Viele Déjà-Vus von abgemeldet ================================================================================ Prolog: Auf der Flucht ---------------------- Verfallene, rissige Straßen; Häuserzeilen, von denen der Putz bröckelt: Eine tote Stadt, über der ein feiner Nebel wie ein Leichentuch hängt. Die Fenster entlang der Häuserzeilen, viele von ihnen bereits eingebrochen, wirken wie schwarze Löcher. Kein Lichtstrahl dringt daraus hervor und auch die Straßenlaternen, sofern sie überhaupt noch stehen, sind schon lange erloschen. Doch trotz allem ist Silent Hill nicht ruhig; der Lärm eines infernalischen Kampfes, der sich soeben im südlichen Park ereignet, zerreißen die ehemalige Grabesstille. Feuriger Schein treibt die Dunkelheit zurück, erleuchtet den Nebel und erhebt sich wie eine lodernde Säule in den Himmel. Vier junge Männer, drei von ihnen gehüllt in dunkle Kapuzenmäntel, eilen die Canyon Street gen Norden. Der Größte unter ihnen trägt den Kleinsten huckepack und scheint sich an seinem Gewicht nicht im Geringsten zu stören, eilt den anderen beiden sogar noch voraus. „Wohin?“, keucht Dando, während er über einen umgeknickten Laternenmast hinwegsetzt. Dumpfe Explosionen ertönen aus der Richtung des Parks, verhallen einen Moment später zwischen den Häuserzeilen. „Ich bin immer noch der Meinung, dass wir zur Kirche sollten“, antwortet Arin ihm und späht nach links. „Ist auch nicht weit... glaube ich.“ Arin stutzt, da er den Kirchturm nicht ausmachen kann, sagt jedoch nichts. Kurz darauf erreichen sie die nächste Kreuzung und verharren dort für einen Moment. Während Viggo und Arin sich umsehen, Arin noch dazu vor lauter Nervosität kaum still stehen kann, stützt sich Dando auf seinen Knien ab und ringt nach Luft. Seine Stirn glänzt vor Schweiß. Viggo lächelt schief. „Altah, dein' Kondition is mies“, kichert der Riese, seinerseits lediglich warm gelaufen durch den kurzen Spurt, aber noch lange nicht am Ende seiner Kräfte. Dando richtet sich auf und zeigt ihm demonstrativ den Vogel, woraufhin der Blonde nur noch breiter grinst. „Die Kirche müsste dort hinten sein... Los, gehen wir!“, japst Dan schließlich und eilt, kaum zu Atem gekommen, weiter. Die Anderen folgen ihm. Zu beiden Seiten der Straße ragen von Ruß geschwärzte Gebäuderuinen empor. Überall liegen ausgebrannte Autowracks wüst verstreut und eingedellt; manche sind als solche kaum mehr zu erkennen. Wo früher eine Drogerie stand, ragen nur noch einige verkohlte, schiefe Balken empor. Die kühle Nachtluft riecht nach Asche und Rost. „Wir sind jetzt viel näher am Zentrum der Explosion“, meint Malik sogleich, während er sich umsieht, auf Viggos breiten Schultern abstützt und ein wenig aufrichtet. „Da sie sich unter Tage ereignete, wurde die meiste Energie auch vom Boden absorbiert. Wäre der Deus Ex Machina oberhalb der Erde explodiert, hätte er vermutlich den größten Teil der Stadt von der Landkarte gefegt.“ Immer tiefere Risse zeichnen sich im Asphalt ab, teils ist der Boden eingesunken. „Wir alle ahnen ja, was das für ein Verlust für die Menschheit gewesen wäre“, bringt Arin hervor und kann sich trotz der Eile ein spöttisches Kichern nicht verkneifen. Im Vorbeirennen sieht er zur Ruine des verlassenen Krankenhauses, welche die übrigen Gebäude noch deutlich überragt. Die Seite, die der Feuersbrunst vor einigen Wochen direkt ausgesetzt war, ist pechschwarz. Kurz bevor sie auf die nächste Kreuzung abbiegen, werden sie bereits langsamer, ehe sie schließlich ganz verharren und verblüfft auf die Szene blicken, die sich vor ihnen ausbreitet. „So viel zur Kirche. Nächstes Ziel?“, keucht Dan, während er die Anderen unschlüssig ansieht. Vor ihnen geht es nicht weiter. Wo früher eine Kirche emporragte, noch dazu auf einem kleinen Hügel, findet sich nun kaum mehr als eine chaotische Wüstenei aus Trümmern, ausgeglühten und geschwärzten Eisenzäunen und verstreut herumliegenden Brocken unterschiedlichster Größe. „Da ganze Block is weg“, grummelt Viggo, dem der Anblick sichtlich Unbehagen bereitet. Sie nähern sich dem Krater, um einen Moment später ein gut zwanzig Fuß tiefes Gefälle hinabzublicken. Beinahe wie mit dem Lineal gezogen, senkt sich der Grund unmittelbar hinter dem von zackigen Scharten durchzogenen Bürgersteig steil ab. Dando atmet schwer. „Hier finden wir überhaupt nichts“, meint er resignierend, während er seinen Blick über das Chaos schweifen lässt: Weiter unten ragt noch das verzerrte Kreuz des ehemaligen Kirchturms aus dem Schutt. „Und nun?“ Er sieht über die Schulter zurück. Obwohl das Alchemilla Hospital mittlerweile den Blick auf den hell erleuchteten Park versperrt, scheint das Inferno weiter südlich nicht abzuebben; orangeroter, im Nebel gebrochener Schein umgibt den steinernen Moloch wie eine pulsierende Aura. Abermals verhallen Explosionen in der Ferne, gefolgt von dumpfen, donnernden Schlägen und einem zornigen Männerschrei, der sie alsbald übertönt. „Altah, Torquemada gibt alles“, staunt Viggo, überdeutlich von Ehrfurcht vor seinem Meister gepackt. Malik nickt zustimmend. „Ich kann ihre Aufregung spüren“, flüstert er, deutlich um Konzentration bemüht, während er seine mentalen Fühler in die Ferne ausstreckt. „Sie wissen nicht, ob sie sich behaupten können, aber noch sind sie zuversichtlich.“ „Okay!“, ruft Arin dazwischen. „Aber wohin gehen wir? Wir sollten froh sein, dass sie uns den Rücken freihalten!“ „Überlegt es euch“, wehrt Malik ab, der nicht aufhören will, die Umgebung zu sondieren. „Wat is?“, fragt Viggo ihn, dreht den Kopf, um das kleine Bündel auf seinem Rücken besser sehen zu können. Malik braucht einige Sekunden, ehe er ihm antwortet. „Ich kann anhand ihrer Gedanken erahnen, wer ihre jeweiligen Gegner sind. Keiner von ihnen scheint mit Orianna zu kämpfen.“ „Der Roboter?“, stutzt Dan. „Wahrscheinlich haben sie sie schon besiegt.“ „Yeah!“, ruft Viggo aus, klatscht freudig in die Hände. „An Schlag von Torquemada un se is bloß noch!