Sommersonnenwende von Lianait (Götterfunken) ================================================================================ Kapitel 1: Mittsommer --------------------- Mit einem freundlichen, aber professionellen Lächeln schob Allen einer jungen, blonden Frau ihren bestellten Drink über die Theke, während sie ihm zeitgleich einen Geldschein zuschob. „Danke. Behalten Sie den Rest einfach“, sagte sie über die Musik hinweg und erwiderte kurz sein Lächeln, ehe sie sich zu ihren Freundinnen zurückbewegte. „Vielen Dank“, meinte er noch schnell, ehe sie außer Hörweite gelangte. Immerhin war das Trinkgeld sehr gut. An diesem Abend würde Allen nicht so viel davon sehen, denn zum einen endete seine Schicht in einer Viertelstunde, wenn seine Ablösung pünktlich war, und zum anderen war kein Wochenende und somit ohnehin weniger los. Um neben seinem Studium noch ein wenig Geld zu verdienen und sich nicht auf die Unterstützung seiner Mutter festsetzen zu müssen, arbeitete Allen in einer altmodischen Bar, in der nur noch physisches und kein virtuelles Geld angenommen wurde. Heutzutage eine wahrliche Seltenheit, doch ehrlich gesagt, war es Allen wesentlich lieber so. Er war eher ein altmodischer Typ und nutzte virtuelle Räume und Währungen relativ ungern. Zwar war es mittlerweile fast unmöglich um einen Input, ein Implantat im Nacken, das mit dem globalen Netzwerk verbunden war, herumzukommen und für kleinere Studiengänge wie seinen wurden aus Platzgründen lieber virtuelle statt reelle Räume, wie Hidden Virtuality, genutzt, doch wenn er es vermeiden konnte, ließ er seinen Input lieber ausgeschaltet. „Hey“, ertönte mit einem Mal eine weibliche Stimme neben ihm. Allen war ganz in Gedanken versunken gewesen, sodass er sie gar nicht bemerkt hatte. Seine Ablösung, Jillian, musste kürzlich angekommen sein und band sich gerade ihre schwarze Schürze um die Hüfte. „Oh, hey“, erwiderte Allen schließlich. „Heute ist nicht wirklich viel los.“ Sie sah ihn von der Seite her an. „Willst du vielleicht früher raus?“ „Wenn es dir nichts ausmacht? Ich müsste noch ein Exzerpt für morgen fertig schreiben…“ Sie nickte verstehend und verzog das Gesicht. „Ich schieb das auch immer vor mir her.“ Jillian war aus ähnlichen Gründen wie er hier, doch studierte sie Biotechnologie im sechsten Semester und nicht Literaturwissenschaften im zweiten. Allen bedankte sich bei ihr und ging sich umziehen. Keine fünf Minuten später befand er sich vor der Bar mit seinem Handy in der Hand – wie gesagt, er nutzte seinen Input ungern – um seinem besten Freund Milo eine SMS mit der Frage, wie lange er noch arbeiten müsste, zu schreiben. Grade fertig geworden. Museumshaltestelle? Okay. Warte da auf dich, schrieb er daraufhin zurück und setzte sich in Bewegung. Als er seine Hände tiefer in seine Hosentaschen schob, da es doch ungewöhnlich kühl für Ende Juni war, musste er unwillkürlich daran denken, dass sein Vater um dieselbe Zeit vor sieben Jahren gestorben war. Bei der Erinnerung daran überkamen ihn auch heute noch sowohl Trauer als auch Verwirrung. Sein Vater war an einer Blutvergiftung und schließlich Multiorganversagen gestorben, wie die Ärzte seiner Mutter damals mitgeteilt hatten. Trotz all der technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts war es den Ärzten nicht gelungen, ihn zu retten. Auch wenn sein Vater gegen Ende im Fieberwahn gewesen war, kam Allen nicht umhin in seinen letzten Worten eine wichtige Nachricht sehen zu wollen. Doch bis heute wusste er nicht, was ihm „Rotstein Alexander drei drei sieben“ sagen sollte. Nach dem Tod seines Vaters hatte er heftige Alpträume von einem Mann gehabt, dessen Gesicht er nicht erkennen konnte. Nur seine grünen Augen leuchteten ihm aus der Dunkelheit entgegen und schienen ihn überall zu beobachten. Müde rieb Allen sich die Augen. Das alles war schon lange her und nachdem sie umgezogen waren, hatten sich auch allmählich die Alpträume gelegt. Er war so mit seinen Erinnerungen beschäftigt gewesen, dass er erst mitbekam, dass er an der Haltestelle vorbeigelaufen war, als er an der Ampel eine Straße weiter stand. Rasch wandte Allen sich um und ging schnellen Schrittes zu dem geplanten Treffpunkt zurück. Es dauerte nicht lange, da konnte er auch schon Milo ausfindig machen, der sich mit einem Grinsen auf den Lippen auf ihn