Jahr und Tag von Arcturus (Jokerwichtelgeschichte für Inkheartop) ================================================================================ Jahr und Tag ------------ Großmutter Wood hatte immer gesagt, im Tod sähe man aus, als schliefe man nur. Zufrieden. Friedvoll. Der Junge, der vor im lag, sah nicht so aus, als schliefe er nur. Dennoch war er definitiv tot. Vielleicht war es einfach nur zu schwer, friedlich und zufrieden auszusehen, wenn ein Fluch einem das Gesicht zerrissen hatte. Oliver sah nicht zu genau hin. Er blinzelte nur kurz über die Schulrobe, über das kleine, grüne Abzeichen auf seiner Brust, das ihn als Vertrauensschüler von Slytherin auszeichnete. Ein Slytherin, dachte er bitter. Alle Slytherins haben die große Halle verlassen. Dennoch lag er jetzt vor ihm, blutig und tot, in der langen Reihe von Leichen, die man nach der Schlacht in die Halle gebracht hatte. Doch obwohl sein Gesicht nur noch eine Ruine war, umrahmt von dreckigem, braunen Haar, war es nicht sein Anblick, der Oliver den Magen umdrehte. Es war der Anblick des Mädchens daneben. Auch sie war eine Slytherin. Auch sie war für diese Schule gestorben, obwohl sie gar nicht mehr hätte hier sein sollen. Und – im Gegensatz zu ihrem Mitschüler – sah sie tatsächlich so aus, als schliefe sie nur. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Mimik ruhig, und Verletzungen konnte Oliver keine entdecken, obwohl das bei der Schuluniform, die ihren Leib bedeckte, schwer zu sagen war – manche Verletzungen hinterließen keine Seen aus Blut und doch waren sie genauso tödlich. Sie so zu sehen und zu wissen, dass sie nicht aufwachen würde, verstörte ihn mehr als das ganze Blut des Jungen neben ihr. Es waren ihre Sommersprossen, die ihm auf den Magen schlugen. Und ihr rotes Haar. Sie war eine Slytherin und jung. Dreizehn. Vierzehn. Vielleicht ließ der Tod sie jünger erscheinen, als sie tatsächlich war. Das hätte Ginny sein können. Percys kleine Schwester. Freds kleine Schwester. Fred. Im Nachhinein erinnerte Oliver sich nicht mehr daran, gerannt zu sein. Er erinnerte sich auch nicht daran, die große Halle verlassen zu haben oder die Eingangshalle. Er musste gestürzt sein, doch auch daran erinnerte er sich nicht. Das erste, woran er sich erinnerte – nach dem Anblick der kleinen Ginny, die nicht Ginny sein konnte, nicht Ginny sein durfte – war der Anblick seines Abendbrotes. Angewidert schaute er auf. Der Schemen von Hagrids Hütte zeichnete sich vor seinem verschwommenen Blick ab – oder das, was davon übrig geblieben war. Das Häuschen war nicht mehr als eine Ruine. Sein Dach existierte einfach nicht mehr. Stattdessen ragte etwas aus dem Loch, das verdächtig nach den Beinen einer riesigen, toten Spinne aussah. Etwas weiter zu seiner Rechten hatte ein Fluch die Mauern bis zum Fenster hinunter weggesprengt und die Steine, die noch standen, waren rußgeschwärzt. Nur die Tür direkt vor ihm hing noch in den Angeln, so, als würde der alte Wildhüter jeden Augenblick ins Freie treten. He. Ob mir die McGonagall dafür Punkte abzieht? Früher hätte sie das getan. Ein grimmiges Lachen brannte sich seinen Weg hinauf aus seinen Lungen. Zehn Punkte Abzug von Gryffindor, Mister Wood. Man erbricht sich nicht vor der Tür des Wildhüters. Er kämpfte das Lachen hinunter und hätte beinahe noch einmal gewürgt. Irgendwo zwischen Lachen und schlucken wurde aus dem Laut ein Schluchzen. Etwas raschelte. Er hielt inne, ignorierte