Blast from the Past von SainzDeRouse (Das Phantom der Oper) ================================================================================ Kapitel 5: ZWEITER TEIL ----------------------- ZWEITER TEIL     Fünftes Kapitel Der Beginn eines neuen Lebens   Opéra Populair, Place de l'Opéra, Paris, 12. Juni 1871   Wir liefen hinunter ins Foyer, und nahmen sogleich die linke Abzweigung. Doch blieb mir keine Zeit alles von oben zu betrachten, denn Madame Giry führte mich gleich durch die große, rote Doppeltür die, wie ich nun sehen konnte, in den Zuschauerraum führte. Es war ein, mehr als monströs großer runder Raum. Die Sitzreihen waren mit rotem Samt ausgelegt. Die Wände und das Innere der Logen waren mit dem gleichen Blutrot verkleidet. Und wieder waren die goldenen nackten, keinesfalls ordinären Frauen wichtiger Bestandteil der Architektur. Nur stützten sie diesmal die Logen und verschönerten die Bühne, wie einen goldenen Rahmen.   Ungefähr in der Mitte der vielen Sitzreihen stand eine fleischige Frau mit roten Wangen und kam uns entgegen. Ihr Rock war schwarz, ebenso ihr Kopftuch das nur ein paar welligen graubraunen Strähnen am Ansatz es möglich machte sich zu zeigen. Sie trug eine graue ausgewaschene Schürze und ein altes kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. „Bonjour Mafalda, das ist Cliodne, das Mädchen von dem ich dir erzählt habe. Sie war noch nie in einer Oper, sie kennt sich mit so was nicht aus und es wäre nett wenn du ihr das Nötigste zeigen könntest.“ „Bonjour Madame Giry. Ich werde ihr gerne alles zeigen.“   Die Frau die mir als Mafalda vorgestellt wurde sah mich abschätzend an. Ich fühlte mich ein wenig unwohl, sagte aber nichts, da ich keinen schlechten Eindruck machen wollte.   „Ich glaube zu wissen, warum sie nichts weiß.“   Geschockt sah ich sie an. Konnte man es mir wirklich jetzt noch ansehen? Ich sah an mir herunter und viel mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte zwar das Kleid gewechselt, aber nicht den Schmuck. Ich trug immer noch an Armen, Beinen und an meinem Ohr das Gold meiner Mutter. Es war überall bekannt das Zigeuner auffällige Kleider trugen und mit viel Gold beschmückt sind.   „Ich bitte dich Mafalda es niemanden zu sagen. Du weißt das sie es sonst sehr schwer hätte.“ „Selbstverständlich Madame, aber jeder wird es ihr dennoch ansehen.“ „Das klären wir heut Abend. Cliodne ich wünsche dir einen angenehmen Arbeitstag, warte auf mich am Abend im Foyer auf mich.“   Mit mulmigem Gefühl sah ich ihr hinterher. Ich hatte ein wenig Angst davor, allein in diesem riesigen Haus und mit den fremden Menschen. Erwartungsvoll sah ich Mafalda an und wartete auf meine erste Anweisung. Wieder sah sie mich bewertend an.   „Du wirst andere Sachen brauchen. Diese würdest du nur beschmutzen.“   Abermals sah ich mich an und erkannte dass das Kleid tatsächlich zu fein für solche Arbeit war. „Aber ich habe nichts anderes.“ „Das macht nichts, ich werde dir etwas holen. Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder da.“   Und schon ging sie fort. Einstweilen sah ich mir den Zuschauerraum genau an. Links und rechts neben der Bühne befanden sich zwei übereinander hängende kleine Balkone, die zweifelsohne die Logen sein mussten von denen Madame Giry ihr mit einen seltsamen Unterton erzählt hatte. Neben den Logen hingen die großen Balkone unter den sich die Seiteneingänge befanden und entgegengesetzt der Bühne, über den Eingang befand sich eine weitere prächtige Loge. Ich ging weiter nach vorne und blickte in den Orchestergraben mit den vielen Stühlen und Notenständern darin. Auch davon hatte mir Madame Giry bereitwillig erzählt. Ich ging wieder an den Platz zurück woher ich gekommen war um keinen Ärger von Mafalda zu bekommen, wenn sie wiederkam. Und wieder sah ich mir die Loge an die zwischen zwei dieser goldenen Frauen hing. Als ich so hinauf schaute, bemerkte ich dass sich über dieser Loge noch eine weiterer langer Balkon war. Und über diesem sah ich die schöne himmelblaue Decke an dem der Kronleuchter hing, der mir merkwürdigerweise erst jetzt auffiel, wohl aber nicht verwunderlich bei dieser Höhe. Er war sehr groß, rund und schien sehr schwer, hing aber dennoch federleicht an der Kuppel und wurde von dem Himmel der Decke umrandet, auf dem Engel schwebten. Meine ungeübten Augen konnten aber dennoch erkennen dass der Lüster einige Tonnen wiegen musste.   „Er ist wirklich sehr schön nicht war?“ Erschrocken sprang ich einen Schritt zur Seite und erblickte eine mollige Frau mit einer grauen Schürze, einem gestreiften Rock darunter und einer weißen alten Bluse, dessen Ärmel sie hinauf gekrempelt trug. Sie musste auch eine Putzfrau sein. „Was suchst du hier und wer bist du?“ „Ich bin Cliodne, die neue Putzfrau. Ich warte hier auf Mafalda. Sie wollte mir Sachen bringen, weil ich mein Kleid sonst schmutzig machen würde“, nuschelte ich etwas schüchtern und hoffte dass sie mir Glauben schenken würde und mich nicht rausschmeißt, ehe Mafalda wieder da war. Mein Herz sprang noch immer wie wild in meiner Brust, sie hatte mich wirklich sehr erschreckt. „Ach du bist also die Neue. Tut mir leid dass ich dich so angefahren habe, aber es darf niemand in den Zuschauerraum wenn keine Oper aufgeführt wird. Es sei denn du gehörst zu den Angestellten.“   Ich nickte um ihr zu zeigen dass ich verstanden hatte während mir ein Stein vom Herzen fiel. „Ich bin Claudin.“ Sie reichte mir die Hand und sah wieder zu dem Lüster hinauf. „Du solltest niemals unter dem Leuchter stehen bleiben, denn wenn er hinunterfällt war’s das mit dir.“   Ich sah sie verwirrt an und wollte schon fragen warum er denn runter fallen sollte, aber ehe es dazu kam, redete sie unverblümt weiter, als wenn ich nicht da wäre. Sie schien in Gedanken versunken zu sein, denn ihre Augen wurden glasig und schienen Furcht, nicht direkt vor den Lüster, aber von etwas was mit ihm zu tun hatte auszustrahlen.   „Er ist schon einmal erbarmungslos ins Parkett gestürzt und hätte fast die unschuldigen Zuschauer, die darunter saßen unter sich zermalmt, aber sie konnten glücklicherweise noch rechtzeitig davonrennen. Seit dem bleibt keiner von uns direkt darunter stehen.“   Ich wusste nicht so recht was ich sagen sollte und so nickte ich nur. Es war vielleicht unverschämt, aber ich fand die Geschichte sehr interessant, doch wollte ich sie nicht fragen was passiert war. Eine kurze Weile herrschte bedrückendes Schweigen in dem niemand was zu sagen wusste. Na ja, zumindest ich, denn Claudin starte noch immer furchtsam auf den Kronleuchter und schien ihn sich am liebsten wegzuwünschen.   „Ihr habt euch also schon bekannt gemacht, was Claudin?“   Ich blickte hinter die Angesprochene und erblickte Mafalda in der Tür stehend, mit einem zerknitterten Haufen aus Stoff bestehend, in dem Arm.   „Ja. Ich habe ihr gerade von dem Lüster erzählt.“   Innerhalb eines kurzen Augenblicks änderte sich ihr Blick schlagartig und bekam denselben gläsernen furchtsamen Ausdruck. Das Unglück musste sehr schlimm gewesen sein. Ich hätte gerne gewusst wann es passiert war, aber ich traute mich, jetzt wo sie der grausamen Erinnerung unterliegen, nicht zu fragen. Langsam wurde es unangenehm, da sie nun beide in Erinnerungen schwelgten und mich nicht mehr beachten. Doch glücklicherweise wachte Mafalda gleich wieder aus ihrem Tagtraum auf und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz mir.   „Komm mit, ich zeige dir unseren Umkleideraum.“ „Die Putzfrauen haben einen eigenen Umkleideraum?“ „Natürlich, oder glaubst du etwa man zwingt uns in diesen alten Lumpen auf der Straße zu laufen.“   Das leuchtete mir ein und ich folgte ihr durch den Seitenausgang hinaus.   „Ich fang hier schon mal an“, nuschelte Claudin in Gedanken verloren, vor sich hin und machte sich daran die Sitze mit einer Handbürste zu säubern.   Ich folgte Mafalda durch den rechten Seitenausgang des Zuschauerraumes hinaus. Auf dem Gang bogen wir nach links ab, liefen ihn weiter entlang, bis er nach vielen Metern auf der linken Seite sein Ende fand. Ich hatte nicht mitgezählt wie oft wir nach links und rechts abgebogen waren, an wie vielen Türen wir vorbeigelaufen und wie viele Gaslampen wir auf unserem Weg angetroffen haben. Doch nach einiger Zeit fanden wir am Ende des Ganges eine Tür, von der ich dachte dass sie unser Ziel symbolisierte.   