L2 von Kathey (Messed up kid that I was...) ================================================================================ Kapitel 3: Three ---------------- "Go on and try to tear me down I’ll be rising from the ground Like a skyscraper" ― Demi Lovato, Skyscraper   Kaidan brauchte exakt sieben Schritte, ehe er bei Rahna und Robert war. Die Biotikerin kniete bereits hilflos neben dem Jungen, ihre Hände schwebten in der Luft, unsicher, was sie tun sollten, tun konnten, was seinen Zustand verbessern oder verschlimmern könnte... Kaidan war sofort bei den beiden, panisch redete er auf Robert ein, der vollkommen apathisch am Boden lag, die Augen weit aufgerissen, während sein Körper wie von selbst zuckte und das Blut weiter aus seiner Nase lief. Es war schon öfter schlimm gewesen, aber das hier war... anders. Er hatte sich übernommen, und nun reagierte er weder auf Berührungen. noch darauf, wenn man ihn ansprach. Als wäre er gar nicht da. "Wir müssen ihn zu den Sanitätern schaffen!" Kaidan richtete sich auf, er wollte ihn hochziehen, huckepack nehmen, wenn es sein musste, aber er musste ihn hier rausschaffen, er brauchte einen Arzt, irgendjemanden, der sich mit Biotikern und ihren Ticks auskannte, er konnte nicht hier bleiben! Rahna machte ihm Platz, sie hatte Tränen in den Augen, während sie die beiden betrachtete. "Hilf mir", bat Kaidan angestrengt, aber noch ehe Rahna auch nur einen Schritt auf ihn zu machen konnte, erklang die Stimme ihres Ausbilders hinter ihnen. "Lassen Sie ihn los, Alenko." Vyrnnus kam gemächlich auf sie zu, mit einem Gesicht, als wäre es ihm egal, dass einer seiner angeblichen Schützlinge hier gerade zusammengebrochen war. Kaidan hätte ihn am liebsten angebrüllt, ihm klar gemacht, dass Robert jetzt Hilfe brauchte und nicht erst, wenn der Turianer endlich einmal hier angekommen wäre. "Sir, Robert muss dringe-" "Hören Sie schlecht, Alenko? Ich sagte, Sie sollen ihn liegen lassen!" Vyrnnus' Stimme wurde lauter, und sein Gang wurde etwas schneller. Rahna versuchte ebenfalls, auf ihn einzureden, aber auch ihr fuhr er über den Mund, hob drohend einen Finger in ihre Richtung. "Geben Sie Ruhe." Robert, der mehr schlecht als recht auf den Beinen war und nur durch Kaidan aufrecht gehalten wurde, der sich seinen Arm um die Schulter gelegt hatte, zuckte und ächzte merklich, ehe er begann, Blut zu spucken. Kaidan sah ihn alarmiert an, und er sollte ihn auf dem Boden liegen lassen? Das war doch wohl ein schlechter Witz! Im Gegenteil, er gab gerade wirklich einen Scheiß darauf, was dieser Kerl ihm gerade befohlen hatte, er zog den anderen Biotiker mit sich. Nur kam er nicht weit. "Drückt Ihnen Ihr fehlerhaftes Implantat aufs Gehör?" Die klauenartige Hand packte ihn am Stoff seines Oberteils und riss ihn zur Seite, stieß ihn von sich, so dass sich Kaidan einen Moment später auf dem Kiesboden wieder fand, den Kopf noch schwummrig vom Sturz. Rahna war sofort bei ihm, als er sich wieder aufsetzte. Vyrnnus stand da und sah ihn einfach nur an, würdigte Robert, der ohne Kaidans Halt wieder zu Boden gestürzt war, keines Blickes, er blickte einfach nur zu ihm, als wolle er ihm allein mit seiner Präsenz beweisen wollen, dass er noch immer das Zepter in der Hand hatte, dass er entschied, wann was auch immer getan wurde. "Um Bunner wird sich schon gekümmert werden. Nicht, dass ich viel Hoffnung habe, dass er durchkommen wird, aber gut..." Mit unglaublicher Ruhe aktivierte er sein Universalgerät, tippte irgendetwas darauf ein und am liebsten hätte sich Kaidan auf ihn