Queerbeet von Gasoline (Liebe kennt kein Geschlecht) ================================================================================ Prolog: Geschlecht: männlich ---------------------------- Name: Cleveland Vorname: Jaiden Es war schon eine Ironie (wenngleich auch eine glückliche Fügung) des Schicksals, dass seine Mutter ihm einen derart androgynen Namen gegeben hatte. Manche Eltern taten dies tatsächlich mit der Absicht, dass sie ihr Kind keinenfalls in irgendeine Geschlechterrolle drängen wollten – in diesem Fall gestaltete sich die Begründung irgendwie ernüchternder: Der Gynäkologe seiner Mutter musste bei der Ultraschalluntersuchung zum Zwecke der Geschlechtsbestimmung irgendetwas gesehen haben, was er als Penis interpretierte und teilte daher seiner Patientin mit, sie erwarte einen Jungen. In Folge dessen einigte man sich auf den eindeutig männlichen Namen Aiden. Der Irrtum klärte sich erst wenige Wochen vor der Entbindung. Selbstverständlich reichte nun die Zeit nicht mehr aus, kreativ zu werden, sodass man einfach ein J vor das Aiden setzte, feststellte, dass dies einen passablen Namen ergab und es dabei beließ. Man strich also die Wände des Kinderzimmers lavendelfarben und legte dem Neugeborenen ein Püppchen in die Wiege. Das Püppchen tauschte man später gegen Barbies ein, schließlich konnte man die grotesken Schönheitsideale dieser Gesellschaft nicht früh genug in die Hirne von kleinen Mädchen injizieren. Ebenso, wie man sie so bald wie möglich in Kleidchen zu stecken, zum Frisör oder zur Spezialbehandlung in Mamis Schönheitssalon zu schleppen pflegte. Gerade Mrs. Cleveland war eine Frau, die enormen Wert auf ihr Äußeres legte, welchem sie nicht zuletzt ihren schnellen Aufstieg in einem Wirtschaftsunternehmen zu verdanken hatte. Natürlich konnte man ihr da nicht verdenken, dass sie ihrer Tochter von klein auf einen ähnlichen Weg ebnen wollte. Ein Mädchen musste nun einmal adrett aussehen, um im Leben erfolgreich zu sein. Dieses Gebot versuchte sie mit Inbrunst durchzusetzen. Unvergessen war Jaiden beispielsweise jeder schwüle Spätsommertag, an dem sein achtjähriges Selbst von der Schule nach hause ging. Er trug ein hellblaues Kleidchen mit Puffärmeln, weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackschuhe. Wären seine langen, braunen Locken nicht gewesen, so hätte man ihn leicht mit Alice aus dem Wunderland verwechseln können. Nur wenige Meter von seinem zuhause entfernt befand sich eine Wiese, auf der sich meistens ältere Schüler von der anderen Schule aufhielten und ein paar Jungs von ihrer Schule, die sich dort zum Fußballspielen trafen. Auch an jenem Tag blieb Jaiden stehen und schaute ihnen mit großen Augen zu. Er hatte nie verstanden, warum die anderen Mädchen Jungs doof fanden, waren sie doch diejenigen die wie Hühner gackerten, quietschten und kreischten. Wie es dazu kam, dass einer der Jungs ihn zum Mitspielen einlud, daran erinnerte er sich nicht mehr, wohl aber daran, dass er das ganze Spiel über Angst hatte, sich schmutzig zu machen. Seine Kleidung war teuer, die Flecken würden nie wieder rausgehen, ein Mädchen musste ordentlich aussehen und eigentlich war Fußball auch viel zu gefährlich und die Jungs das, was seine Mutter einen „schlechten Umgang“ nannte. Es kam dann auch, wie es kommen musste – Jaiden stolperte und schlug sich das Knie auf. Sogleich breitete sich eine rote Blüte auf dem weißen Stoff aus, gefolgt von Schmerz. Heulend rannte Jaiden nach hause. Wie jedes Kind, das sich weh tat, wollte auch er zurück in die Arme seiner Mutter. Doch statt tröstender Worte empfingen ihn zwei Backpfeifen, eine links, eine rechts. Nun war dies bei weitem nicht das einzige oder erste Mal, dass seine Mutter zu körperlichen Züchtigungen neigte. Möglicherweise hatte sich dieser Zwischenfall derart eingeprägt, weil seine Eltern sich am darauffolgenden Wochenende