So weit wie wir gelaufen waren, mussten wir uns hinter der Bühne befinden. Und einer Türknaufdrehung später bestätigte sich meine Vermutung. Links von uns erstreckte sich ein Wald aus Balken die die Stockwerke stützten, die sich über uns befanden. Man konnte die Menschen die dort arbeiteten beobachten, denn diese Stockwerke hatten keine Wände. Sie bestanden nur aus Holz, den Geländern um nicht hinunterzufallen und den Balken, die das Ganze mit ausgestreckten, angenagelten, hölzernen Armen stützten, wie es die Frauenstatuen bei den Logen taten. Es waren zwei solcher breiter Gerüste, die fast die gesamte Breite des Hauses einnahmen. Ich sah durch den Gang und an dessen Ende sah ich die Bühne, die jetzt nicht mehr so riesig aussah und konnte schon ein paar Menschen dabei beobachten die begannen die Bühnenbilder zu platzieren. Es war ein ganz schön lautes Getöse hier, denn jeder der Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Gerüsten und denen die hektisch an uns vorbeiliefen schnatterten wie wild durcheinander und erzählten sich wohl wie sie das Wochenende zugebracht haben. Mein Herz machte einen freudigen, aufgeregten Hüpfer und ich verspürte das Bedürfnis mir jeden einzelnen Quadratmeter dieses Haus ansehen zu müssen. Es war sehr aufregend zu sehen, wie viele Menschen doch hinter der Bühne arbeiteten.   „Was machen sie da oben?“, fragte ich Mafalda, mit dem rechten Zeigefinger auf die arbeitenden Männer gerichtet. „Das sind die Handwerker. Sie bauen die kleineren Bühnenbilder z.B. Büsche und ein Felsen, die vor dem großen stehen, damit das ganze eine bessere Atmosphäre gibt und ein wenig echter aussieht. Gegenüber sind die Keramiker. Sie produzieren Vasen, Büsten und noch mehr Accessoires - größtenteils aus Gips bestehend, damit es auf der Bühne zerbrochen werden konnte - für die Bühne. Ein Stück weiter vorne sind die Schneiderinnen. Sie entwerfen und nähen Kleider für die Darsteller. Flicken sie, falls sie mal aufgerissen werden und kümmern sich um alles was mit Stoffen zu tun hat. Manchmal müssen sie auch Vorhänge schneidern. Denen gegenüber befinden sich die Perückenmacher. Diese werden aber nicht immer gebraucht, weil bereits ausreichend Perücken vorhanden sind und nicht immer wieder neue gebraucht werden. Oft sind auch nur zwei oder drei da, die für die Pflege der Perücken zuständig sind. Neben den Perückenmachern sind die Maskenbildner. Diese fertigen Masken an und schminken die Darsteller. Ich denke das müsste eine ausreichende Antwort auf deine Frage sein. Komm, wir müssen weiter.“   Schnell ging es weiter und wir liefen an braun farbenen Türen mit handbemalten Blumenranken umrandet vorbei. Neugierig betrachtete ich sie, was Mafalda sofort zu merken schien.   „Das sind die Künstlergeraderoben. Die Geraderoben die der Bühne am nahesten sind, wie diese zum Beispiel gehören den Opernhauptdarstellern. Eine von ihnen ist unsere neue Diva Jeanne Chénier. Aber die Garderoben wirst du nicht putzen müssen, weil du erst neu bist. Das machen nur die Frauen, die schon länger hier sind. Claudin ist eine von ihnen.“ „Die neue Diva? Warum ist die alte nicht mehr da?“, fragte ich neugierig, obgleich ich wusste das es mir eigentlich egal sein könnte, da ich nie mit den Künstlern zu tun haben würde, geschweige denn sie mir anhören können. Ich kannte die andere Diva nicht einmal. Doch interessierte mich alles was mit diesem Gebäude zu tun hatte brennend, was mich ein wenig schmunzeln lies, da ich sonst nicht viel damit am Hut hatte. Doch hatte ich in den letzten Tagen erkannt - während ich mir die Ballettbücher angesehen hatte - das es nur so war, weil ich Neid auf die Menschen verspürte, die das Glück ereilte, hier arbeiten zu dürfen.   „Sie ist gegangen“, bekam ich die schlichte Antwort. „Weil … eh… das eben so ist. Stell nicht so viele Fragen“, herrschte sie mich plötzlich mürrisch an. Warum wollte sie mir nicht sagen weshalb die andere gegangen war und warum war sie jetzt so aufgebracht. Wir gingen weiter an den farbfröhlichen Türen entlang, zu einer neben dem rechten Gerüst stehenden unscheinbaren Tür, die wohl niemanden auffallen würde, wenn man nicht genau hinsah. Wir liefen geradewegs auf sie zu und Mafalda machte mich noch darauf aufmerksam das das der Umkleideraum für die Putzfrauen war.   Ich ging durch die Tür und erblickte einen relativ großen Raum. Links neben der Tür stand ein mittelgroßer Tisch, auf dem ein großes Tablett mit einer Wasserkanne und einige Tassen darauf - die wohl den einzelnen Putzfrauen gehören mussten, weil dort die Namen derer darauf geschrieben war – stand. Dem Tisch gegenüber waren alte Laken aufgehängt, die wohl als Umkleide fungieren sollten. Neben denen stand ein Regal in dem sämtliche Kleider, nicht unbedingt ordentlich, hineingestopft waren. Das mussten die Kleider der anderen Putzfrauen sein, demnach musste es sehr viele geben. In einer Ecke neben dem Kleiderregal standen alle Putzutensilien. Ausreichend Eimer, Besen, Schrubber, Mob, Handbürsten, von denen die einen sehr groß waren und die anderen so groß, das sie perfekt in der Hand lagen. Daneben war noch eine offen stehende Tür. Hinter dieser erkannte ich ein kleines Bad mit Toilette, einem Waschbecken, mit einem Spiegel darüber, das wohl lange nicht mehr geputzt wurde. Aber das war verständlich, denn wer wollte schon diesen Raum putzen, wenn man die ganze Oper geputzt hatte.   „Hinter dem Laken kannst du dich umziehen und dein Kleid in das Regal legen … oder wohl eher stopfen“, bemerkte Mafalda mit einem Lächeln und drückte mir die übergroßen Lumpenkleider in die Hand, „Die meisten sind zu faul es richtig hineinzulegen und stopfen es einfach nur hinein.“   Ich nickte, ging hinter den Vorhang und kleidete mich so schnell wie möglich um, damit sie nicht so lange warten musste. Während dessen bemerkte ich bereits dass die Sachen für mich übergroß waren. Und ein Blick an mir herunter bestätigte es. Ich sah aus wie ein lebendiger Kartoffelsack. Das Hemd war riesig, schlabberte und ich war gezwungen die Ärmel weit nach oben zu krempeln. Das Ärmelkorsett passte glücklicherweise, doch der Rock war zu lang und schleifte fast auf dem Boden. Ich trat aus der Umkleide hervor und zeigte mich Mafalda. Sie musterte mich von oben bis unten und begann nachdenklich an ihrer Lippe zu kauen. Dann holte sie aus der Putzutensilienecke ein Nähkästchen, öffnete es und ergriff eine Schere. Mit hoch erhobener Scherenhand, ging sie auf mir zu, ging vor mir in die Knie und Schnitt oberhalb meines Knöchels entlang. Es war wurde nicht gerade geschnitten, doch es erfüllte seinen Zweck.   „So ist es besser!“, sagte sie stolz, legte die Schere wieder in das Nähkästchen, stellte es wieder in die Ecke und brachte einen mit Wasser gefüllten Eimer, einen Lappen, einen Schrubber und eine Handbürste mit. „Nimm das, das wirst du brauchen.“ „Wo soll ich anfangen?“, fragte ich schon ganz hibbelig und aufgeregt nach meiner ersten Arbeit, nach der es mir strebte sie zu verrichten. „Du wirst im Foyer anfangen und wenn du dort fertig bist, kommst du zu mir in den Zuschauerraum und machst dort weiter.“   Wir liefen wieder hinaus an den Garderoben und den Gerüsten vorbei - die jetzt viel überfüllter schienen, es tänzelten sogar ein paar Ballerinen freudig an mir vorbei, gefolgt von einer streng aussehenden Madame Giry, die mir zunickte - durch die Tür in den Gang, zurück von wo wir gekommen waren. Doch dieses Mal gingen wir nicht wieder durch den Seiteneingang in den Zuschauerraum sondern weiter geradeaus und kamen in einem Korridor hinaus, das sich oberhalb um den Foyer herum befand. Wir liefen dort ein paar Meter nach links entlang und waren bei der großen Foyertreppe angelangt.   „Putze einfach den Fußboden, die Geländer und die Stufen. Das Abputzen der Statuen ist Auftrag eines anderen. Komm dann nach wenn du fertig bist.