Warme Berliner von Anemia (Jaschas turbulentes Jahr) ================================================================================ Kapitel 3: Juni 2013 -------------------- 1. Juni - Kindheit Ich bin geliefert. Total angearscht. Wahrscheinlich muss ich aus dem Fenster springen. Nein. Das geht nicht. Das kann nicht sein. Und doch ist es wahr, denn gerade habe ich Vic in meinem Bett vorgefunden. Nackt. Daneben liegt Tim. Ja, Tim. Tim in nackt. Tim ohne Klamotten. Muss ich erwähnen, dass ich ebenfalls nichts anhatte? Tief durchatmen. Wir waren bekifft. Besoffen. Da passiert sowas. Ich kann mich eh an nichts erinnern. An gar nichts. Nur an Dinos Handtasche in grellem Gelb. Aber sonst? "Aufstehen!", krächze ich. Die beiden Nackten wimmern und winden sich. Ich wage es kaum, Tim zu berühren. Nicht mal an der Schulter. Aber ich kann ihn nicht liegen lassen. Geht nicht. Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. "Beweg deinen Arsch hier hoch!" Mir der Schädel weh, und Tims warme Haut unter meinen Fingern überfordert mich. Der Typ sitzt wie ein buckliger alter Gnom vor mir, den Kopf schief haltend, die Augen fallen immer wieder zu. Was mach ich nur? Ihn erstmal anziehen? Ich bin doch kein Altenpfleger. Trotzdem, ich kann es nicht ertragen, ihn so ansehen zu müssen. Nicht, weil er so abscheulich aussieht. Verdammt, ich habe mit meinem Kumpel geschlafen! Ich will meine Kindheit zurück. 2. Juni - Balsam für die Seele Am Sonntag, als wir alle wieder einigermaßen beisammen sind, führen Vic, Tim und ich Kriegsrat. Dabei gibt es gar nicht viel zu besprechen. Ich jammere nur immer zu, dass das hätte nie passieren dürfen. "Lass doch", versucht Vic mich zu beschwichtigen. "Ist doch egal. Ist eben passiert. Ist halt ein Dreier draus geworden." Der macht sichs aber einfach. Tim ist ja auch nicht sein bester Kumpel. Erwähnter sitzt die ganze Zeit nur stumm da, man merkt, wie angespannt er ist. Hält den Blick gesenkt und dreht Däumchen. "Das hat niemals stattgefunden. Klar? Tim?" "Mh." Klingt ja nicht sehr überzeugend. Ich hasse es, dass er mich nicht mal mehr anschauen kann. "Guck mich an." Das tut er dann sogar, nur weiß ich nicht, wie ich seinen Blick deuten soll. Reuevoll? Ängstlich? Verschämt? Mh. "Also, kein Wort zu niemandem. Vergesst es einfach, ja?" Okay, wahrscheinlich kann sich sowieso keiner von uns mehr an den Abend erinnern. Vielleicht ist es auch nicht zum Äußersten gekommen. Wer weiß. Vic seufzt. "Sei doch nicht so ne Dramaqueen. Schlimmer als ein Mädchen, echt. Als wär die Welt untergegangen. Chill doch mal." Danke, das war gerade wirklich Balsam für meine geschundene Seele. Ich liebe dich auch, Vic. 3. Juni - Gut und Böse "Jascha, bleib mal da." Oh, die Stimme der Herrin. Ich sollte gehorchen. Auch wenn die Herrin nur meine Mutter ist und keine heiße Domina. Erwähnte ich schon, dass ich auf Rollenspielchen stehe? "Ja, Mom?", frage ich erwartungsvoll; noch ahne ich nichts Böses. Aber eigentlich hätte ich bereits an ihrem grimmigen Gesichtsausdruck bemerken sollen, dass etwas im Argen liegt. "Jascha", beginnt sie, dann seufzt sie und zieht den Mund in die Breite. Ich kann es nicht ab. "In dem Haus geht einiges vor sich, was ich nicht gutheißen kann. Erst lässt du deinen Kumpel hier wohnen, ohne mich gefragt zu haben und dann...na, die Freitagnacht war nicht sonderlich fein." Oh. Am liebsten hätte ich gefragt, was genau an der Freitagnacht nicht fein gewesen ist. Obwohl ich mich vor den Details grusle, so würde mich schon interessieren, was genau ich mit Tim...vergessen wir das. Mom meckert gerade. "Ich finde, du solltest dir eine Wohnung suchen." Was? Ich werde quasi aus dem Hotel Mama herausgeworfen? Nur, weil ich meine Jugendlichkeit lebe? Das ist ja uncool. Mom lässt sich nicht erweichen. Wenn ihre Meinung feststeht, dann steht sie fest. Und alle anderen haben das Nachsehen. Die Herrin ist manchmal jenseits von Gut und Böse. 4. Juni - Pfeffer Ich glaube, Vic weiß mehr über die Freitagnacht, als er zugibt. Mir ist so. Und meine Sinne trügen mich nie. Oder selten. Aber ihn fragen, was abging, möchte ich nicht. Selbstmord soll nie eine Option sein, aber mit diesem Wissen wäre er es bestimmt. Apropos Selbstmord; es ist schön, dass wir zu Abend essen gehen, aber vorher muss ich Vics Shoppingtour ertragen. Ehrlich, wenn ich Klamotten brauche, suche ich einen Laden, der amtliche Dinge zum Verkauf anbietet, schnappe mir eine Hose in meiner Größe und kaufe sie. Nix mit Anprobieren. Umkleidekabinen sind ein Graus. So wie es aussieht, soll ich aber aus meinem Schicksal errettet werden. Um mich in ein neues zu begeben. Plötzlich stehen Moo und Flori vor uns und drücken mich fest. Schockstarre. Ich bin mit Vic unterwegs und meine Kumpels sollen nicht erfahren, dass er...ihr wisst schon. Alarmstufe rot, vor allen Dingen, als sie ansetzen, Vic ebenfalls in eine Umarmung zu ziehen, im letzten Moment aber inne halte. Schließlich reicht Flori Vic seine Hand hin, aber Letzterer grinst nur und knuddelt schließlich den anderen. "Hat ja Pfeffer, deine Prinzessin", urteilt Moo und ich ahne schon was. "Deine Schnipselprinzessin", berichtigt letztendlich Flori. Vic guckt blöd. Ich sicher auch. 5. Juni - Du bist mein Licht Ich bin ein armes Schwein. Mein Leben ist ruiniert, wozu