“ Hinter ihnen knallt es, viel näher als zuvor, so nah, dass sie kurzzeitig den Boden unter ihren Füßen beben fühlen. Vereinzelt lösen sich Pflastersteine aus dem eingesunkenen Bürgersteig und poltern geräuschvoll den Abhang hinunter. Getöse einstürzender Wände und zu Boden fallenden Gerölls dringen aus dem Krankenhaus. Sie fahren herum, um zur Ruine zu sehen. Erneut ertönt eine Explosion, hallt gedämpft durch die steinernen Mauern hindurch. Erschütterungen lassen im Erdgeschoss die wenigen noch intakten Scheiben zerbersten. Viggo weitet die Augen. „Se folgt uns!“, ruft er aus, teils nur überrascht, teils bereits alarmiert. Sogleich ertönt abermals Lärm, eine weitere Wand scheint einzustürzen. Donnerndes, röhrendes Getöse bricht sich Bahn, während aus drei nebeneinander liegenden Erdgeschossfenstern Staubfontänen wirbeln. „Offensichtlich!“, brüllt Dando. „Lasst uns abhauen! Wohin?!“ Er sieht hastig zu den Anderen, dann zurück zur Ruine des Krankenhauses: Als er meint, hinter einem der Fenster ein paar grellblaue Lichter zu erkennen, welche wie die Augen eines unheimlichen Raubtiers in der Dunkelheit aufblitzen, packt er Viggo und Arin kurzerhand an den Schultern, ohne ihre Antwort abzuwarten. Die Jungs verpuffen in einer schwarzen Rauchwolke. Sekunden später blitzen Lichter hinter der Staubwolke auf. Die Außenwand des Krankenhauses wird regelrecht gesprengt. In gut hundert Metern Entfernung materialisieren sie sich wieder. „Zum Landhaus des Alten! Das liegt am nächsten!“, befielt Dando hektisch, ehe er nach Westen rennt. Die Anderen folgen ihm. „Altah, warum bekämpfin wa se nisch?!“, fragt Viggo, während er und Arin mühelos zum langsameren Dando aufholen. Malik sieht über die Schulter zurück: Meterhohe Wälle aus Schutt und zerborstenen Wänden blockieren die Sicht, doch rot glühender Rauch steigt in der Richtung des Krankenhauses auf. Ein Feuer muss ausgebrochen sein. „Wir verschwenden hier nicht unsere Zeit. Du weißt, warum wir hier sind!“, entgegnet Dando verbissen. „Ey, isch mach se Schrott, dat geht fix!“, johlt Viggo voll unverhohlener Kampfeslust, doch keiner antwortet ihm. Sie rennen weiter. Malik löst einen Arm, um sein Haar zurückzuhalten und klammert sich mit dem anderen noch fester um Viggos massigen Nacken. „Es ist zu dunkel“, zischt Arin, „ich kann kaum sehen wo ich hin trete.“ Er stößt gegen einen emporragenden Asphaltbrocken, flucht verhalten und kann gerade noch so sein Gleichgewicht halten. „Ich weiß, ich bin schon dran“, entgegnet Malik gefasst. Je weiter sie sich vom Park entfernen, umso weiter bleibt auch das spärliche Licht der lodernden Säule zurück. Dafür wird Wasserrauschen laut. „Die Klappbrücke, die auf die andere Uferseite führt, ist offenbar eingestürzt.“ Viggo stutzt. „Altah, da siehst noch wat?“, fragt er, woraufhin Malik seinen Haarschopf wieder fallen lässt und sich mit beiden Armen festhält. „Natürlich! Wie du wissen solltest, ist mein linkes Auge euren weit voraus!“ Abrupt kommen sie zum Stehen. Der Fluss, welcher unterhalb der Böschung das Land entzwei teilt, rauscht immer lauter, je näher sie kommen. Ohne ein Wort zu sagen, berührt Dan Viggo und Arin erneut an ihren Schultern. Einen Lidschlag später erscheinen die Vier auf der anderen Seite des Ufers, umgeben von Rauch, der sich schnell verflüchtigt. Es ist noch dunkler geworden. „Ob der Fluss sie aufhält?“, will Arin wissen, während er zurück späht und nach verräterischen Lichtern Ausschau hält. Noch kann er nichts erkennen. „Wir werden nicht warten, um es herauszufinden. Kommt!“, knurrt Dando unmissverständlich, ehe er sich in Bewegung setzen will. „Nein, Moment!“, zischt Malik, woraufhin der Andere abrupt herumfährt. Dando sieht ihn ratlos an. „Was ist denn?! Die kleine Schwester des Terminators sitzt uns im Nacken!“, ruft er und sieht aus dem Augenwinkel zum Krankenhaus, dessen klobige Silhouette sich noch in der Ferne abzeichnet. „Altah, isch sag' dat noch ma, isch mach se Schrott im Null-Komma-Nix!“, freut sich Viggo bereits, doch Malik drückt ihm nur mahnend eine Ferse in den Bauch. „Auf dieser Seite sind die Gebäude zunehmend weniger beschädigt, da sie weiter vom Zentrum der Explosion entfernt liegen. Ich will etwas versuchen. Wir müssen zur Eisdiele weiter nördlich!“ „Eh... für Eis ist es ein wenig spät, meinst du nicht, Malky?“, stutzt Arin und Dando will nachsetzen, doch Malik ahnt dies bereits. „Ich werde euch auf dem Weg erklären, warum ich dorthin muss. Es geht schnell, das sind doch keine hundert Meter!“ Mehr skeptisch als überzeugt eilen sie auf das Karree zu, das sich nordwestlich bereits in der Dunkelheit abzeichnet. Tatsächlich sind die Gebäude, trotz allgemein desolaten Zustandes, wesentlich weniger geschwärzt. Spuren der Feuersbrunst werden immer spärlicher, und die Orientierung fällt ihnen zunehmend leichter, da die ergrauten Fassaden deutlicher im Dunkel abzeichnen. „Was willst du denn nur in einer Eisdiele?“, hakt Dando nach, der das Gefühl nicht mehr ignorieren kann, nur seine Zeit zu verschwenden. Die Gegnerin, die ihnen auf den Fersen sein muss, ist seiner Laune ebenfalls nicht gerade zuträglich. „Ich brauche Zucker“, erklärt Malik leise, als sie das Karree schon durchquert haben. Vor ihnen liegt, zwischen einer Garage und dem kahlen Skelett eines Baums, eine kleine, einstöckige Kaschemme, verwittert wie alles andere. Während der Junge bedächtig von Viggo klettert, sieht er sich aufmerksam um. „Zucker?“, fragt Dando verwirrt. Malik zupft unterdessen an Viggos Mantel und deutet energisch auf die Hintertür des Gebäudes. Der Große zuckt mit den Schultern, ehe er beide Hände auf das dunkle, aufgequollene Holz legt und es mit einem etwas festeren Stoß aus den Angeln drückt. Die Tür fällt nach innen; sogleich poltert Metall, Glas zerbricht. „Ja! Mein Mantel ist verbrannt, wie du weißt. Meine Tabletten konnte ich nicht mehr retten“, sagt Malik, bereits halb in der Eisdiele verschwunden. Arin unterdrückt sein nervöses Kichern. „Bleibt ihr hier draußen und haltet Ausschau, falls die Göre auftaucht. Ich helfe Malky beim Suchen“, meint er noch, ehe er ihm folgt. Die Luft im Inneren ist abgestanden und stickig, deutlich erfüllt von muffigem Schimmelgestank. „Malky?