“   Und so ging sie durch die große Doppeltür die sich der Treppe direkt gegenüber befand hinein in den anderen Raum und lies mich hier alleine stehen. Etwas unbeholfen stand ich nun da und sah mir das Foyer noch einmal genau an. Auch von hier oben konnte man den Eingangsbereich gut erblicken. Das gesamte Foyer war mit Säulen umrandet, oben wie unten. Die Säulen trennten auch den Eingangsbereich vom Foyer. Diese ließen es einem erkennen das es zwei offene Räumlichkeiten waren. Die Wände des unteren Foyers waren mit Spiegeltüren beschmückt. Plötzlich schreckte ich hoch, denn schließlich war ich zum Putzen hier und nicht um faul herumzustehen. Und so machte ich mich an die Arbeit. Zuerst nahm ich mir den Eingangsbereich vor, denn ich wollte es systematisch angehen. Ich würde mich von dort aus durch das Foyer, bis zu Treppe, diese hinauf, dann den oberen Teil des Foyers und dann in den Zuschauerraum arbeiten. Ich stieg die Stufen hinunter, ging zu den roten Türen des Einganges und begann deren Fenster mit dem Lappen zu säubern. Danach schenkte ich dem Fußboden meine Aufmerksamkeit. Es dauerte Stunden, bis ich den Bereich vor und unter die Treppe herum geputzt hatte. Ich hätte nicht gedacht dass es so lange dauern würde, trotz dieser enormen Größe. Doch waren manche Flecken sehr hartnäckig, der Raum riesig und ich wollte alles sehr ordentlich machen, damit man kein Grund zur Klage hatte. Doch war es nicht sehr angenehm, da das Wasser in der Zwischenzeit sehr kalt geworden war und meine Hände der Kälte wegen schon ganz rot waren. Bevor ich mich dazu aufraffen konnte mich die Treppe hinaufzuarbeiten – ich hatte eine kurze Pause eingelegt um meinen schmerzenden Armen ein wenig Erholung zu gönnen – kam eine junge Frau hinein. In ihrem seidenen, berüschten Kleid sah sie sehr schön aus und vor allem sehr reich.   „Bonjour Mademoiselle!“, begrüßte ich sie freundlich, doch kam keine Erwiderung. Sie stolzierte hocherhobenen Hauptes an mir vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken und ging die Treppe hinauf, den Korridor entlang und schon war sie weg. „Aufgeblasene Kuh“, flüsterte ich säuerlich und widmete mich wieder meiner Arbeit.   Zuerst putzte ich die Balustraden von unten nach oben, dann ging ich wieder die Stufen hinunter um nun auch mit ihnen zu beginnen. Doch bevor ich dies tat betrachtete ich die goldenen Frauenstatuen. Auf jedem Geländeranfang standen zwei. Die erste saß und hielt in ihren Händen zwei Kerzenleuchte, doch endeten diese nicht mit Kerzen, sondern mit Gaslampen. Die zweite Statue stand dahinter und hatte ebenfalls zwei Leuchter in der Hand. Ich fragte mich ob diese üppigen, hübschen Frauen eine echte Frau als Vorlage hatten. Als ich fast mit der Treppe fertig war und nun schon auf der vorletzten Stufe stand, kam die Frau wieder an mir vorbei und steuerte die roten Türen des Einganges an.   „Au Revoir Mademoiselle. Ich wünsch ihnen noch einen schönen Tag“, versuchte ich es noch ein Mal, in der Hoffnung das dieses Mal etwas zurück kommen würde.   Doch da hatte ich mich mal wieder geirrt. Wütend streckte ich ihrem Rücken meine Zunge entgegen, sie konnte es zu meinem Vorteil nicht sehen. Ohne mich weiter von ihr beirren zu lassen, machte ich mich wieder an die Arbeit. Nach einer Viertelstunde war ich bereits dabei das Korridor das sich am oberen Teil des Foyers befand zu putzen. Jeden der an mir vorüberging begrüßte ich. Doch die Meisten ignorierten mich nur. Sie dachten wohl, nur weil sie eine höhere Anstellung hatten, dass sie nicht mit mir reden mussten. Das führte dazu dass ich immer wütender wurde, mit jedem Mal wenn mich jemand ignoriert. Ich konnte es nicht begreifen. Wenn man als Zigeuner auf der Straße steht, bekommt man von wirklich jedem Aufmerksamkeit, auch wenn es oft nur kurze angewiderte Blicke sind. Doch wenn man als ehrliche Bürgerin in einem so prachtvollen, gut besuchten Gebäude arbeitet konnte man schon froh sein, wenn sie einem vor lauter Ignoranz nicht überrannten. Kurz nachdem ich mit dem Foyer endgültig fertig war und ich die Putzutensilien zusammensuchte – wenn ich etwas nicht mehr brauchte habe ich es da stehen gelassen wo ich grad stand - kam auch schon Mafalda um mich zu holen. „Komm, wir machen Pause.“ „Gott sei Dank. Meine Arme sind taub, ich hab das Gefühl sie fallen gleich ab.“ „Das ist normal. Irgendwann hast du dich daran gewöhnt und dann spürst du auch nichts mehr“, erklärte Mafalda und lachte.   Sie hatte ein herzhaftes, ehrliches Lachen. Ich mochte sie von Anfang an. Wir durchliefen denselben Gang zum dritten Mal an diesem Tag. Ich hatte Schwierigkeiten den Eimer zu tragen, auch wenn er nur noch halb so voll war wie vorher, was man auch an meiner Gangart gut sehen konnte. Bevor er mir jedoch aus der Hand fallen konnte und ich eine riesige Sauerei damit verursachen konnte, denn das Wasser hatte inzwischen eine eklige braune Färbung angenommen, nahm Mafalda mir den Eimer ab. In unseren privaten Raum angekommen ließ ich mich erschöpft auf einen nahe gelegenen Stuhl fallen während Mafalda den Eimer im Waschbecken leerte.   „Du hast bestimmt riesigen Durst.“ „JA!“, antwortete ich mit einem rauen, trockenen Hals.   Sie fing an zu lächeln und schenkte in eine Tasse, mit einer schwarzen Katze darauf, frisches kaltes Wasser ein und stellte es vor mir hin.   „Hier du kannst heute meine Tasse mitbenutzen, aber denk daran morgen eine eigene mitzubringen und deinen Namen drauf zuschreiben.“ Ich nickte, schnappte mir die Tasse in Windeseile und leerte es in wenigen Sekunden. Dann gab ich ihr mit einer Handbewegung zu verstehen das ich noch mehr haben wollte. Sie schenkte mir wieder ein und ich trank es wieder beachtlich schnell aus.   „Nicht so schnell sonst ver … “ Und schon war es passiert. Plötzlich verspürte ich einen Hustenreiz, schluckte das Wasser, das ich noch im Mund hatte hinunter, hustete und klopfte auf meiner Brust. Zu meinem Leidwesen hatte ich mich verschluckt. Ärgerlich fiel mir auf das ich es nicht schaffte irgendwo zu sein ohne mich zu blamieren und dachte an den Tee den ich im Bett bei Madame Giry verschüttet hatte.   „Siehst du, was habe ich dir gesagt.“ Sie nahm mir die Tasse ab und schenkte nun für sich selbst was ein. „Warum sind wir die einzigen hier im Raum? Wo sind Claudin und die anderen?“ „Wir haben keine festen Pausen und machen sie eben dann, wenn wir sie gerade brauchen. Nicht alle kommen dann extra hierher zurück. Die Oper ist schließlich sehr groß.“   Für eine Weile schwiegen wir uns an, bis Mafalda wieder ein Gespräch anfing. „Bist du wirklich eine echte Zigeunerin? Du siehst zwar wie eine aus, aber ich kann es mir dennoch nicht richtig vorstellen.“ „Ja! Aber ich will nicht über meine Vergangenheit als solche reden.“ „Ist schon gut. Aber du solltest es niemanden sagen. Da solltest du auch ganz auf Madame Giry hören. Die meisten mögen deinesgleichen nicht. Claudin zum Beispiel.“ „Was? Aber sie hat mich doch ganz nett behandelt.“   Ich war geschockt über das eben Gesagte. Sie kam mir sehr nett vor, auch wenn sie mir bei der Geschichte vom Kronleuchter ein wenig gruselig vorkam.   „Ihr wird es noch nicht richtig aufgefallen sein, aber ich rate dir, es nicht leichtfertig auf die Schulter zu nehmen. Es könnte sonst sehr unangenehm werden jeden Tag hier her zu kommen.“ Mafalda hatte Recht. Claudin war fast ausschließlich nur damit beschäftigt den Kronleuchter zu betrachten. „Am besten wäre es, wenn du dein Schmuck abnimmst, um wie eine normale Bürgerin auszusehen.“ „WAS? Ich bin zwar froh und dankbar hier arbeiten zu können, aber ich will mich nicht verleugnen“, schrie ich fast hysterisch.   Es stimmte was ich sagte. Ich war mir noch nicht im Klaren wie ich denken sollte. Einerseits war ich außerordentlich froh von ihnen weg zu sein, doch andererseits war es meine Familie. Ohne deine Familie bist du nichts, heißt es bei uns, wie leben wie ein Rudel Wölfe. Mafalda sah mich verwundert an, verstand meinen Standpunkt aber dennoch und nickte. „Das musst du entscheiden. Aber du solltest dir meinen Vorschlag dennoch zu Herzen nehmen und wenigstens darüber nachdenken.“ Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, fragte sie wie es mir beim Putzen bis jetzt ergangen ist. Als ich ihr, mit neu entfachter Wut in meinem Bauch, von der Frau erzählte und den anderen Angestellten die mich ignoriert hatten, begann sie zu lachen.   „Wie kommst du auch auf die Idee dass dich einer grüßen würde? Abgesehen von den anderen Putzfrauen, dem Stallmeister und Madame Giry brauchst du so was nicht erwarten.“ Nun fiel mir Rowen wieder ein und ich verspürte einen leichten Stich in meinem Herzen. Wie konnte ich nur meinen Weggefährten vergessen, den ich von dessen Geburt an hatte.   „Könnten sie mir sagen, wo ich die Ställe finde. Ich möchte meinen Hund besuchen.“ „Du hast einen Hund?“ „Ja, er ist so lange ich arbeite im Stall bei Monsieur Lachenal. Könntest du mich hinbringen? Ich weiß nicht wo er ist und ich würde Rowen gerne besuchen. Ich hab es ihm versprochen.“ Nachdem ich ihren verwirrten Blick sah, beschloss ich vor dem anderen nicht mehr so zu reden, als ob Rowen mein Bruder wäre. Auch wenn es jedes Mal einen Stich in meine Brust versetzen würde. Ich musste damit aufhören, wenigstens außerhalb des Stalles, denn sonst würden sie mich noch rausschmeißen, weil sie mich für verrückt halten.   Mafalda geleitete mich wieder hinaus und bog sofort nach links ab. Obgleich die Gerüste und die Bühne sehr lang waren gingen wir noch weiter nach hinten. Dieses Haus schien kein Ende zu haben. Auch hier waren einige Garderoben und zwischen ihnen ging sogar eine Treppe nach oben. Wir liefen wieder einige Meter, doch auch dieses Gebäude musste ein Ende haben, und so bogen wir bald wieder nach links ab und befanden uns in einem großen Raum mit allerlei Reitutensilien an den Wänden hängend, schon im Stallhof. Der Raum hatte eine riesiges hölzernes Tor und gab den Weg zu den Stallungen frei. An den Wänden hingen Sättel, Gerten, Geschirre und auch zwei schöne Kutschen standen in der Mitte.   Ich durchquerte den Raum und schlüpfte durch den Spalt im Tor, diese Türen waren schon sehr schwer, selbst ohne Schloss würde es wohl ein Problem darstellen hier einzubrechen. Kaum hatte ich das Hindernis überwunden kam mir mein schwarzer Strolch auch schon entgegen. Rowen wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, tänzelte um mich herum und drückte mir seine Nase in den Bauch.   „Da hat dich einer wohl sehr vermisst“, sagte eine mir unbekannte Stimme und ich zuckte zusammen, da ich von Rowen so abgelenkt war. Mir gegenüber, neben einem der schwarzen Rösser, stand ein hochgewachsener schmaler junger Mann, mit einem belustigten Grinsen im Gesicht. „Monseur Lachenal hat mir von dir erzählt. Du hast Glück das du eine Wohltäterin wie Madame Giry hast, sonst dürftest du ihn niemals mit hierher nehmen.“   Abschätzend blickte ihn an. Er hatte braunes welliges Haar bis unter die Ohren, das ihm immerzu über die Augen zu rutschen scheint, was ihn offenbar nervt, da er es immer wegstrich. Seine Augen waren blau wie das Meer, mit einem stürmischen grau. Die in der Sonne gebräunte Haut ließ sie noch mehr erstrahlen. Seine Nase war eine lange, schmale Hakennase und er sah insgesamt sehr süß aus. Verdutzt stand ich da und starrte ihn an, während Rowen geradezu nach Aufmerksamkeit schrie. Dieser hübsche Stallknecht begann weiterhin das schwarze Tier zu striegeln.   „Redest wohl nicht viel, was?“, sagte er und grinste noch mehr. Offensichtlich machte er sich über mich lustig, und ich hasste mich dafür ihn als süß bezeichnet zu haben und ihn angestarrt zu haben wie eine lastergeile Dirne. Die Schulter straffend und versuchend selbstbewusst zu wirken blickte ich ihm entgegen und lief auf ihn zu.   „Ich wüsste nicht was dich das angeht was ich treibe oder nicht. Wenn ich meinen Hund mitnehmen will, nehme ich ihn eben mit, damit hat Madame Giry nichts zu tun“, blaffte ich ihn an.   Verwirrt blickte er mich an und unterbrach seine Arbeit.   „Die Katze fährt schnell ihre Krallen aus. Bist du immer so unausstehlich?“ fragte er nun weniger gutgelaunt. „Du bist ziemlich kratzbürstig, dabei habe ich dir gar nichts getan. An deiner Stelle würde ich aufpassen, denn so wirst du dich schnell sehr unbeliebt machen“, keifte er und vertiefte sich wieder in seiner Arbeit.   Die aufgekeimte Anspannung war zum Greifen nahe und langsam begann mich ein nagendes, quälendes Gefühl zu überrumpeln. Ich wusste das ich ohne Grund hart zu ihm gewesen war, doch war ich es bisher nicht anders gewöhnt, meine Umgebung war bis vor kurzer Zeit nicht sehr vertrauenswürdig. Ungewöhnlich war nur, das ich mich nun schuldig fühlte. Aber das resultierte wohl daher das ich nun ein neues Leben begonnen habe, schöner als ich es mir je erträumt hatte, und es nicht wieder verlieren wollte.   So verlagerte ich mein Gewicht von einem Fuß auf dem anderen und war sehr unschlüssig, ja geradezu schüchtern ihm gegenüber. Doch wer konnte es mir übel nehmen bei dem Vorhaben das ich nun zu bewältigen hatte. Ich schuldete ihm eine Entschuldigung. Die erste meines Lebens. Geradezu unmöglich für mich, eine unüberwindbare Mauer, doch mir blieb nichts anderes übrig, es musste sein. Mit hängendem Kopf und auf dem Boden starrend, schob ich mich, anderes kann man es nicht nennen, einen Schritt nach dem anderen zu ihm hin, gedrängt von meinem schlechten Gewissen, mit welchem ich eben die Bekanntschaft gemacht hatte, und blieb neben ihm, aber mit Abstand stehen.   Wieder stand ich nun nichts tuend da und wusste nicht recht was ich tun sollte, oder wie ich es am besten anstellte. Um mich abzulenken und etwas zu beruhigen begann ich den schönen schwarzen Hengst zu streicheln, er hatte sehr gepflegtes, weiches Fell, was ich noch nie bei einem Pferd gesehen hatte. Es glänzte wie kostbare Seide unter meinen trockenen, rissigen Fingern und fühlte sich auch fast so an.   Von einer hastigen Bewegung aufgeschreckt, sprang ich regelrecht zur Seite, da ich diesem Stallknecht im Weg war und er keine Anstalten machte um mich herum zu laufen. Dabei stieß er mit seiner Schulter an meiner, und als ich schon wütend den Mund aufmachen wollte um ihn zu beschimpfen, fuhr ich schnell wieder herunter, denn es war verständlich das er so reagierte und ich war nicht ganz unschuldig daran. Er lief um das Pferd herum und striegelte nun die andere Seite. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen und stand nicht direkt neben ihm, durch dem Pferd zwischen uns waren wir sehr distanziert worden. Dies war meine Chance.   „Tschuldigung“, nuschelte ich. „Was?“, fragte er. Genervt rollte ich mit den Augen, was er aber nicht sah. „Na du weißt schon, tschuldigung“, wiederholte ich mich. „Wie bitte, ich habe nichts verstanden.“ „DU HAST SEHR WOHL VERSTANDEN!“, fauchte ich, wodurch das Pferd sich erschreckte und zur Seite schritt, weswegen es seinen Huf direkt auf meinen Fuß setzte. „AAAAUUUUU!!!!“, schrie ich und haute mit meinen Fäusten gegen die Flanke des Pferdes. Der Knecht, der eben noch so abweisend war, vergaß seinen Groll, kam zu mir und trug mich auf eine nahegelegene Tonne. „Tut mir leid, ich hatte auf dich nicht mehr geachtet und drückte Caesar etwas von mir weg, weswegen er einen Schritt zur Seite gegangen war. Tut es sehr weh?“   „Nein, es geht eigentlich, seit er von meinem Fuß runter ist. Gott sei Dank, es wäre nicht gerade von Vorteil gewesen am allerersten Tag wegen eines verletzten Fußes die Arbeit nicht verrichten zu können.“   Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht so recht was er nun tun sollte, also drehte er sich kommentarlos um und striegelte Caesar weiter. Rowen saß neben mir und beschnüffelte meinen Fuß, genauer gesagt meinen Schuh, und begann es abzuschlabbern. Liebevoll und mit großer Vorsicht fuhr seine Zunge über den dünnen Stoff und ich schlang lächelnd die Arme um ihn und drückte ihn an mich.   „Du bist der Beste mein Großer“, sagte ich ihm neben seinem Ohr. Erst als ich mich von Rowen löste bemerkte ich das wir beobachtet wurden. Schnell drehte der Stallknecht seinen Kopf herum und tat so als hätte er nichts mitbekommen. Vorsichtig stand ich auf und war froh als ich nur ein kleines Ziehen spürte und es nach ein paar Schritten sich wieder eingerenkt hatte. „Wie heißt du eigentlich“, fragte ich ihn. „Jean. