Brüder von Alaiya (Shojis Geschichte) ================================================================================ Teil I - Monster ---------------- Itabashi, Tokyo - 14.4.2001 Der Geburtstagkuchen verschwand Stück für Stück von der Servierplatte, während sich die Kinder am Tisch rege unterhielten. Es war eine süße Schokovanilletorte, die Makuta Hitomi am Vorabend für die Geburtstagsfeier ihrer beiden Söhne, , die beide am Kopf des Tisches saßen, zubereitet hatte. Die Zwillinge Shoji und Kenji waren am vorherigen Donnerstag acht Jahre alt geworden und hatten zur heutigen Feier – es war Samstag – einige Klassenkameraden eingeladen, die nun auf Stühlen und Hockern um den Tisch herum saßen. Es waren ausschließlich Jungen, was vielleicht daran lag, dass die Kinder in der dritten Klasse langsam, aber sicher anfingen sich mit dem anderen Geschlecht zu streiten, vielleicht aber auch daran, dass die meisten Besucher aus Kenjis Freundeskreis, um genauer zu sein aus seiner Fußballmannschaft kamen. Auch wenn die beiden Geburtstagskinder eineiige Zwillinge waren und sich zum verwechseln ähnlich gesehen hätten, hätten sie nicht unterschiedliche T-Shirts getragen, so wäre es doch auch mit derselben Kleidung nicht schwer gewesen, sie auseinander zu halten. Beide Jungen hatten etwas struppiges, schwarzes Haar und graue Augen, doch während Kenji sich angeregt mit einigen der anderen Kinder unterhielt, schwieg Shoji und hatte seinen Blick dem Stück Kuchen zugewandt, das auf seinem Teller lag. So waren die Brüder immer schon gewesen. Der eine war aufgeschlossen, der andere eher in sich gekehrt. Im Kindergarten hatte man es noch abgetan – vielleicht stand Shoji einfach nur im Schatten seines Bruders, hatten die Erzieher gemeint. Doch seit sie in der Grundschule in verschiedene Klassen gingen, war es nur allzu deutlich, dass die beiden charakterlich vollkommen verschieden waren. Kenji war eher, wie man es von einem Jungen erwartete. Er war aktiv, manchmal ein wenig aggressiv und dickköpfig, erprobte ständig seine Grenzen, schloss aber auch schnell Freundschaften und war alles in allem ein guter Teamspieler. Shoji war ruhig, lieb und bemühte sich oft, es allen recht zu machen. Während sein Bruder sich ab und an mit anderen Jungen raufte, hatte er nicht einmal eine nennenswerte Auseinandersetzung mit einem seiner Mitschüler gehabt. Doch auch wenn er sich nur selten mit anderen stritt, so war er auch zu ruhig und zurückgezogen, um Freunde zu zu finden. Selbst, als er zusammen mit seinem Bruder einige Male zu dessen Fußballtraining mitgekommen war, hatte er sich schwer getan, sich mit den anderen Jungen anzufreunden oder auch nur ein Gespräch mit ihnen zu beginnen. Deswegen waren die meisten der Jungen hier auch Kenjis Freunde, auch wenn einige von ihnen dennoch Geschenke für den zweiten Bruder mitgebracht hatten, der sie – zumindest offiziell, denn eigentlich hatte er nur Kenji einen Gefallen getan – eingeladen hatte. Kaum war der Kuchen aufgegessen, stürmten die meisten der Jungen ins Wohnzimmer, wo die Geschenke lagen. Einzig Shoji blieb am Tisch sitzen. „Willst du nicht auch herüber gehen, Sho-chan?“, fragte seine Mutter, Makuta Hitomi den Jungen und strich ihm durchs Haar. Das Kind sah auf. „Soll ich dir nicht noch beim Abräumen helfen?“ „Nein“, erwiderte die Mutter. „Es ist dein Geburtstag. Du solltest etwas Zeit mit deinen Freunden verbringen.“ Dabei sah sie den Jungen mit merklicher Besorgnis an. Dieser seufzte, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Okay“, murmelte er, wenngleich nicht sehr begeistert und ging ebenfalls ins Wohnzimmer hinüber, wo die anderen Jungen bereits um den niedrigen Tisch versammelt saßen, auf dem die Geschenke lagen. „Hey, Shoji!