the ice kingdom von P-Chi (Falsche Entscheidung) ================================================================================ Kapitel 1: Eisspiegel --------------------- Vor mir lag eine Welt wie ich sie noch nie gesehen hatte. Berge aus Eis türmten sich aus dem beinahe schon pechschwarzen Meer wie Riesen, die uns zertrampeln wollten. Kleine Eisperlen prasselten herab und verursachten klackende Laute, sobald sie auf dem Schiff landeten. Der pfeifende Wind schnitt mir ins Gesicht und brachte mein braunes Haar durcheinander, als ich die weite Ferne starrte und nichts außer einer weißen Wüste sah, ohne auch nur eine Spur von Leben. Vor nicht mehr als zehn Minuten, hatten wir endlich Halt gemacht. Das Schiff, welches mich und meine Familie herbrachte, war kaum größer als ein Fischkutter und roch auch danach, wenn ich nicht zu sehr damit beschäftigt war, den Schal um mein Gesicht zu wickeln. Manche Familien würden vielleicht eine Reise nach Afrika oder Australien planen, die Hitze dort genießen und eine kleine Safari-Tour machen, doch wenn die Eltern begeisterte Winter-Fans waren und sich nicht mehr mit gelegentlichen Trips zum Ski fahren zufrieden gaben, landete man hier. Am Nordpol. Irgendwo im Nirgendwo. Außer mir, meinem Vater, der seit Stunden nichts anderes machte, als Fotos von der immer gleich bleibenden Landschaft zu schießen und meiner Mutter, die penibel darauf bedacht war meinen kleinen Bruder Timothy warm zu halten und ihm daher alle zwei Minuten die Haube tiefer ins Gesicht zog, bis man seine ozeanblauen Augen – welche übrigens in der Familie lagen – nicht mehr sehen konnte, waren nur fünf weitere Passagiere anwesend. Davon war einer der Kapitän, der Schiffskoch und ein Matrose, der in seiner knallroten Jacke wie eine Weihnachtskugel aussah. Übrig wäre dann also noch ein altes Ehepaar, das sich andauernd an den Händen hielt und beinahe regungslos auf einer aufgestellten Bank verharrte. Würde man nicht ab und zu den weißen Dampf ihres Atems sehen, könnte man glatt annehmen, sie seien erfroren. „Norah!“, rief mich meine Mutter, deren gerötetes Gesicht etwas aufgeplustert aussah, und winkte mich mit ihren dicken Handschuhen zu sich. Etwas steif löste ich meine erstarrten Hände von der Reling und schlurfte zu ihr, obwohl jeder halbwegs funktionierende Muskel in meinem Körper lautschreiend protestierte. Mir war so elendig kalt, dass ich mir manchmal nicht einmal sicher war, überhaupt etwas anzuhaben, daher hatte ich gelernt mich so wenig zu bewegen wie nur möglich, um Energie zu sparen. „Es ist so kalt, Mom!“, jammerte ich gedämpft und blinzelte sie durch mit Frost verklebten Wimpern an. Ihr freches Grinsen wurde breiter. Die Schadenfreude war ihr ins Gesicht geschrieben, nachdem ich mich so vehement dagegen gewehrt hatte, noch mehr hässliche, stickige und kratzige Pullover in meinen Koffer zu zwängen. Aber eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass ich Unrecht hatte. Zum Glück hatte sie es mir bis jetzt immer nachgesehen und mir ihre Sachen geliehen. „Ich weiß, Süße, aber dir wird sicher wärmer, wenn wir einen kleinen Spaziergang machen“, beschwichtigte sie mich in ihrer entspannten Art und wie auf Stichwort, wurde eine Strickleiter auf die Eisplatte niedergelassen, die so groß war wie unser ganzer Häuserblock. „Ich soll da ... runter?“, fragte ich und mir wurde sogar noch eine Spur kälter. „Ist das überhaupt sicher? Bestimmt wird das Eis brechen!“ „Immer so theatralisch, Norah“, tadelte mich mein Vater und knipste sogleich ein Bild von meiner entsetzten Miene. „Ha! Du siehst aus wie ein Räuber.“ „Danke, Dad, du bist mir eine echte Hilfe.“ „Ich tu was ich kann“, erwiderte er mit demselben verschmitzten Grinsen, wie meine Mutter es immer zur Schau stellte. Ich hatte Spaßvögel zu Eltern. Großartig. „Nooaaah!