Daylight against twilight von Cassia-Clark ================================================================================ Kapitel 1: At first sight ------------------------- Teil I Broken things At first sight Nothing left for me to say I turn into darkness There is no one to hold me or save me It’s time for me to walk away The music makes me sad Die Türen des Flughafens von Tokio öffnen sich. Kalte Luft strömte den Menschen entgegen, die kurz innehielten, ihre Jacken enger um sich schlangen und dann hinaus traten. Niemand konnte genau sagen, welche Jahreszeit gerade herrschte, denn für den Herbst war es erstaunlich kühl und für den Winter erstaunlich mild. Eines jedoch war klar: Der Sommer war definitiv vorbei. Das Mädchen mit dem welligen blonden Haar wurde kaum beachtet. Einige Blicke streiften sie, verharrten jedoch nie und suchten bereits nach einem Augenzwinkern weiter, nach interessanteren, fremdartiger aussehenden Gesichtern. Denn sie war weder das eine, noch das andere. Das Mädchen blieb stehen. In der einen Hand hielt sie eine schwarze Sporttasche, in der anderen eine abgewetzte Lederjacke. Obwohl draußen nicht mehr als zehn Grad herrschten, trug sie sommerliche Kleidung, welche sie kaum warm halten würde. Alles an ihr war schwarz und bleich, und als sie die getönte Sonnenbrille abnahm, kamen rotgeränderte Augen zum Vorschein. Der Schlafmangel sprach Bände. Sie hatte auf dem vierzehnstündigen Flug von New York nach Tokio kaum Schlaf bekommen und hauptsächlich auf ihrem Laptop gearbeitet. Viel war dabei nicht herausgekommen, aber immerhin war es eine Ablenkung gewesen. Dafür würde sie in den nächsten Tagen nicht viel von haben. Die Blondine trat hinaus aus dem Gebäude. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als die kalte Luft sie traf und begann zu zittern. Eilig zog sie ihre Jacke an. Es half jedoch nicht viel. Deshalb blickte sie sich um, auf der Suche nach einem Taxi. Ein dunkelhäutiger Mann, der gerade in einigen Metern entfernt eine Zigarre rauchte, fing ihren suchenden Blick auf. Er stieß sich lässig von der Motorhaube seines gelben Gefährts ab und schlenderte auf sie zu. „Suchen sie ein Taxi, Miss?“, fragte er in einem gebrochenen Englisch. Das Mädchen seufzte erleichtert auf; wenigstens hatte er gleich erkannt, dass sie keine Japanerin war. Denn ihr Japanisch beschränkte sich auf einen Wortschatz von etwa fünfzig Wörtern, wenn überhaupt. „Ja, bitte.“ Sie rieb ihre fröstelnden Hände und hopste von einem Bein aufs andere. Mit jeder verdammten Minute wurde es kälter. Der Taxifahrer sah ihr an, wie unangenehm es ihr war, in der Kälte auszuharren. Er griff nach ihrem Gepäck, doch sie wehrte dankend ab. „Danke, aber dass nehm ich mit nach vorn. Es ist nicht schwer.“ Der Mann zuckte lediglich mit den Achseln und nahm hinter dem Lenkrad Platz. Sie stieg hinten ein. Sofort breitete sich eine wohlige Wärme aus. Der Fahrer hatte die Heizung angestellt und nun, wo sein Gast langsam anfing aufzutauen, fragte er nach dem Ziel. „Wo solls denn hingehen?“ Die Blondine kramte aus ihrer Jackentasche einen kleinen Zettel hervor, den sie mit zusammengekniffenen Augen entzifferte. Ihre Lippen formten angestrengt die Wörter. „Ähm, ins… Saku… Sakurahotel.“ Der Fahrer nickte und fuhr los. Die Fahrt dauerte vielleicht eine Viertelstunde. Viel zu kurz, nach der Meinung des Mädchens. Sie hätte gern mehr Zeit in dem warmen Auto verbracht. Denn in diesem Hotel befand sich jemand, dem sie auf die eine Art so schnell als möglich gegenübertreten wollte, auf die andere Art jedoch hatte sie Angst davor, ihm zu begegnen. Während der gesamten Fahrt sprach sie kein Wort. Stattdessen starrte sie gedankenverloren aus dem Fenster auf das dämmrige Tokio. Die Ortszeit betrug 19:45. Als das Taxi vor dem erleuchtetem Hotel hielt, stieß das Mädchen einen lautlosen Seufzer aus. Sie griff nach ihrer Tasche. „Wie viel macht das?