Erinnerungen von Herbstwind (BBC Sherlock) ================================================================================ Kapitel 1: Abschied nehmen -------------------------- Der schwere Geruch von Chemikalien und Desinfektionsmitteln strömte ihm entgegen, als er die schwere Tür öffnete. John war er eigenartig vertraut, obwohl er es bisweilen stets erfolgreich vermieden hatte die Leichenhalle selbst betreten zu müssen. Wie Sherlock es nur immer wieder geschafft hatte, sich in ihr stundenlang, für die Durchführung seiner Experimente, aufzuhalten, war ihm stets ein Rätsel gewesen. Glücklicherweise beschäftigte sich John, in seiner Tätigkeit als Arzt, meist mit lebenden Patienten. Sicher, dies hatte sich durch seine Zusammenarbeit mit Sherlock ein wenig geändert… Doch dank der unglaublichen Deduktionsfähigkeiten und der raschen Auffassungsgabe seines Freundes genügte die Zeit, die man ihnen für die Ermittlungen am Tatort zur Verfügung stellte, meist um die entscheidenden Hinweise am Opfer abzulesen. Dieses Verfahren erforderte zumeist keine weitere, genaue Betrachtung des Opfers, und falls doch, so übernahm diese in den meisten Fällen ihre Freundin Molly. John starrte Gedankenversunken auf die metallene Bahre, welche sich nun in nur wenigen Metern Entfernung vor ihm erstreckte. „Ich möchte ihn noch einmal sehen, bevor…“, ihm war die Stimme gebrochen. Molly hatte direkt vor ihm gestanden, den Blick auf den Boden geheftet. „Sicher. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie sie möchten.“ John stockte der Atem. Er wusste, er würde den Anblick nicht ertragen können. Sein Herz raste und seine Gedanken überschlugen sich, doch er wollte ihn noch einmal sehen. Nur ein einziges Mal. Um Abschied nehmen zu können, denn später würde er dazu wenig Gelegenheit haben können. „Doch ich sollte Sie vorwarnen. Der Sturz hatte schwere Kopfverletzungen zufolge. Sher…Er… wollen Sie ihn nicht lieber so in Erinnerung behalten wie sie ihn kannten?“ „Molly, bitte.“ „Gut. Wie Sie wünschen.“ Sie hatte sich nervös eine Strähne hinter ihr Ohr gestreift und ihm die Tür geöffnet, ehe sie sich schwer seufzend abgewandt hatte. Zögernden Schrittes trat John auf die Bahre zu. Seine Hand hing ausgesteckt über dem hellen Laken in der Luft. Er zögerte. „…wollen Sie ihn nicht lieber so in Erinnerung behalten wie sie ihn kannten?“, hallte es durch seinen Kopf und ein verzweifelter Laut brach zwischen seinen tauben Lippen hervor. Er hatte gewusst, es würde ihm nicht leicht fallen ihn zu sehen. Doch hatte er niemals etwas anderes gewollt. Seine Hand begann zu zittern, er spürte Übelkeit in sich aufsteigen, spürte wie sich seine Kehle langsam zuschnürte und ihn Schwindel überfiel, der ihn drohte hinab auf dem Boden zu ziehen, stürzen zu lassen. Halt suchend stütze er sich mit beiden Händen auf den leichten Stoff und fühlte die Kälte des Metalls durch diesen hindurch. So verharrte er einen endlos erscheinenden Moment und starrte blind auf das weiße Laken. Es sollte seinen Freund verbergen? Er konnte, wollte es noch immer nicht glauben. Ein Schauer durchzog ihn und ließ seinen gesamten Körper erbeben. Wollte er Sherlock wirklich sehen? Wollte er, dass sich dieser letzte Anblick in sein Gedächtnis einbrannte, denn dies würde er zweifelsohne tun, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Er musste es, musste sich überwinden. Was für ein Freund war er, dass er Sherlock nicht hatte schützen können, dass Sherlock sich in den Tod gestürzt hatte…ohne….dass Hatte Sherlock ihm weniger vertraut, als er gedacht hatte? Weshalb nur hatte er sich ihm nicht anvertraut? Es hätte eine andere Lösung gegeben, sicherlich! Hätte er ihm nur…hätte er ihm überhaupt einmal etwas gesagt. Etwas, das nicht mit einem Fall zusammenhing, etwas, dass nur er wusste, etwas über ihn. Über den Menschen hinter diesen allwissenden blauen Augen. Etwas über Sherlock. Tränen rannen leise seine Wangen hinab. Er musste es tun, jetzt! Eine Hand an die Bahre geklammert, zog John in einer bestimmten Bewegung das Laken zurück. Sein Schluchzen hallte in dem kahlen Raum wieder, seine Schultern zuckten immer wieder zusammen. Zitternd zog John seine Hand zurück und krümmte sich in einer leidvollen Geste über die Bahre, eine Hand zu einer Faust geballt und gegen seinen Mund gepresst, um das immer weiter heranschwellende Schluchzen zu dämmen. Er betrachtete Sherlock durch seine Tränen hindurch, doch sah er ihn nicht. Er war es, er war es wirklich. Erst in diesem Augenblick traf ihn das ganze Ausmaß dieser Wahrheit. Erst jetzt ereilte ihn die Leere völlig, spürte er das klaffende Loch in seiner Brust, das er zuvor nur schreckensvoll erahnt hatte, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch immer