Brother Mine. von xAniki ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Brother Mine Kapitel 1 Die wichtigsten Dinge passierten immer im Winter. Langsam, ganz langsam, ließ Cain den Kopf in den Nacken sinken. Eine Schneeflocke landete auf seiner Wange, dann noch eine. Seine Wärme brachte die zarten Eisgebilde zum schmelzen. Obwohl er sich zum wiederholten Male fragte, wie das sein konnte. Denn von Wärme spürte er absolut nichts. Weder außen, noch innen. Seine Haut war bloße Biologie, erhitzt von der Energie, die nun mal entstand, wenn man lebte. Und was sein Inneres betraf... Das einzige, was er gerade fühlte, war eine kühle, träge Ruhe. Er öffnete die Augen und schaute nach oben in einen schwarzen Himmel. Absolute Dunkelheit in dieser Nacht. Kein riss in den dichten Wolken, kein Schein, der sie erhellte. Nur Dunkelheit. Und Stille. Es war Zeit. Cain wandte sich um und betrat das Krankenhaus durch den Haupteingang. Im Eingangsbereich kam ihm eine Schwester entgegen, ein paar Patientenakten in der Hand. Ihr Blick blieb ungläubig an ihm hängen. Was ihn nicht wunderte. Man traf nicht oft einen Jungen an, der nur in einem dünnen, schwarzen Rollkragenpullover durch diese Kälte spazierte. Und auf dem dunklen Stoff und seinem schwarzen Haar stach der ganze Schnee, der auf ihn gefallen war, natürlich noch hervor. Gerade als die Schwester ihn ansprechen wollte, erhielt er auch wie gewohnt die nächste Reaktion. Ein Blick in seine Augen ließ sie stutzen. Aber hey, sie machte keinen Schritt von ihm weg, wie die Meisten. Ein unnatürliches, warmes Orange ließ jeden stutzen. Cain ignorierte ihren Blick und schritt an ihr vorbei an den Informationsschalter. „Alice Grey“, sagte er schlicht und wartete, bis die Nachtschwester den Namen in den PC getippt hatte. Die dunklen Schatten unter ihren Augen sprachen dafür, dass die Nachtschicht nicht ihr Ding war. Sie wandte den Blick nicht ein Mal vom Monitor ab. „Entbindungsstation, dritter Stock, rechter Gang, zweite Tür.“ Cain sparte sich ein Danke und ging direkt in Richtung Fahrstuhl. Allerdings ging er direkt an ihm vorbei ins Treppenhaus. Das zarte Mintgrün der Wände ließ ihn die Nase rümpfen. Eine weitere Schwester kam ihm entgegen, diese blieb bei seinem Anblick allerdings nicht so cool. Er konnte in ihrem Ausdruck und ihrer Körperhaltung sehen, wie unangenehm sein Blick ihr war. Sie brachte kein Wort heraus und als sie an ihm vorbei ging klebten ihre Augen an ihm, also folgte er ihr auch mit starrem Blick. Als sie auf dem Treppenabsatz Kehrt machte, musste sie kurz wegsehen, kehrte dann jedoch schnell wieder zu ihm zurück und beschleunigte ihre Schritte, um möglichst schnell von ihm weg zu kommen. Er war stehen geblieben, um sie zu beobachten, was ihr noch zusätzlich angst zu machen schien. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, schüttelte er den Kopf. Ein ihm nur zu bekanntes Flüstern drang ihm ans Ohr. Und mit dem Flüstern kam die Kälte zurück. Nicht etwa durch seine nasse, kalte Kleidung. Nein, die Art von Kälte, die sich auf die Brust legte, das Herz umschloss und den Kopf klar machte. Als wolle sein Herz dagegen ankämpfen schlug es schneller. Das letzte Stück nahm Cain immer zwei Stufen auf einmal, bis er die Tür zum dritten Stock auf schob. Wände in babyblau und rosa. Na wunderbar. Bis zur beschriebenen Tür war es nicht weit und er öffnete sie leise. Zum Glück hatte er die Show verpasst. In dem Bett saß seine Mutter, verschwitzt und müde, aber ganz offensichtlich glücklich. In ihren Armen hielt sie ein Bündel, in eine weiße Decke gewickelt, das sie sanft in ihrem Arm wiegte. Eine Schwester und die Hebamme sprachen mit ihr und räumten geschäftig schmutzige Tücher weg und schüttelten Kissen auf. Als Cain sich in den Türrahmen lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte, verstummte die Schwester und schaute ihn überrascht an. Offenbar hatte sie keinen Gast erwartet. Als seine Mutter von dem Neugeborenen aufschaute und ihn erblickte wurde sie binnen Sekunden kreidebleich. Trotzdem, oder gerade wegen diesem Ausdruck in ihrem wunderschönen Gesicht, wirkte sie wie ein Engel. Oder eine Heilige. Das blonde Haar fiel ihr in üppigen Locken über die Schultern, die blauen Augen, plötzlich hellwach, starrten ihn an. Andere Mütter freuten sich, wenn ihr Sohn sich nach so vielen Monaten wieder blicken ließ. „Er hat es gerade erst in die Welt geschafft, Cain. Bitte...