“, rief einer der anderen Jungen, Fuji, aus. Er nahm ein dünnes Geschenk von dem Stapel und überreichte es dem Jungen. „Ken hat gemeint, du würdest viel lesen, daher... Ähm... Ja... Ich dachte vielleicht kannst du etwas damit anfangen.“ Allein an der Form des in bunten Papier verpackten Geschenks war leicht zu erkennen, dass es sich um ein Buch handelte. Shoji sah auf das Geschenk hinab. „Danke“, sagte er leise. Mit dem Päckchen in der Hand setzte er sich ebenfalls an den Tisch, wenngleich er keinen der anderen Jungen direkt ansah. „Das ist cool!“, freute sich sein Bruder derweil, während er eine etwas eingedellte Verpackung von ihrem Geschenkpapier befreite. „Habe ich gebraucht gefunden“, erklärte Masaki. „Daher hat Mama erlaubt, dass ich es dir kaufe... Ich hoffe es stört dich nicht, dass es gebraucht ist.“ Kenji grinste. „Nein, kein bisschen.“ Er legte das Geschenk, ein Videospiel für die N64, wie nun auch alle anderen erkennen konnten, zur Seite. „Danke, Masa!“ Dann wandte er sich wieder den anderen zu. „Hier.“ Der relativ hellhaarige Nobuo reichte ihm nun sein Geschenk. „Karten!“, stellte der Geburtstagsjunge fest, noch bevor er das Paket ausgepackt hatte. „Jo“, bestätigte der andere. „Aus der neuen Edition.“ „Cool!“ Auch dieses Geschenk war schnell von seinem Papier befreit und tatsächlich kam ein Päckchen der Karten, die Kenji und einige der anderen Jungen sammelten, hervor. Noch bevor Kenji dazu mehr sagen konnte, fiel Nobuo etwas ein und er holte ein weiteres Paket derselben Größe hervor und drückte es Shoji in die Hand. „Dir habe ich auch welche geholt, Shoji... Ich dachte, du könntest dann ja auch einmal mit uns spielen.“ „Danke“, flüsterte Shoji erneut und sah auf das Geschenk, ohne es auszupacken. Die Wahrheit war, dass er sich mit diesem Spiel nicht anfreunden konnte. „Ich glaube das wird nicht, Nobuo“, meinte nun Kenji. „Nii-chan mag keine Digimon.“ Der andere Junge sah ihn an. „Wieso nicht?“ Kenji zuckte nur mit den Schultern. „Weiß nicht genau.“ Dann grinste er auf einmal. „Ich glaub er findet sie gruselig.“ Daraufhin wurde sein Bruder rot. „Das stimmt nicht!“, protestierte er, auch wenn die Worte seines Bruders eigentlich der Wahrheit entsprachen. Als er sich bewusst wurde, dass nun auch die zwölf anderen Jungen zu ihm sahen, senkte er seine Stimme. „Nein, das stimmt nicht“, murmelte er. „Es ist nur... Mich interessieren solche Monster nicht.“ Wieder zuckte Kenji mit den Schultern. „Mit Pocket Monsters kann er auch nichts anfangen.“ Nobuo jedoch gab nicht so schnell auf. „Du solltest es echt mal probieren“, meinte er mit begeistertem Tonfall. „Digimon sind total cool! Agumon ist total cool! Und War Greymon erst!“ „V-mon ist viel cooler!“, warf Takayuki ein. Akihiko, der größte der Jungen, dessen dunkles Haar ihm leicht ins Gesicht hing, grinste auf einmal und nahm Takeru, der einen guten Kopf kleiner als er war, in den Schwitzkasten. „Take hier muss Patamon total toll finden, was?“ Der Kleinere wehrte sich und schaffte es unter Akihikos Arm wegzutauchen. „Blödsinn“, widersprach er. „Nur weil die Heulsuse im Anime meinen Namen hat, find' ich die gelbe Fledermaus nicht toll. Und Engel sind außerdem öde!