All His Sons von Morwen ================================================================================ Kapitel 4: Vierzehn (II) ------------------------ Sie verbrachten die erste Nacht auf der Lichtung eines kleinen Wäldchens, das von Kornfeldern umgeben war. Erschöpft von der langen Reise schlief Nelyo sofort ein, kaum dass er sich nach dem Essen an seinen Vater gekuschelt und die Augen zugemacht hatte. Arafinwe lag auf der Seite, den Kopf auf seine Hände gebettet, und starrte auf das heruntergebrannte Feuer, das sie zum Kochen entfacht hatten und dessen Glut noch immer eine angenehme Wärme verbreitete. Es war nicht kalt – in Valinor war es niemals wirklich kalt – aber er liebte es, wie die warme Luft seine Haut streichelte und ihn allmählich einlullte. Doch noch konnte er nicht einschlafen. Noch wollten seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Seit dem Mittag hatten er und Feanáro kaum zehn Worte miteinander gewechselt. Der Junge fragte sich schon seit Stunden, ob er seinen Bruder mit seiner Bemerkung verärgert hatte, und überlegte, wie er wieder an ihr Gespräch anknüpfen sollte. Von sich aus hatte Feanáro keine erneute Unterhaltung begonnen, und seine Miene war wie so oft vollkommen undurchdringlich. Für gewöhnlich fiel es Arafinwe leicht, die Emotionen anderer zu lesen, doch sein Halbbruder war für ihn wie ein Buch, das in einer Sprache geschrieben war, die er nur bruchstückhaft verstand. Feanáros anhaltendes Schweigen entmutigte ihn, doch gleichzeitig war ihm klar, dass es nicht die ganze Reise über so weitergehen konnte. Schließlich gab er sich einen Ruck und beschloss, das Schweigen zu beenden, und er nahm all seinen Mut zusammen und sagte leise in die Stille hinein: „Feanáro...?“ Für einen Moment befürchtete er, keine Antwort zu bekommen, doch dann hörte er ein kurzes Rascheln und sein Bruder erwiderte von der andere Seite des Lagerfeuers: „Ingo...? Was gibt es?“ Also war seine Sorge umsonst gewesen. Der Junge war so erleichtert, dass er vergaß, was er Feanáro hatte fragen wollen, und so sagte er stattdessen das erste, was ihm in den Sinn kam: „Was bedeutet ‚romantisieren‘?“ Sein Bruder schwieg für eine Weile, als müsste er selbst erst über diese Frage nachdenken. Doch schließlich antwortete er: „Romantisieren bedeutet, Personen oder Ereignisse im Nachhinein als besser darzustellen, als sie es tatsächlich waren... häufig, weil die positiven Erinnerungen daran überwiegen und die negativen mit der Zeit verdrängen.“ „... ah“, machte Arafinwe, während er über diese Erklärung nachdachte. Nun verstand er auch die Worte seines Vaters – und er fragte sich, ob der König sich je mit Feanáro über die Zeit in Endóre unterhalten hatte, in der er ihr Volk im Dämmerlicht der Sterne nach Westen geführt hatte, fort von den Schatten und den Gefahren, die hinter ihnen lagen, und hin zum Licht Amans, in der Hoffnung auf ein besseres und sichereres Leben jenseits des Meeres. Finwe hatte seinem jüngsten Sohn nie viel über dieses düstere Kapitel ihrer Geschichte erzählt, doch das wenige, das Arafinwe gehört hatte, hatte gereicht, ihn zu der Erkenntnis kommen zu lassen, dass sie es in Eldamar ungleich besser hatten. „Gibt es sonst noch etwas?“, fragte der andere leise, als der Junge, der tief in Gedanken versunken war, für längere Zeit keine Antwort gab. „Nein, Feanáro“, erwiderte Arafinwe schnell. „Vielen Dank!“ „Nicht deswegen“, sagte sein Bruder leise. Und dann: „... schlaf gut, Ingalaure.“ Arafinwe lächelte. „Du auch.