scheiden ließen. Damals konnte Jaiden noch nicht wissen, dass seine Mutter einen Hang zur Promiskuitivität besaß und seinen Vater mehrfach betrogen hatte, daher gab er sich und dem Vorfall mit den Kniestrümpfe die Schuld daran. Bis er die Zusammenhänge verstand, zogen drei Jahre und zwei neue Väter ins Land. Dies ging mit seinem frühen Eintritt in die Pubertät einher, sodass Jaiden im zarten Alter von 11 Jahren beschloss, nicht länger unter der Fuchtel seiner Erzeugerin, wie er sie mittlerweile lieblos bezeichnete, zu stehen. Es begann damit, dass er sich die Haare bis zum Kinn abschnitt. Das hatte er schon immer tun wollen. Seine Mutter tobte erwartungsgemäß und schickte ihn zum Friseur, welcher Schadensbegrenzung betreiben sollte. Nun schaffte es Jaiden jedoch, der diensthabenden Praktikantin zu versichern, dass sich seine Mutter eine extreme Kurzhaarfrisur für ihn wünschte. Diesmal lies diese ihre Wut glücklicherweise mehr an der Angestellten aus, als an ihrem Sprössling. Während sie also einen Wagen mit Stylingprodukten umstieß und irgendetwas von rechtlichen Konsequenzen zeterte, betrachtete Jaiden fasziniert sein Spiegelbild. Selten war er so zufrieden mit seinem Äußeren gewesen. „Sie sieht jetzt aus wie ein Junge!“, keifte seine Erzeugerin. Das war der Moment in dem sich Jaiden das erste Mal ernsthaft die Frage stellte, warum er kein Junge sein konnte und was überhaupt so schlimm daran war, wenn er lieber wie einer aussehen wollte oder Jungssachen lieber tat als Mädchensachen. Die Antwort gaben ihm alsbald seine Mitschüler. Schon als er mit dem neuen Haarschnitt zur Schule kam, starrten sie ihn an. Manche kicherten. Er war damals schon nicht beliebt, hatte keine Freunde, außer ein paar Jungs mit denen er seit einiger Zeit wieder heimlich nach der Schule ein bisschen kickerte. In der Regel war er für die Masse einfach unsichtbar, aber das machte ihm nicht viel aus. Nun jedoch stand er durch seine Frisur kurzzeitig im Mittelpunkt der negativen Aufmerksamkeit und erntete ihren Spott. Unter hervorgehaltener Hand warf man ihm wieder vor, er sähe aus wie ein Junge. Es dauerte nicht lange, da nahm Jaiden all seinen Mut und das Geld, dass ihm seine Mutter zum zwölften Geburtstag geschickt hatte (er wäre jetzt zu alt für Geschenke und solle lernen mit Geld zu haushalten), zusammen, um sich neue Kleidung zu kaufen. Kleidung für Jungs. In einem Laden wies die Verkäuferin ihn höflich darauf hin, dass er sich hier in der falschen, weil in der Herrenmoden-, Abteilung befinden würde. Sein fröhliches „Ich weiß“ ließ die Frau eine Augenbraue hochziehen und von dannen stolzieren. Zuhause angekommen riss seine Mutter ihm die Einkaufstüten aus der Hand, mehr aus einer bösen Vorahnung heraus als aus der Motivation sich anzuschauen, was ihre Tochter „sich Schönes gekauft habe“, wie sie es in diesem Moment ausdrückte. Ein Blick in das Innere reichte, damit sich ihre Miene verfinsterte. Sie bekam diesen typischen, wilden Ausdruck in den Augen, den Jaiden mittlerweile zu deuten wusste. Er wich zurück, doch seine Mutter packte ihn grob am Oberarm, riss seinen Rock hinunter und verdrosch seinen blanken Hintern mit einem hölzernen Kochlöffel. Anschließend begann sie, ein paar Shirts zu zerreißen, wofür ihr jedoch schon nach wenigen die Kraft fehlte – und heulte. Letzteres tat Jaiden nichtmal Leid. Er klaubte die übrigen Sachen zusammen und verkroch sich für den Rest des Tages in seinem Zimmer. Seine Mutter strafte ihn von diesem Tag an, mit Ignoranz und Verachtung. Sie stürzte sich umso intensiver in Männergeschichten und Arbeit, war viel von zuhause weg, manchmal zwei Wochen am Stück. Jaiden musste fortan lernen, sich selbst zu versorgen, was sämtliche häusliche Arbeiten beinhaltete. Der Preis dafür, wie ein Junge sein zu dürfen, erwies sich als hoch – nicht nur im Hinblick auf seine familiäre Situation. In der Schule ging das Mobbing nun erst richtig los. Selbst die Jungs wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Mädchen wurden jetzt interessant, sexuell gesehen, und ein Mädchen das sich wie ein Junge kleidete, war ein „Abturn“. Seltsam, lächerlich, falsch. Männlein wie Weiblein wurden nicht müde, ihm dies zu suggestieren. Am Montag nach seinem dreizehnten Geburtstag wartete eine Gruppe älterer Jugendlicher an seinem Spind auf ihn. „Bist du ein Junge?