“, flüstert Arin, während er in die Dunkelheit späht und einen Schritt tut. Unbeabsichtigt tritt er gegen einen Topf, der geräuschvoll davonfliegt und einige Male scheppernd über den staubigen Kachelboden poltert. „Alles okay!“, ruft er sogleich über die Schulter. „Ich bin hier drüben“, antwortet Malik, der vor einem Schrank kniet und dessen Inhalt durchwühlt. Der Junge hat einen seiner Handschuhe ausgezogen. Deutlich kann Arin erkennen, wie seine Hand im Dunkeln luminesziert. „Du hast wieder dieses gesunde, grüne Leuchten“, kichert er, während er zu ihm huscht und in die Hocke geht. „Du musst mir nichts vormachen. Ich spüre deutlich, dass du nervös bist und ich weiß, dass du dich vor einem Hinterhalt fürchtest“, entgegnet Malik ohne jede Regung in der Stimme, während er die Dosen und Flaschen sichtet. Arin kichert gezwungen und denkt sich seinen Teil, öffnet einen der Schränke und späht angestrengt hinein. Er erkennt kaum etwas. „Ich suche nach Sirup, Zuckerstreuseln und anderen haltbaren, kalorienreichen Lebensmitteln“, sagt Malik hinter ihm, während er zur Seite rutscht und die nächste Schranktür aufklappt. „Also, ich habe einige Snacks und Getränke dabei, aber...“, nuschelt Arin, ehe er sich aufrichtet, um sich die obere Küchenzeile vorzunehmen, die sich im spärlichen Lichteinfall ein wenig deutlicher abzeichnet. „Wie so oft. Leider hast du deine Taschenlampe vergessen.“ Arin lacht auf. Sekunden später bleibt es ihm im Hals stecken, als Malik plötzlich neben ihm steht und drei Fläschchen geräuschvoll auf dem Tresen abstellt. „Verwahre alles in deinen Taschen“, sagt er, während er bereits wieder davon huscht. Einen Moment später ist er in der Dunkelheit verschwunden, dank seines schwarzen Overalls regelrecht mit ihr verschmolzen. Arin zögert, beißt sich auf die Unterlippe. Die Suche hat er aufgegeben, da es hier drin zu finster ist, als dass er etwas erkennen könnte. Seufzend knöpft er sich den Mantel auf, um seine Gürteltaschen freizulegen. „Wenn du dir nicht nutzlos vorkommen willst, solltest du aufhören, nutzlos zu sein“, hört er Malik im Besucherraum brabbeln, so leise, dass er seine Worte kaum mehr verstehen kann. Arin seufzt erneut und greift sich eine der Flaschen. Während Dando die kurze Pause ausnutzt, um genussvoll eine Zigarette zu rauchen und dabei den Eingang zum Hinterhof nicht aus den Augen lässt, sieht Viggo vornehmlich in den nebelverhangenen Himmel. So weit entfernt vom See lichtet sich der weißgraue Schleier bereits deutlich; dunkle Wolken kommen zum Vorschein. „Altah, ma angenommin, wa erreisch'n dein' Onkel sein Haus: Wat dann?“, fragt er, als plötzlich metallisches Scheppern aus der Eisdiele dringt; Viggo fährt herum. „Alles okay!“, ruft Arin drinnen, und Viggo entspannt sich wieder. Arin und Malik scheinen sich leise weiter zu unterhalten, doch er kann ihre Worte kaum verstehen und verliert das Interesse. „... Altah?“, macht Viggo dann, wieder an Dando gewandt. „Ich habe keinen Onkel“, sagt Dando nach einer kurzen Pause, ehe er erneut an seiner Zigarette zieht. Sie glimmt einen Moment lang so hell, dass sich der Glutkegel in seinen Augen spiegelt. Dans Stimme klingt zittrig. Während er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert, lässt er die freie Hand in seiner Manteltasche verschwinden. Viggo grummelt nur noch zur Antwort, während er die Arme verschränkt. „Es is arschkalt, hm?“ Über den stockdüsteren Häuserfassaden, in über einem Kilometer Entfernung, wird der Nebel noch immer von Flammen erhellt; ihr Widerschein hat sogar noch zugenommen. Immer wieder blitzt es darin auf. Viggo sieht schwermütig in die Ferne. „Ob se dat schaffin?“, fragt der besorgt. „Ey, isch hoffe nisch, dat eina da stirbt von uns. Isch mag se alle.“ „... keine Ahnung. Gestorben wird immer“, knurrt Dando gleichgültig, während er den Zigarettenstummel davon schnippst. „Torquemada wird bei uns ohnehin nicht mehr alt.“ Viggo will aufbegehren, doch Dan ignoriert ihn, wendet sich zur Eisdiele um und starrt in das pechschwarze Innere: „Kommt ihr langsam mal?!“ „Fick' dich, Danny!“, brummt Arin mit gespieltem Desinteresse, während er nach Malik Ausschau hält. Im Gästeraum kann er ein zartes, grünes Leuchten vernehmen, das schnell auf ihn zukommt. Malik hat mehrere Flaschen im Arm und sieht ihn fordernd an. „Das...“, stutzt Arin, während er eine davon nimmt und verstaut, „wird aber eng.“ Malik harrt derweilen aus. Kaum eine Minute später schüttelt Arin den Kopf, lächelt entschuldigend. „Mehr bekomme ich nicht unter, Kleiner, tut mir leid.“ Vier Flaschen hält Malik noch im Arm. „Das wusste ich“, sagt er und seine schmalen, von unheimlichem grünen Schein umgebenen Lippen verziehen sich zu einem zufriedenen Grinsen. „Dank meiner mentalen Kräfte konnte ich sehr gut abschätzen, wie viel Platz du noch hast und...“ „Kug'l!“, brüllt draußen Viggo. Die beiden fahren herum. Glasflaschen zerschellen am Boden. Dando spannt sich, lässt die Kugel nicht aus den Augen. Sie ist über einem der gegenüberliegenden Gebäude erschienen, schwebt dort scheinbar schwerelos und pulsiert wie ein schlagendes Herz in ihrem kalten, blauen Licht. Sie leuchtet so hell, dass das ganze Viertel und die höheren Gebäude auf der anderen Straßenseite aufleuchten. Dan muss die Augen verengen, um das eigenartige, gleißend helle Ding überhaupt ansehen zu können. „Wat nu? Kämpfin wa?“, fragt Viggo, der die Hände im Wechsel zu Fäusten ballt und wieder entspannt. Arin und Malik eilen herbei. „Offensichtlich versucht sie, durch das helle Licht Orianna anzulocken“, vermutet Malik. „Wir haben Zeit und sollten flüchten, ehe sie...