“ Nun, da ihm wieder etwas leichter ums Herz war, dauerte es nicht lange, bis dem Jungen schließlich die Augen zufielen, und wenige Minuten später war er auch schon eingeschlafen. Er erwachte während der Morgendämmerung, als er ein Gewicht auf seiner Brust spürte. „Arfin!“, rief Nelyo, der sich quer über ihn geworfen hatte. „Arfin, steh auf!“ Arafinwe gähnte und tat so, als wollte er sich erheben, doch dann schlang er blitzschnell die Arme um den kleinen Jungen und rollte sich herum, bis er auf ihm zu liegen kam. „Du bist heute morgen ja munter“, sagte er und stupste Nelyo grinsend mit dem Finger in die Seite, bis sein Neffe haltlos zu lachen begann und die Arme gegen Arafinwes Schultern stemmte, um ihn wegzuschieben. „Hör auf, hör auf!“, rief er, während der andere ihn unbarmherzig weiterkitzelte. „Arfin, geh von mir runter!“ Doch erst, als Nelyo schon ganz rot im Gesicht war und ihm vom vielen Lachen die Tränen über die Wangen liefen, ließ Arafinwe ihn schließlich wieder los. Er stand auf und packte seine Sachen zusammen und half dann Feanáro dabei, die Pferde zu satteln und zu beladen, während der kleine Junge noch immer japsend im Gras lag. Schließlich hatten sie ihre Vorbereitungen beendet und Feanáro ging neben seinem Sohn in die Hocke und hob ihn hoch. „Komm, Nelyo“, sagte er und presste einen Kuss auf sein kupferrotes Haar. „Wir haben heute noch einen weiten Weg vor uns.“ Nelyo, erschöpft vom vielen Lachen, nickte nur und schmiegte die Wange an die Schulter seines Vaters. Sie folgten dem Weg vom Vortag, der nun wieder in westliche Richtung führte, den beiden Bäumen von Valinor entgegen. Feanáro erklärte ihm, dass sie die Bäume selbst jedoch nicht passieren, sondern viele Meilen südlich an ihnen vorbeireiten würden, bevor sie schließlich weiter im Westen die Gärten von Lórien erreichen würden. Nelyo war traurig darüber, doch Arafinwe tröstete ihn mit den Worten, dass er die Bäume aus der Entfernung besser sehen konnte, während es schwierig war, sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen und nicht von ihrem Licht geblendet zu werden, wenn man ihnen sehr nahe war. Feanáro warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, als er dies hörte, doch er behielt jeglichen Kommentar für sich. Arafinwe bedauerte es nicht, dass er Valimar nicht zu Gesicht bekommen würde. Er war erst ein einziges Mal in der Stadt der Valar gewesen, und die gewaltigen Paläste aus Gold und Silber mit ihrer fremdartigen Architektur hatten ihn damals sehr eingeschüchtert. Auch fühlte er sich in der Gegenwart so vieler Maiar und Valar unwohl. Der Blick ihrer Augen brannte – wenn sie überhaupt eine feste Gestalt angenommen hatten – und ihre Sprache klang in seinen Ohren so fremdartig, dass es wehtat, ihnen zuzuhören. Lieber erfreute er sich am Anblick der Bäume aus der Ferne und an ihrem steten, warmen Leuchten. Das Land veränderte sich sichtlich mit jeder Meile, die sie zurücklegten. Bald ließen sie die letzten von den Noldor bebauten Felder hinter sich und drangen in die Wildnis vor. „In diesen Wäldern werden uns keine Gefahren begegnen“, teilte Feanáro ihnen mit, als sie durch den von Laurelins goldenem Licht durchfluteten Laubwald ritten. „Doch weit im Süden liegen tiefere Wälder, in denen Orome oft auf Jagd geht, und in denen gewaltige Bestien leben.“ „Hast du auch welche gesehen, Atto?“, fragte Nelyo neugierig, der bei dem Wort „Gefahr“ hellhörig geworden war. Feanáro nickte und strich ihm über die Locken. „Ein einziges Mal, ja. Damals begleiteten deine Mutter und ich Orome auf einen seiner Jagdausflüge, und dabei trafen wir auf einen riesigen, grauen Wolf – er überragte sogar das Pferd, auf dem du gerade sitzt“, erzählte er, und Nelyo machte große Augen. „Der Klang von Oromes Horn vertrieb ihn, doch was passiert wäre, wenn wir ihm allein begegnet wären... daran möchte ich nicht einmal denken.