“, fragte ein Typ, auf dessen Gesicht die Akne blühte. „Nein.“, antwortete Jaiden genervt – er war solche Fragen mehr als gewohnt. „Willst du einer sein?“, fragte ein anderer mit Rastalocken. Damit schnitt er etwas an, was Jaiden schon länger beschäftigte. Wollte er ein Junge sein? Nun, wenn in diesem Moment eine gute Fee vorbeigeschwebt wäre, die ihm die Möglichkeit offenbart hätte, sich in einen Jungen zu verwandeln, so hätte er sie angenommen. Anderes Szenario: Eine gute Fee schwebte vorbei und würde ihm einen x-beliebigen Wunsch freigeben – dann würde Jaiden sich wünschen, ein Junge zu sein. Ein richtiger Junge, den man einfach Junge sein ließ. Genau das wünschte er sich eigentlich, schon seit langer, langer Zeit. Seit er denken konnte. Sein trauriges Lächeln interpretierten die Rowdies als „dummes Grinsen“ und nahmen es zum Anlass, ihm in die Magengrube zu boxen, dass ihm Schwarz vor Augen wurde … „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich die dicke Afroamerikanerin, die Jaiden gegenüber saß und ihn durch ihre Worte zurück ins Hier- und Jetzt beförderte. Einfach nicken. Er befand sich im Sekretariat seiner zukünftigen Schule, der Clinton High School. Ein neuer Mann hatte seine Mutter dazu gebracht, Hals über Kopf ans andere Ende der USA zu ziehen, eine Woche vor Wiederbeginn der Schule. Es war nichtmal mehr Zeit für ein anständiges Vorstellungsgespräch – er sollte einfach alleine herkommen und die notwendigen Formulare ausfüllen. Schließlich war er schon sechzehn und seine Mutter an seinem weiteren Verbleib denkbar desinteressiert. Bis auf eine Frage hatte er alles ausgefüllt. Geschlecht: [_] weiblich [_] männlich Der Klassiker. Seine Gedanken schweiften wieder ab, zu seiner ehemaligen Klasse, den Mitschülern. Das alles konnte er nun hinter sich lassen. Doch wie standen die Chancen auf eine Verbesserung seiner allgemeinen Situation? Würde man ihn hier als Junge akzeptieren? Ihn auf die Jungentoiletten gehen oder sich in den Jugenumkleiden umziehen lassen? Würde man ihn mit männlichen Pronomen versehen? Oder doch nur wieder mit Beleidigungen? Sein Blick heftete weiterhin an der letzten Frage. Genauergesagt handelte es sich nicht einmal um eine Frage – es galt lediglich anzukreuzen ob er ein Junge oder ein Mädchen war. Fremde Menschen hielten ihn generell für einen Jungen, wohl aufgrund seinem Mangel an sichtbaren, weiblichen Attributen, seinem Kleidungsstil, seiner Frisur und der Tatsache, dass er sich mittlerweile sogar eine ein oder zwei Oktaven tiefere Stimme antrainiert hatte. In dieser Stadt war er jedem fremd. Er würde als unbeschriebenes Blatt diese Schule betreten. Sie würden ihn alle für einen Jungen halten und wie einen solchen behalten. Vielleicht würden sogar die Lehrer den letzten feinen Unterschied nicht bemerken. Würde er, rein hypothetisch, sein wahres Geschlecht angeben, wäre er so lange offiziell als männlicher Schüler anerkannt, bis jemand dieses Missverständnis aufklären würde. Aber wer täte dies? Seine Mutter lehnte den Kontakt zu anderen Eltern ab und scherte sich nicht um Sprechtage. Die Idee war zu verlockend. Auch wenn ihm einleuchtete, dass die Umsetzung in einer Katastrophe enden könnte – möglicherweise einem Schulverweis wegen Falschangaben oder aber den Wiederbeginn seines Martyriums – glitt seine Hand über das Papier. Geschlecht: [_] weiblich [x] männlich Kapitel 1: Ein neues