“, schniefte in dem Moment mein sechsjähriger Bruder und streckte seine Arme nach mir aus. Es war schon etwas heftig, ein so kleines Kind mit zum Nordpol zu nehmen, aber zumal wir keine weiteren Verwandten hatten und die Freunde meiner Eltern überzeugte Workaholics waren, blieb ihnen keine andere Wahl. Wenigstens war ich nicht die einzige, die unter diesen Wetterbedingungen litt, dachte ich, wusste aber gleichzeitig, dass Timothy total darauf abfuhr, mit unserem Dad auf jeder Platte, auf der wir Halt machten, eine Schneemann-Familie zu bauen. Trotz schmerzender Glieder hob ich den Kleinen hoch und drückte ihn, ehe er mir zu schwer wurde und ich ihn wieder absetzen musste. „Noah!“, sagte er wieder, weil er meinen Namen nicht richtig aussprechen konnte. „Ich will ein Karamell!“ „Ah, das hier?“, fragte ich und kramte ein in goldener Folie verpacktes Bonbon aus meiner Jackentasche. Er nickte wild und als ich es ihm überreichte, verschwand es schneller in seinem Mund, als ich blinzeln konnte. Ich musste ein Schmunzeln unterdrücken, als wir alle nacheinander die Leiter hinab kletterten. Der Matrose ging voraus und stellte sicher, dass es ungefährlich war. Dennoch betonte er immer wieder, dass wir uns besser in der Nähe des Schiffes blieben und uns von den Schollen fernhalten sollten. „Du hast ihn gehört“, warnte mein Dad und begann bereits den ersten Schneeball in seinen Händen zu formen. „Schon gut, schon gut“, winkte ich ab und ging um den Teil des Schiffes herum, der das Eis noch nicht durchbrochen hatte. Es wirkte tatsächlich alles mehr oder weniger stabil und dennoch konnte ich meine Knie nicht daran hindern wie wild zu zittern. Für gewöhnlich bevorzugte ich ja doch sicheres Land unter den Füßen, wenn ich das Gras zwischen den Zehen und die Erde unter meinen Sohlen spüren konnte. Im Augenblick fühlte ich jedoch nur, wie undicht meine Stiefel waren und die Feuchtigkeit allmählich durch meine zwei Paar Socken drang. Mit zusammen gekniffenen Augen versuchte ich etwas durch den Schneefall zu erkennen, doch bis auf ein paar Eisberge blieb alles verschwommen. Allerdings wurde ich auf ein bläuliches Glimmen aufmerksam, dass aus einem der Berge – somit eine Höhle – zu kommen schien. Ich schätzte die Distanz zwischen dem Schiff und der Höhle ein. Sie war weit genug entfernt, um einen kleinen Umgebungswechsel zu bekommen und nah genug, um die Rufe meiner Familie zu hören, sollten wir wieder abfahren. Neugierig stapfte ich also durch den Schnee, gerade auf das blaue Licht zu und betete inständig, dass sich unter mir nicht plötzlich das Eis auftat. Nicht genug, dass ich diese Kälte verabscheute, ich hatte auch panische Angst davor zu ertrinken. Eine Klassenkameradin, die ich nicht sonderlich gut gekannt hatte, ertrank einmal in einem See, weil sie von einem Boot gefallen war und nicht schwimmen konnte. Die ganze Schule war entsetzt gewesen. Wie würde es da wohl erst sein, wenn ich von der Schwere meiner Klamotten und der stechenden Eiseskälte des Meeres in die schwarze Tiefe gezogen wurde? Bei dem Gedanken stolperte ich über meine eigenen Füße und landete der Länge nach im Schnee. Ich war nur noch wenige Meter von der Höhle entfernt und sah bereits, woher die blaue Farbe herrührte, wusste aber, dass es eine verdammt dumme Idee gewesen war, hierher zu kommen. Im Nachhinein ärgerte ich mich immer darüber, wenn meine Beine das Denken für mich übernahmen und auch diesmal war ich nicht schlau genug, einfach wieder umzukehren, sondern steuerte trotzig das Innere der Höhle an, doch sobald ich mein Ziel erreichte hatte, kam ich aus dem Staunen fast nicht mehr heraus. Die Eiswände waren so glatt wie Glas, gaben aber nur ein