“, fragte sie mit leiser Stimme. „Zehn fünfzig“, der Fahrer beobachtete das Mädchen verholen. Ihr Gesicht kam ihm merkwürdig bekannt vor. „Nehmen sie auch Dollarscheine? Ich hatte noch keine Zeit, zu wechseln.“ Etwas beschämt reichte sie ihm zwanzig Dollar, lehnte jedoch kopfschüttelnd ab, als er ihr das Restgeld geben wollte. Erstaunt zog er eine Augenbraue hoch. So viel Trinkgeld hatte er noch erhalten, geschweige denn auf einer Fahrt. Und dann fiel ihm ein, woher er das Mädchen kannte. Seine Augen weiteten sich. „Entschuldigen sie! Sie sind doch Cherry, oder? Die berühmte amerikanische Sängerin aus New York?“ Sie lächelte und nickte. Freudig schlug er mit der Hand aufs Lenkrad. „Unglaublich! Wissen Sie, meine zwölfjährige Tochter ist ein Riesenfan von Ihnen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein Autogramm für sie mitzugeben?“ Cherry nickte, zog eine der vielen Autogrammkarten aus einer der Seitentaschen ihres Gepäcks hervor und einen schwarzen Edding. Fragend blickte sie den Mann an. „Wie heißt ihre Tochter denn?“ „Midori Hideki.“ Konzentriert schrieb Cherry den Namen auf die Autogrammkarte und reichte diese dann dem Mann mit einem freundlichen Lächeln. Dann fiel ihr die neue CD ein, von denen sie drei Exemplare mit sich rum schleppte und zog eine davon heraus. Auch diese begann sie zu unterschreiben, jedoch weitaus sorgfältiger. Nicht, weil es besser aussah, sondern einfach, um die Zeit der Begegnung noch ein wenig hinauszuzögern. Der Mann beobachtete sie aufmerksam. Ihm fiel auf, wie betont langsam sie vorging; was auch immer sie in dem Hotel erwartete – sonderlich erpicht darauf, es hinter sich zubringen, war sie nicht. Und weil ihm das blasse, ganz in Schwarz gekleidete Mädchen Leid tat, half er ihr. „Was hat Sie denn nach Japan verschlagen?“ Sie schaute auf. Für einen Augenblick schien sie etwas verwirrt angesichts dieser recht persönlichen Frage, doch dann fing sie sich wieder. Das Lächeln kehrte zurück auf ihr Gesicht. Es war ein seltsames Lächeln; es erreichte ihre Augen nicht, die ausdruckslos blieben und das Lächeln an sich wirkte traurig. Beinah so, als setze sie es nur auf, um ihre wahren Gefühle dahinter zu verstecken. „Ich bin in familiären Angelegenheiten hier“, damit reichte sie ihm die CD. Sie zog die Jacke enger um sich und öffnete ohne weiteres Zögern die Tür. Sie schenkte dem Fahrer einen letzten freundlichen Blick. Dann ging sie mit großen Schritten, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, auf das Hotel zu. Cherry blieb in der Lobby des Hotels stehen. Tief durchatmend blickte sie sich um, während sie ihre Tasche auf dem blank polierten Boden abstellte. In der Lobby standen gemütliche, gleichzeitg jedoch auch modern aussehende Sessel und saubere Glastische, auf denen man selbst mit einer Lupe kein einziges Staubkorn entdecken würde. In der Luft lag der Geruch von schwerem Parfüm und Reinigungsmitteln, der sie leicht würgen ließ. Sie hasste aufdringliches Parfüm, ebenso Raumerfrischer oder Raumdüfte. Auf den Tischen standen dickbauchige Vasen mit Rosen in allen möglichen Farben. Die Blondine entdeckte einen übellaunigen Portier, der die Gäste mit einem aufgezwungen Lächeln begrüßte und ein Zimmermädchen, das mit einem leisen Summen einen Tisch abwischte. Die Gäste schenkten ihr keinen zweiten Blick. Alle trugen sie teuer aussehende Anzüge oder Abendkleider; einige trugen mit wichtiger Miene Aktentaschen mit sich herum und ein Mann mit Dreitagebart saß, ganz in der Nähe der Eingangstüren, an einem Glastisch und tippte gedankenversunken auf seinen Computertasten