Gesicht ---------------------------- Endlich erbarmte sich jemand, das Fenster zu öffnen. Die zähe Montagmorgenluft im Klassenzimmer vermischte sich mit dem Aroma von nassem Asphalt an einem schwülen Spätsommertag. Louisa saß in der letzten Reihe und strich gedankenverloren über den Ring, der ihr aus dem Nasenflügel ragte, ihren Blick an irgendeinen imaginären Punkt jenseits der Tafel geheftet. In diesem Zustand der langeweilebedingten Paralyse  fiel es ihr leicht, die Stunden zwischen den Pausen zu überbrücken. Vorausgesetzt niemand unterbrach die Endlosschleife zutiefst philosophischer Fragestellungen in ihrem Kopf. Beispielsweise beschäftigte sie sich gerade intensiv damit, die berühmt berüchtigten zehn Prozent Homosexuelle aus der Mitschülerschaft herauszufiltern. Soweit die Sechzehnjährige wusste, gab es an dieser Schule nicht einen einzigen Menschen, der sich je offen zu seiner andersartigen Sexualität bekannt hatte – aber genügend, bei denen man eine solche in Erwägung ziehen könnte, Lehrer inklusive. Spontan fiel ihr jedoch nur Richard Parker ein, der vermeintlich schwule Bruder ihrer besten Freundin. Dieser war achtzehn, besuchte die Stufe über ihnen und – in diesem Zusammenhang sehr wichtig - verfolgte vehement seinen Traum, Künstler zu werden. Allerdings waren Stereotype Louisa nicht ausschlaggebend genug, und die Quellen gewisser Gerüchte nicht gerade von Seriosität geprägt. Generell spielte es sowieso keine Rolle, welchem Ufer er sich nun tatsächlich zugeneigt hatte – bis auf den herben Verlust für das weibliche Geschlecht ... Bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, signalisierte ihr das Stühlerücken um sie herum, dass der Unterricht vorbei war. Gemächlich packte Louisa zusammen, schulterte ihren Rucksack und bewegte sich Richtung Mensa. Dem Geruch nach zu urteilen gab es irgendetwas mit Tomatensoße, aller Wahrscheinlichkeit nach Nudeln. Eine Schlange aus drängelnden Schülern, angeführt von einer kompletten Mannschaft verschwitzter Footballer, blockierte die Essensausgabe. Anstatt sich die erfahrungsgemäße viertelstündige Wartezeit anzutun, beschloss die Sechzehnjährige Ausschau nach den Parkers zu halten, mit denen sie üblicherweise die Mittagspause verbrachte. Ihr Blick schweifte quer durch den überfüllten Raum, als ihr jemand einen Stoß von hinten versetzte. Darauf nicht vorbereitet verlor sie das Gleichgewicht, fand es jedoch gerade noch rechtzeitig wieder. „Geht’s noch?“ Wütend fuhr Louisa herum, instinktiv bereit, irgendeiner Tusse die Meinung zu sagen. Stattdessen stand sie einem ihr unbekannten Typen gegenüber. Einem gutaussehenden noch dazu, was ihren plötzlichen Zorn ebenso schnell wieder verfliegen ließ. Dem androgynen Gesicht, seinen dunkelbraunen, leicht mandelförmigen Augen und der für einen Jungen diesen Alters – sie schätzte ihn spontan auf 15, vielleicht 16 - geringen Körpergröße nach zu urteilen schloss sie auf asiatische Wurzeln. „Tut mir Leid.“ Ihr Zusammenstoß schien ihm sichtlich unangenehm zu sein. Peinlich berührt schob er die Schüssel auf seinem Tablett zurecht. Etwas von der Tomatensuppe war bei der Kollision übergeschwappt. „Nicht so schlimm.“, erwiderte Louisa. Scheu blickte der Junge von seinem Mittagessen auf, nur um sich kurz darauf zum Gehen zu wenden. Aus irgendwelchen Gründen verspürte sie nun das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Dafür, dass sie in diesem Moment an genau jener unglückseligen Stelle hatte stehen müssen. Wie unsinnig. Und doch rief sie ihn zurück. „Hey, warte mal!“ Er drehte sich um. „Du bist neu hier, stimmt’s?“ Zaghaftes Nicken als Antwort. „Wenn du möchtest, kannst du dich zu uns setzen. Also, sofern du noch nichts anderes vor hast.“, schlug Louisa vor. Unabhängig von der Antwort hatte sie damit ihr Gewissen beruhigt. „Gerne.