“, brach seine Mutter das Schweigen mit brüchiger Stimme. „Wie heißt er?“ Seine Mutter hielt die Luft an. Gerade wollte die Hebamme einschreiten, doch Cain brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Dann wandte er sich wieder seiner Mutter zu. „Sein Name.“ Sie schluckte. „Er hat noch keinen -“ „Du weißt es, oder?“ Cain stieß sich vom Türrahmen ab und ging zum Bett herüber. In Gedanken lobte er den Instinkt der Krankenschwester, die sich etwas vom Nachttisch griff, was sie im Notfall als Waffe benutzen könnte. Cain lächelte kurz und trocken. Was denn, hier hatte man Angst vor einem Teenager, der zu seiner Mutter wollte? ...Gut so. „Du kennst seinen Namen schon. Du hast dich nur nicht getraut, ihn ihm zu geben.“ Als Cain seine Hand nach dem Baby ausstreckte, wollte seine Mutter sich abwenden, doch im Bett kam sie nicht weit damit. Und sobald Cains Hand die Stirn des Jungen berührte, erstarrte sie und blickte ihn flehend an. Das Baby schmiegte sein Gesicht kurz an Cains Hand. Als würde er ihn kennen. Vielleicht tat er das auch. Vielleicht erkannte es instinktiv schon so früh, wer sein Blut in sich trug. Das Flüstern in Cains Ohr wurde lauter und für einen Moment war er verführt, ihm Gehör zu schenken. Einen Moment schloss er die Augen. Dann entschied er sich dagegen. Er zog die Hand zurück und blickte in das friedliche Gesicht des Babys. „Er soll die Chance haben, sich gegen sei Schicksal zu wehren. Erzähl ihm davon. Von seinem Vater. Von mir. Er soll vorbereitet sein, wenn ich zu ihm komme.“ Das Flüstern verstummte und Cain konnte die Entrüstung über seine Entscheidung fast körperlich spüren. Wieso machte er es sich unnötig schwer? Ein Baby zu töten war weit einfacher. Entwickelte er jetzt auch noch eine masochistische Ader? Merkwürdig. Sonst war das Gegenteil eher sein Gebiet. An der Tür wandte Cain sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf seinen kleinen Bruder, der fest und schützend in den Armen seiner Mutter gehalten wurde. „Wir sehen uns wieder, Abel.“ Cain zog die Tür hinter sich zu und ging den selben weg hinaus, den er rein gekommen war. Auf dem Weg wurde sein Herzschlag immer schneller, wobei seine Bewegungen und seine Atmung ruhig blieben. Unsichtbare Hände wollten ihn wieder in das Gebäude drücken, das Flüstern war wieder da, nur viel lauter. Es redete auf ihn ein, wollte ihn zurück zwingen, nach oben in dieses Zimmer. Wollte, dass er die Hände an den kleinen, schmalen Hals seines Bruders legte und ein Mal fest zudrückte. Eiskalte Luft drang in Cains Lungen, als er einatmete. Die Stille vor dem Krankenhaus erschien ihm unerträglich laut. Langsam tat er den ersten Schritt. Dann den zweiten, den dritten. Es war unheimlich schwer, sich von diesem Gebäude zu entfernen. Von seinem Bruder. Doch er wollte Gegenwehr. Er wollte, dass sein Bruder wusste, was mit ihm passierte, wenn es soweit war. Wenn es zum unvermeidlichen kam sollte Abel ihm in die Augen blicken können. Kapitel 2: ----------- Kapitel 2 Ein paar Winter zuvor. Der Gedanke, dass das, was er getan hatte, falsch sein könnte, kam Cain erst ziemlich spät. Und selbst als er da war, berührte er ihn nicht. Daraus schloss er, dass etwas Falsches zu tun nicht zwingend bedeutete, sich dadurch schlecht zu fühlen. Er senkte den Blick auf seine blutverschmierten Hände. Das Blut war noch warm. Doch der Mann, der