“ Lautes, spitzes Pfeifen ertönt in unmittelbarer Nähe: Genau hinter ihnen! Dando fährt herum und sieht aus brennenden Augen in die Eisdiele: Orianna steht hinter dem Schaufenster auf der anderen Seite, halb verdeckt durch die ramponierten Jalousien. Dan registriert gerade noch, dass sie den rechten Arm auf sie gerichtet hat und dass ihre Hand sich unglaublich schnell dreht, diesen Lärm verursacht und sich knisternde Lichter zwischen ihren Fingern sammeln. Als der violette Energiebolzen plötzlich das Glas durchschlägt, geht alles ganz schnell: Arin setzt vor, stellt sich mit ausgestreckten Armen vor die Anderen. Fürchterlicher Lärm dringt aus dem Gebäude, als die Druckwelle, die das Geschoss nach sich zieht, einfach alles davon fegt, die Scheiben zerbersten lässt und die Einrichtung in Brand setzt, als wäre sie trockenes Gestrüpp. Nur einen Meter von ihnen entfernt erlischt das todbringende Geschoss, wird von Arins unsichtbarem Kraftfeld abgehalten. Gleichzeitig wirbelt die Kugel in einem irren Zickzackkurs gen Himmel, nur um wie eine gleißende Kanonenkugel wieder auf die Gruppe niederzustoßen. Dando schreit auf, als ihm klar wird, dass ihr Gegner nichts anderes beabsichtigt hat. Als er fühlt, wie Malik sich in seine Seite krallt, packt er reflexartig Viggo und Arin bei den Schultern. Sie verpuffen in einer Rauchwolke, erscheinen keine zwei Sekunden später auf dem gegenüberliegenden Dach und sehen nur noch, wie die Eisdiele in einem Sturm aus donnernder Energie auseinander gerissen wird. Der pfeifende, schrille Lärm ebbt nicht ab. „Altah!“, plärrt Viggo entsetzt, während bereits das nächste, verheerende Projektil durch die Feuersbrunst jagt. Arin hebt instinktiv die Hände ... und realisiert zu spät, dass Orianna nicht auf sie gezielt hat, sondern auf die Garage unter ihnen! Dando keucht erschöpft, als sie aus einer Rauchwolke heraus erscheinen, neben ihnen eine halb verrottete Kiste mit der Aufschrift „Roger's Pastry Shop“. Einen Lidschlag später verhallt über ihnen die Explosion, der sie in letzter Sekunde entgangen sind, gefolgt von einem regelrechten Stakkato donnernder Schläge. Flammenschein säumt die Dächer. Dan fällt keuchend auf die Knie. Sofort berührt Malik ihn mit der Rechten im Nacken; aus der plötzlich blau leuchtenden Hand des Jungen tritt ein in derselben Farbe lumineszierendes Gel aus, das augenblicklich in Dandos Haut einzieht. Er seufzt wohlig und kann bereits einen Moment später wieder frei atmen. „Hätten wir den Zwischenstopp nicht gemacht, wäre uns das erspart geblieben“, zischt Dan erregt, reibt sich die Augen. „Hast du wenigstens, was du wolltest?“ „Natürlich. Ich kann nun großzügiger mit meinen Kräften umgehen“, antwortet Malik trocken, während er seine Hand zurückzieht – das Leuchten erlischt fast augenblicklich. „Am besten transportierst du uns so nah wie möglich zum Herrenhaus. Je mehr Distanz zwischen uns und diesem Monster liegt, umso mehr Zeit haben wir, um uns umzusehen.“ „Leute, wenn sie uns im Wald angreift, steht zwei Schüsse später jeder Baum im Umkreis in Flammen und wir haben keine Chance! Ich begreife nicht, was das für eine Technologie ist, mit der sie in dieser nassen Umgebung solche Feuersbrünste auslöst!“, begehrt Arin auf. „Von den Explosionen ganz zu schweigen.“ „Ey, wieso greifin wia nisch auch an?“, blafft Viggo, nur um sich daraufhin über die entrüsteten Blicke der Anderen zu wundern. „Hast du eigentlich mitbekommen, was eben passiert ist? Wir haben gegen so was keine Chance!“, Arin aufgebracht. Dando erhebt sich, während Malik bereits einen Satz macht und sich wieder an Viggos Rücken festklammert. „Haltet euch fest!“, ruft Dando und greift nach ihren Schultern. Abermals stiebt aus dem Nichts eine Rauchwolke empor, kaum mehr zu erkennen im nahezu pechschwarzen Wald. Als die Gruppe erschienen ist, ringt Dando erneut vor Erschöpfung nach Luft, torkelt und wird schließlich von Viggo gestützt. Malik berührt ihn im Genick, um ihn erneut zu heilen. „Ich kann überhaupt nichts mehr sehen“, nuschelt Arin unterdessen; er erkennt gerade noch, dass sie auf einem zu beiden Seiten von hohen Bäumen flankierten Pfad stehen, da der Grund unter ihnen ein wenig heller als der stockdüstere Wald ist. Ansonsten ist hier nichts außer Schwärze. Selbst der Himmel ist kaum zu erkennen, wirkt durch die zackigen Baumkronen beinahe wie ein aufgerissenes Maul. „In welche Richtung müssen wir?“, fragt er, während er seinen noch immer halb geöffneten Mantel wieder zuknöpft. Die Luft ist eiskalt. „Das Herrenhaus liegt höher als die Einundzwanzigste. Wir müssen also den Hügel hinauf. Wenn ihr vorsichtig genau geradeaus geht, sollte nichts passieren“, sagt Malik, der keine Schwierigkeiten hat, sich mit seinem besonderen Auge zurechtzufinden. Das halb hinter fettigen Zotteln verborgene Gesicht des Jungen wirkt beinahe wie ein bizarres, riesiges Glühwürmchen, das auf Viggos Schulter hockt. Seine grün leuchtende Hand deutet in eine Richtung, in die sie ihren Weg fortsetzen sollten. So schnell sie können, eilen sie voran. Immer wieder zerknicken morsche Zweige unter ihren Füßen. Auch Dando fröstelt mittlerweile hörbar, schlägt seinen Kragen hoch. „Ich verstehe nicht, dass keiner von euch Taschenlampen mitgenommen hat. Ich hatte eine in meinem Mantel!“, tadelt Malik sie schließlich, viel lauter als nötig. Seine Worte verhallen zwischen den Bäumen. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir von Torquy und seinem praktischen Lichtzauber getrennt werden“, murmelt Arin verlegen, kratzt sich hörbar am Hinterkopf. „Aber wie man sieht...“ Er kichert gezwungen. „Bla, bla, bla“, macht Malik nur noch mürrisch, während er von Viggo springt. „Es ist genau so, wie Torquemada sagt: Ihr seid unfähig, denkt nicht voraus und euer einziges wirkliches Talent besteht darin, euch irgendwie herauszureden!“ Malik huscht davon. „Es ist nicht jeder ein Mutant, der im Dunkeln leuchten und sehen kann!