Zeit von Flordelis ((angedeutet) Shinjiro x Minako) ================================================================================ Time ~ Old dry winds go by ~ ---------------------------- Der kühle Nachtwind verriet, dass der September sich bereits dem Ende neigte, dementsprechend waren sie die einzigen beiden Personen, die sich am Naganaki Schrein aufhielten. Stille umfing sie, es war als wären sie die einzigen beiden Personen in dieser Stadt oder als ob dieser Ort von einem ganz besonderen Zauber umgeben wäre, der alle anderen Geräusche von außen fernhielt. Sie saßen auf einer der Bänke am Spielplatz, auf der normalerweise tratschende Mütter saßen, wenn sie mit ihren Kindern herkamen und auf der sie jedes Mal saßen, wenn sie mit Koromaru diesen Ort aufsuchten und ihn sich austoben ließen. An diesem Abend waren sie allerdings nur zu zweit, nicht einmal der Hund war bei ihnen. „Wo hast du das gefunden?“ Shinjiros Stimme durchbrach die Stille, ohne sie urplötzlich zersplittern zu lassen, er hielt eine Taschenuhr hoch. „Jemand hat sie zur Polizeistation gebracht“, antwortete Minako. „Dort habe ich sie dann abgeholt.“ „Ich verstehe...“ Er spielte ein wenig mit der Uhr in seiner Hand als müsste er sich noch davon überzeugen, dass es sich um die richtige handelte und es keine Verwechslung war. Es war nur eine einfache, alte, abgetragene Taschenuhr aus billigem Metall, die man sich um den Hals hängen und an deren Zifferblatt man die Zeit ablesen konnte. Mit jeder Sekunde, in der sich der kleinste Zeiger vorwärtsbewegte, verstrich etwas mehr seiner Lebenszeit und näherte sich dem unvermeidlichen Ende, mit dem sich jeder einmal konfrontiert sah und auf das er bereits gefasst war. „Ich dachte, es ginge mir gut, wenn ich sie nie wiedersehen würde...“, fuhr er gedankenverloren fort. Jeder andere hätte sich nichts weiter daraus gemacht und sich eine neue gekauft, sobald sie den Verlust bemerkt hätten oder sie wären erleichtert gewesen, nun nicht immer daran erinnert zu werden, dass ihre Lebenszeit verstrich. Aber er verband diese Taschenuhr mit allerlei Erinnerungen und das machte sie zu einem besonderen Gegenstand für ihn. Nun hielt er das Verlorengeglaubte wieder in der Hand und das alles nur wegen... „Aber ich hätte mir nie vorgestellt, dass ausgerechnet du sie mir wiederbringen würdest.“ Er hob den Blick von der Uhr, die Brauen zusammengezogen, die Stirn gerunzelt, ein Anblick, der so manchem Furcht einjagte – aber Minako zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern erwiderte seine Ernsthaftigkeit mit einem Lächeln, als ob sie genau wüsste, dass sie vor ihm nichts zu befürchten hatte. Er seufzte innerlich und ließ die Uhr vorerst in seine Tasche gleiten, während er gleichzeitig nach etwas darin suchte. „Es ist nicht wirklich eine Belohnung, aber ich will, dass du es bekommst.“ Seine Finger schlossen sich um den gesuchten Gegenstand, doch bevor er ihn hervorholte, beobachtete er, wie Minakos Lächeln sich in eine ratlose Mimik verwandelte, in der lediglich noch das Fragezeichen auf ihrer Stirn fehlte, um das manga-esque Bild zu vervollständigen, das sie ihm da gerade bot. Doch nach einem kurzen, innerlichen Lachen zog er eine einfache lederne Armbanduhr hervor. Genau wie seine Taschenuhr war sie nichts Besonderes, wenn man sie einfach so betrachtete, aber er hoffte, dass sie vielleicht eines Tages erkennen könnte, was er darin sah. „Ich habe ein wenig gezögert, ob ich sie dir geben sollte oder nicht.“ Sie bedankte sich, als sie die Uhr in ihre Hände nahm, um sie besser betrachten zu können. Die Verwirrung stand immer noch groß auf ihrem Gesicht geschrieben, weswegen er noch ein gemurmeltes „Ich dachte, sie würde gut an dir aussehen“ hinzufügte. „Aber warum eine Uhr?