zubewegte. Ungewollt setzte Allens Herz erst einen Moment aus nur um dann umso schneller weiterzuschlagen. Hör auf, verdammt!, schalt er sich innerlich und das nicht zum ersten Mal. Du solltest nicht so über ihn denken! Er ist dein bester Freund, sonst nichts! Milo und Allen kannten sich schon eine halbe Ewigkeit, waren bereits gemeinsam zur Schule gegangen und teilten sich jetzt, da sie beide studierten eine Wohnung. Milo war es auch gewesen, der ihn nach dem Tod seines Vaters gestützt hatte. Doch die Wahrheit war, dass Allen Milo schon sehr lange nicht mehr als einen bloßen Freund betrachtete. Dennoch hatte Allen für sich selber beschlossen, als ihm seine eigene Situation schließlich klar wurde, Milo niemals etwas davon zu sagen. Es würde nur alles kaputt machen, was ihm viel zu viel bedeutete, da er wusste, dass Milo niemals so über ihn, Allen, denken würde. Es war also einfach ‚besser‘ so. „Hey“, begrüßte ihn Milo und Allen war froh über die paar Momente, die er zuvor hatte, um seinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Wie kommt es, dass du schon fertig bist?“ „Jillian ist früher gekommen und es war nicht wirklich viel los“, entgegnete Allen, als sein Freund nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Es war bereits nach zehn Uhr am Abend und auf den Straßen befanden sich wenig Menschen. An der Haltestelle, an der sie sich befanden, wartete neben ihnen nur noch ein weiterer Mann auf die Bahn. Laut Anzeigetafel sollte diese in zwei Minuten eintreffen. Während sie sich über dies und das, an für sich alltägliche Nichtigkeiten, unterhielten, fiel Allens Blick auf den mit ihnen wartenden Mann. Er konnte sein Alter nicht recht einschätzen, doch irgendetwas an ihm kam ihm ungemein bekannt vor, doch er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war… „… ich hab überhaupt keine Lust, noch diese zwanzig Seiten Text für morgen zu lesen“, meinte Milo voller Unmut und zog so Allens Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Wenigstens musst du nichts mehr schreiben…“, warf er ein. Milo seufzte. „Hatten wir uns nicht eigentlich im letzten Semester vorgenommen, weniger faul zu sein?!“ „Ja, schon, aber sich etwas vornehmen und es dann auch wirklich tun, sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge“, entgegnete Allen. „Hättest du das nicht wenigstens irgendwie schön reden können?“, murrte Milo. „Meine Mutter sagt aber ich soll nicht lügen…“ Er grinste, doch Milos Erwiderung fiel mit der Ankunft der Bahn unter den Tisch. Gemeinsam mit dem anderen Mann bewegten sie sich auf die sich öffnende Tür zu und Milo stieß kurz mit dem Mann zusammen, als er sich zu Allen umdrehte. „Oh, Entschuldigung“, murmelte er dem Mann entgegen. Der Mann ließ ihm und dann auch Allen den Vortritt, doch kaum war Milo eingestiegen, blieb er direkt hinter der Tür stehen und versperrte somit auch Allen den Eintritt, der gegen ihn stieß. „Hey, Milo, was ist los? Warum bleibst du stehen?”, fragte Allen irritiert. Doch Milo antwortete nicht und bewegte sich keinen Millimeter. „Milo?“, fragte Allen erneut und drängte sich an seinem Freund vorbei, als bereits das Piepen der Bahn ertönte, das das baldige Schließen der Türen signalisierte. Doch Milo reagierte noch immer nicht und starrte nur vor sich her, den Mund leicht geöffnet und seine grünbraunen Augen waren geradeaus gerichtet, doch er schien nichts zu sehen und auch nicht wirklich anwesend zu sein. Allen streckte eine Hand nach Milo aus, doch auch als er seinen Freund berührte, reagierte dieser nicht. Und starrte immer noch stur geradeaus. Er fasste ihn fester um die Oberarme herum, unter anderem, um ihn auch von der Tür wegzuziehen, doch kaum hatte er die Hände um seine Arme gelegt, sackte Milo augenblicklich in sich zusammen. „Milo!“, reif Allen geschockt aus, als er verzweifelt versuchte ihn abzufangen. Das Piepen der Türen wurde lauter und verstummte schließlich, als sie sich schlossen, während der andere Mann nicht eingestiegen war. Milos Körper lag schlaff in Allens Armen, als er auf dem Boden der Straßenbahn hockte und kurzweilig Hilfe suchend aufsah. Auf der anderen Seite des Fensters der geschlossenen Tür stand der Mann noch immer. Breit grinsend und mit leuchtend grünen Augen, sah er auf Allen herab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)