“ Arafinwe erinnerte sich an die Geschichte; Nerdanel hatte sie ihm vor einiger Zeit erzählt. Bei jenem Jagdausflug war sie bereits mehrere Monate mit Nelyo schwanger gewesen und der Gedanke daran, ihr ungeborenes Kind erneut einer solchen Gefahr auszusetzen, hatte sie und Feanáro damals dazu bewogen, ihre lange Reise zu beenden und das abenteuerliche Leben hinter sich zu lassen, um stattdessen nach Tirion zurückzukehren. Das unspektakuläre Ende der Geschichte schien Nelyo etwas zu enttäuschen. „Warum hast du ihn nicht mit dem Speer erlegt, Atto?“, fragte er. „Weil eine verwundete Bestie gefährlich ist“, entgegnete Feanáro und der Blick, mit dem er seinen Sohn bedachte, war voller Wärme. „Und weil es zu viel gab, was ich in jenem Moment hätte verlieren können.“ „Hm“, machte Nelyo nur, den die Erklärung nicht zufriedenstellte. Aber er schien die seltsame Stimmung zu spüren, in die die Erzählung seinen Vater gebracht hatte, und er fragte nicht weiter nach. An diesem Abend schlugen sie ihr Nachtlager früher auf, als am Tage zuvor, denn unter den Bäumen wurde es früher dunkel und Feanáro wollte nicht das Risiko eingehen, vom Weg abzukommen, der an vielen Stellen von Unkraut überwuchert war. An einem Bachlauf unter den ausladenden Ästen mehrerer, alter Eichen entfachten sie ein Feuer, und als sie alle von der warmen Suppe gesättigt waren, die Feanáro zubereitet hatte, badeten sie in dem schnell fließenden Wasser des Baches. Während sich Arafinwe, der bis zu den Knien im Bach stand, mit den Händen Wasser über den Kopf schöpfte, um seine Haare und Schultern zu waschen, saß Nelyo am Rand auf einem moosbewachsenen Stein und tauchte mit skeptischem Blick einen Fuß ins Wasser. „Das ist kalt!“, klagte er und zog bibbernd die Knie an die nackte Brust. „Und du bist schmutzig“, erwiderte Feanáro nur geduldig und nahm ihn auf den Arm. „Komm schon, Nelyo. Je schneller du sauber bist, desto schneller kannst du dich wieder anziehen.“ Doch der kleine Junge schüttelte nur stur den Kopf. „Ich mag nicht!“, rief er. Arafinwe, der gerade seine nassen Haare auswrang, sah ihn amüsiert an. „Gestern hat dich die Kälte doch auch nicht daran gehindert, im Wasser zu spielen, oder?“, fragte Feanáro, doch der Junge gab keine Antwort und presste nur das Gesicht an die Halsbeuge seines Vaters. Der gab ein ergebenes Seufzen von sich und trat, Nelyo noch immer auf dem Arm, in den Bach. Dort ließ er sich in einer Senke im Bachbett nieder, so dass ihm das eisige Wasser bis zur Brust reichte. Doch er verzog nicht für einen Moment das Gesicht, und es schien Arafinwe, als würde er die Kälte überhaupt nicht spüren. Nelyo protestierte schwach, als Feanáro ihn wusch, doch die Nähe und Wärme seines Vaters schien ihn zu beruhigen und bald darauf setzte Feanáro den Jungen wieder am Bachufer ab und legte ihm ein Tuch um die Schultern, damit er sich abtrocknen konnte. Später, als sie alle wieder bekleidet waren, setzten sie sich an das Feuer, das mittlerweile zu einem glühenden Haufen zusammengesunken war. Nelyo rollte sich auf Feanáros Schoß zusammen und war bald eingeschlafen, doch Arafinwe war noch nicht müde genug, um sich schlafen zu legen, und so setzte er sich nach einer Weile neben seinen Halbbruder und starrte schweigend in die Glut. Für lange Zeit sagte keiner von ihnen ein Wort. Die Stunde der Dämmerung ging vorüber und Telperion begann zu erblühen. Bald erhellte sein silbrig-weißes Licht die Nacht und verwandelte das Land in eine schwarz-weiße