“, hakte sie irritiert nach. „Weil...“ Er hielt inne. Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf umher, hielten ihm vor Augen wie wunderbar die Zeit und wie grausam sie gleichzeitig sein konnte und dass es doch tröstend war, den Lauf der Zeiger zu beobachten und dabei daran zu denken, dass der Lauf für jeden derselbe war. Er wollte ihr mitteilen, dass man so viele wunderbare Erinnerungen sammeln konnte, während die Zeit voranschritt und dass er sich genau das für sie wünschte: Schöne Erinnerungen, die sie ihr ganzes Leben hindurch begleiteten, weil sie solche verdient hatte und weil er ihr schon bald eine furchtbare bescheren würde. Er wollte ihr sagen, dass er sich wünschte, dass sie erkannte, wie kostbar die Zeit war. Aber er konnte all diese Gedanken nicht in Worte fassen, ihr nicht übermitteln, was er dachte und fühlte, denn er hatte so etwas nie gelernt und nun fand er, dass es viel zu spät dafür war. Deswegen hob er die Schultern. „Sie lässt dich wissen, wie spät es ist. Das ist alles, woran ich denken konnte.“ Er versuchte zu lächeln, konnte sich aber vorstellen, dass lediglich eine Art Grimasse dabei herauskam, da ihm nicht wirklich danach war. Doch auch davon ließ Minako sich nicht abschrecken, stattdessen legte sie kurzentschlossen die Uhr an, nachdem sie diese ausgiebig von allen Seiten betrachtet hatte. Sie schien sich wirklich über dieses Geschenk zu freuen, was wiederum Shinjiro... glücklich machte. Schweigend blickte er auf seine Füße hinab. Er überlegte. Wieder wirbelten alle Gedanken durcheinander, es gab so viel, das er ihr sagen wollte, so viel, das er ihr sagen musste, aber er brachte es nicht über sich. Nicht nur, weil er die Gedanken nicht ordnen und in anständige Sätze formulieren konnte, sondern auch, weil er spürte, dass er damit seine eigene Entschlossenheit ins Wanken bringen und sie um einen Platz bitten würde, der ihm nicht im Mindesten zustand. Er wollte sie nicht mit dieser Bürde belasten, die bereits seine Schultern schwer werden ließ, nicht sie. Also sprach er von etwas, wovon er mehr verstand und was ihm auf dem Herzen lag. „Kümmere dich um Aki. Du weißt, dass er ein Idiot ist.“ Noch bevor sie Einspruch erheben oder nachhaken konnte, erzählte er ihr von seinem ersten Streit mit seinem besten Freund. Er berichtete ihr von der Puppe, die er für Akihikos Schwester gestohlen hatte, um sie glücklich zu machen, davon wie wütend dieser deswegen geworden war und auch davon, wie er von seinem besten Freund deswegen verprügelt worden war. „... und er weinte die ganze Zeit.“ Er sah Akihiko vor sich, das Gesicht schmutzig, lediglich mit feinen sauberen Linien, die von den Tränen hinterlassen wurden, die stetig aus seinen Augen liefen, er spürte die schon damals reichlich schmerzhaften Schläge als wäre er gerade wirklich in dieser Situation – und unter all dem fühlte er die Besorgnis und das Rechtsbewusstseins seines Gegenübers, der nur verhindern wollte, dass jene, die er liebte in Kreise abrutschten, die er selbst nicht gutheißen konnte. „Danach sind wir beide zum Laden zurück, um die Puppe zurückzugeben... und damit ich mich dafür entschuldigen konnte. Der Spielwarenladenbesitzer schlug uns beide.“ Er lächelte ein wenig bei der Erinnerung daran, die, so seltsam es für einen Unbeteiligten klingen musste, doch zu jenen gehörte, die er gern in seinem Herzen trug. Zu seiner Verwunderung, aber auch seiner Erleichterung, schien Minako es genauso zu sehen, denn der Hauch eines Lächelns erschien auch auf ihrem Gesicht. „Er hat sich seit damals nicht verändert.