Mom einen beachtlichen Teil beigetragen hat. Mich in mein Schicksal fügend habe ich mir meinen Laptop geschnappt und eine Immobilienseite aufgeschlagen. Kleine Maus, nur ich und du, wir haben heut ein Rendezvous. Und vielleicht habe ich auch bald ein Rendezvous mit einer nett aussehenden Ein-Zimmer-Wohnung. Ein Raum. Mein Leben wird sich komplett im Schlafzimmer abspielen, und das meine ich nicht im perversen Sinne. Obwohl ich bereits jetzt siebzig Prozent der Zeit, in der ich nicht arbeite, in meinen heiligen Hallen verbringe. Also würde ein einziges Zimmer keine große Veränderung mit sich bringen. "Was machstn?" Ich mag es, wenn Vic sich mir von hinten nähert. Von hinten. Wer weiß, vielleicht pisse ich bereits Regenbögen. Ich hab meinen Urin noch nie untersucht. "Ne Wohnung suchen. Mom hat mich satt, weil ich ein böser Junge bin." Vic schweigt. Guckt auf den Bunker meiner Träume. "Zieh doch zu mir in die WG", schlägt er plötzlich vor und klingt nicht so, als würde er scherzen. "Vic, du bist echt mein Licht in der Dunkelheit", gebe ich gerührt von mir und freunde mich bereits mit dem Gedanken an, mit drei Regenbogenpissern unter einem Dach zu leben. 6. Juni - Schlaf "Herzlich Willkommen, Jascha!" Wie schön von Dino, dass er sich so über meinen Einzug freut. Er sieht zwar aus wie Olivia Jones - er versieht sich noch großzügiger mit Schminke als Vic - aber es kommt vor allen Dingen auf die inneren Werte an. Sage ich selbst immer. Sonst wäre Tim nicht mein Kumpel geworden. Obwohl zwei Augenpaare vor Freude über ihren neuen Mitbewohner bereits glitzern, so gibt es da noch ein drittes, welches mich vom Küchentisch aus argwöhnisch und fast schon ein bisschen böse mustert. Katzenaugen, mit schwarzem Kajal umrahmt. Ehrlich gesagt frage ich mich nicht, was ich Felix angetan haben könnte, dass er so giftig ist, viel mehr wundere ich mich über den dicken Kapuzenhoodie, den er bei den heutigen Temperaturen von knappen dreißig Grad trägt. Der stinkt bestimmt wie ein Iltis. "Ich zeig dir mal dein Zimmer", kündigt Vic an und henkelt sich bei mir unter. Peinlich, wenn man bedenkt, dass das alte Ehepaar jetzt schon zusammengezogen ist. Ich schleppe den Sack mit meinem Hab und Gut hinter mir her, blinzle aber noch einmal in Felix' Richtung. Es wirkt, als würde er nun sogar einen Katzenbuckel machen. Hoffentlich kratzt er mir im Schlaf nicht die Augen aus. 7. Juni - Adrenalin Eigentlich lässt es sich in der WG aushalten. Dino kocht wie ein junger Gott und ist auch so ein angenehmer Zeitgenosse. Macht Scherzchen über dies und das und spart dabei den berühmten Freitagabend nicht aus. Ich höre genau hin. Stelle Fragen wie ein Kommissar. Leider schießt während meiner Ermittlungen Vic aus dem Badezimmer und versaut mir alles. "Mein Gott, du denkst an nichts anderes mehr." Wie verständnislos er den Kopf schüttelt. Da wird ein deftiger Versöhnungssex fällig. "Ich komm darauf eben nicht klar, dass ich meinen Kumpel gevögelt habe." Dino kichert verhalten und ich merke, dass ich wieder alleine dastehe. Niemand rafft, wieso dieser Fick für mich einen Weltuntergang darstellt. Vic sowieso nicht. Der lässt sich bullig auf den noch freien Stuhl fallen und klimpert adrenalingeladen mit seinen manikürten Nägeln auf dem Tisch. "Ich hab den Dreier eingefädelt. Weil ich genauso auf Schwulenspielchen abfahre wie du auf Lesbenspielchen. Wie du weißt, beiß ich mich manchmal mit Andie rum. Mit Felix hab ich schon geschlafen. Wieso ist es so ein Riesending, dass du Tim flachgelegt hast? Versteh ich nicht." Unter diesen Umständen kann ich Vic tatsächlich verstehen. Auch wenn er mich nicht versteht. Halleluja. Ausgerechnet Felix. Das muss ich erst verarbeiten. 8. Juni - Zauberei Ich hab jetzt sogar meine Möbel. Flori, der einzige Mobile von uns, hat sich erbarmt, mein Zeug vorbeizubringen und stellte sich auch für den Aufbau der Schränke zur Verfügung. Ich stehe tief in seiner Schuld. Vic an meiner Stelle würde ihn wahrscheinlich mit Sex belohnen. Aber Vic ist in festen Händen. Und ich bumse freiwillig keine Kumpels. "War echt gay, die Party", haut Flori raus, während ich im Bretterhaufen liege und die Schranktür suche. Ja, die Jahrhundertparty. Homosexuell wie ein pinkes Einhorn. "Wo wart ihr eigentlich?", ächze ich. "Den Schwulenauflauf hat ja keiner ausgehalten", erklärt Flori mir. Und ich dachte, Flori und Moo hätten was miteinander gehabt. So ziemlich die einzige Sache, an die ich mich in lebhaften Farben erinnere. Im wahrsten Sinne des Wortes, Gras sei Dank. "Bist du da jetzt voll drin in der Szene?" "Nee, nicht so." Boah, wie peinlich. Flori weiß alles, lacht aber nicht offen über mich. Anstelle mobbt er mich indirekt. So eine zweideutige Zauberei. "Sag doch einfach, wenn du Probleme damit hast", knalle ich ihm deswegen an den Kopf. Flori aber guckt nur wie die Kuh wenns donnert. "Nö", brummt er. "Is doch dein Arsch." Und damit hilft er mir, den Schrank zusammenzubauen. 