seinen brennenden Rachen. Seine Hand fand seinen Zauberstab, dann sah er die Silhouette des Mannes, der auf der niedrigen Steinmauer neben der Hütte saß. Im Gegenlicht der Morgensonne wirkte er schwarz – sein Umhang, seine Haut, sein Haar. Oliver konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch der Fremde hatte ihm den Kopf zugedreht, sah ihn an. Grimmig erwiderte er den Blick, von dem er nur ahnte, dass er da war. Der Griff um seinen Zauberstab wurde fester. Ruckartig wandte der Mann sich ab. Und dann … und dann erkannte Oliver ihn. Sein Haar war nicht schwarz, sondern rot. Ein paar der Strähnen leuchteten im Sonnenlicht wie eine Korona. Der Umhang war tatsächlich schwarz, doch darunter zeichnete sich eine Figur ab, die Oliver kannte. Besser noch, als er seine eigene. Schmale Schultern, dürrer Oberkörper, ein langer Hals und lange Arme und Beine. Schlagartig wusste er auch, dass die Finger ebenfalls lang und dünn sein würden. Das und noch viel mehr. „Du lebst“, sagte er krächzend. Das Lachen war endgültig verschwunden, genauso wie die Erinnerung daran, überhaupt gelacht zu haben. Der Mann zuckte nur mit den Achseln. „Fred nicht.“ Es war vielleicht Percy Weasleys Körper, der da vor ihm saß – aber es war nicht seine Stimme, die zu ihm sprach. Nicht die Stimme, die ihn sieben Schuljahre lang, nein, länger, sein halbes Leben lang, bekrittelt, korrigiert und gescholten hatte. Jetzt schwang ein Ton mit, den Oliver nicht kannte. Er mochte diesen Ton nicht. Grimmig rappelte er sich auf. Grimmig nicht unbedingt nur dabei, nicht in sein Abendbrot zu fassen. Mit sechs Schritten war er bei Percy, schwang sich mit der Leichtigkeit eines Quidditchspielers über die Mauer und setzte sich neben ihn. Der Schnitt, den ihm ein Todesser über den Arm gejagt hatte und der bei jeder Belastung giftig pochte, protestierte, doch er ignorierte ihn. Skeptisch musterte er das Profil seines Freundes, der stur ins Sonnenlicht blinzelte und so tat, als wollte er ihn ernsthaft ignorieren. Oliver erinnerte sich noch gut an die schmale Nase, deren Nasenflügel sich aufblähten, wenn Percy etwas nicht gefiel. Er erinnerte sich auch an die schmalen, hellen Lippen und an die Sommersprossen, die er einmal zu zählen versucht hatte. An den Schnitt knapp über der Augenbraue erinnerte er sich nicht. Dennoch war er da, genauso, wie das Blut, dass ihm über das Gesicht geronnen war und nun langsam dort trocknete. Percy bemühte sich nicht einmal darum, sich das Blut aus dem Auge zu wischen. Genauso wenig hatte er sich um einen neuen Umhang bemüht. Der Stoff hing ihm in Fetzen über die schmalen Schultern und auf Höhe seines Oberschenkels war der Stoff dunkler, als das übrige schwarz. Unter den zerrissenen Ärmeln zeichneten sich weiß Verbände ab, die vielleicht nicht von der Schlacht herrührten. Sie waren genauso dreckig, wie der Stoff, der sie nicht mehr vollständig bedeckte, aber Blut sah Oliver keines. „Bill hat es mir erzählt“, sagte er schließlich. Kurz erinnerte er sich an das Gespräch mit Percys älterem Bruder. Bill. Er hatte den Vertrauensschüler, den Schulsprecher, den tollen, beliebten Bill, nie gemocht – etwas, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Dennoch war es Bill gewesen, der ihm von Fred erzählt hatte, in ruhigen, kurzen Sätzen, deren Tonfall deutlicher als jedes Wort sagte, dass es ihn eigentlich nichts anging und er besser den Besen zwischen die Beine klemmte und verschwand. Charlie wäre ein angenehmerer Gesprächspartner gewesen, daran zweifelte Oliver nicht. „Percy. Ich –“ Jemanden ins Wort zu fallen war normalerweise nicht Percys bevorzugtes Verhalten, dennoch ließ er ihn nicht ausreden. „Ich will es nicht hören. Nicht von dir.