“, giftet Dando, der hilflos nach Malik Ausschau hält. „Darauf will ich hinaus!“, spottet der Kleine und lässt sein gehässiges Kichern ertönen. Dando presst die Lippen aufeinander. „Dauert deine Szene jetzt lang oder kommst du klar?!“ „Es genügt mir, wenn du deine blöden Antworten denkst!“, ruft Malik gehässig, der irgendwo im Unterholz verschwunden sein muss. „Hey!“, ruft Dando aus, sieht sich hilflos um. Seine Stimme verhallt zwischen den Bäumen. Lediglich der schwache, grüne Schein, der von Malik ausgeht, verrät noch, wo er sich befindet. Das vermeintliche Irrlicht verschwindet immer wieder hinter Bäumen und ist schließlich ganz verschwunden. „A hat uns abserviert“, brummt Viggo. „Wo müssin wa hin?“ Als hinter ihm plötzlich Holz klappert, schreit er vor Schreck auf, macht einen Satz nach vorn und prallt hart gegen Dando, der unter dem unerwarteten Stoß schmerzhaft ächzt. „Arsch!“ Der Schein eines kleinen Feuers breitet sich plötzlich aus, zunächst nur mitten in der Luft, ausgehend von einer rötlich leuchtenden Hand; von Maliks Fingern tropft brennendes, öliges Sekret. „Ich habe nichts Trockeneres gefunden“, meint der Junge, der sich von einer Sekunde auf die andere wieder völlig beruhigt zu haben scheint. Zu seinen Füßen liegen drei armlange, knorrige Äste, deren Spitzen rasch zu brennen beginnen. Flackernd erhellen sich die verblüfften Gesichter der Anderen. „Ach, Malky, du bist besser als jedes Plotdevice“, sagt Arin dankbar, während er eine der improvisierten Fackeln aufhebt. „Wie auch immer! Die werden nicht lange brennen.“ Malik geht los, weiter den Pfad hinauf; die Anderen folgen ihm alsbald. „Wahrscheinlich wird Orianna uns so auch leichter finden. Ihr solltet wachsam bleiben! Bereits unsere Unterhaltungen könnten sie anlocken. Torquemada hat uns nicht umsonst dazu aufgefordert, still zu sein.“ Dando seufzt, rollt mit den Augen. „Gut zu wissen.“ „Ey, isch wette, se hat ein' Thermoblick!“, kichert Viggo vergnügt. „Aba wenn se wieda auftaucht, müssin wa uns wat überleg'n. Wenn se 'n Alten sein Haus sprengt, ham wa kein' Ausgangspunkt.“ „Wir haben auch so keinen Ausgangspunkt. Das hier war von Anfang an sinnlos...“, murrt Dando resignierend. „Wie die Chaosfee schon sagte, wird nur der Alte ein Portal öffnen können.“ „Ob wir ihn auf uns aufmerksam machen können?“, fragt Arin, während Dan eine Zigarette hervorholt und kurzerhand versucht, sie an der improvisierten Fackel zu entzünden. „Du weißt schon, dass du süchtig bist, oder, Danny?“ „Leck' mich! Und MSTsaw...“, der Pfad zu ihren Füßen wird indessen ebener, „... wird sich wahrscheinlich nur für das interessieren, was in der Stadt los ist.“ Er seufzt frustriert. „Ihr habt vorhin gehört, dass er die Anführerin der Organisation besiegen konnte, die uns beinahe umgebracht hat? Wir haben wahrscheinlich keine Chance.“ Dan atmet schwer aus. Seine Fackel ist zwischenzeitlich erloschen. Er betrachtet den schwelenden, glimmenden Stumpf noch einen Moment lang, ehe er ihn achtlos fallen lässt. Die Glut verlischt endgültig. „Hm“, macht Arin gedehnt. „Wer hat euch nur gleich wieder davor bewahrt, von ihr zerrissen zu werden wie Papier?“ Er lacht provozierend. „Fängst du jetzt wieder an? Ich habe dir gesagt, dass...“ Lautes, spitzes Pfeifen ertönt in unmittelbarer Nähe, verhallt zwischen den Bäumen und wirkt so noch um ein Vielfaches lauter. Ihre Blicke treffen sich alarmiert; noch ehe zwei brennende Äste und ein Zigarettenstummel den Boden berühren, verschwinden die Jungs in schwarzem Qualm. Um sie herum ist alles dunkel; einen Moment später verhallt der Lärm einer Explosion, Flammensäulen erheben sich in gut zehn Metern Entfernung, wo das Erdreich unter der Macht eines Projektils zerrissen wird, das wer weiß wo her kam. „Wir sind angekommen“, meint Dando hektisch, während er kurz über die Schulter sieht; keine zehn Schritte hinter ihnen ragt das barocke Herrenhaus in den Himmel, kaum mehr als ein schwarzer, klobiger Umriss, erhellt von flackerndem Schein. „Okay, das war sie! Und wo ist die Kugel?!“, schreit Arin, der sich panisch nach allen Richtungen umsieht. Nirgendwo ein verräterisches Leuchten. „Altah, se is nisch von uns abzubringin! Mach'n wa se nu Schrott oda wat?!“, bellt Viggo, doch er kann sie ebenfalls nirgendwo entdecken. Hinter ihnen, keine drei Meter entfernt von der kleinen Treppe, die zum Eingangsportal des Anwesens hinaufführt, beginnt sich der Raum zu krümmen, scheint plötzlich aus dem Nichts heraus zu leuchten. Eigenartige, beinahe elektrische Klänge werden laut. Ein Riss entsteht, aus dem wirbelnde Lichter und metallisch glänzende Ringe erscheinen; Orianna und die Kugel materialisieren sich, tauchen die Umgebung in kaltes, blaues Licht, das sich auf ihrem mit Ornamenten und Insignien verzierten, blank polierten Metallkörper spiegelt. Die starren Augen des Maschinenmädchens scheinen alle vier gleichzeitig zu fixieren. Instinktiv spannen sich die Jungs an. „Sie ist uns nicht mal gefolgt“, stellt Malik mit vor Verachtung bebender Stimme fest, der zwischen Orianna und der Kugel hin und her sieht. „Sie hat das Plothole der Organisation benutzt und ist einfach immer wieder in unserer Nähe erschienen! Kein Wunder, dass sie über den Fluss und so schnell so große Entfernungen zurücklegen konnte!“ Das Okular der Kugel surrt. „Sie haben meine Vorgehensweise schneller durchschaut, als ich es für wahrscheinlich hielt“, spricht Orianna mit ihrer völlig ausdruckslosen, viel zu lauten Stimme, kaum mehr als die Karikatur eines Mädchens. Malik zieht den anderen Handschuh aus, steckt ihn hastig ein. Dando schnippst, woraufhin eine rostige Sense in seinen Händen erscheint. „Aber auch ich habe Ihre Vorgehensweisen durchschaut. Da ich Ihre begrenzten Kräfte dank meiner Beobachtungen nun kenne, konnte ich bereits vierundsechzig mögliche Kombinationen und Angriffsvarianten durch Algorithmen ermitteln und in einhundert simulierten Kämpfen Gegenstrategien entwickeln. Ich schlussfolgere daraus, dass Ihre Siegeschance aufgerundet zwei Prozent beträgt. Ergeben Sie sich!