vor ihm lag, atmete nicht mehr. Dann schaute er in das Gesicht des Toten. Die Wut kochte noch immer in Cain und ließ ihn zittern, doch ließ sie allmählich nach und wich ganz langsam der Genugtuung, den Kerl umgebracht zu haben, der die Hand gegen seine Mutter erhoben hatte. Er war ihr Kollege gewesen. Den Hintergrund des Streits hatte Cain gar nicht mitbekommen. Als er den Raum betreten hatte, war der erste Blick genug. Der Kerl stand vor seiner weinenden Mutter und wollte sie schlagen. Cain hörte die Tür hinter sich und Schritte, da wusste er, dass sein Vater nach Hause gekommen war. Der kam hinter seinem Sohn zum Stehen und ließ seine Jacke neben sich auf sie Couch fallen. Er sagte nichts. Und tat auch nichts. Irgendwann drehte Cain sich um. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um seinem Vater ins Gesicht sehen zu können. Als Zehnjähriger konnte man seinem Vater eben noch nicht auf Augenhöhe begegnen. Foras Grey war ein großer Mann, gut aussehend und kräftig. Doch eines fiel bei ihm auf, was er seinem Sohn mitgegeben hatte. Die außergewöhnliche Augenfarbe, die besonders oft auffiel, weil er seinem Gegenüber stets direkt in die Augen blickte. Überrascht stellte Cain fest, dass weder Schock noch sonstige Verwunderung in Foras Ausdruck zu sehen war. Stattdessen umspielte ein leichtes Lächeln seine Augen. Er ging vor seinem Sohn in die Hocke. „Ich hatte also doch Recht“, stellte er fest. „Mit was?“ „Du kommst nach mir. Mein Blut in dir ist stark genug in dir, und du bist alt genug, dass es sich in deinem Wesen zeigt.“ Cains Brauen zogen sich zusammen. „Ich bin... ein ganz normales Kind.“ Ein trockenes, leises Lachen kam aus der Kehle seines Vaters. „Bist du das? Und wo ist dann deine Mutter?“ Überrascht hob Cain den Kopf und sah sich um. Seine Mutter saß, ganz in die Ecke des Raumes gedrückt, am Boden. Die Arme hatte sie fest um sich geschlungen und sie starrte mit weit aufgerissenen Augen, aus denen noch immer Tränen flossen, auf die Blutlache. Cain nickte in ihre Richtung. „Da.“ Nun lächelte sein Vater wirklich und griff nach Cains Händen. Das Blut störte ihn nicht. „Warst du wütend auf den Mann?“ „Ja.“ „Wollte er deine Mutter etwas tun?“ „Ja.“ „Und jetzt? Geht die Wut weg?“ Cain nickte. Der prüfende Blick seines Vaters lag auf seinem Gesicht. „Machst du dir Sorgen?“ „Darüber, ob ich Ärger kriege? Ja schon...“ Als Foras auflachte, wich Cain vor Überraschung einen Schritt zurück, wurde aber von den Händen seines Vaters zurückgehalten. „Du hast einen Mann getötet, um deine Mutter zu schützen. Doch machst du dir um sie keine Sorgen. Das tust du jetzt nicht, und das hast du auch eben nicht. Das Einzige, was da war, war die Wut und der Wunsch, zu töten. Habe ich nicht Recht, mein Kleiner?“ Cain hielt die Luft an. Sein Vater... hatte recht. Was war denn los mit ihm? Er schaute wieder zu seiner verstörten Mutter, zu dem Toten und schließlich wieder in das zufriedene Gesicht seines Vaters. Er war kein normales Kind. Das war ihm sofort klar. Ein normales Kind hätte soetwas nicht getan. Und ein normales Kind wäre zu seiner Mutter gelaufen um bei ihr zu sein. Hieß das jetzt, er konnte soetwas wie Sorge nicht empfinden? Wenn er so darüber nachdachte, fragte er sich, wann er sich das letzte Mal richtig gefreut hatte. Oder Zuneigung für einen Menschen empfunden hatte. Und er einzige Moment, der sich gerade in seinen Kopf drängte war... nur etwa ein paar Minuten her. Als er das Leben aus den Augen dieses Mannes hatte weichen sehen und das letzte Röcheln vernommen hatte, war das Gefühl der Erfüllung für einen kurzen Moment da gewesen. Die starke Hand seines Vaters landete auf Cains Schulter. „Ich werde dir beibringen, zu leben, mein Sohn“, sagte er mit gewissem Stolz in der Stimme. „Glaub mir, die Wut ist ein guter Freund. Um den Kerl da ist es nicht schade. Er hat den Tod verdient. Und wenn ich dich so ansehe, hattest du Spaß bei der Sache, hm? Das ist richtig so. Das ist gut.