herum. Sie unterschied sich ganz offensichtlich von den anderen. Es fiel ihr daran auf, wie unsicher sie sich mit einem Mal fühlte. Was tat sie hier überhaupt? Setzte sich einfach, drei Stunden nach der Todesnachricht ihrer Mutter, in den nächsten Flug nach Tokio. Zuvor telefonierte sie mit dem Vorgesetzten ihrer Mutter, mit einem Kollegen, nur, um die aktuelle Adresse dieses Mannes herauszubekommen. Dann packte sie das Nötigste ein und jetzt befand sie sich in einem mit Luxus überladenen Hotel. Und mit keinem Plan im Gepäck. Nur mit der Gewissheit, dass er ihr Antworten liefern konnte. Er. L, der weltbeste Detektiv. Diesen Namen hatte ihre Mutter ihr in ihren letzten Sekunden gesagt. Nach dem Telefonat mit dem FBI und dem Vorgesetzten hatte ihre Mutter mit diesem L als letztes zusammengearbeitet. Sie hatte jemanden beschatten sollen. Das war alles, was man Cherry erzählt hatte. Es hatte sie schon einiges an Zeit und Geduld gekostet, die Adresse von L herauszubekommen. Und sie hatte dem FBI versprechen müssen, diese sofort nach ihrer Ankunft im Hotel „Sakura“ zu vernichten. Cherry hatte nie viel mit dem Beruf ihrer Mutter anfangen können. Bereits, als sie geboren worden war, hatte ihre Mutter für den Geheimdienst gearbeitet und hatte, nach einem Jahr Pause, diesen auch weiterhin behalten. Sie hatte niemals darüber nachgedacht, sich einen Job zu suchen, der ihr mehr Zeit mit ihrer Tochter zusprach. Ihren Vater kannte Cherry nicht. Sie hatte ihn auch, nach den Erzählungen ihrer Mutter, nie kennen lernen wollen. Manchmal war ihre Mutter erst spät in der Nacht Nachhause gekommen, manchmal war sie ganze Tage oder sogar Wochen fortgewesen. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte ein Au-pair Mädchen auf Cherry aufgepasst, für sie gekocht, mit ihr gespielt und mit ihr Hausaufgaben gemacht. Dann, mit zehn, hatte Cherry darauf bestanden, von nun an für sich selbst zu sorgen. Sie hatte demnach früh gelernt, für sich selbst verantwortlich zu sein. Freunde hatte sie nie gehabt. In der Schule war sie immer die Außenseiterin gewesen, das Mädchen „mit den bescheuerten Macken und der bekloppten Mutter“. Sie hatte sich oft geprügelt und war bestimmt von mindestens zehn Schulen geflogen. Irgendwann, als sie mit dem Zählen aufgehört hatte, hatte ihre Mutter sie in eine teure Privatschule gesteckt. Dort hatte sie dann zwar ihren Abschluss geschafft, aber mit den Hänseleien ihrer Mitschüler hatte sie dennoch leben müssen. Und irgendwann hatte Cherry begriffen, dass sie anders als alle anderen war. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern hatte sie die Gesellschaft von anderen Menschen nie gebraucht oder gar haben wollen. Lieber blieb sie für sich, saß still an ihrem Tisch und malte. Sie begann, ihre Umgebung stumm zu beobachten. Das hatte sich nicht geändert; während die Mädchen mit Jungs ausgingen, sich schminkten und sich über den neusten Klatsch und Tratsch austauschten, verbrachte Cherry ihre Freizeit in ihrem Zimmer oder in Parks. Dort beobachtete sie die Menschen. Sie konnte in den meisten Leuten lesen wie in einem offenen Buch. Deshalb wusste sie meist bereits nach den ersten Minuten, was ihr Gegenüber dachte oder von ihr hielt. Meist waren das keine angenehmen Dinge, aber ihr war es gleichgültig. Sie hatte nur soviel mit Menschen zutun, wie es nötig war. Und irgendwann, mit sechzehn, hatte sie an diesem Casting teilgenommen. Es war etwas Kleines gewesen, mit kaum nennenswerten Einschaltquoten, aber gerade das hatte sie gereizt. Denn die Musik liebte sie, seit sie denken konnte. Sie hatte sich das Klavier spielen selbst beigebracht und sobald sie lesen und schreiben konnte, hatte sie ihre eigenen Songtexte geschrieben. In der Schule war sie immer nur