Schattenwelt. Arafinwe legte den Kopf in den Nacken und sah durch eine Lücke zwischen den Ästen zum Himmel empor. Er hatte Telperions Licht schon immer dem des goldenen Baumes vorgezogen. Denn wenn Laurelin erblühte, verblassten die Sterne in seinem hellen Licht und waren kaum noch zu erkennen. Telperions Schein hingegen war sanfter und in den Stunden, in denen er blühte, waren die Sterne noch immer gut auszumachen. Nirgendwo in ganz Eldamar würden sie jedoch jemals so klar zu sehen sein, wie in Alqualonde, und wenn der Junge nachts aus seinem Fenster in Tirion sah, musste er oft an die Stadt am Meer denken, in der nichts das Leuchten von Vardas Sternen trübte. Nach einer Weile merkte Arafinwe, dass Feanáros Augen seinem Blick gefolgt waren und ebenfalls zum Himmel empor sahen. „Stell dir vor, es gäbe kein anderes Licht auf der Welt“, sagte sein Bruder plötzlich leise. „Sondern nur die Sterne über deinem Kopf... würde es dir Angst machen?“ Arafinwe dachte für eine Weile über diese Frage nach. „Ein bisschen“, gab er schließlich zu. Dann fragte er: „Habt ihr je einen solchen Sternenhimmel gesehen? Damals auf euren Reisen?“ „Ein einziges Mal nur.“ Feanáro schloss die Augen, während seine Finger sanft durch Nelyos Haar kämmten. „Wir wanderten die Küste nördlich von Alqualonde entlang, bis hin zu den felsigen Einöden von Araman. Dort ist es so kalt, dass nichts mehr wächst und das Meer gefriert und sich zu riesigen Eisschollen auftürmt. Es ist ein gefährliches Land, doch es ist auch von großer Schönheit, und dort im Schatten der Pélori sahen wir die Sterne mit einer Klarheit wie nirgendwo sonst in ganz Aman.“ Die Beschreibung jener eisigen Länder ließ Arafinwe für einen Moment frösteln und er rückte unbewusst ein Stück näher an die Glut heran. Doch die Worte seines Bruders hatten ihn auch neugierig gemacht, und so fragte er: „Was habt ihr noch alles im Norden erlebt?“ Feanáro warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Haben Nerdanel und ich dir noch nie von jener Reise erzählt?“ Arafinwe setzte seine argloseste Miene auf und schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er die Geschichte schon oft gehört, doch er liebte die Leidenschaft, mit der sein Bruder die verschiedenen Länder und Kulturen Amans beschrieb, und er konnte Stunden damit verbringen, ihm zuzuhören. „... nun gut“, meinte Feanáro schließlich mit einem kleinen Lächeln, das Arafinwe sagte, dass sein Bruder sehr wohl wusste, dass er diese Geschichte bereits mehrfach erzählt hatte. „Wo fange ich am besten an...?“ Als Arafinwe am nächsten Tag erwachte, war es bereits später Morgen. Das verwunderte ihn, war sein Bruder doch auf ihrer bisherigen Reise sehr darauf bedacht gewesen, nicht unnötig viel Zeit mit Schlafen zu verschwenden, sondern stattdessen zeitig aufzubrechen und das Licht des goldenen Baumes so lange es ging zu nutzen. Doch ein müder Blick in Richtung seines Bruders ergab, dass Feanáro noch immer schlief – eine weitere Seltenheit. Arafinwe konnte sich nicht daran erinnern, seinen Bruder, der selbst am Hofe des Königs stets wachsam war und selten zur Ruhe kam, jemals schlafend erlebt zu haben. Feanáro schien sich hier in der Wildnis, fernab von Tirion, sicherer zu fühlen, als in seinem eigenen Haus, sonst würde er sich niemals so entspannen. Dass er so außerordentlich lange ruhen würde, hätte der Junge jedoch nicht erwartet. Sein Bruder musste schon seit Tagen nicht mehr geschlafen haben, anders ließ sich eine solch tiefe Erschöpfung nicht erklären. „Feanáro“, rief er leise und berührte den anderen Elb nach kurzem Zögern an der Schulter. „Feanáro, wach auf.