“ Gut. Gut? Wenn sich etwas gut anfühlen sollte, warum folgte dem dann diese unglaubliche Kälte? Cain schluckte hart. Tief in sich suchte er. Irgendwo musste doch etwas sein, was er empfinden konnte. Wieder fixierte er seine Mutter mit den Augen, die ihn gar nicht zu sehen schien. Empfand er nichts für sie? Sie hatte sich immer um ihn gekümmert, ihn mit ihrer Liebe überschüttet und alles für ihn getan. Er sah, wie schlecht es ihr ging, dass sie Angst hatte und vollkommen aufgelöst war. Und es war ihm egal. „Warum?“, brachte er heiser heraus. „Du bist ein Dämon, Cain.“ Damit hatte Foras wieder seine volle Aufmerksamkeit. „Ein... was?“ Foras legte sich eine Hand an die Brust. Durch das Blut hinterließ er dort einen tief roten Fleck auf dem weißen Stoff. „Ich bin ein Dämon. Und in dir fließt mein Blut. Das ist es, was dich zu dem macht, was du jetzt bist.“ Ein Schluchzen aus der Zimmerecke ließ sie beide zu Cains Mutter blicken. Sie schüttelte den Kopf und weinte. „Hör auf, ihn zu verleugnen, Alice. Ich hatte recht. Wie ich es dir gesagt habe.“ Cain biss sich auf die Lippe. Der Schmerz brachte wieder etwas Klarheit in seinen Kopf. Er hatte böses Blut. Dämonenblut. Von seinem Vater. Deshalb tötete er. Und er wusste, dass es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde. Fünf Jahre später stand Cain über der Leiche seines Vaters. In seinem Kopf herrschte Leere. Genau wie in seiner Brust. Wie in Zeitlupe glitt das Messer aus seiner Hand und fiel klirrend auf die Fliesen. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Lippen. Und überrascht stellte Cain fest, dass sich eine Träne den Weg über seine Wange bahnte. Nur eine. Wann hatte er das letzte Mal geweint? Er erinnerte sich nicht, dass er es überhaupt je getan hatte. Er spürte auch jetzt keine Trauer. Nur die dumpfe Gewissheit, dass er den einzigen Mann getötet hatte, der ihn je hatte verstehen können. Wie war es nur so weit gekommen? In den letzten Jahren hatte Foras ihm gezeigt, wie er sein Leben führen sollte. So wie er es selbst gelebt hatte. Cains Vater war ein ausgesprochener Sadist gewesen. Das Leid, und vor allem der Schmerz anderer hatten ihm eine unglaubliche Freude bereitet. Anhand von Obdachlosen hatte er Cain gezeigt, wie lange man einen Menschen töten konnte, ohne dass er starb. Die würde niemand vermissen, hatte er gesagt. Und tatsächlich scherte sich die Polizei keine Sekunde um sie. All die Zeit hatte Cain das Gefühl, sein Vater würde seine Gedanken lesen können. Egal in welcher Situation, Foras wusste immer was er wollte und wie er sich fühlte. Wenn Cain wissen wollte, wie ein Mann schrie, wenn man ihm die Finger abschnitt, hatte sein Vater genau das getan und es ihm gezeigt. Mit Cains fünfzehntem Geburtstag änderte sich alles. Er wusste nicht, woher es plötzlich kam, doch ein unbekanntes Gefühl, ein Gedanke schlich sich in seinen Kopf. Was er und sein Vater taten, war falsch. Im Spiegel sah Cain sich selbst in die unnatürlich orangefarbenen Augen und versuchte, sich selbst zu verstehen. Er schaffte es nicht. Doch der Gedanke wurde stärker. Und damit der Hass auf seinen Vater. Es war sein Blut, sein Blut in Cains Adern, das ihn diese Dinge tun ließ. Es verdrängte alles Gute, was seine Mutter ihm zu geben versucht hatte. Dämonenblut war dicker als Menschenblut. Hätten seine Eltern ihn nicht zur Welt gebracht, würde es weniger Böses auf der Welt geben. Nur weil dieser Mann sein Blut weitergegeben hatte... In dem Moment wusste Cain, was er zu tun hatte. Nun stand er hier. Anders als bei den Männern, die er zuvor getötet hatte, verschwand der Hass jedoch nicht. Je länger er auf seinen toten Vater herunter sah, desto wütender wurde er. „Das hier ist alles deine Schuld, alter Mann“, murmelte Cain. „Aber die Welt muss sich jetzt nicht mehr mit dir herumschlagen. Ich werde den Teufel tun, dein Blut weiter zu geben...