gestürzt, aber Rahnas Arme um seinen Körper und sein relativ gut funktionierender gesunder Menschenverstand hielten ihn zurück. Das Mädchen hielt ihn sogar so fest umschlungen, dass er nicht anders konnte, als inne zu halten. Und dennoch wandte er den Blick nicht von seinem Ausbilder ab. "Tu das nicht, Kaidan. Tu das nicht." Ihre Stimme klang tränenerstickt, und ihr Atem ging noch immer nur rasselnd. "Er wird ihn dafür leiden lassen..." "Gehen sie in Ihre Zimmer zurück", brüllte der Turianer plötzlich über den Platz. "Und sehen Sie sich im Vorbeigehen noch einmal genau an, was passiert, wenn man nicht stark genug für diese Station ist." Der gesamte Hass gegen ihren tyrannischen Ausbilder schien sich einen Moment fast schon zu verfestigen, alle blickten zu ihm, wie er Robert schon fast als Beispiel für die offensichtliche Schwäche der Menschen zu präsentieren schien. Oder es zumindest wollte. Denn jeder Blick eines jeden Mitglieds des BAaT-Trainings lag auf dem Turianer und keiner rührte auch nur einen Finger, bewegte sich auch nur einen Millimeter. Es brauchte eine zweite Aufforderung, bis die ersten sich in Bewegung setzten und sich auf zurück zum Hauptgebäude machten. Und nur widerwillig ließ sich Kaidan von Rahna auf die Beine und zurück zum Gebäude ziehen, den Blick auf den Jungen gerichtet, der noch immer zu Vyrnnus' Füßen lag.   Am Abend desselben Tages saß er auf seinem Bett, die Hände im Schoß verschränkt und starrte schweigend in die Richtung, in der Roberts leeres Bett stand. Das Bettzeug war ordentlich zusammengelegt, neben dem Kopfkissen anscheinend irgendein Glücksbringer in Form eines kleinen Shuttles. Wahrscheinlich zum ersten abenteuerlichen Ausflug in den Weltraum. Wenn seine Eltern das vorher gewusst hätten, hätten sie ihn sicherlich nie ins All fliegen, ihn nie hierher kommen lassen. Aber es hatte niemand vorher gewusst, das war das Problem. Niemand hätte ahnen können, welche Ausmaße das hier annehmen würden. Diejenigen, die unter der Führung menschlicher Fachkräfte ihre Biotiken trainierten, hatten vielleicht noch Glück, aber die anderen, wie sie, die sie unter Vyrnnus' mehr als unmenschlichen Methoden leiden mussten... Nun, sie hatten einfach schlicht und ergreifend Pech gehabt. Der Turianer sprengte jegliche Grenze, jede Richtlinie war für ihn nur ein kleines Hindernis, das er überwinden musste, damit er seine Schüler weiter an den Rand einer Klippe treiben konnte. Es war kein Wunder, dass einige schon übergeschnappt waren, denn die Nachricht, die Lehre des Commanders war einfach, aber wirkungsvoll: Lern oder stirb bei dem Versuch. Werde ein Übermensch oder ein seelisches Wrack. Es ist deine Wahl. Nur, dass es nicht ihre Wahl war, es war nicht so, als könnten sie mehr tun, als ums schiere Überleben und ihre geistige Gesundheit zu kämpfen. "Wie geht es dir?" Kaidan riss seinen Blick endlich von Roberts Bett los und sah zu Rahna hinüber, die im Türrahmen stand und ihn besorgt musterte. "Oh, hey...", brachte er leise hervor. Selbst auf diese Entfernung konnte er erkennen, dass ihre Augen noch immer gerötet waren und plötzlich verspürte er den immensen Drang, ihr über die Wange zu streichen. Doch er hielt sich zurück, musterte sie stattdessen einfach nur schweigend. Als würde das helfen, wenn er eine beruhigende Geste versuchen würde. Doch es war Rahna, die ihn schließlich zu trösten versuchte. Schweigend kam sie zu ihm, setzte sich neben ihn auf das Bett und legte die die Hand auf sein Knie, eine Geste, die so einfach wie tröstend zugleich