9. Juni - Einen Neuanfang starten Ich bin immer noch sauer auf Vic. So viel Sex kann er mir gar nicht geben, damit ich ihm die Sache mit Tim verzeihe. Da ich mich allerdings mit ihm gutstellen muss, mache ich gute Miene zum bösen Spiel, sonst lande ich irgendwann auf der Straße. Es ist alles eine Kosten- Nutzen-Rechnung. Aber ich bin sowieso nicht nachtragend. Und bei einem schönen Arsch werde ich von meinem Hormonen übermannt. Bei Felix geht es mir allerdings nicht so. Der löst gar nichts in mir aus außer einer eventuellen Neugierde aufgrund seiner Äußerlichkeiten. Schon wieder treffe ich ihn am Küchentisch, spielend mit seinem Handy. Immer sitzt er dort an diesem verdammten Tisch. Hat der kein Zuhause? Manchmal glaube ich sogar, dass diese Küche in Wahrheit eine Mautstation ist. Wie viel kostet denn die Strecke Zimmer-Kühlschrank? "Du bist morgen dran mit Einkaufen." Hat Felix das gesagt? Ich habe nicht gesehen, wie er den Mund bewegt hat, weil ihm die Kapuze ins Gesicht hängt. Im Grunde macht er jedem Gangsta alle Ehre. "Mh. 'Kay." Obwohl ich keinen Bock auf Einkaufen habe. Aber ich habe einen guten Vorsatz, den ich einhalten muss, wenn ich hier einen Neuanfang starten möchte. Gerade öffne ich den Kühlschrank, um mir einen Joghurt zu genehmigen, da labert das schwarze Ding erneut. Ohne sich zu mir rumzudrehen, natürlich. "Deine Mucke is cool." Ich ziehe staunend eine Augenbraue in die Höhe. "Das ist Rap?!" Schulterzucken. Okay. Eigentlich geht mir die ganze Zeit etwas anderes durch den Kopf und irgendwie verspüre ich den Drang, es loszuwerden. "Und du hast wirklich mit Vic geschlafen? Krass." Schulterzucken. Schon wieder. Sowas Unnahbares habe ich noch nie erlebt, und ich bin bereits 19 Jahre auf der Erde. Was meinte Vic? Felix hätte ne Sozialphobie? Klingt fast wie AIDS. Vielleicht sollte ich ihm besser aus dem Weg gehen. 10. Juni - Vertrauen Wer hätte damit gerechnet? Ein Anruf von meinem Kumpel und Fuckbuddy. Nee. Können wir das letzte Wort streichen? Es widert mich an. Mit diesem im Hinterkopf kann ich mich nicht wie ein halbwegs normaler Mensch benehmen. "Hi." Ich bin kurz angebunden. "Du lebst. Ein Wunder. Ich ruf gleich bei Galileo an und melde das." Ich höre nur ein Rascheln am anderen Ende der Leitung. Mit dieser Begrüßung hätte Tim wohl nicht gerechnet. Ich mache ihn sprachlos. "Na ja...", labert er endlich, nachdem ich schon einmal 'Hallo?' rief. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mich wie eine Diva verhalte. Daran ist bestimmt Dino schuld. Man passt sich schließlich immer seinem Umfeld an. Und wenn es bedeutet, zu Marylin Monroe zu mutieren. Aber hören wir Tim zu. Er hat uns etwas zu sagen. "Ich hab mich nicht getraut, mich bei dir zu melden, irgendwie..." Dies trägt er mit einer furchtbaren Piepsstimme vor. Wie ein ganz kleiner Junge. Aber ich habe ein paar beruhigende Worte parat. "Ey, du kannst drauf vertrauen, dass ich dir nicht den Kopf runterreiße." Pause. "Obwohl ich dich schon so bisschen hasse." Ein Schock für Tim. Er verfällt wieder in ein tiefes Schweigen. Ich bin schon böse. 11. Juni - Solang ich dich habe... Ich bin zwar böse, aber kein kompletter Satan. Deswegen habe ich es Tim gewährt, mich in meiner neuen Unterkunft zu besuchen. In der W-Gay, wie ich sie liebevoll nenne. Leider bedeutet das, dass ich Tim nicht empfangen kann ohne die Gesellschaft meiner Mitbewohner. Dino ist ja okay, Vic auch, wenn man die Tim-Sache außer Acht lässt, aber Felix kann einem den ganzen Tag mit seiner verdammten Gleichgültigkeit versauen. Auch heute sitzt er an seiner Mautstation, als mein Besuch eintrifft. "Das ist Tim", stelle ich den Blödmann vor; Dino lächelt, da er Tim bereits auf der Party erlebt hat und Vic kennt bekanntlich sogar seinen nackten Körper. Bah. Felix aber guckt auf eine nicht einzuordnende Weise an Tim empor, bis Letzterer ihm seine Hand hinhält. Plötzlich zuckt die Katz zusammen und wirkt total verstört. Schließlich verpisst sie sich wortlos in ihr Zimmer. Selbst Vic schüttelt den Kopf, murmelt dann aber ein entschuldigendes "Neja, Felix halt." Tim jedoch schießt den Vogel ab. "Niedlich, der Kleine", raunt er, sein lieblicher Blick gilt allerdings mir. "Aber solange ich dich hab..." Was soll denn das heißen? Vic braucht gar nicht zu lachen. Der ist doch daran schuld, dass Tim so ist. Langsam bekomme ich Angst. 12. Juni - Geschwister "Man ey, ich komm zu spät!" Noch einmal donnere ich mit voller Wucht gegen das Scheißbrett namens Badtür. Wieder keine Reaktion von drinnen. Vielleicht ein leises Murren. Mehr aber nicht. "Ich kill dich." Oh ja, ich bin wirklich wütend auf dieses Bürschchen. Es ist nämlich Felix, der das Bad blockiert. Seit mindestens einer halben Stunde. Und das, obwohl der Typ bis Mittag ausschlafen und arbeitenden Menschen den Vortritt erlassen könnte. Im Gegensatz zu anderen Leuten in diesem Haus bezieht er frech sein Harzt IV und lässt sich die Sonne aus seinem faulen Arsch scheinen. Wahrscheinlich hat ihm meine Drohung Angst gemacht. Denn wenige Sekunden später öffnet sich die Tür und ein Felix mit am Kopf angeklatschten Haaren tritt aus dem Raum. Früh um Acht färbt der seine Loden, ich glaub, mich hackts! "Ey, wegen dir krieg ichs mit meinem Chef zu tun!", poltere ich los, obwohl die Piercingfresse riesengroße, unschuldig dreinblickende Augen besitzt. Vielleicht bringt mich dies auch erst recht in Rage. "'Tschuldigung...", murmelt Felix betreten, aber davon kann ich mir nichts kaufen. Wutentbrannt packe ich ihn am Arm. Panik steht in seinem Blick. Pure Panik. Aber mein Empathieschalter ist gerade im Offmodus. "Kleiner Schmarotzer!", schimpfe ich, beginne, mich erst richtig aufzuwärmen, aber plötzlich wird mir ein Strich durch die Rechnung gemacht. Vic steht muttilike zwischen uns und löst meine Hand beherzt von dem dürren Streichholzarm, den sie fest umklammert hält. "Was hast du denn genommen?", schleudert mir Vic entgegen. "Lass gefälligst Felix in Ruhe, niemand beleidigt mein Brüderchen!