“ Ein erstickter Schrei hinter ihm ließ Cain aufsehen. Richtig, er hatte wieder im Haus seiner Eltern getötet. Seine Mutter war bis an die nächste Wand zurückgewichen und schlug sich die Hände vor den Mund. Er hatte sie gar nicht kommen hören. „Er ist tot, Mom“, sagte Cain ruhig. Alice sah ihn an. Nach und nach wich der Schock aus ihrem Gesicht, allerdings nur um Platz zu machen für Angst und... Erleichterung? „Er wird dir nichts mehr tun. Nie wieder.“ Um sie zu beruhigen versuchte Cain ein Lächeln. Alice war eine gute Frau mit einem reinen Herzen. Auch wenn Cain ihr niemals die Liebe würde geben können, die sie verdiente, konnte er ihr zumindest das nehmen, was ihr das Leben zur Hölle machte. Und das hatte er getan. Blieb nur noch... „Ich werde weggehen.“ „Was?“, keuchte sie erschrocken. „Du brauchst keine Angst zu haben. Nicht vor ihm und nicht vor mir.“ Cain legte sich die blutverschmierte Hand aufs Herz. „Das Blut des Dämons stirbt mit mir. Weit weg von dir.“ Als Cain sah, wie seine Mutter unbewusst die Hände auf ihren Bauch legte, gefror ihm augenblicklich das Blut in den Adern. Nein... „Mom...“ Erschrocken sah Alice auf. Schnell zog sie die Hände vom Bauch, nur um sie danach schützend um sich zu schlingen. Tränen traten in ihre Augen. Cain schluckte trocken. Dann ging er langsam auf seine Mutter zu. Sie drückte sich noch mehr gegen die Wand und weinte heftig. „Bitte... Bitte, Cain. Tu das nicht. Bitte...“ Vor Alice kam Cain zum Stehen, den Blick auf ihren Bauch gerichtet, den sie so verzweifelt vor ihm zu schützen versuchte. Unnötig. „Dieses Kind wird wie ich, Mom. Wie er.“ Cain blickte seiner Mutter in die Augen und atmete durch. „Ich sagte doch, ich werde dir nichts tun.“ Er konnte sehen, wie sie Luft holte. „Aber dieses Kind... Ich kann nicht zulassen, dass es noch jemanden gibt, der mit diesem verseuchten Blut durch die Welt läuft.“ Langsam ging Cain ein paar Schritte rückwärts, bis er an der Tür angekommen war. Es fiel ihm schwer, seine Mutter hier zurück zu lassen. Aber er hatte keine Wahl. „Wir sehen uns in ein paar Monaten, Mom.“ Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er den verzweifelten Schrei seiner Mutter nur gedämpft. Auf dem Weg nach draußen ging er schnurstracks an seiner Jacke und anderen wärmenden Kleidungsstücken vorbei. Er hatte keine Wärme verdient. Nie mehr. Vatermörder. Beim Öffnen der Haustür schlug ihm eine Schneewehe entgegen und die eisige Kälte drang direkt durch seine dünne Kleidung. Der Winter dauerte verdammt lange in diesem Jahr. Vielleicht extra für ihn. Immerhin mussten die wichtigen Dinge im Winter passieren. Wie er so durch die dunklen, verschneiten Straßen lief, zitternd vor Kälte und planlos, wohin er gehen sollte, wurde Cain zum ersten Mal eine Sache bewusst. Er war vollkommen allein. Kapitel 3: ----------- Kapitel 3 Viele Winter später saß Cain auf einer Bank im Stadtpark. Es wurde allmählich ruhiger. Die Tage waren kurz und die Sonnenuntergänge kamen früh. Wie jedes Jahr im Winter. Bevor es dunkel wurde, sammelten die Eltern ihre Kinder ein, die im Park Schneemänner bauten und sich Schneeballschlachten lieferten. Und mit dem letzten Kinderlachen, dass den Park verließ, las Cain den letzten Satz in seinem Buch. Geräuschvoll ließ er es zuklappen. Wie jedes Buch war dieses eins über Helden. Der Böse wird am Ende besiegt oder kommt auf die gute Seite. Letzteres gefiel ihm besser und machten den Großteil seiner Sammlung an Büchern aus. Und manchmal bildete Cain sich ein, es würde wirklich so enden können. Die letzten beinahe zwanzig Jahre hatte er mit Warten verbracht. Und wenn man wartete, hatte man viel Zeit zum nachdenken. Zu viel. Und an den besonders fantasievollen Tagen stellte Cain sich vor, er würde seinen Bruder finden, den guten Bruder, der es schaffte, das böse Blut in ihm auszulöschen und ihn auf die