“ Und darum war Shinjiro insgeheim froh. Im stetigen Wandel der Zeit war Akihiko für ihn die Konstante gewesen, die ihm geholfen hatte, mit seinem eigenen Leben und allen anfallenden Veränderungen fertig zu werden. „Er ist dumm, ehrlich, stolz, nett... und eine Heulsuse.“ All diese Attribute, die stellenweise eher einer Beleidigung gleichgekommen wären, wurden von ihm mit einem Lächeln und einer sanften Stimme bedacht. Denn sie alle zeigten ihm, dass Akihiko sich trotz des Älterwerdens einen Teil seiner Kindheit bewahrt hatte. Aber genau das erfüllte ihn auch mit Sorge. „Deswegen braucht er jemanden, der an seiner Seite ist.“ Erwartungsvoll blickte er sie an und atmete erleichtert auf, als sie nickte. „Ich werde an seiner Seite sein.“ Was genau es war, entging seiner Aufmerksamkeit, aber etwas an ihren Worten, ihrem Blick dabei, ließ es ihm wie Schuppen von den Augen fallen und plötzlich fragte er sich, wie er nur hatte so blind sein können. Die ganze Zeit über, jedes Mal, wenn Akihiko ihr Gesprächsthema geworden war, immer hatte er diese kleinen Zeichen übersehen, die alle auf eines hindeuteten. „Warte! Bist du...?“ Er wollte sie danach fragen, seine Vermutung bestätigen – doch er stoppte sich selbst und schüttelte den Kopf. „Ach, egal.“ Es war zu offensichtlich, um es zu fragen, zu deutlich spürbar, um es nicht zu wissen, weswegen er sich in diesem Moment wie ein... Idiot vorkam. Doch das hielt nur wenige Sekunden an, dann verdrängte die Erleichterung seine Enttäuschung. „Ich bin absolut nicht besorgt, denn ich weiß, dass du bei ihm bist. Ich überlasse dir den Rest.“ Er ignorierte das egoistische Gefühl in seinem Inneren, das nicht wollte, dass sie jemand anderen als ihn liebte. Er wusste, er war nur der Tod, an seiner Seite könnte sie nicht glücklich werden, Akihiko dagegen war das Leben, er war eine Chance für Minako, viele schöne Erinnerungen in ihrer gemeinsamen Zeit zu sammeln – und das gönnte er sowohl ihr als auch seinem besten Freund von ganzem Herzen. Ein heftiger Windstoß ließ die Bäume um sie herum rascheln und brach die Illusion, dass sie beide als einzige in dieser Stadt existierten. „Der Wind wird stärker... Ich würde gern noch ein wenig länger bleiben, wenn wir könnten, aber...“ Er sah zu ihr hinüber. Sie trug keinen Mantel, der Schal und die Kleidung aus Wolle, die sie trug, konnten unmöglich genug sein, um sie anständig warmzuhalten. „Ist dir nicht kalt?“ „Es geht schon“, antwortete sie lächelnd, offensichtlich gewillt, es ihm zu ermöglichen, länger zu bleiben, so als ob sie genau wie er wüsste, dass er bald keine Gelegenheit mehr zu solchen Ausflügen bekommen würde. Bei ihrer Entschlossenheit brachte er es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie lieber heimgehen sollte und eigentlich wollte er ja auch nicht, dass sie ging – aber er wollte auch nicht, dass sie krank werden würde. „Hey, du fängst dir noch was ein. Komm her...“ Er rutschte näher zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter, damit sie sich gegenseitig wärmen könnten. Sie erhob keinen Einspruch, stattdessen schien sie die Nähe tatsächlich zu genießen. Während sie dem Rascheln der Blätter lauschten, herrschte wieder für wenige Minuten Schweigen zwischen ihnen, aber im Gegensatz zu sonst in seinem Leben, kam es Shinjiro nicht so vor als würde sich die Zeit träge dahinziehen. Stattdessen bekam er den Eindruck, sie würde dahinfliegen, als gäbe es jemanden, dem es besonders viel Spaß bereitete, Leuten den Spaß zu rauben, indem er die Uhr verstellte. „Shinjiro...“ Ihr Flüstern, das so gar nicht zu ihr passen wollte, weil sie immer energiegeladen war, ließ ihn den Blick senken, damit sie fortfuhr: „Du redest immer so als ob du bald... fortgehen würdest. Willst du die Gruppe noch einmal verlassen?