verzerrtes Bild wieder, das mich mindestens drei Tonnen schwerer erscheinen ließ. Noch war das Blaue dieser Wände so neutral, wie ein klarer Himmel, doch je tiefer es ging, desto heller wurde es. Vielleicht war der Berg, der eine Höhle war, wohl doch eher ein Tunnel? Zweifelnd biss ich mir auf die Unterlippe und sah mir über die Schulter. Es wäre sicher klüger, wieder umzukehren. Ja, ganz sicher, und wer weiß? Vielleicht würde ich meinen Vater dazu überreden können, noch einmal hierher zu kommen? Auf jeden Fall hätte er dann noch mehr Grund Bilder zu schießen und das würde ihm sicher gefallen. Geh nicht. „Huh?“, ich stoppte und sah mich um. Mir war, als hätte ich meine eigene Stimme gehört, allerdings nicht aus meinem Mund, sondern als Echo. Unheimlich. Noch ein Grund, weshalb ich mich beeilen sollte, doch dieses Mal war die Stimme – meine Stimme – noch deutlicher zu hören, als würden die Worte direkt neben mir gesprochen werden. Lass uns nicht alleine ... alleine ... alleine ... Ich drehte den Kopf zur Eiswand und sah ... mich selbst. Nichts, was mich hätte erschrecken sollen und doch wich ich beim Anblick meines Spiegelbilds Luft schnappend zurück. Wenn es doch nur mein Spiegelbild gewesen wäre. Alles stimmte, von den gekräuselten Haaren, über die zusammen gezogenen Augenbrauen und dem olivgrünen Parka, bis hin zu den schwarzen Stiefeln. Alles, außer einer Sache. Dieses Ich trug keinen Schal. Kapitel 2: Wolf --------------- „Was?!“, quiekte ich erschrocken und stolperte rückwärts wie ein verängstigtes Kind, dass von einem wilden Tier angestarrt wurde. Das Spiegelbild regte sich nicht und machte auch sonst keine Anstalten mir zu folgen, als ich panisch nach draußen rannte und nur knapp einen Aufschrei unterdrücken konnte. Was zum Teufel war das?! Das war doch nicht ich gewesen, oder doch? Das konnte doch unmöglich nur eine Einbildung gewesen sein? Eine Eis-Fata-Morgana? Halluzinierte ich bereits vor lauter Kälte? Egal was es gewesen war, meine Beine gehorchten mir nicht mehr und hetzten über die gigantische Eisplatte, bis ich nicht mehr konnte und mein eingehüllter Körper unerträgliche Hitze ausstrahlte, obwohl sich mein Gesicht noch immer wie gefrorener Fisch anfühlte. Keuchend sah ich mich um, konnte aber weit und breit kein Schiff erkennen. Was war hier nur los? Ich war mir sicher in die richtige Richtung gelaufen zu sein und auch so hätte ich es doch irgendwo sehen müssen, oder? „Irgendetwas stimmt nicht“, murmelte ich, als ich etwa zehn Meter weiter den kleinen Schneemann entdeckte, der zusammengeknülltes goldenenes Bonbon-Papier als Augen hatte. Es war Windstill, keine einzige Schneeflocke rieselte vom bewölkten Himmel hinab und ich konnte noch nicht einmal mehr behaupten, dass mir kalt war. Ich war mir so sicher, an genau der Stelle zu stehen, wo das Schiff gewesen war und dennoch war der Boden an dieser Stelle unversehrt. Bis auf den Schneemann, gab es keinen Beweis, dass hier je ein menschliches Wesen gewesen war. Wo waren sie? Meine Mutter? Mein Vater? Timothy? War ich alleine? Alleine auf dem Nordpol? Ich war zu verwirrt, um mich weiterhin tragen zu können und sank auf die Knie, raufte mir die Haare, weil das alles einfach zum Lachen war! Aber mir war nicht nach Lachen zumute. Stattdessen zog ich noch immer stark in Erwägung, dass ich vor Kälte einfach irgendwo umgekippt war und nun dieses irre Zeug träumte. Fragte sich nur, wie ich wieder aufwachte, bevor mein echter Körper erfror. „Das ist doch bescheuert“, knurrte ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen, weil ich mit aller Macht verhindern wollte zu weinen. Ich war alt genug, um nicht mehr zu bittere Tränen zu vergießen, wenn Mami und Papi nicht da waren, um mich zu trösten. Daher rappelte ich mich auf, klopfte mir den Schnee von den Beinen und erstarrte gleich wieder. Ich war mir ziemlich sicher, dass vorher noch kein Schneewolf neben dem goldäugigen Schneemann gestanden hatte, als ich zuletzt hingesehen hatte. Mensch, was tust du hier? „Na toll, jetzt spricht er auch noch. Als ob ich mir nicht schon verrückt genug vorkomme.