gute Seite zu holen. In dieser Vorstellung war Abel soetwas wie sein Engel. Sein Retter. Doch diese Fantasien endeten immer gleich. Selbst wenn Abel nicht böse war, hatte er doch das Blut ihres Vaters in sich. Wenn es bei ihm selbst nicht ausbrach, dann vielleicht bei seinen Kindern. Cain musste auf Nummer Sicher gehen. Das hatte er damals gewusst und auch jetzt, als erwachsener Mann, wusste er es. Cain senkte den Blick auf das Buch und seine Hände, die es hielten. Sie waren rot von der Kälte und schmerzten. Der Gedanke an seinen liebsten Weg, seine Hände zu wärmen, drängte sich mal wieder in seinen Kopf: Blut. Und zwar nicht sein eigenes. Zu töten war soetwas wie ein natürliches Bedürfnis für ihn, fast noch wichtiger als Essen und Schlafen. Meist schaffte er es, sich auf Menschen zu beschränken, die niemand vermissen würde. Penner, Junkies, Huren. Manchmal waren sie so voller Drogen, dass sie gar nicht richtig mitbekamen, wie sie langsam von ihm zugrunde gerichtet wurden. Was Cain ganz gelegen kam. Schreie erregten immer so viel Aufsehen. Er ließ das Buch in seine Tasche gleiten, als eine alte Frau mit ihrem Rollator und einer vollen Einkaufstasche an ihm vorbeiging. Ungläubig starrte sie ihn an und konnte sich vermutlich wie die Meisten nicht entscheiden, ob sie ihn gut aussehend oder unheimlich fand. Beides wahrscheinlich. Sein schwarzes Haar reichte ihm etwas strubbelig bis zum Kinn, das rau von dunklen Bartstoppeln war. Sein schlanker, trainierter Körper steckte wie immer in einem schwarzen, dünnen Langarm-Shirt, einer einfachen Jeans und Turnschuhen. Dazu kamen natürlich noch seine Augen, mit denen er den Blick der alten Frau starr erwiderte. Schnell wandte sie sich ab und beschleunigte ihr Tempo so gut es ihr veraltetes Gestell zuließ. Cain beugte sich nach vorn und versenkte seine Hände im Schnee. Sofort protestierten seine Nerven mit überdeutlichem Schmerz. Er brauchte dieses Gefühl. Irgendwie musste er die Leere in seiner Brust bekämpfen. Der Wunsch, jemandem nah zu sein, unterlag mal wieder seinem Verstand, den er durch den Schmerz klärte. Er war ein Monster. Die einzigen gefallen, die er jemandem tun konnte, waren, sich von ihnen fern zu halten und das andere potenzielle Monster, seinen Bruder, auszulöschen. Ein bitterer Geschmack legte sich in Cains Mund. Die Kälte reichte heute nicht. Er zog die Hände aus dem Schnee und spürte seinen Herzschlag hämmernd in den Fingerspitzen. Es wurde Zeit für ihn, seine Aufgabe zu erledigen. Er hätte sich nicht ablenken lassen sollen. Aber zu seiner Rechtfertigung,der Kerl hatte ihn einfach provoziert. Hatte ihn angepöbelt und ihm seine stinkende Alkoholfahne ins Gesicht gehaucht. Cain wusch sein Messer im Schnee und steckte es wieder ein, ehe er den Blick durch die dunkle Gasse schweifen ließ. So eine Sauerei. Bis auf die gigantische Blutlache unter dem Penner waren noch zahlreiche große und kleine Blutspritzer überall im Schnee und auf den Wänden verteilt. Wer auch immer diesen Kerl bei Tagesanbruch fand würde vermutlich einen Schock fürs Leben bekommen. Und Cain hatte die Spur verloren. Bis hierher hatte er seinen Bruder verfolgen können. Eigentlich hatte er ihn konfrontieren wollen, hier in dieser Gasse. Jetzt war die Gasse leider... belegt. So eine Scheiße. Etwas mehr hatte sein Bruder schon verdient, als neben einem ausgebluteten Penner zu sterben. Als Cain sich zum Gehen wandte, erblickte er am offenen Ende der Gasse eine Person. Die Straßenlaternen brannten nicht mehr zu dieser späten Stunde, aber das Mondlicht wurde vom dem Schnee reflektiert, dass man mit guter Nachtsicht alles sehen konnte. Und diese Nachtsicht hatte Cain schon immer. Die Person kam langsam auf Cain zu, der vollkommen entspannt den jungen Mann beobachtete und sich nicht vom Fleck rührte, bis der Kerl neben ihm zum Stehen kam, den Blick auf die zerfetzte Leiche gerichtet. Sie schwiegen sich eine Weile an, keiner von ihnen bewegte sich, bis der junge Mann den Kopf zu Cain drehte und ihm direkt in die Augen blickte. „Abel.