war. Dankbar schloss er einen Moment die Augen, ehe er vorsichtig die Hand auf ihre legte und sie festhielt. Es war verdammt schwer, nicht auf die Schlafstätte gegenüber zu blicken, aber wenn er sich davon nicht losreißen konnte, dann würde er dieses Ereignis wahrscheinlich nie überwinden können. "Den Umständen entsprechend", antwortete er schließlich. Das war nicht wirklich die Wahrheit, aber gelogen war es auch nicht. Es ging ihm nicht gut, aber es hätte wohl alles schlimmer kommen können. Für andere und für ihn selbst auch. Und dennoch war es im Moment wirklich ein Gefühl, das ihn nahezu zu ersticken schien. Wahrscheinlich, weil er sich noch immer fragte, wieso das alles hatte passieren müssen. Aber das war eine Frage, auf die er wohl niemals eine Antwort erhalten würde. Und auch damit musste er umzugehen lernen. "Keine gute Lüge." Kaidans Mundwinkel zuckten, als er Rahnas halb vorwurfsvolle Worte hörte. Ja, das war wirklich keine besonders gute Lüge gewesen, aber was sollte er denn machen? Er war nicht derjenige der am heutigen Tag alles verloren hatte. "Ich sollte seine Sachen zusammenpacken." Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren viel zu tonlos und auch die Biotikerin schien es zu bemerken, an der Hand hielt sie ihn fest, hielt ihn davon ab, aufzustehen und genau das zu tun, was er gerade angekündigt hatte. Kaidan sah wieder zu ihr, fast schon entschuldigend, als hätte er gerade irgendetwas falsch gemacht. Aber Rahna schüttelte nur den Kopf. "Ich helfe dir." Sie drückte noch einmal kurz seine Hand, ehe sie ihn losließ und zu Roberts Kleiderschrank hinüber ging, um seine Sachen zu holen. Kaidan zog die kleine Reisetasche unter dem Bett hervor und stellte sie darauf, nahm sich dann selbiges und den Schreibtisch vor, um sie leer zu räumen. Viel gab es nicht einzupacken, ein paar Bücher und zwei Fotos von Robert und seiner Familie. Sein Vater, ein Mann, wie man sich einen Farmer vorstellte, mit breiten Schultern, muskulösen Oberarmen und einem Vollbart, seine Mutter, eine stämmige Frau mit gelocktem Haar, ein Mädchen, das sicherlich seine große Schwester Abigail war und ein Hund, dessen Namen sich Kaidan nicht hatte merken können. Vorsichtig steckte er die Fotos zwischen die Seiten eines Buches, damit sie nicht knicken würden. Ansonsten war der Schreibtisch beinahe unangetastet und leer. Schweigend griff Kaidan nach einem der Kleidungsstücke, die Rahna vom Schrank her gebracht hatte und faltete es auseinander, um das kleine Modellflugzeug darin einzuwickeln. Es sollte ja nicht kaputtgehen, wenn sie es ebenfalls in die Tasche steckten. Nachdem das erledigt war, sahen sie sich noch einmal um, suchten den Raum nach Sachen ab, die sie eventuell vergessen haben könnten. Aber sie schienen wirklich alles eingepackt zu haben. Kaidan zog mit einem resignierten Seufzen den Reißverschluss der Tasche zu, dann gab es für sie hier wohl nicht mehr allzu viel zu tun. Schweigend starrte er in den nun viel leerer wirkenden Raum. Zwei leere Betten. Das war wirklich kein schöner Anblick. Im Gegenteil. "Diese Drecksäcke!" David kam in den Raum gestürmt, das Gesicht vom Laufen oder seinem angestauten Ärger gerötet, so dass es sogar seinem Haar Konkurrenz machen konnte. Er schmiss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss und lief Kreise im Raum, als wäre er ein Tiger in einem viel zu kleinen Käfig. Nun, dieses Gefühl konnte Kaidan sogar noch gut nachvollziehen. "Was ist los?", fragte er den anderen Biotiker schließlich, was ihn dazu brachte, zumindest