“ Es hatte nichts mit wollen zu tun, denn tatsächlich wollte er nicht fortgehen. So sehr er sich auch über jeden einzelnen beklagte, so sehr er auch immer wieder betonte, dass er niemanden brauchte und allein klarkam, so sehr genoss er doch die Zeit, die er mit allen verbrachte und die Erinnerungen, die er mit ihnen sammelte. Nein, es war sicher nicht sein Wunsch, sie alle wieder auf sich gestellt zu sehen, aber es wäre naiv von ihm, anzunehmen, dass er sie wirklich bis ans Ende begleiten könnte, denn seine Fahrt, seine Zeit, würde früher enden als die der anderen. Aber das konnte und wollte er ihr nicht sagen, deswegen schüttelte er mit dem Kopf. „Nein.“ Er hob den Blick wieder, um in den Nachthimmel zu sehen. „Nein, will ich nicht.“ So grausam und unerbittlich er die Zeit eingeschätzt hatte, so gnädig zeigte sich doch das Schicksal und das nur durch eine Geste der Freundschaft. Der Schuss, der ihn am vierten Oktober 2009 eigentlich hätte das Leben kosten sollen, prallte von der Taschenuhr ab, die er bei sich getragen hatte, so erklärten ihm die Ärzte, als er nach fast sechs Monaten wieder die Augen aufschlug und damit das gesamte Pflegepersonal und auch sich selbst überraschte. So schwach wie er war, erlaubte man keinerlei Besuch und er schaffte es nicht einmal aufzustehen, um selbst zu der Person zu gehen, die er nun mehr als alles andere sehen wollte, weswegen ihm vorerst keine andere Wahl blieb, als sich lediglich gedanklich mit allem auseinanderzusetzen, was geschehen war. Die Uhr, die sein Leben gerettet hatte, war jene gewesen, die Minako ihm zurückgebracht hatte und mit der seine Hände nun, während er immer noch im Krankenbett lag, spielten. Die Kugel war entfernt worden, so die Schwester, die sie gebracht hatte, vermutlich für polizeiliche Untersuchungen, doch die Uhr an sich war ihm überlassen worden. Ein großes Loch war im Metall zu sehen und ein tiefer Sprung im Glas, welches das Zifferblatt schützen sollte. Die Zeiger bewegten sich nicht mehr, sondern hingen schlaff auf der Sechs und schwangen sacht auf die eine oder andere Seite, je nachdem wie er die Uhr hielt. Sie war zerstört, unreparierbar, ihre Zeit war stehengeblieben – und damit war sein Schicksal auf sie übergegangen. Wie ein Erlöser hatte sie ihr Leben gegeben, um seines zu retten. Er lachte leise, als ihm dieser Gedanke kam und ihm bewusst wurde, wie kitschig er war und wie wenig er zu ihm passte. Genausowenig wie all seine Träume in den letzten Monaten. Während er in diesem tiefen Schlaf gefangen gewesen war, seine Seele die Geisel eines unbeugsamen Körpers, waren all seine Gedanken und Träume nur von Minako durchzogen gewesen. Er hatte sie lachen gesehen und sich mit ihr gefreut; er war bestürzt gewesen, wann immer sie weinend vor ihm gesessen hatte und seine Brust war immer wieder voller Stolz angeschwollen, wenn ihr eiserner Wille, ihr Mut und ihre Durchsetzungskraft sie vorantrieb. Sie war gewachsen, gemeinsam mit Akihiko, herangereift zu einer Person, die sich selbst durch Katastrophen nicht von ihrem Weg abbringen ließ und für ihre Ziele kämpfte, solange sie atmete. Und obwohl ihm immer bewusst gewesen war, dass es sich bei all dem nur um einen Traum, oder gar einer Seelenwanderung, handelte und es ihm auch nicht möglich gewesen war, mit ihr zu interagieren, mit ihr zu lachen, sie zu trösten, mit ihr zu kämpfen oder einfach nur mit ihr da zu sitzen, hatte er das alles genossen. Denn dieser Traum war mit einer der schönsten Zeiten seines Lebens verbunden gewesen. Mit einer Zeit, in der er geliebt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)