“ „Cain“, antwortete der junge Mann. Es war das erste Mal, seit er ihn als Baby besucht hatte, dass Cain seinem kleinen Bruder so nah war. Abel war fast einen Kopf kleiner als Cain, hatte blondes, kurzes Haar und klare, blaue Augen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war sanft und seine Haltung entspannt. Er war das komplette Gegenteil von Cain. Und damit erfüllte er sämtliche Klischees, die Cain aus all seinen Büchern kannte. Der gute Bruder, der sein böses Gegenstück bekehrte. Und sie lebten glücklich und zufrieden... „Du hast vor, mich zu töten.“ Das war keine Frage. Cain war etwas überrascht, wie nüchtern Abel diesen Satz über die Lippen brachte. Keinerlei Angst war in seiner Stimme zu hören. Ihre Mutter hatte ihn wohl gut auf sein Schicksal vorbereitet. „Ja“, gab Cain trocken zurück. Nun wandte Abel sich ihm vollkommen zu und Cain tat es ihm gleich. Im Kopf hatte Cain in den letzten Jahren sämtliche möglichen Szenarien durchgespielt. Das hier war eines davon. Es fiel ihm leicht, alles in seinem Kopf zu ordnen und ruhig an das Bevorstehende heranzugehen. Sein Bruder war der Engel, der, wenn man ihn nicht aufhielt, gegen seinen Willen das Böse verbreiten konnte. So nett und gutherzig er auch war, Cain konnte ihn stoppen. Und nur, weil er vorbereitet war. Hätte er überraschend in ein nettes statt in ein böses Gesicht geblickt, wäre es wohl nicht so einfach. „Erkläre es mir, Cain.“ „Was?“ „Wieso du mich töten willst.“ Als Abel Cains Hände in seine nahm und sich die Wärme auf Cains Fingern ausbreitete, spürte er innerlich nichts. Es war so leicht, sich abzuschirmen, wenn man wusste, was bevorstand. „Hat sie das noch nicht zur Genüge?“ „Nein. Nicht aus deiner Sicht.“ Heilige Scheiße. Er zog diesen Engels-Mist wirklich durch. „Fein, wie du willst. Unser Vater war ein Dämon. Und das meine ich wörtlich. Er war nicht menschlich. Er hatte die gleichen, unnatürlichen Augen wie ich. Und den gleichen Drang zu töten. Er hat es nie bereut, war ein gewissenloser Sadist. Um zu verhindern, dass auch nur ein Tropfen seines dreckigen Blutes weitergegeben wird, habe ich ihn umgebracht. Und dann kamst du.“ Ein sanftes Lächeln legte sich auf Abels Lippen. „Aber wenn du ihn ausgelöscht hast, um zu verhindern dass sich seine Bosheit verbreitet, hast du doch etwas Gutes getan.“ Cain lachte bitter. „Hör mal, Kleiner. Du hast keine Ahnung, wie viele Leute ich seitdem umgebracht habe. So wie den da“, sagte er und deutete über die Schulter. „Sein Blut ist in mir. Und auch, wenn man es dir nicht ansieht, ist es auch in dir. Ich muss sicher gehen, dass es keinerlei Nachkommen von ihm gibt. Das ist das Einzige, was ich für diese Welt tun kann.“ Cain hatte mit allem gerechnet, alles eingeplant. Nur nicht, dass Abel in lautes, herzhaftes Gelächter ausbrach. Überfordert beobachtete Cain seinen Bruder, wie ihm vor Lachen Tränen in die Augenwinkel traten und er eine Hand von Cains lösen musste, um sich den Bauch zu halten. Und mit jeder Sekunde wuchs die Wut in Cain. Eine Wut, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er riss auch die andere Hand von Abel los, der noch immer nicht aufhören konnte, zu lachen. „Was ist daran bitte lustig?“ Japsend versuchte Abel, zu Atem zu kommen. „Es ist unglaublich... Haha... wie blind du bist, Bruder.“ Cain ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Was bildete dieser kleine Bengel sich eigentlich ein? „Jetzt hör mir mal zu. Deine gutherzige, glückliche Art wird dich jetzt auch nicht mehr retten. Ich habe die letzten Jahre vollkommen allein verbracht. Ich habe nur auf dich gewartet, damit du dich mir stellen kannst. Ich habe -“ Der Schlag ins Gesicht traf Cain vollkommen unerwartet. Und es steckte so viel Kraft dahinter, dass Cain kurzerhand zu Boden ging. Mit vor Überraschung geweiteten Augen schaute er zu seinem kleinen Bruder, der sich nun über ihm aufbaute und mit verächtlichem Blick auf ihn herab blickte. In seinem Gesicht zeigte sich keine Spur mehr von dem Lachen. „Und jetzt hörst du mir mal zu, großer Bruder. Du liegst in allem, aber auch wirklich verdammt nochmal allem, absolut falsch. Fangen wir bei deinem Warten und deiner Suche nach mir an.