“ Oliver verstummte nur und nickte. Für einen langen Moment hob auch er den Blick, hinüber zum verbotenen Wald, über dem die Sonne gerade aufging. Immerhin der Wald schien beinahe unversehrt. Irgendwo hinter den Spitzen der ersten Bäume stieg Rauch auf, doch über dem Walddach vermischte er sich mit dem Morgendunst, beinahe so, als sei er gar nicht da. Irgendwann hielt er das kitschige Bild des Sonnenaufgangs nicht mehr aus, und genauso wenig die Stille. „Percy?“, murrte er, „Spuck‘s aus.“ Eigentlich hätte Percy ihn jetzt ansehen sollen, die beiden Augenbrauen kritisch hochgezogen und ein scharfer Ausdruck in den blauen Augen. Stattdessen starrte er nur weiter geradeaus, aber vielleicht tat er das auch nur, weil er die eine Augenbraue nicht hochziehen und das Auge darunter nicht öffnen konnte und die Geste damit höchstens lächerlich oder zum Heulen gewirkt hätte. „Ich weiß, welche Worte dir im Kopf herumspuken, Percy“, fuhr er fort. „Spuck sie aus, bevor du dran erstickst.“ Percy schwieg so lange, dass Oliver schon glaubte, er würde ihn schütteln müssen, um eine Reaktion zu erhalten. Dann antwortete er doch noch. „Ich sehe keinen Sinn darin, derlei Worte auszusprechen, wenn ich sie nicht selbst vertrete.“ „So? Du weißt, was sie sagen oder? Bill denkt, dass du dir Vorwürfe machst. Dass du dir einredest, dass besser du anstelle von Fred gestorben wärst.“ Percy verzog den Mund. „Bill denkt zu viel.“ Insgeheim gab Oliver ihm recht. Das hielt ihn aber noch lange nicht davon ab, „So?“ zu fragen. Percy nickte. „Wie soll ich sterben, wenn ich bereits tot bin?“ Irritiert hob er die Augenbrauen, suchte nach dem Witz in Percys Mimik, nach dem verborgenen Zeichen, das immer da war, wenn er scherzte. Oliver fand es nicht. „Perce, du bist nicht tot.“ „Ich bin tot“, erwiderte Percy mit der Beharrlichkeit des sturen Wiesels, das er war. Oliver schnaubte. Kurzerhand legte er seine Hand auf Percys Brust. Unter seinen Fingern spürte er, wie Percys Brustkorb sich hob und senkte. „Du atmest“, verkündete er. Percy wischte seine Hand fort, doch das hielt Oliver nicht auf. Er nutzte die Bewegung und griff nach dem Handgelenk des Anderen und ließ nicht los, bis sein Daumen die Stelle fand, unter der er den Puls des anderen fühlen konnte. Es war ein schwaches, stetiges Klopfen, dass man leicht überfühlen konnte, doch Oliver wusste, wonach er suchte. Außerdem kannte er Percys Hande. „Dein Herz schlägt“, fuhr er fort, dann entwand Percy sich seinem Griff und stand auf. Oder versuchte es zumindest, denn kaum verlor Oliver den Halt um sein Handgelenk, griff er stattdessen nach dem Umhang. „Und du entwindest dich mir, wie ein tollwütiges Wiesel.“ Grimmig löste Percy seine Hand vom Stoff. Kurz trafen sich ihre Blicke und der Blick, den Percy ihm zuwarf, gab Oliver recht. Er war zu giftig und zu wütend, um tot zu sein. Oliver schnaubte, dann grinste er. „Fazit: Du lebst. Also bist du nicht tot“, schloss er zufrieden. Auch Percy sollte grinsen oder zumindest antworten, streiten, leugnen – doch er tat es nicht. Stattdessen sackte er in sich zusammen und setzte sich wieder. Das wiederum sagte mehr, als ein langer Monolog. Oliver ließ die Hand sinken und nahm sich die Zeit, Percy noch einmal zu mustern. Sein Haar war noch immer rot, dunkler als das seiner Geschwister, aber rot und gegen die immer helle Haut wirkte es beinahe wie Blut. Seine Haut selbst war noch blasser als sonst. Auf ihr glichen die Sommersprossen den Schlammspritzern, die Oliver auf den Wangen hatte, seit er mit dem Besen in Dolohow und die Pfütze gekracht war. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Unter dem Umhang konnte man es nicht genau erkennen, doch Percy schien auch dünner, als sonst. Sicher, er war nie besonders breit gewesen, hatte eigentlich immer leicht zum Untergewicht geneigt, doch jetzt wirkte er abgemagert. Und dann waren da noch seine Arme. „Percy?“, fragte er schließlich, „was ist unter diesen Verbänden?“ Percy antwortete nicht. Auch das war seltsam. Percy antwortete immer. Er war ein zu großer Klugscheißer, um nicht wenigstens eine Erklärung parat zu haben – was Oliver dazu brachte, sich zu fragen, warum er keinen Monolog zu hören bekam. Sicher hätte er geantwortet, hätte er sich die Verletzungen darunter in der Schlacht zugezogen. Dann hätte er eine Rede über Madame Pomfreys Heilkünste halten können, so, wie er es immer getan hatte, wenn er Oliver im Krankenflügel besucht hatte. Nach einem Quidditchspiel oder nach der jüngsten Prügelei mit diesen verdammten Slytherins. Das fiel aus. Oliver hatte sich nicht in einer der Widerstandsgruppen beteiligt, weder im Orden des Phönix, noch in den kleineren, unbekannteren Gruppierungen. Doch was war mit Percy? Jeder Mensch hatte etwas, das ihn antrieb – und bei Percy war es die Moral. Es war seine Moral, die ihn dazu angespornt hatte, sich zunächst an die Schulregeln und später an die Gesetze und Regularien des Ministeriums zu halten, sich förmlich darin zu verbeißen. Aber – es war auch seine Moral, die ihn dazu gebracht hatte, mit seinem Vater zu brechen. Vielleicht hatte seine Moral ihn auch in den Widerstand getrieben. Wenn er jedoch Widerstand geleistet hatte – zivilen Ungehorsam, wie Percy es vielleicht formuliert hätte – und dabei verletzt worden war, warum sagte er das nicht? Immerhin hatten sie beide in der Schlacht gekämpft. Nein. Oliver biss sich auf die Unterlippe. Ich glaube, ich will die Details dieser Verletzungen nicht hören. Nicht jetzt. Nicht hier. „Wo ist Penny?“, fragte er stattdessen und rief sich das blonde Mädchen aus ihrem Jahrgang vor Augen. Penelope Clearwater war eine Ravenclaw gewesen, blond und blauäugig und hübsch. Dazu clever und im Gegensatz zu Percy nicht einmal ein Fünkchen naiv, aber eine angenehme Zeitgenossin mit einem gewissen Interesse in Quidditch. Oliver wusste, dass die beiden in ihrem fünften Schuljahr angefangen hatten, einander zu treffen, genauso, wie er wusste, dass sich die Beziehung irgendwann zwischen den NEWT von Kräuterkunde und denen von Verteidigung gegen die dunklen Künste verlaufen hatte. Dennoch hatten sich Penelope und Percy weiter getroffen, so, wie Percy und er sich getroffen hatten, sogar genauso unregelmäßig. Auch das wusste Oliver. Irgendwann war das wieder gekippt – zugunsten von Penny, wenn er richtig lag. Jetzt aber biss Percy nur die Zähne aufeinander, was seine Kieferknochen unter der Blutkruste hervortreten ließ. Nein, dachte er, halb grimmig, halb entsetzt. Und dann: Ich frage nicht nach. Er spürte, wie die Übelkeit gegen seinen Willen erneut in ihm hoch kroch und ihm die Speiseröhre verätzte, doch er hatte nicht vor, Hagrid auch noch ins Kürbisbeet zu kotzen. Nicht vor Percy. „Wie lange ist es her?