“ „Also Holy Angemon finde ich cool“, meinte Fuji und verschränkte die Arme. So ging es noch eine Weile weiter, während Shoji nun wieder auf das Geschenk in seiner Hand schaute und es mit einem leisen Seufzen auspackte. Es war eines dieser Starterpakete des Kartenspiels. Digital Monsters Card Game – Starter Vers. 4 stand am unteren Rand des aufgedruckten Bildes geschrieben. Ansonsten war eine seltsame, schwarz gepanzerte Kreatur, aus deren Rücken rote Flügel wuchsen, auf dem Paket zu sehen. Sie stand auf allen Vieren und aus ihren Füßen wuchsen riesige, goldene Krallen hervor. Shoji legte das Paket zur Seite. Nein, solche Monster mochte er nicht. Mit den weiteren Geschenken sah es ähnlich aus. Kenji bekam zwei weitere Spiele, von denen eins für den WonderSwan war, und ebenso weitere Karten, während die meisten der Jungen, die auch für Shoji Geschenke besorgt hatten, diesem Bücher schenkten. Einzig Fumio hatte ihm ein T-Shirt des FC Tokyo besorgt, was zumindest nicht ganz gefehlt war, da sich Shoji, auch wenn er selbst nicht gut spielte, sich durchaus gerne Fußballspiele ansah. Nachdem die Geschenke ausgepackt waren, hielt Kenji das Spiel, das Masaki ihm geschenkt hatte, in die Luft. „Wollen wir eine Runde spielen?“, schlug er vor. „Kling gut!“, stimmten einige der anderen Jungen zu, so dass Kenji das Spiel ohne weiteres Zögern in die N64 steckte, die an dem schwarzen Röhrenfernseher angeschlossen war, der in der Regalwand auf der der Tür gegenüberliegenden Seite des Raumes stand. „Hier, du solltest zuerst spielen“, meinte Takeru, als Kenji weitere Controller anschloss und in die Gruppe reichte. Er sah Shoji erwartungsvoll an. Unsicher nahm dieser den Controller entgegen. „Ich kann das nicht wirklich“, meinte er. „Versuch's doch zumindest“, erwiderte Takeru. Shoji seufzte und wartete, während nun auch Masaki und Fumio Controller in den Händen hielten. Da Kenji den ersten Controller in der Hand hielt, war es an ihm das Spiel zu starten und wenig später rasten zwei Affen, ein Bär und ein Hahn in verschiedenen Gokarts über eine Rennstrecke im Dschungel. Der Bär, den Shoji spielte, fiel ziemlich schnell zurück, da sein Kart beständig vor Bäume und andere Hindernisse fuhr. „Hier“, meinte er, als er nach der dritten Runde als letzter ins Ziel kam, und drückte Fuji seinen Controller in die Hand. Damit rückte er selbst etwas zurück und nahm eins der Bücher, das er bekommen hatte vom Stapel der Geschenke und öffnete es. Es war der zweite Band der japanischen Harry Potter Übersetzungen und auch wenn er den ersten Band, wenngleich er davon gehört hatte, noch nicht gelesen hatte, begann er zu lesen. „Du, Sho-chan“, schreckte ihn die Stimme seines Bruders jedoch nach nur wenigen Zeilen auf. „Ja?“, fragte er zögerlich. „Kann ich die Karten haben, die Nobuo geschenkt hat? Du spielst doch nicht damit, oder?“ Shoji zuckte mit den Schultern. „Von mir aus“, meinte er halblaut. „Danke, Nii-chan“, grinste sein Bruder daraufhin breit und nahm die kleine Schachtel an sich, nur um sie direkt zu öffnen und die Karten darin durchzugehen. Derweil zögerte Shoji. „Du, Nii-san?“, fragte er dann leise. Kenji sah ihn fragen an. „Ja?“ „Welches... Welches Digimon magst du am liebsten?“ „Warte“, antwortete sein Bruder und krabbelte zur anderen Seite des Tisches, wo er die anderen Karten, die er geschenkt bekommen hatte hingelegt hatte. Aus einer der Schachteln holte er die Karten heraus, um aus dem Stapel eine einzelne Karte hervorzuziehen. Mit dieser in der Hand krabbelte er zu Shoji zurück. „Das hier.“ Er hielt die Karte hoch, so dass sein Bruder sie sehen konnte. Es zeigte eine Kreatur, die nach einer Mischung aus Hund und Hase aussah, graues Fell und sehr lange Klauen an seinen Vorderpfoten hatte. Kenji grinste. „Das ist Gazimon.“ Teil I - Geister ---------------- Itabashi, Tokyo – 23.11.2001 „... für einen weiteren Bericht über die Anomalie, die sich in Westen Shinjukus immer weiter ausbreitet. Zum jetzigen Zeitpunkt breitet sich die unidentifizierte Masse weiter vom Zwischenraum der Türme des Tokyo Metropolitan Government Bürogebäudes aus. Ähm... Unsere Reporterin Toki Anamu ist für sie live vor Ort...