einen kleinen Moment inne zu halten, durchzuatmen und dann in Richtung Tür zu deuten. "Die wollen nicht mal seinen Eltern Bescheid geben!" David spuckte diese Worte beinahe schon aus, als könne er nicht fassen, dass jemand wirklich so etwas gesagt hätte. Rahna und Kaidan standen wie vom Donner gerührt da, sie wollten es ihnen nicht sagen? Aber... sie mussten! Seine Eltern hatten das Recht zu erfahren, was mit ihrem Sohn geschehen war! Am Besten hätte es noch das gesamte Universum erfahren! "Sie sagen, es bestünde keine Notwendigkeit. Immerhin ist er ja noch nicht tot!" Das war es ja. Noch nicht, aber er war noch immer so kurz davor, dass es Kaidan die Brust zuschnürte, wenn er nur daran dachte, was ihnen die Ärzte beim Besuch gesagt hatten.   Sie mussten ein paar Stunden vor der Krankenstation warten, ehe man ihnen überhaupt sagte, wie es im Robert stand. Und noch einmal eine ganze Weile, bis sie sie ihn auch sehen ließen. Zumindest für einen Augenblick. Die erste Frage der Ärzte war, ob sie denn "Abschied nehmen wollten". Die drei sahen  fassungslos in das Gesicht des Mannes, der sie das gefragt hatte, Rahna schlug bereits die Hände vors Gesicht , als er sie - zumindest auf seine sehr seltsame Art und Weise - beruhigen wollte. Der Zustand des Jungen sei sehr kritisch, aber er sei am Leben. Noch. Denn wenn er nicht in eine medizinische Einrichtung gebracht wurde, die besser ausgerüstet war als diese hier auf Jump Zero, dann würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis das ohnehin schon fehlerhafte Implantat noch mehr Schäden an Roberts Gehirn anrichtete. Falls dergleichen denn überhaupt noch möglich war. Anscheinend hatte sich das Implantat langsam aber sicher in einen der Hirnlappen gegraben und einige Zellen und Blutgefäße beschädigt, die das häufige Nasenbluten und alles weitere ausgelöst haben mussten. Es war wohl ein Wunder, dass es noch nicht schlimmer gekommen war... Aber was nicht war, konnte anscheinend dennoch noch immer werden. Sie alle fragten sich wohl, warum sie sich verdammt noch mal nicht auf dieser Station um die Biotiker kümmern konnten, wenn sie hier lebten - oder wohl eher ihr Dasein fristeten. Was nützte denn diese Station, wenn sie nicht einmal dafür ausgerüstet war. Aber wahrscheinlich war es Conatix oder der Allianz oder dem gesamten Universum schlichtweg egal  gewesen, ob den Kindern und Teenagern hier etwas passierte. Eine provisorische Krankenstation hatten sie, aber mehr auch nicht. Nichts, was wirklich auf die Bedürfnisse der Biotiker zugeschnitten war. Das war mehr als lächerlich! Und nun mussten sie um Roberts Leben bangen, während es dieser gesamten Station wirklich egal war. Schlicht und ergreifend egal! "Wohin bringen Sie ihn?" Rahna hatte sich mittlerweile zumindest wieder etwas gefangen und blickte zu den Ärzten, von denen einer ein Salarianer war, ein recht echsenähnlicher Außerirdischer mit großen schwarzen Augen. Seine Haut war mit grünen Flecken gesprenkelt und er tippte ab und an hektisch auf seinem Universalgerät umher, wahrscheinlich wartete er auf Nachricht von dem besser ausgerüsteten Krankenhaus am anderen Ende dieses Sonnensystems oder... Kaidan wusste es nicht. Doch was auch immer es war, er hoffte, dass sie sich beeilen würden. Es ging hier immerhin um das Leben eines Freundes! Eines sehr guten Freundes. "Leider dürfen wir Ihnen darüber keine Auskunft geben", war die kaltschnäuzige Antwort. "Prinzipiell hätten wir Ihnen nicht einmal sagen dürfen, was ihm fehlt. Aber man wird sich dort um ihn kümmern, Sie