“ Mein Mundwinkel zuckt gereizt. "Ach, warum praktiziert ihr dann eigentlich nicht weiterhin euren Inzest?", entweicht es mir, aber schon im nächsten Moment frage ich mich, ob ich nicht doch etwas zu weit gegangen bin. Jascha, du bist ein Vollidiot. Heißt nicht, dass Felix nicht noch einen Zacken schlimmer ist als du. 13. Juni - Rotes Tuch Ich treffe Tim am U-Bahnsteig. Heute bin ich pünktlich. Der Herr hat sich mit seiner Schönheitspflege zurückgehalten. "Hey, Alter", lautet Tims Begrüßung. Mir ist plötzlich so, als stelle seine Anwesenheit und seine vertraute Stimme einen rettenden Pol für mich dar. "Hey", grüße ich zurück. "Ich sags gleich: Wenn du den Namen 'Felix' erwähnst, dann fick ich deine Mutter." An derben Flüchen erkennt man, dass nicht gut drauf bin. Und Tim rafft das. "Stress?" Ich verdrehe die Augen. "Und wie." "Auch mit Vic?" "Sind mir beide ein rotes Tuch grad." Ein Arm legt sich um meine Schultern. WTF? Tim aber lächelt mich nur kameradschaftlich an. "Wenn die dich nerven, vergiss sie", rät er mir lässig und da ist plötzlich so ein komisches Gefühl in mir. Tim, der sich oft absolut assig verhaltende Drecksack, ist im Moment so ziemlich der einzige, der noch zu mir hält. Der mich versteht oder es zumindest im Ansatz versucht. Der mich nicht verurteilt. Deswegen liegt es mir auch nicht fern, ein 'Danke, Mann' zu murmeln. "Bist n echter Freund." Tim winkt ab; wahrscheinlich, weil er weiß, dass er objektiv betrachtet nicht viel getan hat, um mein Seelenheil wiederherzustellen. Doch jemand, der mich akzeptiert, genügt mir. Völlig. 14. Juni - Den Horizont erweitern "Uh, krass! Das hast du deiner Schnitte an den Kopf geworfen?" An Tims Stelle würde ich nun auch die Luft scharf einziehen. Verdammt noch mal, ja, das, was ich da abgelassen habe, ist nicht sonderlich beziehungsförderlich. Zumal seit der berühmten Freitagnacht sowieso der Haussegen zwischen Vic und mir leicht schief hängt. "Ich finds ja selber richtig scheiße", gebe ich reumütig zu, vergrabe das Gesicht in meinen Händen und bleibe genau so sitzen. "Aber dieses kleine Ekel macht mich einfach schwach." "Also ich fand ihn ja ziemlich niedlich, wenn auch etwas creepy..." "Tim!" "Schon gut, schon gut. Und nun?" Ich zucke mit den Schultern. "Ich werds schon wieder irgendwie grade rücken mit Vic, denk ich mal." Keine weitere Reaktion von Tim. Als ich dann wieder die Hände von den Augen nehme, um in die kranke Weltgeschichte zu blicken, bemerke ich, wie nervös mein Kumpel mit dem Fuß auf dem Parkett herumrührt, während sich seine Hände in meinem Bettlaken verkrampfen. "Was is?" Seit wann lächelt ein Tim so zaghaft? Ich sag ja, der wird noch ne richtige Pussy. "Ich...ich hab da was für dich. Für uns...wie auch immer." Plötzlich liegen zwei Konzerttickets auf dem Tisch. Ich kann darauf in großen schwarzen Buchstaben 'Die Antwoord' lesen. Wen wundert es da noch, dass mir die Kinnlade herunterklappt? "Alter, wie geil is das denn? Die Dinger sind doch schweineteuer!" Tim aber tut gar nicht dergleichen. "Is für London. Deswegen bräuchtest du auch Urlaub..." Das wird schwierig. Ich seufze. "Du bist so verrückt." Tim ist wirklich nicht so ein Arschloch, wie ich noch vor kurzem dachte. Er hat es tatsächlich geschafft, meinen Horizont zu erweitern und ihn in einem ganz anderen Licht zu betrachten. Verdammte Scheiße, er ist schwer in Ordnung. Und ich dachte bereits gestern, er wäre cool drauf. Irgendwie flasht mich das gerade voll. 15. Juni - Erfolge Aus Erfahrung weiß ich, dass selbst der beschissenste Lebensabschnitt irgendwann in einen guten übergeht. Dieser Zeitpunkt ist jetzt erreicht. Vic kam nämlich gerade zahm wie ein Lamm und versöhnlich brummelnd in mein Bett gekrochen, und ich konnte ihn einfach nicht wegstoßen. Ich bin eben zu gut für diese Welt. Ich sags ja immer wieder. "Das ist alles so blöd gewesen in letzter Zeit", murmelt Vic, während er nach unserem unvermeidlichen Versöhnungssex neben mir liegt. "Mit uns, das soll nicht einfach kaputtgehen." "Mh." Eigentlich habe ich gar keinen Bock, über den Mist zu quatschen. Ich will einfach nur Frieden in meinem Universum. Aber prinzipiell habe ich ja bereits einen Erfolg erzielt. Vic verzeiht mir einfach so meinen Amoklauf auf Felix und irgendwie glaube ich sogar, dass er mich lieber mag als diese kleine Kakerlake. Ich hoffe, dass es so ist. Wenn ja, dann wird er auch akzeptieren, dass ich mit Tim nach London fliegen werde. Ohne ihn. Doch heute sage ich noch nichts. Mit meinem Chef ist sowieso noch nicht besprochen und ehrlich gesagt habe ich jetzt schon die Hosen voll. Aber das wird schon. Wenn ich Vic hab, dann kann mich die ganze Welt mal ganz gepflegt am Arsch lecken. 