“ Das Bild wechselte zu einer kurzhaarigen Reporterin, die vor einer Brücke auf der Ostseite der Shinjuku JR Station stand. Hinter der Brücke war diese seltsame Masse zu sehen, die einige Medien begonnen hatten D-Reaper zu nennen, während auf der Straße direkt hinter der Reporterin Militärfahrzeuge fuhren. Die Reporterin berichtete davon, wie sich die Masse immer weiter ausbreitete und dass das Militär seine Einsatzzentrale deswegen verlegen musste, ehe man ins Studio zurückschaltete und Interviews zeigte. Shoji saß vor dem Sofa im Wohnzimmer auf der Familie. Die Situation machte ihm Angst. Er wusste nicht, was diese seltsame Masse war, woraus sie bestand und wie sie überhaupt hierher gekommen war, doch sie machte ihm Angst. Es konnte nichts gutes sein und wenn das so weiter ging, da war er sich sicher, würde sie die Stadt nach und nach verschwinden. Es war gerade einmal ein paar Tage her, dass diese Masse in Tokyo aufgetaucht war und seither hatte sie sich bereits um mehr als ein sechsfaches ausgedehnt. Immer mehr Leute wurden evakuiert und auch wenn wenn das Krisengebiet bisher noch einige Kilometer von ihnen entfernt war, so würden vielleicht auch sie irgendwann von hier wegmüssen. Wenn dieses seltsame... Was auch immer es war... Wenn es sie nicht in ihrem Schlaf verschlingen würde. In anderen Nachrichtensendungen hatte er die seltsamen Wesen gesehen, die die rote Masse umschwärmten und sie zu schützen schienen. Sie sahen aus, wie die Monster aus einem Horrorfilm. Die Monster, von denen er Alpträume bekam. So war es kaum verwunderlich, das er in den letzten Nächten immer Alpträume gehabt und kaum Schlaf gefunden hatte. Was passierte hier nur? „... Dann hat diese Anomalie also doch etwas mit Digimon zu tun?“ Fragte der Moderator an einen Professor gewandt, den er interviewte. Es wurden Bilder des Vorfalls, der sich vor knapp zwei Monaten in Shinjuku ereignet hatte, gezeigt. Ein riesiges Ungetüm, das entfernt an ein Wildschwein erinnerte, hatte sich durch die Straßen geschoben, einige Häuser zerstört und dadurch mehrere Menschen getötet. Es war von anderen Monstern aufgehalten worden. Digimon. Die Digimon, die Shoji aus dem Kartenspiel seines Bruders kannte, das er nie verstanden hatte. Die Digimon, die man auch im Fernsehen hatte sehen können, als der Anime sonntagmorgens auf Fuji TV hatte sehen können, bis man ihn aufgrund der Ereignisse zu Beginn des Oktobers vorerst eingestellt hatte. Die Digimon, vor denen Shoji bereits Angst hatte, als sie nur Figuren in einem Spiel waren. Und nun waren sie real. Unheimlich real. Was Kenji wohl gesagt hätte, wenn er die realen Digimon gesehen hätte? Hätte er sich wie Shoji gefürchtet? Nein... Wahrscheinlich hätte er sich gefreut. Wahrscheinlich wäre er ganz aufgeregt gewesen, hätte davon geredet, dass er auch ein richtiger Digimon Tamer werden wollte. Angst gehabt hätte er nicht oder nur kaum. Vielleicht hätte er ja wirklich ein Digimon Tamer werden können? Dann hätte er sich wahrscheinlich ins „Abenteuer“ gestürzt, ohne großartig darüber nachzudenken. Er hätte sich in unnötige Gefahr gebracht. Aber er hätte wahrscheinlich auch neue Freunde gefunden – vielleicht auch zwischen diesen unheimlichen Monstern. Shoji wandte den Blick vom Bildschirm ab, wo eine indische Forscherin sich zu dem Vorfall äußerte, und sah zu dem Schrein, der an der linken Seite des Wohnzimmers neben dem Fenster stand und auf dessen Altar ein schwarz umrahmtes Bild seines Bruders stand, während vor diesem eine Schale Reis stand. Zwei dunkel lackierte Stäbchen waren in den Reis gesteckt. Ein Zeichen, dass dieser eine Opfergabe