mittelmäßig gewesen; das Lernen hatte ihr nie wirklich Freude bereitet, doch das Singen war etwas Unglaubliches für Cherry. Sie hatte das Casting gewonnen. Und dann, Fall auf Fall, hatte ihre Kariere begonnen. Ihr Manager, ein alteingesessener Amerikaner, hatte sich ihrer angenommen und bereits die erste Single war ein voller Erfolg gewesen. Sie produzierte ein komplettes Album, ging auf Tour und die Fangemeinde wuchs stetig an. Ihre zweite Single stand innerhalb weniger Tage nach dem Erscheinen bereits auf Platz 2 der Charts und die Nachfrage wurde größer. Woran das lag, konnte niemand sich wirklich erklären. Cherry jedoch hatte es schnell durchschaut: Es war ihre Andersartigkeit. Zuvor hatte sie ihr das Leben erschwert, nun jedoch, wo sie im Mittelpunkt stand, räumte diese Eigenart ihr die letzten Steine aus dem Weg. Denn eben diese Andersartigkeit faszinierte ihr Publikum. Sie wirkte geheimnisvoll und kaum erreichbar; sie war ein Mysterium, das jeder gerne lösen würde. Sie legte sich ihren Künstlernamen zu, Cherry, und lebte ein Leben, welches sie zuvor nie gekannt hatte. Dennoch war sie immer sie selbst geblieben. Sie gab nur wenig Interwies und es gab kaum Einblicke in ihr privates Leben jenseits des Starrummels; Cherry trennte ihre Arbeit und ihr Leben strikt voneinander. Niemand konnte genauere Informationen über sie abgeben, da sie ihre Persönlichkeit und alles, was damit zutun hatte, im Dunkeln ließ. Selbst ihr richtiger Name war nicht bekannt. Ihre Mutter hatte das Ganze zuerst mit Argwohn beobachtet, doch als sie erkannt hatte, wie gut ihre Tochter alles unter Kontrolle hatte, beruhigte sie sich. Und nun hatte sie auch kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie für längere Zeit in irgendwelche Ermittlungen verstrickt war, denn auch ihre Tochter hatte kaum noch Zeit. Dennoch blieb ihr Verhältnis zueinander stets ohne Probleme. Ihre Mutter war für Cherry die beste Freundin und Vertraute; alles ihre Songs bekam sie als Erste zuhören. Und dann war sie gestorben. Die Nachricht hatte Cherry den Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre starke, selbstbewusste Mutter sollte tot sein. Einfach so, ohne Vorwarnung. Man hatte ihr zu Anfang gesagt, dass dieser Fall sie womöglich ihr Leben kosten würde, doch sie hatte nichts darauf gegeben. Und Cherry hatte sie, wie eigentlich immer, nichts erzählt. Denn auch ihre Mutter hatte Arbeit und Privates strikt voneinander getrennt. In vielerlei Hinsichten waren sie einander sehr ähnlich gewesen. Deshalb stand Cherry nun hier, inmitten einer Großstadt in einem Land, dessen Sitten und Gebräuche ihr ebenso fremd waren wie die Sprache. Dennoch konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Sie war bereits so weit gekommen. Cherry strafte entschlossen ihre Schultern, nahm ihre Tasche und steuerte den Empfangtresen an. Die kleine Japanerin mit der dezenten Schminke begrüßte sie herzlich. „Konichiwa!“ Nur leider auf Japanisch. „Guten Tag“, begrüßte Cherry sie nervös und – natürlich – auf Englisch. Sofort breitete sich ein verständnisvolles Lächeln auf dem Gesicht der Dame aus. Sie verbeugte sich leicht, bevor die Blondine noch etwas hinzufügen konnte. Etwas verwirrt starrte sie ihr Gegenüber an, bis ihr einfiel, dass die Japaner allgemein als überaus höflich bezeichnet wurden. Sofort kehrte die Anspannung zurück. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Die Stimme der Dame war angenehm ruhig. Dennoch war Cherry nervös. Sie hasste es, mit völlig fremden Leuten zu sprechen und selbst, wenn es sich nur um wenige Minuten handelte. Den Smalltalk beherrschte sie nicht. Insgeheim fragte Cherry sich, wie erst sein würde, wenn sie L gegenüberstand. „Ähm… ja. Ich suche nach dem Zimmer 301. Könnten Sie mir sagen, ob dieses zurzeit gebucht ist?