16. Juni - Postkarte Mit meinem Seelenfrieden im Herzen könnte ich theoretisch schön pennen. Alles läuft wunderbar und in meinem Bett ist es heute besonders gemütlich. Aber an der praktischen Umsetzung meines Schlafes hapert es. Schuld daran sind die grässlichen Geräusche, die aus dem Badezimmer dringen. Entweder Felix wird in die Unterwelt gezogen vom Pot-God, welcher im Porzellanthron haust oder er übt dieses Rumgeschreie, welches ein Bestandteil seiner Lieblingsmusik ist. Falls dieses Gedonner der Bezeichnung 'Musik' würdig ist. Ich stehe auf. Langsam wird es mir zu viel. Beschließe, den Pot-God zu unterstützen. Und tatsächlich; die Badezimmertür ist angelehnt und wenn man genau hinschaut, kann man sehen, wie Felix sich in das Klo beugt. Sollte ich ihn an den Beinen schnappen und versuchen, dem Pot-God sein Opfer zu entziehen? Nein. Der ganze Spuk ist ohnehin vorbei. Als wenn nichts wäre erhebt sich Felix, spült sich den Mund aus und erblickt mein Abbild im Spiegel. "Ist ja scheußlich", stöhne ich, noch immer angeekelt von den Würgegeräuschen aus diesem schmächtigen Leib. "Soll ich dir nen Tee machen?" Felix zuckt mit den Schultern. Eine eindeutigere Reaktion scheint er nicht zu kennen. Ich kann mir also aussuchen, wie ich sie deuten möchte. Da ich selbst aber verspüre, dass ich etwas Warmes im Bauch gut vertragen könnte, stelle ich mich in die Küche und koche Wasser. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Felix, der sich auf seinen Stammstuhl fallen lässt. "Dir geht's beschissen, wa?", quatsche ich ihn zu, von Felix' Seite ertönt ein Brummeln. "Ich weiß noch, wo ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt hab...der erste Schwung ging auf Mamas Postkartensammlung. Die hat mich gehasst." Kein Kommentar. Egal. Es ist Nacht und ich bin deswegen weiterhin ganz lieb. Auch, weil es Vic sicher freut, wenn ich mich bei Felix einschleime. Und außerdem ist es zuträglich für meine pazifistische Mission. 17. Juni - Schokolade Es ist geglückt. Chefchen hat mir entgegen jeder Erwartungen sein Okay gegeben. Ich darf mit Tim ein verlängertes Wochenende in London erleben. Und das berauscht mich so sehr, dass ich mich nach Feierabend in die Küche setze und einen Joint inhaliere, um meine Ekstase weiter zu steigern. Was hab ich für Hummeln im Arsch. Sie summen so doll, dass ich sogar dem aus seinem Zimmer schleichenden Felix zulächle und zu mir heranwinke. Heute bin ich all der Dinge Freund. Felix steht am Tisch. Guckt kariert auf meine Zigarette. Der hat wohl noch gar nichts vom Leben gesehen. Oder? "Kann ich einen?" Unfassbar, das Kleinteil kann sprechen! Berauscht halte ich ihm meinen Grasstängel entgegen und lasse es einen Zug nehmen. Mein Grinsen will nicht mehr abebben. "So gefällst du mir, Kumpel!", lobe ich Felix. "Sprechend, kiffend und nicht kotzend oder badblockierend." Und was ist das an Felix' Piercingfresse? Zucken etwa seine Mundwinkel? Ich krieg noch einen Orgasmus, ohne mich anfassen zu müssen. "Kiffen ist wie Schokolade", meint Felix und ich ziehe übermütig an seiner Kapuze. "Dann setz dich und gib dir Glückshormone", lade ich ihn ein. "Ich glaub, das haste öfter nötig." Er zuckt mit den Schultern. Back to the Roots. 18. Juni - Insekt Ich merkte mal an, dass Tim sich zu einer Pussy entwickelt. Das stimmt nicht. Tim ist Peter Pan in Reinkarnation. Heute gönne ich mir nach Feierabend eine Shoppingtour durch das Alexa und entdecke, als ich zufällig dort vorbeigehe, Tim höchstpersönlich bei Build a Bear. Ich muss mir echt die Augen reiben und zweimal durch die Scheibe stieren. Aber es ist und bleibt Tim, der den Teddybär, den er im Arm hält, liebevoll einkleidet. Wer hätte gedacht, dass mein Kumpel, der sich sogar zu Dreiern hinreißen lässt, so eine liebe Puppenmutti sein kann? Da geht ja sogar mir das Herz auf. Nachdem ich bereits Tränen gelacht habe, betrete ich das Geschäft und pirsche mich unbemerkt an Tim heran. Als ich schließlich hinter ihm stehe, kann ich es mir einfach nicht verkneifen, seine Seiten zu kitzeln. Ach, herrlich, wie er in die Höhe springt und zusammenzuckt. Als Belohnung darf er in mein fett grinsendes Gesicht schauen. "Alter, was geht'n mit dir ab?", frage ich und beginne erneut zu lachen. Besonders wegen Tims errötenden Wangen. "Lass mich doch", brummelt Tim und lässt mich stehen, um seinen mittlerweile bekleideten Bären zu bezahlen. Ich aber lasse mich nicht abschütteln. Bis zum bitteren Ende stehe ich neben meinem Kumpel, der echt alle Schikanen der gestörten Verkäufer über sich ergehen lässt. Von Bärenhaus bis Geburtsurkunde ist alles dabei. Auf letzterer kann ich zufällig den Namen des Teddys lesen. Er heißt Jascha. "Ach du scheiße!", schreie ich und weiß nicht mehr, ob ich mich weiterhin meinem Lachkrampf hingeben soll. "Sag nichts, ich will nicht wissen, was du mit meinem Bär-Ich anstellen wirst." Tim jedoch lacht noch immer nicht. Er ist ganz ernst. "Er soll Insekten fressen." "Deine Filzläuse, oder wie?" "Haha." Tim lügt. Das sieht man ihm an. Aber soll er doch. Die Wahrheit kann manchmal schmerzhaft sein. 19. Juni - Verschlungene Pfade Gestern noch glaubte ich, mein Leben liefe wieder in geregelten Bahnen. Doch nichts ist okay. Alles ist scheiße. So verdammt scheiße. Ich habe gesehen, wie Felix sich ritzt. Er saß im Bad und zog sich mit der Rasierklinge die Handlinien nach. Ich bin hin um ihm zu sagen, wie beschissen das ist, was er tut, aber deswegen eskalierte alles. Ich sehe ihn noch immer vor