“ Ein Schuss. Orianna torkelt, macht einen ungeschickten Schritt nach vorn. Ein zweiter Schuss. Blitze zucken über die Kugel, die sogleich ins Wanken gerät, dumpf zu Boden fällt und erlischt, als seien ihr sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Dann hört es sich an, als würde eine Feder überdehnt; lautes Knacken folgt; Orianna zuckt; das Maschinenmädchen gerät völlig aus dem Gleichgewicht und geht in einer starren, abgehackten Bewegung zu Boden. Ihr Aufprall verursacht Lärm, als wäre sie so schwer wie ein Kleinwagen. In einigen Schritten Entfernung fällt ein großer, silberner Uhrwerksschlüssel zu Boden. Oriannas starre Augen scheinen ihn zu fixieren, ehe sie Sekunden später abrupt verlöschen. Kurz darauf fällt ein gleißender, die Dunkelheit durchbohrender Lichtkegel auf sie, zuckt kurz zur Kugel und wieder zu ihr zurück. Vom herausgesprungenen Schlüssel abgesehen, weisen weder Orianna noch ihre Kugel irgendeinen sichtbaren Schaden auf. Die Jungs sind noch viel zu überrascht, um irgendwie zu reagieren; sie hatten mit vielem gerechnet, einschließlich ihrem Ableben, doch nicht damit. Malik verengt die Augen zu Schlitzen, während er zum Eingangstor empor sieht. Es steht offen! Dahinter zeichnen sich die Umrisse eine Person ab. Ein winziges, dafür umso grelleres Licht glimmt dort, wo ihr rechtes Ohr sein müsste, neigt sich um ein My, sodass der Lichtkegel nun auf die Jungs fällt: Sie werden davon angestrahlt, als würde ein Flutlicht auf sie gerichtet. „Folgt mir hinein. Schnell!“, ruft ihnen die hörbar ältere Frau zu, nur um sich sogleich umzuwenden und im Anwesen zu verschwinden. Ihre Schritte verraten, dass sie es eilig hat. Einige Sekunden verstreichen. „Okay. War das...?“, beginnt Arin zögernd, während Malik bereits los huscht. „Hey! Malky!“, ruft er ihm nach und versucht noch, ihn an der Schulter zurückzuhalten. Malik ahnt es jedoch bereits, windet sich heraus, noch ehe Arin ihn richtig erwischen kann und eilt mit unbeholfenen, tapsigen Schritten weiter. „Ja, es war Nina!“, ruft er aufgebracht. „Nein, ich weiß nicht, wieso sie ihre Verbündeten angreift!“ Viggo steht der Mund offen, Dando zuckt nur noch hilflos mit den Schultern. Im Anwesen passieren sie die Eingangshalle so schnell sie können. Viggo holt Malik ein und geht in die Hocke, sodass er ihm schnell auf den Rücken klettern kann. Sie folgen der Frau ins erste Obergeschoss. Dank des Widerscheins ihrer fantastischen Lichtquelle ist es ein Leichtes, ihr selbst in dieser Dunkelheit noch zu folgen. Die seit mehreren Wochen verlassenen Flure stinken, als würde irgendwo etwas verwesen. Jeder Schritt lässt Staubwolken aus dem schweren Fußbodenbelag aufsteigen. Viggo niest. Schließlich biegen sie nach links ab und folgen dem deutlich ausgeleuchteten Korridor in den Westflügel. „Liegt dort hinten nicht das Zimmer, in dem Richtward früher die Entführten eingesperrt hat?“, fragt Arin beiläufig. „Hm“, macht Viggo nur und eilt ohne zu zögern in den Korridor vor ihnen, in dem sich deutlich die Spuren eines vergangenen Feuers abzeichnen. Der nahezu gerade, abrupte Übergang zwischen alter Tapete und geschwärztem Mauerwerk macht deutlich, dass es kein normaler Brand war. Hinten steht eine Tür offen, aus der beständig Licht dringt. Viggo erreicht sie als Erster, bremst abrupt ab. Noch währenddessen löst sich bereits Malik von ihm, kommt mit ungeschickten Schritten auf und ringt einen Moment lang um sein Gleichgewicht. Schließlich starrt er aus aufgerissenen Augen in den Raum. „Nina Sharp!“ Drinnen steht eine rothaarige Frau höheren Alters, die sich an einem großen Alukoffer zu schaffen macht; ihr rabenschwarzer, bauschiger Mantel lässt sie korpulenter wirken, als sie in Wahrheit ist. „Ich werde euch keine Fragen beantworten“, verkündet Nina sogleich, mit einem Ton in ihrer brüchigen Stimme, der keinen Widerspruch duldet. Jede ihrer Bewegungen macht deutlich, dass sie es nur eilig hat, dass sie jedoch keinerlei Furcht hegt, sich schon gar nicht vorstellt, dass ihr hier Gefahr drohen könnte. Sie entnimmt ihrem Koffer ein armlanges, metallisches Objekt, nur um daraufhin zu einer verkohlten Stelle in der Mitte des Raums zu eilen. „Was haben Sie hier zu schaffen?!“, ruft Malik, der zunehmend in Rage verfällt. Seine Hände leuchten heller; selbst sein Gesicht beginnt zu lumineszieren. Statt ihm direkt zu antworten, macht Nina irgendetwas mit dem Gegenstand, den sie in Händen hält: Er klappt auf, wird zu einem beinahe mannshohen Stativ mit einem winzigen, faustgroßen Lautsprecher an der einen Seite und drei Füßen an der anderen. „Was Sie hier machen, will ich wissen!“, schreit Malik und betritt den Raum mit energischen Schritten, während Nina das Gerät auf den Boden stellt, ohne den Jungen auch nur eines Blickes zu würdigen. Zwei gleichartige Geräte stehen dort bereits; sie bilden nun ein gedachtes Dreieck mit je etwa zwei Schritten Kantenlänge. Erst jetzt wendet sich Nina um, wirft Malik einen nichts sagenden Blick zu. Die anderen eilen herein, sehen sie fordernd an. „Sie gehören zur Organisation. Wieso greifen Sie Orianna an?!“, fragt Dando, sichtlich gespannt und zu allem bereit. „Ich habe meine Gründe“, meint Nina ausweichend, während sie zu ihrem Koffer zurückkehrt. Viggo kann nur noch verwirrt zwischen ihr und den drei Geräten hin und her sehen. „Fragen werde ich euch nicht beantworten, wie ich bereits sagte. Nur so viel...“, hebt Nina an, während sie einen mit Tasten und kleinen Bildschirmen versehenen Kasten hervorholt, den sie auf dem Tisch daneben platziert. „Mir war bewusst, dass ihr hier auftauchen würdet ... und warum.“ „Und woher wussten Sie davon?!“, kreischt Malik, der heftig zu zittern beginnt. Doch Nina ignoriert seine Frage einfach. „Die andere Seite von Silent Hill: Wisst ihr, worum es sich dabei handelt?