“ Selbst in ihren Ohren klang diese Frage seltsam. Und auch die Empfangsdame stutzte. „Warum wollen Sie das wissen?“ Mist. Jetzt musste sie schnellstens eine gute Erklärung aus dem Ärmel schütteln. Eine glaubhafte, am besten. „Äh, ja… wissen Sie…“ Gott, was für ein sinnloses Gestammel. Sie machte sich gleich verdächtig. „Ja?“, hakte die Dame mit gerunzelter Stirn nach. Cherry begann, an den Händen zu schwitzen. Plötzlich schien ihr die vorher noch so sehnlich herbeigesehnte Wärme schwül und stickig. Und dann erschien in ihrem Kopf die Erklärung. „Nun ja, eigentlich ist es mir etwas peinlich… aber ich habe mich mit meinem Freund gestritten und der hat sich dann ins erstbeste Flugzeug gesetzt, welches nach Tokio ging. Ich wollte gern mit ihm sprechen, aber da er mich bestimmt nicht sehen will, wollte ich ihn ohne Ankündigung besuchen. Um ihn zurück nach Hause zuholen. Verstehen Sie?“ Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung nickte die Dame und ihre misstrauische Miene wich. „Ich hab bloß noch diese Hotelreservierung gefunden, so wie sein Reiseziel. Deshalb – könnten Sie wohl kurz anrufen, damit ich weiß, ob er auch wirklich da ist? Nur sagen Sie ihm bitte nicht, dass ich es bin“, fügte Cherry eilig hinzu. Die Empfangsdame nickte verständnisvoll. „Natürlich, keine Sorge.“ Und schon griff sie nach dem Telefon, drückte kurz eine Taste und lauschte dann. Es dauerte eine Weile, bis anscheinend jemand abnahm. Sofort säuselte die Japanerin los. „Guten Tag, Rezeption Hotel „Sakura“. Herr Ryuzaki, ich wollte Ihnen nur ausrichten, dass Besuch für Sie da ist. … nein. Keinerlei Waffen.“ Cherry stutzte. Keinerlei Waffen? Was sollte das denn nun bitte heißen? Man hatte sie doch gar nicht auf Waffenbesitz hin überprüft – überhaupt, sie war nicht überprüft worden. Oder war es etwa elektronisch geschehen, so dass sie es gar nicht erst mitbekommen hatte? Möglich wäre es. „Nun gut, also schicke ich Ihnen den Besuch nach oben. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Ryuzaki? …“ Sie lauschte stumm, griff eilig nach einem Zettel und begann etwas aufzuschreiben. Währenddessen nickte und lächelte sie in einem fort. Cherry fragte sich, wie sie es schaffte, immer so glücklich und zugleich so autoritär auszusehen. Sie selbst sah meist immer erschöpft und unfreundlich aus. „Gut, also frische Erdbeeren. Und den Kühlschrank füllen wir natürlich ebenfalls auf, keine Sorge. Die Erdbeeren mit Sahne? …gut. Ich hab zu danken und einen schönen Abend wünsche ich, Herr Ryuzaki.“ Damit legte sie auf. Cherry wartete ungeduldig ab, bis sich die Dame ihr wieder zuwandte. „Sie können nach oben, Zimmer 301.“ Mit der Hand deutete sie hinter den Tresen. „Nehmen Sie den Aufzug. Zehnter Stock.“ „Danke.“ Sie lächelte der Dame ein letztes Mal zu, bevor sie in die angewiesene Richtung ging. Sie verdrängte ihre aufkommenden Gedanken, zwang die Idee, einfach wieder umzudrehen und Nachhause zurückzufliegen, in die Knie und betrat den wartenden Aufzug. Mit zitternden Fingern drückte sie den Knopf, auf dem unübersehbar „Zehnter Stock“ stand, und die Aufzugstüren schlossen sich. Während der Aufzug lautlos nach oben glitt, versuchte Cherry ihre aufkommende Panik unter Kontrolle zu bringen. Es schien aussichtslos. Ihre Knie fühlten sich an wie Pudding, sie schwitzte und fror zugleich und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war ein Gefühl, als würde man jeden Moment seinem Henker gegenübertreten. Cherry versuchte, das Ganze herunterzuspielen. Sie würde L lediglich einen kurzen Besuch abstatten, um mehr Informationen zu dem Tod ihrer Mutter zu erhalten; vielleicht würde sie ihn über den Fall ausfragen und dann würde sie wieder verschwinden. Eine Sache von höchsten zwei Stunden, nicht länger. Danach konnte sie wieder verschwinden. Der Aufzug hielt. Die Türen glitten auf. Cherry trat auf den Gang hinaus; ihre Schritte wurden von dem Teppich unter ihren Füßen gedämpft. Auf den Zimmertüren stand, in goldenen Lettern, die jeweilige Nummer. Cherry ging langsam, aber entschlossen, den Gang hinunter, während die Türen sich hinter ihr schlossen. Ihre Augen suchten nach der Nummer 301. 