mir, den blutenden Felix, den ich zum ersten Mal mit lauter Stimme sprechen hörte. "Ich bins nicht wert, dass du dich um mich bemühst! Ich bin ein Dreck! Du hattest Recht. Habs verdient, dass du mich hasst. Denn ich hab wieder mit Vic geschlafen. Und ich liebe Vic. Wäre doch besser, ich wär tot. Ich will ihn dir nämlich wegnehmen." Das war so…unreal. Wie in einem Film. Ich bin fertig mit der Welt. Am liebsten würde ich die Rasierklinge nehmen und damit Felix die Kehle durchtrennen. Dieses Stück Scheiße. Der ist krank. So richtig krank. Meine Beziehung mit Vic nimmt sowieso nicht den einfachsten Weg, sondern so einen verfickt verschlungenen Pfad, der mich an die Grenzen meiner Zurechnungsfähigkeit treibt. Mein Mundwinkel zuckt unaufhörlich. Der Papierkorb liegt zerbrochen vor mir auf dem Asphalt. Es reicht nicht. 20. Juni - Ein Rätsel lösen Ich hasse Luftmatratzen. Nur mein geficktes Leben hasse ich noch mehr. Deswegen ertrage ich ersteres auch artig. Ich sollte froh sein, dass ich hier sein kann. Verdammt froh. Trotzdem kann ich nicht pennen. Wälze mich hin und her. Bemerke jede Bewegung Tims. Frage mich, ob er schläft. "Tim?" "Mh." Tim schläft wohl nicht. "Kann nicht pennen. Ungemütlich. Und in meinem Kopf ey..." Schweigen. "Könntest ja zu mir kommen." Im zurechnungsfähigen Zustand hätte ich Tim eins vor den Latz gehauen, aber mir geht es schlecht und kann nicht mehr aufhören, Vic und Felix mental zu töten. Morgen früh wird mir auch das Kreuz wehtun. Also… Ist das schön. So warm. So gemütlich. Ich vergesse alles. Ich vergesse sogar, dass Tim und ich schon nackt nebeneinander lagen. Ist wurscht. "Mal mich nicht an", warne ich den anderen, dessen Hand auf meinem Rücken liegt. Nichts im Gegensatz zu meinem Kopf auf seiner Brust. Tim sollte sich als Kissen bewerben. Bei mir. "Nur nicht, wenn du mein Rätsel lösen kannst." Och man. Bin ich bei der Sphinx? "Was ist weich und kuschelig und liegt gerade in meinem Bett?" "Ich." "Nein. Der Jascha-Teddy." Tatsache, der Kumpel liegt oben am Kopfende. Wieder ein Dreier. Gute Nacht. 21. Juni - Sonnenschein Boah, man! Im Raum herrscht noch finstere Nacht, aber das hindert mein Handy nicht daran, sich lautstark zu melden. In diesen Momenten hasse ich sogar meinen Lieblingssong von Die Antwoord, den ich zu meinem Klingelton auserkoren habe. Ich sollte ihn ändern, sonst kann Tim bald alleine nach London fliegen. "Ja", plärre ich ungehalten in das Gerät, merke, wie Tim neben mir ebenfalls munter wird. "Jascha..." Behände saust mein Daumen auf das rote Hörersymbol hernieder. Meine Laune bewegt sich nun erst recht im Minusbereich. "Wer war das?", erkundigt sich Tim. Wie verschlafen er aussieht. Und wie zerzaust. Wäre mir gerade zum Lachen, hätte ich genau das getan. Aber ich kann nur seufzen. Tief und sehr nachdenklich klingend. "Wer wohl." Nun seufzt auch Tim. Langsam könnte er mal aufhören, mir auf die Pelle zu rücken. Ich bin ohnehin gerade so anschmiegsam wie ein Backstein in meinem Zorn. Grrr... "Schalt dein Handy einfach für 'n paar Tage aus", meint Tim. "Ich hab keinen Bock, dich wieder irgendwo von der Straße aufzulesen inmitten irgendwelches kaputten Stadteigentums, weil du Doomsday feierst. Chill einfach mal. Die können dich am Arsch lecken." Recht hat er. Wenn ich bedenke, dass so was wie Vic mal mein Sonnenschein war... 22. Juni - Unverbesserlich Das mit Vic war einmal. Und mir ist es heute richtig egal. Um meinen Schlussstrich zu markieren, setze ich mich vor meinen Laptop. Das Profil auf dieser verdammten Seite soll gelöscht werden. Damit fing der Ärger schließlich an. Mit einem Klick ist alles weg. Erleichterung. Ich weiß schon, warum ich soziale Netzwerke verabscheue. Sie verkuppeln dich mit Menschen, die nicht zu dir passen und sich ins Fäustchen lachen, wenn du auf ihre perversen Spielchen reinfällst. Man sagt nicht umsonst, dass sich im Internet jede Menge Betrüger herumtreiben. Und ich bin der Allerletzte, der sich betrügen lässt. Wenn du mein Herz fickst, dann wird es dich teuer zu stehen kommen. Der Schlussstrich ist so allerdings nicht komplett. Obwohl es mir schwer fällt, verbanne ich Vics Bilder von meiner Festplatte. Somit hätte ich auch fast Tims Nacktbilder gelöscht. Nee, die behalte ich. Und so wie ich mir eines davon in der Großansicht anschaue, muss ich feststellen, dass Tim gar nicht so beschissen aussieht. Eigentlich ist er Durchschnitt, mit Ottonormalkörper. Ich schmunzle. Heiß ist anders, aber mein PC wird es überleben, wenn ich die Erpressungsbilder drauflasse. Vielleicht brauche ich die für den nächsten 1. April. Man kann nie wissen. Ich bin echt unverbesserlich. 23. Juni - Hintergründe Tim und seine Mutter liefern sich ein heißes Wortgefecht. Selbst im Badezimmer kann ich meinen Namen fallen hören. "Gibts Stress?", erkundige ich mich später bei Tim. "Ach. Du weißt doch, wie Mom ist." In der Tat. Sie hat ihren Sohn in die Flucht geschlagen, weil sie eine Abneigung gegen Schwulitäten hegt. Auch in diesem Falle ging es um das altbekannte Thema. Ich frage mich in stillen Momenten ernsthaft, was zwei Männer, die miteinander Sex haben so mysteriöses für Uneingeweihte innehaben. Ich kanns nicht kapieren. "Nur, weil sie uns zusammen im Bett gesehen hat, macht sie einen Aufriss. Nervt ab, Mann." "Dann wärs vielleicht besser, ich würd wieder bei meiner Herrin um Asyl..." "Nee, nee. Du bleibst bei mir." Oh, dem Herrn scheint viel daran zu liegen, dass ich sein Bett vorwärme. Sonst wäre er mir nicht so impulsiv ins Wort gefallen. Man sieht ihm allerdings an, dass er sich für seine leidenschaftliche Reaktion schämt. Rote Bäckchen leuchten mir entgegen. Aw. Irgendwie glaube ich jedoch, das Ganze hat andere Hintergründe. Ein warmes Bett ist zwar schön, jedoch spüre ich, dass da etwas im Busch ist. Ob der immer noch an unser Doktor-Sommer-Gespräch denkt und irgendwann erneut mit der Fickfrage herausrückt? Gruselig. 