für den verstorbenen war. Noch immer spürte er, wie sich sein Magen zusammenzog, wenn er das Bild seines Bruders dort stehen sah. Immer wieder sah er die Bilder, wenn er die Augen schloss. Sein Atem beschleunigte sich. Er spürte sein Herz rasen. Das Wasser des Kanals... Er wollte es nicht sehen. Er wollte sich daran nicht erinnern. Kenji wurde unterwasser gezogen. Er versuchte offenbar dagegen anzukommen. Nein, er durfte daran nicht denken. Es war nur noch eine Erinnerung. Nichts, woran er noch etwas tun konnte. Er atmete einige Male tief durch und versuchte sich wieder auf den Fernseher zu konzentrieren. Shoji stand dort. Er sah, wie sein Bruder von der Strömung mitgerissen wurde. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nichts tun. Es war nicht seine Schuld! Sein Atmen ging schnell. Es war Vergangenheit. Sein Bruder war tot und nichts konnte ihn zurückbringen. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass er gestorben war. Er hatte nicht einmal rausgehen wollen, an jenem Tag... Und doch... Es wäre nicht passiert, wenn er nicht mitgegangen wäre. Wenn er zuhause geblieben wäre, seinen Bruder nicht begleitet hätte, wäre es nicht passiert. Dann würde Kenji noch leben. Dann würde er die Digimon sehen. Dann würde er vielleicht ein Digimon Tamer werden. Doch er lebte nicht mehr. Kenji war zu Beginn der Sommerferien gestorben, während Shoji noch lebte. Seitdem hatte sich so viel verändert. Seine Mutter sprach weniger und lächelte seltener. Sein Vater, der ohnehin viel Zeit auf der Arbeit verbrachte, schaute ihn nur kaum noch an und schien die Einsamkeit zu suchen. Und niemand kam mehr zu Besuch. Schon gar keine Klassenkameraden, denn wirkliche Freunde hatte Shoji nie zwischen diesen gehabt. Es war immer Kenji gewesen, der Freunde eingeladen und mit ihnen hier gespielt hatte. Doch das konnte er nicht mehr. So war es still in der Wohnung. Totenstill. Besonders heute. Sein Vater war schon früh am morgen zur Arbeit gegangen und seine Mutter kaufte ein. Er war allein und die Bilder, die er im Fernsehen sah, machten ihn Angst. Er wollte nicht allein sein! Doch er wusste, dass er selbst, wenn seine Eltern da wären, mit ihnen nicht über seine Ängste reden konnte. Sie hatten selbst Angst und sie trauerten um Kenji. Wahrscheinlich, das erkannte er, verstanden sie von diesen Monstern und dieser seltsamen, roten Masse in Shijuku genau so wenig wie er selbst. Sein Blick war noch immer auf den Fernseher gerichtet, während sich sein Atem endlich langsam normalisierte. Die Sondersendung war vorbei und der Sender wechselte zum normalen Programm. Einer Spielshow, die von zwei Komikern moderiert wurde und ihn zumindest etwas von all den dunklen Gedanken ablenkte. Und dennoch war da der Gedanke an Kenji, der wie ein Geist hinter ihm schwebte, ihn umgab und seine Aufmerksamkeit immer wieder auf sich lenken wollte. Was wäre, wenn er gestorben wäre und Kenji leben würde? Was wäre, wenn es umgekehrt gewesen wäre und er an jenem Tag ertrunken wäre? Wie würde Kenji sich fühlen? Hätte er geweint? Würde sein Atem in Panik immer schneller gehen, wenn er daran dachte? Würde er Angst spüren, wegen der roten Masse, die alles verschlang? Wahrscheinlich nicht. Kenji hatte vor so wenigen Sachen Angst gehabt. Vielleicht vor zu wenigen Sachen... Und er hätte so viele Menschen gehabt, um über all das zu sprechen. So viele Freunde. Und doch... Kenji war tot. Er war nicht mehr hier. Alles was von ihm blieb, war das Foto auf dem Schrein, die Sachen in ihrem Zimmer, die Erinnerung und ein Geist, der noch immer unsichtbar die ganze Wohnung in seinem festen Griff hielt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)