298, 299, 300… da war sie. Zimmer 301. Sie verharrte. Aus dem Zimmer drangen gedämpfte Stimmen, doch sie konnte nicht genau verstehen, worüber gesprochen wurde. Also waren noch weitere Menschen anwesend. Innerlich stöhnte Cherry auf – ein Fremder war schon mehr als genug, aber noch weitere? Ihr Entschluss, es so schnell wie möglich hinter sich zubringen, wuchs mit jeder Sekunde. Sie holte ein letztes Mal tief Luft, packte ihre Tasche fester und klopfte. Dann trat sie, ohne eine Aufforderung abzuwarten, ein. Die Stimmen verstummten. Das war das Erste, was Cherry auffiel. Als Nächstes musterte sie den Raum genauer. Sie befand sich in einem schmalen Flur, von dem zwei Türen abgingen. Eine der Türen stand offen und zeigte eine kleine, aber hochmoderne Küche mit allem möglichen Schnickschnack. Doch sie schien nicht allzu oft benutzt worden zu sein, da nirgends Krümel oder Abfälle herumlagen. Cherry fragte sich, was eine Küche brachte, wenn man sie nicht benutzte. Die andere Tür war geschlossen; sie vermutete dahinter ein Schlafzimmer. Langsam trat sie einige Schritte in den Raum hinein und schloss leise die Tür hinter sich. Als sie den Blick hob, entdeckte sie vor sich ein Wohnzimmer. Sie betrat es, sorgsam darauf bedacht, ihr Pokerface keine einzige Sekunde fallenzulassen. Das Zimmer war groß, beinah fast doppelt so groß wie ihr Wohnzimmer zu Hause. Es war in einem frischen Ockerton gestrichen und auf dem hellbraunen Parkett lag ein dunkelgrüner, weicher Teppich. Cherry zählte drei Sessel, zwei Sofas und einen Hocker, die alle um einen mittelgroßen Tisch mit Glasplatte drapiert waren. Wenn man zum Fenster hinausblickte, hatte man einen fantastischen Ausblick auf ganz Tokio. Auf dem Fensterbrett standen Blumen, eine weiße Rose und duftende Jasminzweige. Nun richtete Cherry ihre Aufmerksamkeit auf die sechs Männer, die auf den Sitzgelegenheiten Platz genommen hatten und sie nun, zum Teil misstrauisch, zum Teil jedoch auch einfach verblüfft, musterten. Sie waren unterschiedlichen Alters, sahen jedoch alle aus wie Japaner. Sie trugen Anzüge und wirkten wie frisch vom Dienst. Bis auf ihn. Ihr Blick glitt zu dem Mann auf dem Sessel. Er saß nicht, er hockte regelrecht da und starrte sie aus großen, tiefschwarzen Augen eindringlich an. Die Sitzhaltung sah nicht gemütlich aus, was ihn aber nicht sonderlich zu stören schien. Seine ebenfalls schwarzen Haare waren wirr und sahen aus, als schenke er ihnen nicht viel Beachtung. Er war blass, unnatürlich blass, genauso wie Cherry selbst. Seine Kleidung bestand aus einem weißen Longshirt, einer etwas zu groß aussehenden Jeans und er trug keine Schuhe, sondern war barfuss. Er besaß keine Auffälligkeiten, weder Schmuck noch Piercing, noch Tattoo. Sein eindringlicher Blick ging Cherry durch Mark und Bein. Sie schätzte, dass er kaum älter war als sie, etwa zwanzig bis Mitte Zwanzig. Dennoch schüchterte er sie regelrecht ein, obwohl er bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. Und, seltsamerweise, kam er ihr vertraut vor, wie ein lang verschollener Bekannter. Woher kannte sie ihn? Sie war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Und dann, unerwartet, begann ihr Handy zu klingeln. Es war die Melodie und die ihr daraufhin in den Kopf kommenden Worte, die sie erinnern