24. Juni - Häppchenweise "Man kennt doch diese Statuen von der Osterinsel. So sieht sein Gesicht aus. Voll bescheuert, Alter. Wie kann man sich das reinziehen? Absolutes Hässlon." Tim braucht gar nicht so betreten zu gucken. Er ist selbst schuld, dass er pornografisches Material in seinem Zimmer bunkert. Schwulenpornografisches. Auch wenn ich meine Finger kreuze, wenn ich so ein Filmchen entdecke, so kann ich nicht immer weggucken. Es ist wie ein Unfall; eklig, aber faszinierend. Ein Unfall ist der Typ hier wirklich. Klar, nur hässliche Leute machen so nen Job. Aber muss man das als Käufer unterstützen? "‘Analritter 2 - heute wird eingedost‘ - ist nicht dein Ernst, Alter?" Umso länger ich darüber nachdenke, desto schlimmer muss ich lachen. Derjenige, der sich die Pornotitel ausdenkt, muss ein kreativer und sexuell verzweifelter Mensch sein. Tim kann man getrost dazu zählen. Der fantasiert auch den ganzen Tag über solche Sachen. "Kann halt nicht jeder so makellos schön sein wie du." Recht hat er. Aber irgendwie höre ich das mit gemischten Gefühlen aus seinem Mund. Die offensive Art alá 'Willste ficken?' hat bei mir nicht gezogen, also versucht er mich häppchenweise weichzukochen. Denkt wohl, ich raffs nicht. Tim will bei mir eindosen. Er ist der Analritter 1. 25. Juni - Komik London rückt immer näher. Ich kann das Konzert schon förmlich hören und sehen. Oh Mann. Das ist wie Weihnachten früher. Und weil ich mich so sehr freue und mir meine heile Welt bewahren möchte, spreche ich Tim nicht auf seine augenscheinlichen Absichten mir gegenüber an. Ich verdränge sie so gut, dass ich sogar weiterhin das Bett mit meinem Kumpel teile. Manchmal wache ich mit meinem bärigen Namensvetter im Arm auf. Aber ich trage nie einen Eddingbart oder muss feststellen, dass meine Unterhosen flüchtig geworden sind. Gut so. Tim soll sich zusammenreißen. Nur leider kann er das nicht immer. Heute Morgen musste ich eine recht gewöhnungsbedürftige Entdeckung machen. Und um ehrlich zu sein tut mir noch jetzt der Bauch weh. Tim hat sich einen runtergeholt, als er dachte, ich schlafe. Auf seinem Laptop lief der Analritter-Porno. Tim trug Kopfhörer, sodass ich nicht hören konnte, wie die Kerle stöhnten, aber ich konnte alles sehen. Und das genügte. Irgendwann wurde das Gesicht des Osterinsel-Mannes im Großformat gezeigt, kurz bevor er abspritzte. In dem Moment konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich musste so schlimm lachen, dass ich Angst hatte, zu sterben oder so. Tim nimmt mir das übel. "Du wichst zu Comedy!", wiehere ich noch immer und klatsche Tim übermütig mit der flachen Hand auf den Bauch. "Cindy aus Marzahn soll auch sehr empfehlenswert sein, wenn man es mal wieder nötig hat." Tim schaut, als wolle er mich töten. "Aber du fährst trotzdem noch mit mir nach London. Oder?" Schweigen. Grabesblick. "Ich schick Felix." "Und ich töte deinen Teddy." Aber dann haben wir uns wieder ganz doll lieb und schwärmen gemeinsam von den gruseligen Musikvideos unserer Lieblingsband. Tim würde mich niemals diesem sich aufschneidenden und Vic an den Hals werfenden Etwas überlassen. Das weiß ich. Bei Tim hab ich einen Stein im Brett. 26. Juni - Ironie des Schicksals "Ey, guck mal." Ich gucke tatsächlich. Direkt auf den Bildschirm von Tims Laptop. Allerdings schmeichelt dieses Mal kein Osterinsel-Mann meinen Augen, sondern Vic. Vic wie er leibt und lebt. "Alter, was interessierst du dich für den?", fahre ich Tim an, dieser lässt sich jedoch von meiner Reaktion nicht aus der Ruhe bringen. Viel mehr glotzt er weiter in seine Kiste hinein und reißt die Augen sehr weit auf. "Hast dus nicht gelesen? Vic fährt auch nach London zum Konzert." "Was?" Meine Blicke scannen die Statusmeldungen auf Vics Profil. Tatsache. Dort steht es Schwarz auf Weiß. "Na prima!", ironisiere ich ganz aufgeregt. "Es ist ja bestimmt nicht so, dass er die Karten erst seit heute hat. Aber mich mal fragen, ob ich mit ihm gehe...nee, um Gottes Willen. Man sieht an solchen Sachen, dass er ein Idiot ist. Hübsche Fresse, aber scheiß Charakter." Ich rede mich so richtig in Rage. Tim wirkt ziemlich hilflos. "Hoffentlich sehen wir den dort nicht. Sonst ist mein ganzer Tag versaut." "Ach", winkt Tim ab. "Der wird dir am Arsch vorbeigehen. Und jetzt lass uns schon mal packen." "Mh." Ich hoffe, dass Tim Recht behält. Mein Schicksal ist in letzter Zeit einfach nur eine miese Bitch. 