingt durch die Tür hindurch ganz gedämpft. Erneut dreht er den Türknauf. „Arin, sie geht nicht auf.“ „Was?!“, schreit Arin, beinahe panisch. Er sieht nichts. Den Knauf hat er mittlerweile ebenfalls ertastet, dreht ihn mehrmals: Das Schloss öffnet sich tatsächlich nicht. Arin beißt die Zähne zusammen, stemmt sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie rührt sich keinen Millimeter. „Das gibt’s doch nicht!“, ruft Arin entsetzt. Die Finsternis ist beinahe körperlich spürbar, schwer und bleiern. Druck breitet sich in Arins Brust aus, als würde ihm die Luft knapp. Drei, viermal atmet er hektisch ein und aus, doch das Gefühl verschwindet nicht. „Nun, vermutlich ist das alte Schloss kaputt gegangen, als die Tür zufiel“, sagt Malik. „Du solltest wieder in die Halle gehen und nach Dan und Viggo sehen. Viggo kann die Tür dann sicher aufbrechen.“ „Malik, zieh' von innen an der Tür und ich drücke mich dagegen, wir werden sie ja wohl aufkriegen!“, schreit Arin. Ein eiskalter Schweißtropfen fließt seine Schläfe hinab. Sie versuchen es – dumpfes Gepolter verhallt im Gang, als Arin sich immer wieder gegen die Tür wirft. Unter ihm knirscht und raschelt die Plane. Dumpfe Schmerzen breiten sich in seiner linken Schulter aus, doch er ignoriert sie geflissentlich. Plötzlich: Ein berstender, hohler Laut, metallisches Knacken. „Der Knauf ist herausgefahren“, sagt drinnen Malik. Arins Herz rast wie wild. Er kann Malik seufzen hören. „Meine Güte, geh' zurück zu den Anderen“, meint der Junge und scheint bereits von der Tür wegzutreten. „Ich kann mich hier ja in der Zwischenzeit umschauen.“ Arin schluckt. Sekundenlang verharrt er vor der Tür. Er schwitzt vor Aufregung wie wild, und langsam wird ihm kalt. Unangenehme, klamme Feuchtigkeit durchdringt seine Kleidung. Vor ihm, etwa auf Hüfthöhe, ist ein winziger, heller Punkt, wo Licht aus der Bibliothek durch das Schlüsselloch dringt – ein kleiner Stern an einem ansonsten pechschwarzen Himmel. Schließlich wendet er sich von der Tür ab, starrt mit aller Konzentration gerade aus. Es ist, als läge ein Tunnel aus Dunkelheit vor ihm, eine diffuse, detaillose Schwärze, in der nicht einmal der Boden zu erkennen ist. Ganz hinten, am Ende des Flurs, ist dieses Fenster: Ein trübes, weißgraues Rechteck an der Wand, hinter dem der geisterhafte Nebel wallt. Es wirft kein Licht in diesen Tunnel. Zurück in die Halle? Das wären vielleicht hundert Meter: Nur den Flur entlang und ganz hinten wieder abbiegen. Nur ein kurzer Fußmarsch durch dieses verhexte, fremdartige Anwesen, das von einem bodenlosen Abgrund umgeben ist, inmitten eines Meeres aus Nebel. Arin schluckt erneut, zwingt sich dazu, den ersten Schritt zu tun. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)