“, fragte Oliver eilig, bevor sein Magen ihn überzeugen konnte, doch zu tun, was er wollte. Percys Haltung versteifte sich, wenn möglich, noch weiter. Kein gutes Zeichen. Und doch... Er weiß es noch. „Warum fragst du?“ „Du bist hier die Uhr, nicht ich.“ Percy seufzte gequält. Hm. Nicht sehr Percy-haft. Aber immerhin. „Dreihundertsechsundsechzig Tage.“ Olivers Schnauben war halb ein Lachen, halb ein Seufzen. „Ein Jahr und ein Tag.“ „Und elf Stunden.“ „Scheiß auf die elf Stunden. Jahr und Tag. Ich würde sagen, du bist frei.“ Percy schnaubte nicht, obwohl er Olivers Meinung nach hätte schnauben sollen. Vielleicht ist er aber auch nur darüber entsetzt, wie lange wir uns nicht mehr getroffen haben. Ein ganzes Jahr. Und einen ganzen, dummen Tag. Die elf Stunden waren da nur noch ein Fliegendreck auf seiner Fliegerbrille. Ich jedenfalls bin entsetzt. Natürlich, eigentlich hatten sie sich auch noch gesehen, nachdem Oliver aus seiner Wohnung gestürmt war. Percy hatte seine Quidditchspiele besucht. Alle. Aber das ist nicht das Gleiche. Seit ihrem ersten Schuljahr hatten sie mehr Zeit miteinander als ohne einander verbracht. Sie hatten sich einen Schlafsaal geteilt und den Gemeinschaftsraum. Sie hatten gemeinsam am Gryffindortisch gesessen und im Unterricht und danach hatten sie gemeinsam Hausaufgaben gemacht. Das hieß – Percy hatte sie gemacht. Oliver hatte sie abgeschrieben, aber nicht immer. Sie waren keine Brüder und eigentlich hatten sie vollkommen unterschiedliche Interessen, aber vielleicht hatten sie einander deswegen besser verstanden, als es ihre tatsächlichen Geschwister je hätten tun können. „In unseren dritten Jahr waren wir auch mal hier“, sagte Oliver. „Erinnerst du dich? Damals haben wir nicht hier gesessen. Stattdessen haben wir uns unter die Mauer geduckt, um Gesichter in diese verdammten Kürbisse zu schneiden.“ Percys Zähne malten aufeinander, das konnte Oliver sehen. „Ich habe keine Gesichter geschnitten. Das warst du.“ „Ja, und du hast mich die ganze Zeit darüber zu belehren versucht, gegen wie viele Schulregeln ich gerade verstoße und warst dabei so laut, dass man uns erwischt hat. Ich bin ja immer noch der Meinung, dass es keine Schulregel gibt, die es einem verbietet, Gesichter in Kürbisse zu schnitzen. Wie viele Hauspunkte haben wir dafür nochmal eingebüßt?“ „Zwanzig, jeder von uns. Hör auf damit.“ „Vierzig Punkte. Charlie war damals richtig sauer. Ich glaube, er behauptet immer noch, dass uns das den Hauspokal gekostet hat, aber machen wir uns nichts vor, dass war die Niederlage gegen Hufflepuff.“ Oliver trat träge nach einer der Kürbisblüten, traf sie aber nicht. Genauso träge ließ er seinen Blick gleiten, auf der Suche nach einer weiteren Erinnerung. Er fand sie bei einem der freistehenden Bäume, nahe beim See. „Und dort hinten“, sagte er schließlich und wies zu dem Baum, „habe ich Flint mal mit Georges Treiberschlagholz verprügelt, weil er dich einen Blutsverräter genannt hat. Gut, dafür habe ich Nachsitzen bei Snape kassiert, aber das war es mir wert.