müssen sich also keinerlei Sorgen machen." Keinerlei Sorgen. Einen Moment lang hatte Kaidan Sorge, dass David dem Salarianer die Finger um den dürren Hals legen würde, um ihm zu zeigen, wie es aussah, wenn er sich eben keine Sorgen machte. Aber der Biotiker hielt sich zurück, sah lediglich zu Kaidan hinüber, der ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. "Er wird nicht ansprechbar sein, wir mussten ihn zu seinem eigenen Besten in ein künstliches Koma legen. Aber gehen Sie ruhig zu ihm." Das ließen sie sich nicht zwei Mal sagen. Schweigend traten sie in das kleine, separate Zimmer, in dem Robert im Moment untergebracht war. Sein Gesicht war leichenblass, er war an einem Beatmungsgerät angeschlossen, um die Sauerstoffversorgung zu gewährleisten. In seinem Arm steckten einige Nadeln, deren Schläuche zu Flüssigkeiten in einem Tropf führten. Betreten versammelten sich die drei um das Bett, betrachteten ihn, wie er fast schon leblos dalag, und Rahna nahm vorsichtig seine Hand. "Sie ist eiskalt." "Wir sind Laborratten für die." Davids Stimme klang hohl, ein bitterer Zug zeichnete sich um seinen Mund ab, die Hände waren zu Fäusten geballt. Einen Moment lang erinnerte sich Kaidan an das andere leere Bett in ihrem gemeinsamen Zimmer. Er wollte sich gar nicht vorstellen, dass David das alles schon einmal hatte durchmachen müssen. "Wenn sie uns nicht mehr brauchen, werden wir entweder umgebracht oder an den Rand des verschissenen Universums geschifft." "Shh." Rahna blickte David vorwurfsvoll an, und Kaidan war sich sicher, dass sie ihn verstand, aber das waren Worte, die im Moment nicht halfen. Die Vorstellung, dass Robert sterben könnte, machte sogar alles nur noch einmal so schlimm und noch einmal so unerträglich. "Dann zeigen wir denen, dass wir uns nicht  wie Ratten behandeln lassen." Kaidan trat neben Rahna, sah, wie sie Roberts Hand in den ihren hielt, wie sie verzweifelt versuchte, die Tränen zurück zu kämpfen. "Denn es wird nicht besser werden. Es war nie besser." Vyrnnus würde sie weiter so behandeln, als wären sie damals als Neandertaler besser in ihren Höhlen geblieben. Aber so war er eben einfach. Er war diese Art von Turianer, der ein bissiges Vergnügen darin fand, sie zu piesacken und zu quälen. Aber nicht jeder auf dieser Station war so. Nicht jeder Turianer war so. Das wusste er, das wusste er einfach. Und deswegen würde er sich nicht von Vyrnnus brechen lassen. "Ich werde das durchstehen. Egal, was noch kommen wird. Egal, was ich noch ertragen muss. Ich werde es für Robert durchstehen." Irgendwann würde das alles ein Ende haben, und er würde diesen Tag erwarten. Das hier war nicht für ewig, und er hatte nicht vor, diese eine Person  über sein Leben bestimmen zu lassen. Die beiden anderen nickten in stiller Zustimmung, sie hatten nicht vor, sich allzu leicht aufzugeben oder sich zerstören zu lassen. Das hier mochte schwer sein, nahezu unerträglich, aber sie hatten einen Grund zu kämpfen. Für ihre Freunde und sich selbst. Und auch, wenn es schwierig war... irgendwie würden sie es schon schaffen. "Wir sehen uns wieder", versprach er Robert leise, ehe er sich schweren Herzens von ihm löste. Rahna schluchzte leise auf, ehe sie die Hand, die sie bis eben fest umschlossen gehalten hatte, wieder zurück auf das Bett legte. David murmelte etwas Unverständliches, ehe er sich an die anderen wandte. "Ich will noch mal mit den Ärzten reden. Ich komme später nach." Einen Augenblick noch sahen sie alle zu Robert und verabschiedeten sich in drückender Stille,  ehe sie ihrer Wege gingen.   "Liebling?" Kaidan öffnete die Augen wieder, er musste sie unbewusst geschlossen und den Kopf in Richtung Tischplatte gesenkt haben, als er sich mit beiden Händen die Schläfen gerieben hatte. Sein Kopf schien im Moment explodieren zu wollen, seit dem Vorfall heute war es nur noch schlimmer geworden. Viel schlimmer. "Entschuldige", meinte er leise und blickte wieder auf, sah direkt in das besorgte Gesicht seiner Mutter, das mit einer ziemlich dürftigen Auflösung auf dem Bildschirm vor ihm dargestellt war. Es tat gut, sie zu sehen. Sehr gut sogar. Das letzte Mal, dass sie hatten sprechen können, war lange her, und auch, wenn sein Vater heute nicht dabei sein konnte, so war es dennoch eine wirkliche Erleichterung, ein bekanntes und geliebtes Gesicht zu sehen. Zwar war die Kommunikation mit der Familie nur einmal im Monat gestattet, aber Kaidan hatte einfach heute mit ihr sprechen müssen. "Was hattest du gesagt?" "Ich habe gefragt, ob es dir gut geht." Aber angesichts ihres Gesichtsaudrucks hatte sich diese Frage wohl schon erledigt, sie hatte gerade festgestellt, dass dem wohl augenscheinlich nicht so war. Kaidan wollte gar nicht wissen, wie er aussah. Wahrscheinlich gingen seine Augenringe bis zu den Kniekehlen, wahrscheinlich sah er blass und abgemagert aus. Aber genau das war nun einmal seine momentane Verfassung. Und sie passte zu seiner Gefühlslage. "Klar, um mich brauchst du dir keine Sorgen machen, Mom." Wenn du nur wüsstest... Aber es würde ihr das Herz brechen, würde er ihr sagen, wie er sich wirklich fühlte. Das konnte er nicht über sich bringen. Schon gar nicht, wenn sein Vater nicht bei ihr war, um ihr eine Stütze zu sein und sie zu trösten. "Ganz sicher? Du siehst so erschöpft aus, da mache ich mir Sorgen..." "Jaaa", meinte Kaidan so locker wie möglich und zuckte leicht die Schultern, während er sich ein klägliches Lächeln abrang, das hoffentlich irgendwie echt aussah. "Ich hab' gestern nicht sonderlich gut geschlafen." Eigentlich hab ich die ganzen letzten Tage kaum geschlafen und heute wird es wohl nicht anders sein. Aber auch diesen Gedanken schluckte er hinunter, das konnte er nicht sagen. Er konnte einfach nicht. Auch, wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass sie ein Shuttle schicken würde, um ihn von hier weg zu holen. Aber was nicht sein sollte, sollte wohl einfach nicht sein. Und das Einzige, was er für seine Eltern tun konnte, war, sie davor zu bewahren, vor Sorge kaputt zu gehen. "Oh", hörte er seine Mutter lediglich antworten. Vor seinem inneren Auge konnte er geradezu sehen, wie sie das Taschentuch, das sie sicherlich in den Händen hielt, durchknetete und faltete und einfach nervös damit spielte. "Und wie geht es deinen Freunden? Und diesem netten Mädchen, von dem du erzählt hast? Rahna?" Treffer, versenkt. Unbewusst hatte sie gerade das schmerzhafteste Thema ausgewählt, das sie hatte anschneiden können. Aber gut, nun musste er das durchstehen. Augen zu und durch. "Denen geht es gut. Allen." Wie sehr es in der Brust schmerzte, sie zu belügen. Und sich selbst. Aber was sollte er sonst sagen? Na ja, Robert liegt im Koma und wird wohl selbst das Sprechen neu lernen müssen, wenn er wieder aufwachen sollte. Und Rahna weint schon den ganzen Tag, ohne, dass ich sie trösten kann. Und David hat vorhin einen Stuhl gegen die Wand geworfen. "Wir treffen uns nachher wieder zum Kartenspielen." Scheinbar war sie nun etwas beruhigt, jedenfalls lächelte sie zufrieden, als sie hörte, dass mit seinen Freunden