“ Wie viele Elben schlief auch sein Bruder mit offenen Augen, und es dauerte mehrere Sekunden, bis die trüben Pupillen wieder aufklarten und Bewusstsein und Erkennen in sie zurückgekehrt war. Ruckartig setzte Feanáro sich auf, mit schmalen Augen und in höchstem Maße angespannt. „Keine Sorge“, versuchte Arafinwe ihn zu beruhigen. „Es ist alles in Ordnung, wir haben nur verschlafen...“ „Wo ist Nelyo?“, verlangte sein Bruder zu wissen. Arafinwe starrte ihn an. Er hatte gedacht, Nelyo würde wie immer an der Seite seines Vaters schlafen, doch die Erhebung unter der Decke neben Feanáro, die er für seinen Neffen gehalten hatte, entpuppte sich stattdessen als Satteltasche. Kalte Angst erfasste den Jungen und er sprang auf. „Ich... ich weiß nicht“, erwiderte er unsicher. „Ich habe ihn nicht gesehen.“ „Oh, ich bin solch ein Narr...“, murmelte Feanáro und erhob sich von seinem Nachtlager. Der Vorwurf in seiner Stimme machte Arafinwe ein schlechtes Gewissen, und für einen Moment fühlte er sich persönlich für das Verschwinden des kleinen Jungen verantwortlich. Hätte er Feanáro doch nur nicht dazu gedrängt, ihm Geschichten zu erzählen, die er eh schon unzählige Male gehört hatte, dann wären sie beide zu mehr Schlaf gekommen und früher wach gewesen und hätten auf Nelyo achtgeben können... „Nelyo!“, rief sein Bruder mit lauter Stimme und umkreiste ihr Nachtlager in immer größer werdendem Abstand. „Nelyo!“ In der näheren Umgebung fand sich keine Spur von dem Jungen, doch es lag eine seltsame Spannung in der Luft und selbst die Pferde waren unruhig und scheuten vor ihnen zurück, als die Brüder sich ihnen näherten. Der plötzliche Schrei eines Kindes ließ die beiden Elben schließlich erstarren. Auf Feanáros Gesicht zeichnete sich eine Angst ab, die Arafinwe noch nie bei seinem Bruder gesehen hatte, doch er fing sich schnell wieder und eilte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Arafinwe folgte ihm so schnell er konnte durch das kniehohe Unterholz und stolperte schließlich auf eine Lichtung hinaus, die ähnlich wie ihr nächtliches Lager von Eichen gesäumt war. Ein riesiges Wildschwein, größer als alle Exemplare, die Arafinwe je gesehen hatte, senkte seinen zottigen Schädel zu dem kleinen Jungen hinab, der mitten auf der Lichtung auf dem Waldboden saß, und schnüffelte an seinem Haar. Ein halbes Dutzend Jungtiere scharrten sich hinter der Bestie und die kurzen Borsten, die Arafinwe an Nelyos Kleidung entdeckte, ließen darauf schließen, dass der Junge den Frischlingen näher gekommen war, als es ihrer Mutter lieb gewesen war. „Halt ganz still, Nelyo“, sagte Feanáro mit leiser, sanfter Stimme, um die Tiere nicht unnötig aufzuschrecken. „Dann wird dir nichts geschehen.“ Arafinwe wusste nicht, ob der Junge seinen Vater tatsächlich hörte oder einfach nur starr vor Angst war – doch was es auch war, Nelyo rührte sich nicht. Feanáro kehrte die leeren Handflächen nach oben, wie um signalisieren, dass er keine Gefahr darstellte, und machte einen Schritt auf seinen Sohn zu. Das Wildschwein gab ein plötzliches Schnauben von sich und Nelyos Haare wirbelten in einer kupferfarbenen Wolke um sein Gesicht. Die Schnauze des Tieres stupste die blasse Stirn des Jungen an und Arafinwe wagte es kaum zu atmen. Doch Feanáro ließ sich davon nicht beirren und machte einen weiteren Schritt auf die Stelle zu, an der sein Sohn saß. Dabei sah er dem Tier unverwandt in die Augen. „Wir haben deinen Kindern kein Leid angetan“, sagte er ruhig. „Darum bitte ich dich – verschone du auch das Leben meines Sohnes.