ließen. „Deep inside in your black eyes There I can see emotions Did you know them? I’m the only one who can see that your heart is fragile That there is something Something, what you don’t want to believe I can see it” Cherrys Herzschlag beschleunigte sich. Ihr Atem kam nur noch stoßweise und sie fühlte sich, als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Der Raum drehte sich, ihr war schwindelig. Mit weit aufgerissenen Augen stolperte sie einige Schritte rückwärts. Den Schwarzhaarigen behielt sie dabei immer im Blick. „N -nein…“, stotterte sie ängstlich. „Das ist… unmöglich!“ Ihr Handy klingelte fröhlich weiter. Es konnte sie jedoch nicht aus ihrer Panik befreien. Mit einem lautlosen Geräusch fiel die Sporttasche zu Boden. Einer der Männer erhob sich, sein Körper war sichtlich angespannt. Vorsichtig trat er um den Tisch herum und blickte das verschreckte Mädchen an. Sagen tat er nichts, dass erledigte einer seiner Kollegen. „Was ist mit Ihnen?“ Cherry schluckte. Das Einzige, was ihr einfiel, war der Traum. Der Traum, in dem sie diesen Mann gesehen hatte. Eine Verwechslung war ausgeschlossen; er war so markant, dass es ihn bestimmt nur einmal auf der ganzen Welt gab. Nach einigen Sekunden kam ihr ein weiterer Gedanke. „Watari…“ Sie sprach den Namen mit einem fragenden Unterton aus, der sich an den Schwarzhaarigen richtete. Der riss seine Augen noch weiter auf, was nun wirklich absonderlich aussah. Hinter ihm, unbemerkt von Cherry, stand ein alter, grauhaariger Mann. Dieser trat bei der Erwähnung nach vorne, in ihr Sichtfeld und blickte das Mädchen mit Verblüffung und Erstaunen an. „Watari?“ Als der Grauhaarige sie bei der Erwähnung des Namens ansah, begriff Cherry. Nicht der Mann in dem Sessel hieß so, sondern der alte Herr hinter ihm. Aber was hatte das zu bedeuten? Und, warum zum Teufel, kam ihr dieser Name nur so verdammt bekannt vor? Was für ein Spiel wurde gespielt und warum konnte sie die Regeln einfach nicht durchschauen? Plötzlich begann sie zu zittern. Die Erkenntnis ergriff sie mit scharfen Klauen, flüsterte ihr die Worte ihrer Mutter ins Ohr. Die einzigen Worte, die sie jemals über L gesagt hatte. „Niemand kennt Ls richtigen Namen oder sein Aussehen; er ist ein einziges Mysterium. Aber wenn er an die Öffentlichkeit tritt, benutzt er einen Vermittlungsmann für das Austauschen von Informationen mit der Polizei. Dieser Mann ist stets verkleidet. Er verfügt ebenfalls über einen Decknamen: Watari.“ Cherry begriff endlich, wer der Schwarzhaarige war. Er war der, nach dem sie gesucht hatte. L blickte sie an. Lost Nothing left for me to say I turn into darkness There is no one to hold me or save me It’s time for me to walk away The music makes me sad I hold your photo in my hands Snowflakes still fall down… I’m lost There is no longer you and I Now there is only me Alone in the despair Don’t know how to live or how to go on Wherever you are, in this moment Give me a sign That you are alright Because I’m lost… Walking in the snow It feels strange Live still goes on, although you’re not here By my side I wish I could cry I hold your photo in my hands Snowflakes still fall down… I’m lost There is no longer you and I Now there is only me Alone in the despair Don’t know how to live or how to go on Wherever you are, in this moment Give me a sign That you are alright Because I’m lost… No flowers on your grave The cold snow covers you up But the sun can’t warm my face You are far away I’m lost There is no longer you and I Now there is only me Alone in the despair Don’t know how to live or how to feel Wherever you are, in this moment Give me a sign That you are alright Because I’m lost… Hosted by Animexx e.V. 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