alles in Ordnung war. Gut, dann hatten die Lügen wenigstens einem guten Zweck gedient. Mehr oder minder. "Und... du und dieses Mädchen, seid ihr...?" "Mom!" Seine jetzige Bestürzung musste er nicht einmal spielen, was fragte sie denn da? Das ging doch nicht! Als ob er und Rahna, also Rahna und er... Nein, nein, wie kam sie denn auf diesen Gedanken, das war doch absurd! "Das erste Mal, dass ich dich heute richtig lächeln sehe", hörte er seine Mutter liebevoll sagen und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er bei der Vorstellung wirklich gelächelt haben musste. Nun ja, vielleicht irgendwann? Es war... ein netter Gedanke. Die Durchsage, dass die Zeit abgelaufen war, ertönte, und Kaidan sah seine Mutter ernst an. Würde sicher eine Weile dauern, bis er es wieder sagen konnte. Wenn überhaupt. "Ich liebe dich, Mom." Er konnte den Schmerz in den Augen seiner Mutter sehen, als er das sagte. Sie wusste, dass er gelogen hatte, richtig? Sie musste es wissen. "Ich dich auch, Kaidan. Ich dich auch."   Als er zurück ins Zimmer kam, war er von dem geschäftigen Treiben überrascht. Ein paar Leute aus seiner Klasse waren hier, diejenigen, mit denen er sich relativ gut verstand, sie saßen auf dem Boden oder den wenigen Möbelstücken. Rahna saß wieder auf seinem Bett, und berichtete wohl allen von dem, was vorgefallen war. Die Leute hingen geradezu an ihren Lippen, nicht aus schierer Neugier, denn in vielen Gesichtern spiegelte sich auch Sorge wieder, Sorge um Robert, Sorge um sich selbst. Kaidan setzte sich nicht zu ihnen, er schenkte lediglich Rahna einen Blick, die ihn aufmunternd anlächelte. Und es half. Irgendwie war ihm jetzt trotz allem etwas leichter zumute. Jetzt konnte er daran glauben, dass sie es schaffen würden. Alle zusammen. Und ihre kleine Gruppe war heute um ein gutes halbes Dutzend gewachsen. Die anderen gingen nicht, als es dunkel wurde. Die schliefen auf dem Boden, auf den Stühlen, aber sie blieben hier. Keiner von ihnen wollte jetzt alleine sein. Kaidan stieg über ein paar der Leute. Rahna war auf seinem Bett eingeschlafen, zusammengerollt wie eine Katze, das schwarze Haar hing ihr ins Gesicht. Vorsichtig zog Kaidan die Decke unter ihr hervor und deckte sie zu, strich ihr ein paar Strähnen hinter die Ohren, ehe er zurück zum Fensterbrett ging und sich darauf setzte. Schweigend blickte er auf den großen Innenhof, der von Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde. Wie ein Hochsicherheitstrakt. "Kannst du nicht schlafen, Kanada?" David stand von seinem Bett auf und kam zu ihm, ließ sich ihm gegenüber nieder und lehnte den Kopf gegen das kühle Fensterglas. Er sah genauso fertig aus, wie sich Kaidan fühlte. Vyrnnus mochte nicht sein Ausbilder sein, aber er fühlte mit ihnen, er sorgte sich mit ihnen. Und er schien auch genauso mit ihnen zu leiden. "Noch nicht." Kaidan zog ein Knie an und legte den Arm darauf, das andere baumelte über den Rand des Fensterbretts. Seufzend riss er den Blick von dem Platz vor seinem Fenster los und sah wieder zu David. "David. Sagst du mir, wem das leere Bett gehört hat?" Der rothaarige Biotiker verzog das Gesicht, augenscheinlich war schon die Erinnerung daran zu viel für ihn. Kaidan hatte lange mit sich gerungen, ob er fragen sollte, aber was machte es schon für einen Unterschied? Mehr als "Nein" konnte David ja nicht sagen. "Meinem Zwillingsbruder." In der Ferne hörten sie ein Raumschiff starten. Eines, das wohl einen Freund von ihnen von hier fort brachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)