“ Die Bache starrte den dunkelhaarigen Elben an, der Schritt für Schritt weiter auf die Lichtung hinaustrat, und machte keine Anstalten, von der Stelle zu weichen. Doch sie griff ihn auch nicht an. Als Feanáro Nelyo schließlich erreicht hatte, ging er langsam vor ihm in die Hocke und zog ihn in seine Arme. Ebenso langsam erhob er sich dann wieder und machte einen Schritt rückwärts, ohne dabei den Blick von dem Wildschwein abzuwenden. Die Bache schnaubte erneut und die Frischlinge quiekten leise wie zur Antwort. Dann schienen die Tiere plötzlich jegliches Interesse an den Elben zu verliehen, und sie wandten sich ab und verschwanden raschelnd im Unterholz des Waldes. Endlich fand Arafinwe seine Stimme wieder. „Nelyo...!“ Er wollte zu Feanáro hinüberrennen, verfiel jedoch nur in einen Eilschritt, denn seine Beine zitterten noch immer vor Angst. „Geht es ihm gut?“, fragte er, als er schließlich neben seinem Bruder zu stehen gekommen war. „Ist er verletzt?“ „Ihm ist nichts geschehen“, erwiderte Feanáro, und abgesehen von einem leichten Zittern in der Stimme war er die Ruhe selbst. Er fuhr zärtlich mit den Fingern durch Nelyos Haare und lehnte die Stirn an die seines Sohnes. „Nelyo, hörst du mich? Alles ist gut, du bist in Sicherheit. ... Nelyo, bitte sieh mich an.“ Die leeren Augen des Jungen richteten sich auf seinen Vater und mit leiser Stimme sagte er: „Atto...?“ „Ich bin hier, Nelyo“, entgegnete Feanáro und eine grenzenlose Erleichterung legte sich auf seine Züge. „Ich bin hier...“ „Atto...“, schluchzte der Junge. Nelyo legte die Arme um den Hals seines Vaters und begann zu weinen, und Feanáro ließ ihn für den Rest des Tages nicht mehr los – nicht, als sie ihre Sachen zusammenpackten und die Pferde sattelten, nicht, als sie weiter dem Pfad in Richtung Westen folgten, nicht, als sie sich am Abend zur Ruhe legten und Nelyo im Schlaf endlich wieder Frieden fand. „Es tut mir so leid“, sagte Arafinwe bedrückt, nachdem Nelyo schließlich eingeschlafen war. Er hatte den ganzen Tag über kein Wort gesagt, sondern war nur schweigend neben seinem Bruder hergeritten, der während ihrer Reise beruhigend auf Nelyo eingeredet hatte und versuchte hatte, den kleinen Jungen wieder zum Lachen zu bringen. Feanáro warf ihm einen fragenden Blick zu. „... es tut mir leid, was mit Nelyo heute passiert ist“, erklärte Arafinwe leise, ohne seinen Bruder anzusehen. „Wenn ich dich letzte Nacht nicht so lange mit meinen kindischen Fragen wachgehalten hätte, dann wäre das nie geschehen...“ Bevor Arafinwe sich versah, war der andere aufgestanden und vor ihm in die Hocke gegangen. „Hör auf, Ingo“, sagte sein Bruder leise. „Hör auf damit, dir selbst Vorwürfe zu machen. Keiner von uns konnte ahnen, was passieren würde, nicht einmal du. – Und sollte dich doch Schuld treffen, dann trifft sie mich ebenso, denn war ich es nicht, der deiner ‚kindischen Wissbegier‘ nachgab und deine Fragen beantwortete, obwohl er ganz genau wusste, dass du diese Geschichten nicht zum ersten Mal hörtest...?“ Er musterte Arafinwe aus warmen, grauen Augen. „Du hast dir nichts vorzuwerfen, Ingalaure – gar nichts.“ Der Junge blinzelte die Tränen fort, die ihm aus den Augen kullern wollten, und nickte. „Gut.“ Sein Bruder stand wieder auf und legte für einen Moment die Hand auf Arafinwes Schulter und drückte sie sanft, dann kehrte er an den Platz neben Nelyo zurück. Bevor Arafinwe in dieser Nacht die Augen schloss, warf er noch einen letzten Blick zu Feanáro hinüber, der wachsam am Feuer saß. Und das Bild seines Bruders vor Augen, dessen Umriss sich dunkel von dem flackernden Orange der Flammen abhob, schlief er schließlich ein. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)