“ Demütig folgte der Junge ihr zum letzten freien Tisch in der gesamten Mensa, wo er scheinbar reglos verharrte, bis auch sie mit einer Portion Lunch von der Essensausgabe zurückkehrte. Seine Suppe musste in der Zwischenzeit bestimmt schon kalt geworden sein, doch aus, wie es schien, übertriebener Höflichkeit hatte er noch nicht angefangen zu essen. Erst als sie Platz nahm, fing er an in seinem Salat herumzustochern. Die Sechzehnjährige tat es ihm gleich. Um aus dem peinlichen Schweigen heraus zu kommen, entschloss sie sich, ihr Gegenüber mit Fragen zu bombardieren. „Wie heißt du eigentlich?“ „Jaiden. Cleveland.“ Keine Gegenfrage. „Ehm, nett dich kennen zu lernen, Jaiden. Ich bin Louisa. Huntress.“ Die restliche Konversation verlief ähnlich einseitig. Zumindest erfuhr Louisa, dass Jaiden tatsächlich sechzehn war und sie fortan die selbe Stufe besuchen, teilweise sogar ein paar gemeinsame Kurse belegen würden. Jeden hatte sie ihm einzeln aus der Nase ziehen müssen. Zudem stammte er aus Detroit. Auf die Frage hin, was ihn in ein gottverlassenes Kaff wie Mayville führte, verwies er auf die Scheidung seiner Mutter von seinem Stiefvater. Daraufhin beschloss sie, nicht weiter zu bohren. Möglicherweise wollte er auch gar nicht mit ihr reden. Just im Moment dieser Erkenntnis erklang das unverkennbare Geräusch sich nährender Stilettos. Sekunden später ließ Wendy Parker auch schon ihr Tablett auf den Tisch donnern. Küsschen links, Küsschen rechts, dann ließ sie sich neben ihr nieder, löste ihren Pferdeschwanz und begann ihre rotblonde Mähne mit einer Bürste zu bändigen, die sie aus ihrem Louis Vuitton Täschchen fischte. Der Eindruck einer oberflächlichen, narzisstischen Luxusgöre den jeder Außenstehende – den in diesem Fall gerade Jaiden darstellte – unweigerlich von ihr gewann, täuschte größtenteils. Wendy war die Tochter eines erfolgreichen Immobilienmaklers. Man konnte es ihr nicht verdenken, dass sie ihren Wohlstand und somit die Möglichkeit, den amerikanischen Traum zu leben, auch nutzte. Sie war sich ihrer natürlichen Schönheit bewusst und genoss es, diese mit Designerklamotten und passenden Accessoires zu unterstreichen. Auf der Schule hatte ihr allein das Wissen um das Vermögen ihres Vaters und ihr extravaganter Kleidungsstil einen hohen Status eingebracht, den sie ausschließlich nutzte, um sich auf diverse Feiern einladen zu lassen. Ansonsten war sie erstaunlich bodenständig, kam ihren schulischen Verpflichtungen nach und kümmerte sich um ihre Freunde – überwiegend aus Arbeiter- oder Beamtenfamilien. „Entschuldige die Verspätung, mein Bruder … oh.“ Ihr Blick fiel auf Jaiden, der nun scheinbar komplett überfordert zwischen ihr und Wendy hin- und herschaute. „Das ist Jaiden. Er ist vor Kurzem hier her gezogen und ist jetzt in unserer Stufe. Jaiden -“ Louisa vollführte eine übertriebene „et voilà“ Geste in Richtung ihrer besten Freundin. „- das ist Wendy. Ihr wirst du, wenn ich mich recht entsinne, auf jeden Fall nochmal in Biologie begegnen.“ Jaidens Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten, deshalb schaute sie demonstrativ auf ihr Handy, auf der Suche nach einem Grund, das Gespräch zu Ende zu bringen. „In fünf Minuten fängt der Unterricht wieder an, also...“ „Dann bring ich jetzt mal das hier weg.“, warf Jaiden unerwartet ein – womit er den bisher wohl längsten Satz seinerseits zu Stande gebracht hatte – und deutete auf sein Tablett. „Gute Idee. Bis demnächst.“ Der letzte Teil war nicht rein rhetorisch gemeint. Obwohl dieser Typ sie mit seiner Introvertiertheit sogar noch um Längen schlug, schien er doch ganz nett zu sein. Und hübsch, sofern man einem Kerl dieses Attribut anhängen dürfte. Vielleicht taute er mit der Zeit auch auf. Den Umzug, und dazu noch die Scheidung, musste er bestimmt erstmal verdauen. Sie blickte Jaiden noch lange hinterher, bevor er im Gedränge verschwand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)