“ Abel ging über den Knien seines Bruders in die Hocke. „Du denkst, du hast mich gefunden. Dabei habe ich mich von dir finden lassen. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, Cain. Und gewartet, wann du es endlich schaffst, zu mir zu kommen.“ Langsam schüttelte Abel den Kopf. „Deine selbst auferlegte Einsamkeit war Mist, das sage ich dir. Und irgendwie sinnlos. Wolltest du dich damit selbst bestrafen? Wie mit dem dauernden Frieren? Schmerz durch Kälte, hm? Na immerhin kreativer als diese Rasierklingen-Nummer.“ Cain konnte seinen Bruder nur anstarren. Was zur Hölle ging hier vor? „Und jetzt zu deinem super Plan, mich umzubringen. Und dich vermutlich gleich hinterher, weil ja nichts Böses auf der Welt zurück bleiben soll, hm? ...Wie naiv bist du eigentlich?“ Abel setzte sich neben Cain, einfach so in den Schnee. „Zunächst mal war unser alter Herr wohl kaum der einzige Dämon auf diesem Planeten, hm?“ Cain wurde eiskalt. „Und noch dazu kannst du nicht davon ausgehen, dass die Menschen nicht auch böse sein können. Ja, unsere Mutter ist eine Ausnahme. Sie ist wirklich ein wahrer Engel. Aber der Rest? Komm schon, Cain. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass unsere Tode dieser Welt weiter helfen?“ Cain konnte nicht antworten. Er konnte seinen Bruder nur anstarren. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und in seinem sonst so klarem Kopf herrschte ein heilloses Chaos. Und seine Wange schmerzte. Abel lächelte und schüttelte den Kopf, wie über ein Kleinkind, dass bei seinen ersten versuchen zu laufen immer wieder über die eigenen Füße stolperte. Dann erhob er sich und klopfte sich den Schmutz und den Schnee von der Kleidung. „Also, Cain, was hältst du davon. Du tötest weder mich noch dich. Stattdessen fängst du endlich mehr mit deinem Leben an und machst dich nützlich. Du kannst natürlich weiter allein vor dich hin vegetieren und arme Nichtsnutze umlegen...“ Er stellte sich über Cain und hielt ihm die Hand hin. „Oder du kommst mit mir und wir kümmern uns ein Bisschen um die bösen Jungs auf dieser Welt.“ Cains Herz setzte für einen Moment aus, ehe es einen Hüpfer machte. Dieses Gefühl, dass sich in ihm ausbreitete... das war unglaublich. Warm... so warm. Und es verbreitete sich schneller, als er es erfassen konnte. Was zur Hölle war das? Cain schluckte trocken und spürte eine merkwürdige Wärme auf seiner Wange. Abel stutzte und hob überrascht die Brauen. „Ach du meine Güte, ich hab dich echt durcheinander gebracht, hm?“ Abel strich Cain über die Wange, der erst dadurch merkte, dass sie feucht war. Verdammte Scheiße, weinte er gerade? Ruckartig packte er nach Abels Arm und schaute ihn fest an. Er brachte nicht ein Wort über die Lippen. Abel lächelte. Dann zog er Cain auf die Beine, mit einer Kraft, die man seinem schmalen Körper nicht zugetraut hätte. „Also dann, Großer. Machen wir uns auf den Weg. Und was das da betrifft...“ Abel deutete mit dem Daumen auf den blutigen Haufen Mensch am Boden. „Ich zeig dir, wie man das richtig macht. Kaum zu glauben, dass du all die Jahre so stümperhaft gearbeitet hast...“ Das Lächeln auf Cains Lippen fühlte sich eigenartig und fremd an. Und trotzdem war es ein gutes Gefühl. Als er erneut nach Abels Arm griff, wandte dieser sich mit fragendem Blick zu seinem großen Bruder um, nur um eine Sekunde Später in dessen starke Arme gezogen zu werden. Offenbar war das doch nicht das Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)