die stille, die leise versiegende Hoffnung gehegt, es sei alles nicht wahr, es sei nur ein Albtraum, keine Realität. Ihm war stets so, als habe sein Freund nur kurz das Haus verlassen um gleich wiederzukehren. Alles lag so, wie er es verlassen hatte … mitten aus dem Leben gerissen. John sah tränenverschleierten Blicks auf das feine Gesicht hinab, betrachtetet das dunkle, lockige Haar, die hohen Wangenknochen, die geschlossenen Augen ….die aschfahle Haut, die riesige Platzwunde, die sich von einer der Schläfen bis zum Haaransatz über der Stirn hinzog. Zitternd berühre seine Hand das Laken auf der regungslosen Brust seines Freundes. „Ich hatte immer befürchtet, dass es einmal so enden würde…“, Johns Stimme war nicht mehr als ein gebrochenes Flüstern. „Doch ich hatte immer gehofft, dass ich es sein würde, der als erster von uns beiden sein Ende findet.“ Molly schrak zusammen, als sich die Tür wieder öffnete. Sie widmete John einen mitleidvollen Blick. Beide sprachen kein Wort. Sie nahm seine Hand und drückte sie Mut machend, doch ohne ihre Geste in irgendeiner Weise zu erwidern ging John in einer kummervollen Haltung fort. Molly blickte ihm traurig den langen Flur nach, ehe er schließlich hinter einer weiteren Tür verschwunden war. Ein tiefes Seufzen brach zwischen ihre zitternden Lippen. „Es ist das einzig Richtige.“ Molly schrak erneut zusammen. Der Klang seiner tiefen Stimme jagte ihr stets aufs Neue einen Schauer den Rücken hinunter. „Wie kann es nur das Richtige sein einen Menschen so leiden zu lassen?“, sagte sie forsch und blickte wütend zu ihm hinauf. „Ich verstehe Sie nicht! Wie können Sie es ihm nur nicht sagen?!“ Ohne etwas zu erwidern schaute er zu ihr hinunter, sein ebenmäßiges Gesicht ohne jegliche Regung. Molly senkte den Blick. „Entschuldigung. Natürlich begreife ich Ihre Beweggründe, doch weshalb sagen Sie es ihm nicht…John, weshalb sagen sie es ausgerecht ihm nicht?“ Sie sah, wie sich seine schlanke, dunkle Gestalt abwandte, hörte das leise Knarren der schweren Glastür. Erschrocken blickte sie sich um, als sie sicher war, dass dort niemand war, der sie sehen konnte, folgte sie ihm eilig in die Leichenhalle. „Wie können Sie nur so leichtsinnig sein? Was, wenn Sie jemand sieht?“ Noch immer antwortete er nicht. „Sherlock!“ Er blickte auf sein regungsloses Ebenbild hinab, das kalt und blass vor ihm lag. Das Tuch war noch immer zurückgeschlagen. Ausgiebig begutachtete Sherlock den Mann auf der Bahre und beugte sich dicht über dessen regloses Gesicht. „Molly, begreifen Sie doch, ich konnte es ihm nicht sagen. Noch nicht, zumindest.“, sagte er ohne von dem Toten aufzublicken. „Lassen Sie das! Ich halte das nicht mehr aus…“ Sie faltete ihre Hände vor dem zitternden Mund und wandte sich ab. Rasch richtete er sich wieder auf, wandte sich ihr zu, ergriff bestimmt ihre Schultern und blickte ihr unvermittelt in die Augen. „Ich musste es tun! Und ich danke Ihnen wirklich für Ihre Hilfe! Doch nun da alles gelungen ist, müssen wir standhaft bleiben!“ Sie entriss sich seinem Griff und wandte sich dem Toten zu. Eine Weile schaute sie zu ihm hinab, dann schnaubte sie leise auf. „Wundert es sie gar nicht?“ „Worüber sollte ich verwundert sein?“, ein verständnisloser Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. „Dass er es nicht erkannt hat….dass das nicht Sie sind.“, antwortete sie scheinbar gleichgültig und bedeckte in einer beiläufigen Geste den Leichnam wieder und schob ihn in das Kühlfach zurück. „Worauf wollen sie hinaus, Molly?“ Sherlock schüttelte den Kopf und sagte energisch: „Er sah mich fallen, sah diesen Mann, den er unweigerlich für mich hielt, blutüberströmt und regungslos auf dem Pflaster liegen. Er selbst fühlte keinen Puls mehr. Er, wie auch der Rest der Welt hält mich für tot!“ Langsam wanderte Mollys Blick wieder zu ihm. Trauer hatte sich auf seine Züge gelegt, ein Gefühl, dass sie seinem Gesicht nicht all zu häufig abzulesen vermochte. „Zudem“, begann er nun leise, „war er zu geschockt. Er sah jemanden, der durch Ihre Hilfe, grob meine Züge trägt. Durch den Sturz hätte das Gesicht furchtbar entstellt sein können, das ist ihm durchaus bewusst. Außerdem… war sein Blick getrübt.“ „Ja.“, sie nickte gedankenversunken und trat an ihm vorüber. „ Trotz alledem wäre es sehr problematisch gewesen, hätte John die Wahrheit erkannt. Dass alles nur ein Kunstwerk ist, bestehend aus Silikon und anderen Hilfsmitteln... Um ganz sicher zu gehen, hätte ich ihn natürlich nicht an ihn heranlassen dürfen, doch verstehen Sie, dass ich das einfach nicht über mich gebracht hätte. Zudem hat John durchaus das Recht dazu. Schließlich herrscht keine akute Ansteckungsgefahr.“ „Durchaus nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)