“ Egal zu was mein krankes Gehirn auch fähig war, mir sprechende Wölfe in den Kopf zu setzen, ging eindeutig zu weit. Eins war klar, ich würde mir nie wieder einen Fantasy-Film ansehen. Die taten meinem Verstand anscheinend keinen Gefallen. Allerdings musste ich wohl oder übel mitspielen, wenn ich je wieder aufwachen wollte. „Ich suche meine Familie!“ Du solltest nicht hier sein, Mensch. „Das ist mir klar“, erwiderte ich mit einem leicht verzweifelten Unterton. „Wie komme ich wieder zurück?“ Der Wolf knurrte leise und bleckte die Zähne, was angesichts der Tatsache, dass er aus reinem Schnee bestand, irgendwie merkwürdig aussah. Ah, ich kann sie riechen. Die anderen kommen. Lauf, Mensch! „Wohin?“ Ich fragte mich, was er mit ‚den anderen‘ meinte und hatte gleichzeitig ein ganz, ganz mieses Gefühl bei der Sache. Dorthin wo du hergekommen bist! Der Wolf drehte sich und schaute zurück. In der Ferne wirbelte Schnee auf und das Geräusch von mehrbeinigem Getrappel war bis hierher zu hören. Ein Rudel. Verdammt, es war ein ganzes Rudel, das auf dem Weg hierher war! Lauf, bevor sie dich fressen! Das musste er mir nicht noch einmal sagen. Sofort machte ich kehrt und rannte heute schon zum zweiten Mal zu dem Eisberg, der all das erst angerichtet hatte. Jetzt, da der Wind endlich ruhig war, war es wesentlich einfacher sich fortzubewegen, aber würde mich das vor einem ganzen Haufen nicht gerade langsamer Schneewölfe retten können? Ich versuchte nicht zurückzublicken, hörte aber ein Heulen, das für meinen Geschmack viel zu nah klang. Hechelnd legte ich noch einen Zahn zu, spürte aber bereits das vertraute Stechen in meiner Seite, das mir signalisierte, dass ich nicht mehr lange durchhielt. Nur noch ein paar Meter und ich wäre wieder in der Höhle. Und was dann? Was, wenn das nicht der Ausgang war und die Wölfe mich doch noch erwischten? War vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, um das innerlich auszudiskutieren. Schneller, Norah, sie haben dich gleich, wisperte diese echo-hafte Stimme wieder und hätte mich fast wieder zum Stolpern gebracht. Was war nur los mit diesem formlosen Stimmen? Konnte hier denn alles reden? Tiere? Spiegelbilder? Musste ich damit rechnen, dass der Schnee bald zu singen begann? Ich schrie auf, als mich etwas am Bein erwischte und ich stürzte. Ein Wolf – wesentlich größer als der, der mich gewarnt hatte – hatte sich in meinem Stiefel verbissen und obwohl er nur aus Schnee bestand, spürte ich die spitzen Zähne klar und deutlich, wie sie versuchten sich in mein Fleisch zu bohren. Ich verpasste dem Tier mit meinem freien Fuß einen Tritt gegen den Kopf und beobachtete verblüfft, wie es wie eine Sandburg in sich zusammen fiel. Das machte die anderen Wölfe nur noch wütender und ich konnte mich vor Furcht nicht mehr rühren, als sie alle aneinander stoben, Fell an Fell, und miteinander verschmolzen, zu einem einzigen, riesigen Wolf, mit Fangzähnen so lang wie mein Arm. Norah!, schrie das Spiegelbild wieder und riss mich aus meiner Starre. Ich kämpfte mich hoch und humpelte mit letzter Kraft zum Eingang der Höhle. Das Maul des monströsen Schneewolfes öffnete sich, bereit mich mit Haut und Haaren zu verschlingen, doch sobald ich die Schwelle zur Höhle übertrat und von der angenehmen Kühle dieser Eiswelt umschlossen wurde, prallte der Wolf mit voller Wucht gegen ein unsichtbares Hindernis und zerstob, wie auch der