27. Juni - Jemanden enttäuschen London ist ein Traum. Der Scheiß der letzten Tage liegt weit hinter mir, als ich die Lichter der Stadt sehe. Ich dachte, Berlin ist riesig, aber was hier abgeht ist die Wucht. Unser Hotelzimmer ist schon klasse, doch als wir uns ins Nachtleben stürzen, um uns selbst willkommen zu heißen, bleibt mir die Spucke weg. Ich sehe, dass auch Tims Augen funkeln. Und auf meinem Gesicht breitet sich ein freudiges Grinsen aus. "Gehn wir rein?", frage ich und deute mit dem Kinn auf den Eingang eines geil aussehenden Schuppens. Eine heiße Mädelsgruppe schob sich gerade hinein. "Am liebsten würd ich heute Nacht ne Schnecke klarmachen.“ "Ich auch", stimmt Tim zu. Doch die erwartete Euphorie in seiner Stimme bleibt aus. "Ey, haste Schiss, dass die heißen Engländerinnen alle mit mir durchbrennen?" Das sollte ein Scherz sein. "Wenn du willst, kannst du doch jede haben...und jeden. Gegen dich kann ich nicht anstinken." "Ach, was denkst du denn?", schüttle ich den Kopf und klatsche Tim mit der flachen Hand kameradschaftlich auf den Rücken. "Ich teile mit dir natürlich brüderlich. Wirst sehen, ich werd dich nicht enttäuschen." Über Tims Gesicht zuckt ein Lächeln. So soll es sein. Sie kann beginnen, die Nacht unseres Lebens. 28. Juni - Küss mich Ich brauche kein Gras. Keinen Alkohol. Die Geschehnisse der gestrigen Nacht genügen mir, um das Prickeln in meinem gesamten Körper zu spüren. Der ungezwungene, unverbindliche Sex tat mir so gut. Und auch Tim ist viel relaxter. Ich beschließe, mich nie mehr fest zu binden und nur noch meine Freiheit zu leben. Die grenzenlose Freiheit, die sich mir bietet, als die Lichter ausgehen und das Konzert beginnt. Wenn etwas noch besser als Sex ist, dann ist es dieser Moment. Und all die nachfolgenden. Elektrisiert bin ich. Mir geht die Pumpe. In mir kribbelt es. Vorfreude. Adrenalin. Und dann stehen sie vor mir. Meine Helden, meine Götter, mein Ein und Alles! Gänsehaut, überall. Ich kann mich selbst so intensiv wie nie zuvor spüren. Jeden Muskel. Jedes Härchen, das sich auf meinem Körper aufstellt. Den Orgasmus in meinem Magen. Wir feiern so hart. Liegen uns in den Armen. Halten uns an den Händen. Grölen jede Zeile mit, scheißen darauf, dass wir kein Afrikaans sprechen. Wir sind eins mit der ganzen Welt. Mit der Musik. Mit den anderen Menschen in dieser Halle. Und ganz besonders Tim und ich verschmelzen miteinander. Seelisch sind wir uns so nah, dass es mich fast umhaut. Auch nach dem Konzert ebbt dieses unsichtbare Band nicht ab. Wir stehen uns einfach gegenüber und blicken uns wie bekifft grinsend in die Augen. "Das hab ich nur dir zu verdanken", kommt es mir rauer Stimme von mir. "Danke. Danke. Danke. Du bist so geil." Nur ein Kuss kann dem, was ich heute fühle, Ausdruck verleihen. Nur ein leidenschaftlicher Kuss, der unsere Verbundenheit besiegeln und den Endorphinrausch vertiefen soll. Ich falle in ein tiefes Loch. Kann das alles kaum mehr kompensieren. Packe Tim und presse ihn an die Bar. Mache weiter. Reagiere mich an ihm ab. Will ihn spüren. Er ist so geil. 29. Juni - Lampe Es war strange, was gestern abging. Extrem strange. Ich bin noch immer geflasht von dem Konzert und all den irren Gefühlen, die mich überfielen, und ich glaube, Tim geht es nicht anders. Den ganzen Tag schon liegt er im Bett und seufzt ab und zu. Ob er einfach nur fertig ist? Ja, der Kuss. Was hab ich da gemacht? Ich hab Tim abgeknutscht und möchte nicht wissen, wie weit ich gegangen wär, hätten wir uns im Hotelzimmer befunden und nicht in der Öffentlichkeit. Dabei war der Kuss im Nachhinein betrachtet irgendwie widerlich. "Ich gieß mir einen auf die Lampe", murmle ich und mache eine Flasche Bier auf. "Willste auch eins?" Tim ist selbst um nach der Flasche zu greifen zu alt und zu schwach. Leider haben wir keine Schnabeltasse. "Wasn los? Wirste krank?" "Nee." "Ein Glück, sonst hättest du deine Viren gestern mit mir geteilt." "Mh." "Boah, deine Lethargie nervt." Tim nippt an seiner Flasche. Schweigt. Und er ist blass. Holy shit. Ich ahne was. Vielleicht bin ich für Tim sogar mehr als nur das favorisierte Fickopfer. Gott, nee. Ob der in mich verschossen ist und wie ein Hund leidet, weil ich ihm mit dem Kuss falsche Hoffnungen gemacht habe? 30. Juni - 5 Minuten Pause Ich habe Vic gesehen. Am Flughafen. Vic und Felix. Zum Glück haben die beiden auch von Tim und mir Notiz genommen. Im Grunde würde ich mich freuen, wenn sie denken, mit Tim liefe was. Aber Tim nochmal abzuknutschen, um ihnen eine Racheshow zu bieten, kann ich nicht bringen. Außerdem ist das kindisch. "Ey, Mann, jetzt lach." Doch Tim lacht nicht. Wenn er so weiter macht, muss ich ihn wirklich auf meinen Verdacht ansprechen. Und dies wollte ich vermeiden; erstens, weil es peinlich ist und zweitens weil ich hoffe, Tims Fimmel vergeht wieder, wenn ich ihn ignoriere. Ich presse meine Zeigefinger an Tims Mundwinkel und ziehe sie weit auseinander. Herrlich, wie er grinst! Wenigstens ich habe meinen Spaß. Schließlich muss ich schon wieder an Vic denken und daran, dass der Ritzejunge nun diesen schönen Arsch sein Eigen nennt. Im Grunde geht mein Leben schon wieder weiter. Die paar Tage Auszeit fühlen sich an wie gerade mal fünf Minuten Pause von der Realität. Das Schlimme ist, dass ich nun nicht mal mehr einen Tim habe, der mich aufmuntern kann. Er hadert selbst mit sich und seiner Welt. Ich quatsche echt nicht gern irgendwelche Probleme tot, aber wir haben dringend etwas zu klären. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)