“ Nicht, dass das Nachsitzen nicht weh getan hätte. Genauso, wie die siebzig Punkte Abzug, die sie kassiert hatten. Fünfzig wegen Oliver, weil er Flint die Nase zertrümmert, und zwanzig wegen Percy, weil der daneben gestanden hatte. Hrmpf. Siebzig verdammte Punkte. Aber es hat gut getan, Flint heulen zu sehen, wie ein Mädchen. „Wood“, sagte Percy langsam. Oliver erkannte eine Drohung, wenn er sie hörte und Percys Tonfall war eine. Nicht, dass Oliver diese Drohungen noch ernst nehmen würde. Er mochte Percys Drohungen. Nicht ganz so sehr, wie seine Monologe, mit denen Percy immer wieder versucht hatte, ihn zu vertreiben – dass brachte einfach nicht viel, wenn man bedachte, dass Oliver selbst ein Meister darin war, andere mit Reden auf die geschundenen Nerven zu gehen. Er wusste einfach viel zu gut, dass Percy bei jeder seiner kleinen Selbstbeweihräucherungen innerlich lachte, während die anderen ihn dafür verfluchten. Dennoch, er mochte sie. Es tat gut, mal wieder eine zu hören. „Und drüben, beim Quidditchfeld“, fuhr er ungerührt fort, „dort habe ich dich zum ersten Mal geküsst, in der vierten. Erinnerst du dich? Bestimmt tust du das. Du hast immer noch die Narbe von meinem Besen und die an der kleine Oberlippe, als ich in dich –“ „Oliver.“ Unter seinen Sommersprossen wurde Percy rot, vermutlich halb vor Wut und halb vor Scham. „Das war kein Kuss. Du bist mit deinem Besen in mich geknallt. Du hättest mir beinahe die Zähne ausgeschlagen. Das war kein Kuss. Und jetzt halt endlich den Mund.“ „Fred und George sagten, es wäre ein Kuss gewesen. Und was hast du getan? Deinen Zauberstab gezogen und den beiden den widerlichsten Flederwichtfluch auf den Hals gehetzt, den ich je gesehen habe. Oh die beiden sind gerannt! Und die McGonagall hat gekocht. Das war das Highlight des ganzen Schuljahrs.“ Allein die Erinnerung an die Szene, Percy, blass vor Zorn und mit mit gezogenem Zauberstab, Fred und George rennend und so hoch kreischend, als seien sie Gemma Farleys Zwillinge, und McGonagall noch dazu – Oh, ja. Definitiv. Der Beste Tag meines Schuljahres. Und es war ein Kuss. Oliver lachte. Das Lachen freilich blieb ihm im Halse stecken, als er Percys Zauberstab unter seinem Hals spürte. „Kannst du den Fluch noch?“, fragte er, grinsend. „Das ist nicht lustig, Wood.“ „Oh doch, ist es. Das hast du selbst zugegeben. Niemand kreischt so gut wie Fred und George.“ „Fred ist tot!“ Percy schrie nicht, hob nicht einmal die Stimme, dennoch hallten diese drei Worte in Olivers Ohren wider. Er schluckte, nickte knapp. „Das ändert nichts daran, dass es lustig war. Merlin, die beiden haben es selbst –“ Der Zauberstab drückte sich stärker gegen seinen Hals. „Fred ist tot“, wiederholte Percy erneut, leiser noch. Oliver wagte es nicht, sich zu bewegen. „Aber du bist es nicht.“ Seine Augen suchten Percys Blick und der, den sie fanden, war kein freundlicher. Dennoch erwiderten sie ihn. „Sag was du willst, Percy. Du lebst.“ Und du wirst weiter leben. Leben und lachen und mich verfluchen. Und wenn ich dich dazu zwingen muss. Percy kniff die Augen zusammen. Dann, ganz langsam, ließ er den Zauberstab sinken. „Vielleicht hast du recht“, sagte Percy leise. „Es war lustig.“ „Und du lebst“, fügte Oliver hinzu, auch wenn das dünnes Eis war, auf das er sich traute. „Möglicherweise.“ Glücklicherweise hob Percy nicht erneut den Zauberstab. Stattdessen sagte er nur: „Du jedenfalls nervst.“ „Ziemlich sicher“, antwortete Oliver trocken. „Scheiß auf Jahr und Tag?“ Percy schwieg lange und starrte zum Verbotenen Wald, der den Kitsch des Sonnenaufgangs genauso verloren hatte, wie die Dampfschwaden. Nur die Bäume und der Rauch waren geblieben. Es passte besser. „Ja.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)