Wolf zuvor, in Millionen kleine Schneeflocken. Ich wurde mit einem Schwall an Schnee zugedeckt und kroch alarmiert fort, ehe sich das Ding wieder zusammensetzte und womöglich noch wütender wurde. Beruhige dich, du bist in Sicherheit, Norah. Das Spiegelbild – mein verfluchtes Spiegelbild – lächelte mich aufmunternd an und hob beschwichtigend die Hände. Ich konnte gar nicht beschreiben, wie verstörend es für mich war, zu sehen wie ich mich bewegte, obwohl ich es eben nicht tat. Als würde man ein Video von sich selbst sehen, nur viel, viel realer. „Woher kennst du meinen Namen?“, war das Erstbeste, was mir in den Sinn kam. Ich war gerade eindeutig überfordert und musste alles behutsam angehen, ansonsten hatte ich das Gefühl, mein Kopf würde gleich zerspringen. Das Spiegelbild zuckte die Schultern, lächelte aber wieder. Ich bin dein Ebenbild. Es ist so lange her, seit ich die Gestalt einmal wieder wechseln konnte, daher bin ich sehr froh, dich kennenzulernen, Norah. Mein Name ist Twinny. „Twinny“, wiederholte ich lahm und schaufelte den Schnee von mir runter. „Passt zu dir.“ Sie kicherte. Das waren auch seine Worte. „Wessen Worte?“, fragte ich und kam allmählich wieder zu Besinnung. Himmel noch Mal, ich führte gerade ein Gespräch mit meinem Spiegelbild! „Wo bin ich hier? Wie komme ich wieder zu meinen Eltern? Und was zum Geier war das für ein Monster?“ Ich dachte mir, dass du viele Fragen haben wirst, antwortete sie und bedeutete mir, aufzustehen. Folge mir. Das Bild bewegte sich auf der Eiswand fort und ging tiefer in die Höhle hinein. „Wohin?“, fragte ich misstrauisch, wollte aber auch nicht wieder nach draußen zu den Schneewölfen. Du willst doch Antworten? Er wird sie dir geben. Twinny kicherte. Vielleicht. Was blieb mir also für eine Wahl? Ich folgte ihr. Kapitel 3: Insignien -------------------- Am Ende des Tunnels, der Höhle oder was auch immer, wo ich das helle Licht gesehen hatte, befand sich ein geöffnetes Tor aus Eis. Ich war noch unschlüssig, ob ich eintreten sollte, zumal ich keine schlafenden Bären wecken wollte, da schickte mich Twinny auch schon weiter und glitt die Eiswand entlang. Zögerlich setzte ich einen Schritt vor den anderen, bis ich in den, zugegeben, beeindruckenden Saal trat, der in etwa dieselbe Größe wie die Cafeteria in meiner Schule hatte. Der Boden war pechschwarz. Vermutlich war das Eis zwischen mir und dem Meer so durchsichtig wie Glas und ließ ihn deshalb so dunkel erscheinen, allerdings drehte sich mir bei diesem Anblick der Magen um. Noch dazu machten die vielen verschiedenen Eisstatuen mit ihren erstarrten Bewegungen und leeren Augen, die mich alle anzustarren schienen, keinen sehr vertrauenserweckenden Eindruck. Ich hatte Twinny aus den Augen verloren und machte vor den Stufen zu einem Thron halt, der majestätisch vor mir aufragte, zu meinem Glück – oder Unglück? – leer war. „Du bist also die unverschämte Göre, die einen der Xiovi geärgert hat“, sagte plötzlich jemand so erschreckend laut, dass ich zusammen zuckte. Die Stimme hatte kein Echo und dröhnte mir dennoch durch den Kopf, außerdem fühlte sie sich so schwer an, dass ich glaubte, von einer unsichtbaren Kraft niedergedrückt zu werden. „Wer spricht da?“, schaffte ich es die Frage aus meiner Kehle zu pressen, obwohl mir vor Angst die Zähne klapperten und fügte verstimmt hinzu: „Ich habe niemanden geärgert!“ Die Wand hinter dem Thron zitterte wie eine unruhige Wasseroberfläche, als ein gigantischer Schlangenkopf durch das Eis erschien und sich zu mir herabschlängelte. Sein großer Körper umkreiste mich, sperrte mich ein und schnitt mir jegliche Fluchtmöglichkeit ab, bis ich nur noch klirrende Kälte um mich spürte, weitaus schlimmer, als es mir noch zuvor ergangen war. „Freches Gör“, grollte die Schlange mit den schillernden Schuppen und den frostigen Augen, die, obwohl sie so leer und nichtssagend waren, direkt in mich hineinsehen zu sehen schienen. „Twinny hat mir davon berichtet. Du hast einen der Wölfe getreten.