“, fragt sie rhetorisch, während sie einige Tasten ihres seltsamen Geräts drückt. „Es ist eine Paralleldimension der Realität, in der wir uns befinden. An dieser Stelle hier – womöglich zufällig, womöglich aus bestimmten Gründen, die ich nicht kenne – ist der Schleier zwischen diesen beiden Dimensionen ein wenig dünner. Es mag daran liegen, dass die Grenze an diesem Ort bereits oft überschritten wurde.“ Sie spricht ungewöhnlich schnell. „Sie wollen uns ein Tor auf die andere Seite öffnen?!“, mutmaßt Arin, woraufhin Nina ein leises Kichern nicht unterdrücken kann. „In der Tat; ich nehme an, es ist offensichtlich.“ Sie drückt eilig einige Tasten, woraufhin das Gerät offenbar aktiviert wird; die Bildschirme flackern und eine rote, irgendwie viel zu klobige Diode leuchtet auf. „Aber warum?!“, hakt Dando nach, mittlerweile fast ebenso aufgebracht wie Malik. „In der Stadt kämpfen Organisationsmitglieder gegen unsere Leute und Sie tauchen hier auf, um uns zu helfen?!“ „Ich habe gute Ohren“, sagt Nina und verengt die Augen zu Schlitzen. „Es ist nicht nötig, mich anzuschreien.“ Währenddessen kann sich Malik kaum noch konzentrieren, so aufgebracht ist er. Der Junge starrt Nina regelrecht an. „Malik“, meint sie mit pikierter Stimme, „deine Versuche, meine Gedanken zu lesen, sind völlig sinnlos. Das sollte dir bereits bekannt sein.“ Nina schüttelt den Kopf, sodass ihr Licht wirr über zertrümmerte, halb verkohlte Bücherregale zuckt, ehe sie sich wieder an ihrem Gerät zu schaffen macht. „Okay, okay, schon klar“, hebt Arin an, deutlich darum bemüht, seine Stimme fest und sicher klingen zu lassen; es gelingt ihm nicht. „Sie sind imba und uns weit überlegen. Aber warum...“ Nina wendet sich um, wirft ihm einen regelrecht stechenden Blick zu, sodass Arin einfach verstummt. Ihr Mantel bauscht sich. Festen Schrittes kommt sie auf die Gruppe zu; sie können nicht anders, als sogleich instinktiv einen Schritt zurückzuweichen. Ninas Licht blendet sie. Als sie es bemerkt, neigt sie anstandshalber den Kopf, um den grellen Schein zu Boden zu richten. „Meine Wissenschaftler untersuchen diese Stadt schon eine ganze Weile. Die seltsamen Phänomene, die Gerüchte, die sich um die Stadt ranken. Verschwindende Menschen, Sichtungen seltsamer Gestalten... Ich nehme an, ihr habt während eures zweiwöchigen Aufenthalts hier ebenfalls solche Erfahrungen gemacht?“ „Wir haben nur einen Durchgeknallten getroffen, der Leute in ein Ding namens Deus Ex Machina sperrt, um sich ihre Kräfte einzuverleiben“, entgegnet Dando, grinst spöttisch. Nina schmunzelt. „Natürlich; Gerüchten zufolge soll das in der Familie liegen. Dein Onkel, nicht wahr? MSTsaw, wie er sich heute nennt.“ Sie spricht den Namen aus, als wäre er eine Beleidigung, wackelt höhnisch mit den Fingern. Dando winkt ab. „Ich habe keinen Onkel.“ Abermals kann Nina nicht anders als zu schmunzeln. „Du könntest Recht haben. Ist dir bekannt, was MSTsaw getan hat, seit seiner ... Wiederbelebung?“ Dando reagiert nicht. „Ich nehme an, du verfolgst die Nachrichten aus deiner Heimat nicht?“, bohrt Nina nach, die ihm nach einigen Sekunden nicht mehr Zeit lassen will. Sie hebt den Kopf und wirkt nun deutlich amüsiert. Erneut werden die Jungs durch ihr unglaublich grelles Licht geblendet. „Ein Gerichtshof in Portland, eine Kathedrale in Sacramento, 137 entführte Menschen. Spurlos verschwunden, als hätte sie jemand aus dieser Welt in eine andere geholt.“ „Ich weiß nur vom Portland-Vorfall“, fährt Malik dazwischen. „Dass er auch noch in Sacramento aufgetaucht ist, ist mir neu.“ „Hmpf“, macht Nina, während sie ihm zunickt. „Natürlich: Dir entgeht nur wenig, Malik. Wir konnten dank dieser Vorfälle sichere Indizien dafür sammeln, dass, wenn sich ein Portal in die andere Welt öffnet, ein ganz bestimmter Ton erklingt. Eine Abfolge von Tönen, um genauer zu sein: Eine Sirene, dumpf und dröhnend, dreimal hintereinander.“ Malik geht einen Schritt auf sie zu, woraufhin ihm die Anderen alarmiert nachsehen. „Argumentierten Sie nicht in einer Ihrer heuchlerischen Publikationen, dass Schwingungen der Schlüssel zur Reise in andere Dimensionen sein könnten?“, knurrt er und sieht zur Unheimlichen empor. Nina übergeht den Seitenhieb mit einem sinistren Lächeln. „Die Frage ist nur: Sind diese Töne eine Folge der Portalöffnung oder eine unabdingbare Voraussetzung?“ „Hören Sie auf zu quatschen!“, brüllt Malik, so laut, dass sich seine Stimme beinahe überschlägt. Seine Hände leuchten immer heller, glühen an den Fingerkuppen fast. Arin legt ihm in böser Vorahnung eine Hand auf die Schulter, rüttelt mahnend an ihm. Nina stutzt, wirkt ebenfalls sichtlich alarmiert. „Mach' nichts Dummes, Malky“, flüstert Arin verbissen und drückt ihm noch ein wenig fester auf die Schulter. Doch Malik ignoriert ihn. „Sagen Sie mir endlich, wieso Sie hier sind!“, schreit Malik und reißt eine Hand hoch; noch ehe er die Bewegung vollendet, hebt auch Nina bereits ihre Hand. Aus den Fingern des Jungen bricht ein grüner, gleißender Strahl hervor, eher eine Flüssigkeit als Licht, der Nina regelrecht entgegen spritzt, den ganzen Raum ausleuchtet ... und Sekunden später an einem flirrenden Kraftfeld vergeht, welches um die Unheimliche herum aufflackert. „Hinter mir befindet sich empfindliche Technologie“, mahnt Nina, sieht ihn eindringlich an. „Ich verbitte mir solch unbedachte Handlungen.“ „Sie haben sich nichts zu verbitten“, zischt Dan sogleich, schnippst lautstark; in seinen Händen erscheint eine große, rostige Sense. Sekunden verstreichen, während denen sie sich nur anstarren, nicht einmal blinzeln. Schließlich bricht Nina das Schweigen. „Nun gut“, hebt sie an, lauernd und sichtlich widerwillig. „Ich bin aus freien Stücken hier. Meine ... Vorgesetzten wissen nicht, dass ich euch unterstütze, und sie müssen davon auch nichts erfahren.“ Nina zögert einen Moment. „Warum? Nun, ich habe großes Interesse daran, deine Weiterentwicklung zu verfolgen, Malik. Gelegenheiten wie diese hier sind einmalig. Ich finde, sie sollten genutzt werden.“ „Das beantwortet noch immer nicht, woher Sie wissen, dass wir hier sind“, faucht Malik, der abermals drohend die Hände hebt. Ninas Blick verfinstert sich. „Mein lieber Junge: Ich bin eine einflussreiche, sehr mächtige Frau. Ich maße mir an, nicht einmal die Organisation zu fürchten, weshalb ich es nicht nötig habe, mich für meine Handlungen zu rechtfertigen, gar die Erlaubnis meines Vorgesetzten einzuholen.“ Sie schürzt die Lippen. „Glaubst du, dass ich nicht davon erfahre, sobald du auch nur einen Fuß in diese Welt setzt? Mit Hilfe der mir zur Verfügung stehenden Technologie ist es mir ein Leichtes, jeden eurer Schritte zu verfolgen.“ Ninas Blick wird eisern. „Ich nehme an, dass ihr froh seid, euch nicht mit Orianna messen zu müssen. Möchtet ihr wirklich vom Regen in die Traufe geraten, indem ihr nun mir keine andere Wahl lasst, als euch herauszufordern? Ihr traut mir wohl zu, diese Möglichkeit einkalkuliert zu haben.“ Abermals verstreichen Sekunden des Schweigens, bis Dando schließlich seine Sense verschwinden lässt und Malik sich entspannt ... oder es zumindest versucht. Nina lacht jovial. „Natürlich erlaube auch ich mir den Optimismus, anzunehmen, dass ihr gut vorbereitet seid und wisst, worauf ihr euch eingelassen habt.“ Hinter ihr knackt es hörbar, als die rote Diode erlischt und dafür eine grüne anspringt. Nina lächelt flüchtig. „Wollen wir?“, fragt sie und deutet auf die Stative. „Stellt euch dazwischen. Schnell jetzt!“ „Wird das hier irgendwann negativ auf uns zurückfallen?“, fragt Dando resignierend, während er als Erster auf die eigenartigen Geräte zugeht. Viggo folgt ihm, ganz fasziniert von den Stäben, die so blank poliert sind, dass sie selbst im Zwielicht noch silbrig glänzen. Arin bleibt bei Malik. „Das kann ich nicht wissen“, antwortet Nina nur noch vage, während sie zu ihrer Konsole zurückkehrt. „Können wir Ihre Lampe haben?“, fragt Malik, der sich mittlerweile wieder beruhigt zu haben scheint. Nina hält im Schritt inne und sieht über die Schulter zu ihm. „Meine Lampe?“, fragt sie in überraschtem Tonfall. „Ja, Ihre Lampe. Wir haben keine dabei“, sagt Malik und deutet fordernd auf die fantastische Lichtquelle hinter Ninas rechtem Ohr. „In Ordnung“, meint Nina schmunzelnd. Beiläufig löst sie das etwa fingergroße, schwarze Röhrchen von ihrem Ohr. Gemessenen Schrittes geht sie zu Malik, der noch immer ein wenig verloren wirkend im Raum steht. Arin würdigt sie dabei keines Blickes. Kurz bevor sie die beiden erreicht, dreht sie am hinteren Ende ihrer Lampe, die sogleich weniger hell leuchtet. „Wie nett“, murmelt Malik monoton. „Natürlich. Ich weiß doch, wie empfindsam deine Augen sind“, spricht Nina mit warmer Stimme, ehe sie ihm das Gerät reicht. „Und ich darf sagen, dass mir unbegreiflich ist, wie ihr euch um diese Tageszeit an diesen Ort begeben konntet, ohne Lampen mitzunehmen.“ Malik nimmt die Lampe schweigend entgegen. „Würdet ihr euch nun bitte zu ihnen stellen?“, sagt Nina dann, ehe sie mit Nachdruck auf Dando und Viggo deutet. Schließlich sammelt sich die Gruppe zwischen den Geräten. Nina mustert sie mit undeutbarem Blick. „Leider muss ich mit Informationen über die andere Seite geizen. Vor drei Tagen haben wir ein Untersuchungskommando hinüber geschickt, aber bisher nicht wieder von ihnen gehört. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Welt, wie so viele, ihren eigenen Naturgesetzen folgt. Ihr solltet mit allem rechnen.“ Sie drückt eine der Tasten ihrer Konsole, woraufhin roten Lämpchen unterhalb der Lautsprecher aufflackern. Auf den Bildschirmen zeichnen sich unstete Bewegungen ab; wirr zucken farbige Linien auf und ab. „Ihr solltet euch darauf einstellen, dass euch nach dem Übergang schwindelig wird. Womöglich müsst ihr euch übergeben.“ Die Jungs nicken gezwungen. „Nun gut“, meint Nina dann, während sie darangeht, einige Schalter umzulegen. Die Lautsprecher beginnen hörbar zu vibrieren. Der Reihe nach wechseln die Lämpchen ihre Farbe von Rot zu Grün. Ninas Finger verharrt über einem nun orange aufleuchtenden, eckigen Schalter, der sich unter einer Gummiabdeckung befindet. „Malik, irgendwann wirst du mich in der Zentrale von Massiv Dynamic besuchen kommen, eine halbe Stunde nach Ende der offiziellen Besucherzeit. Du musst nicht klingeln. Ich werde bemerken, wenn du ankommst und dich dann in mein Büro lassen“, sagt sie und sieht den Kleinen beinahe flehend an. „Bring mir meine Lampe zurück.“ „Selbstverständlich“, murmelt der Angesprochene verheißungsvoll. „Ich hatte ohnehin vor, Ihnen irgendwann einen Besuch abzustatten.“ Ninas faltige Mundwinkel zucken, bis sie schließlich besorgt, beinahe mütterlich lächelt. Sie legt den Schalter um, der darauf geräuschvoll einrastet. Als aus den Lautsprechern der Klang einer Feuerwehrsirene dröhnt, lässt Nina ihren Blick nicht von den Bildschirmen weichen. Die Graphen zucken wild hin und her, wirken, als seien sie außer Kontrolle geraten. Ein zweites Heulen ertönt; Nina dreht an einem Rädchen, woraufhin zwei der wirr nach oben und unten ausschlagenden Linien sich annähern, sich Sekunden später überlappen. Als die Sirene zum dritten Mal ertönt, stehen die Graphen plötzlich still. Artefakte flimmern über die Bildschirme, wie Schneegestöber auf einem kaputten Fernseher. Die grüne Diode erlischt, nur um abermals von der roten ersetzt zu werden. Abrupt wird es dunkler; nur noch das spärliche Nachtlicht und die Bildschirme erhellt den Raum. Ninas Augen verengen sich. Als es wieder still wird, die Frau sich umwendet, kann sie gerade so die Stative aus blank poliertem Metall in der Finsternis ausmachen. Nina ist allein; die jungen Männer, die Momente zuvor noch dort standen, sind verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)