“ „Aber er hat mich gebissen!“, verteidigte ich mich und fragte mich gleichzeitig in aller Stille, warum ich mich überhaupt rechtfertigen musste. Der Schlangenkopf beugte sich zu mir hinab, bis wir auf etwa derselben Augenhöhe waren und mich ihre hervorschnellende, blaue Zunge beinahe streifte. „Die Xiovi sind heilige Geschöpfe. Es ist verboten sie zu verletzen, selbst wenn sie es auf dich abgesehen haben. Sie haben dich getestet – und du bist durchgefallen. Nicht, dass mich das sonderlich überrascht.“ Bildete ich mir das ein oder stieß die Schlange einen abfälligen Seufzer aus? „Entschuldige mal, aber ich habe nicht darum gebeten, hier zu landen!“, empörte ich mich in aller Deutlichkeit und verschränkte die Arme. Langsam aber sicher konnte ich nicht mehr behaupten, das alles nur zu träumen. Es fühlte sich zu real an, zu greifbar. Als wurde ich in irgendein Videospiel gesaugt und musste mir meinen Weg zurück in die echte Welt erkämpfen. Dann war dieses Schlangen-Monster nach diesen Wölfen wohl Level 2, huh? „Hast du die Insignien am Eingang nicht gelesen?“, fragte die Schlange zischelnd und verkleinerte den Kreis in dem ich stand, als würde sie mich zerquetschen wollen. „Insignien?“, fragte ich dumm. „Ah, natürlich hast du das nicht getan. Was frage ich eigentlich noch? Ihr törichten Menschen glaubt doch, euch über alles hinwegsetzen zu können.“ „Was ... was steht auf diesen Insignien?“ „Dies und das. Zum Beispiel, dass hier ein verbannter Gott lebt und dich fressen könnte, wenn ihm langweilig ist.“ Die Schlange zitterte vor unterdrücktem Lachen und brachte die Höhle zum erbeben. Eispartikel prasselten von der Decke herab und ich dachte, mir würde jeden Moment der Boden unter den Füßen wegbrechen. Mir schnürte sich die Kehle zu, als mir der Schweiß ausbrach und die Angst sich wie ein Lauffeuer in mir ausbreitete. Jeder Muskel in meinem Körper verkrampfte sich, bis meine Knie nachgaben und ich auf das glatte Eis unter mir sank. Nur am Rande realisierte ich, dass ich wohl gerade eine Panikattacke erlebte, als ich mich vergeblich versuchte an dem Eis festzuhalten, während alles um mich herum aus den Fugen geriet. „Reiß dich zusammen, Mensch, das ist kein Grund gleich die Nerven zu verlieren.“ Ich riss den Kopf hoch, als ich diese normal klingende Stimme hörte und traute meinen Augen nicht. Meine Panik war wie weggeblasen, als ich statt der Riesenschlange einen älteren Jungen sah, der genauso gut aus irgendeinem Märchen hätte entspringen können. Er hatte perlweißes Haar und so blasse Haut wie ich sie mir nur erträumen konnte. Das Gesicht war etwas schmal belegt, ebenso wie die blutleeren Lippen, die wirkten, als wäre er zu lange in kaltem Wasser geschwommen. Seine Augen dagegen hatten sich kaum verändert. Mit ihrer eisblauen Farbe verstärkten sie nur noch das Gefühl von absoluter Gefühllosigkeit und Tyrannei. Abgerundet wurde sein Anblick nur noch von den schneeweißen Klamotten und seinem majestätischen Auftreten. Ich hatte keinen Zweifel mehr, dass es sich hierbei um einen Gott handelte. „Hör auf Wurzeln zu schlagen und steh auf. Von diesem bemitleidenswerten Anblick wird mir ja schlecht.“ Ein sehr herrischer Gott ohne Sinn von Anstand. Ich rappelte mich mit zittrigen Knien hoch und atmete tief aus. Mir war noch immer unangenehm übel von dem ganzen Stress, doch seine nüchterne Mentalität brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. „Wenn du ein Gott bist, dann kannst du mir sicher sagen, wie ich nach Hause komme, nicht wahr?“ Er neigte den Kopf und tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich auf den Mund. „Ich könnte ... wenn ich wollte.“ „Aber du willst nicht?“, riet ich und beobachtete genervt, wie sich seine Lippen zu einem gemeinen Grinsen verzogen. An was für einen sadistischen Gott war ich da nur geraten? „Es kommt darauf an, ob du bereit bist einen angemessenen Preis dafür zu zahlen, Mensch.“ „Mein Name ist Norah, nicht ‚Mensch‘. Und ich tue alles, um zu meiner Familie zurückzukehren.“ „Das höre ich gern.“ Sein Grinsen wurde breiter und zeigte eine Reihe von blendenden Zähnen. Sein Blick wanderte zu einer nächstgelegenen Eiswand, doch statt blauen Augen, hatte sein Spiegelbild grüne. „Ich bringe dich zu deiner Familie. Aber vergiss nicht, je beschwerlicher die Reise, desto höher der Preis.“ „Danke!“, jauchzte ich glücklich und unendlich erleichtert. Ich hatte schon Angst gehabt, für immer hier festzusitzen, doch als auch der Rest seiner Worte zu mir durch sickerten, runzelte ich die Stirn. „Moment mal. Eine Reise? Kannst du nicht einfach irgendeinen Zauberspruch aufsagen und mich aus der Höhle rauslassen?“ Der eisäugige Gott machte einen unverschämten Laut, als würde er mit einem bockigen Kind reden und rieb sich Kopfschüttelnd die Stirn. „Ich bin ein Gott und kein verdammter Zauberstabschwinger! Dieses Tor ist nur der Eingang. Man kommt rein, aber nicht wieder raus. Der Ausgang befindet sich an einem vollkommen anderen Ort, an den ein Mensch wie du niemals alleine hinkommen könnte.“ „Toll.“ Die mangelnde Begeisterung war mir angesichts dieser Neuigkeit deutlich anzusehen. „Wenn du verbannt bist, kannst du die Höhle dann überhaupt verlassen?“ „Na sieh mal einer an, da hat ja doch jemand zugehört.“ Er winkte ab. „Keine Sorge, Mensch, die Verbannung wurde schon vor Jahrhunderten aufgehoben.“ Ich knirschte mit den Zähnen und trat unwohl von einem Fuß auf den anderen. Es ärgerte mich, dass er sich über mich lustig machte, aber noch wollte ich es mir nicht mit ihm verscherzen. Ich brauchte ihn, auch wenn es mir nicht passte. Als er näher an mich herantrat, bis sein frostiger Atem mein Gesicht streifte und mir einen Schauer den Rücken unterjagte, hielt ich unweigerlich die Luft an. „Nun denn“, hauchte er mit einem leidenschaftslosen Lächeln. „Sollen wir den Pakt besiegeln?“ Ich schluckte und nickte zögerlich. „Aber nur damit wir uns richtig verstehen, ich werde nicht meine Seele oder mein Erstgeborenes an dich verkaufen.“ Der Gott blickte mich einen Moment mit großen Fischaugen an, dann brach er in lautes Gelächter aus, bis er sich eine gefrorene Träne aus dem Augenwinkel kratzen musste. „Herrlich! Ich habe selten so gelacht! Oh, war das etwa dein ernst?“ Ich kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme. „Mein voller ernst.“ Er schnaubte und strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du verwechselst mich mit einem Dämon. Ein bisschen schwer von Begriff, huh?“ „Jetzt entschuldige mal!“, brauste ich auf und warf die Arme vor Frustration in die Luft. Was war nur los mit diesem Typen?! Jedes Wort aus seinem Mund war pure Gemeinheit! Doch bevor ich eine Schimpftirade loslassen konnte, die sich gewaschen hatte, trat er noch näher heran, bis seine Brust meine berührte und seine Hände meine Arme packten. Ich war auf der Stelle still. „Kein Grund sich zu entschuldigen“, schnurrte er und ich fühlte mich wie ein Kaninchen, das wie gelähmt in die hypnotisierenden Augen einer Schlange starrte. „Du darfst deine Seele und deine zukünftigen Kinder behalten, kleines Mädchen. Der Preis wird sich schon ergeben, wenn wir am Ende unserer Reise sind.“ Und mit diesen Worten legte er seine eiskalten Lippen auf meine. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)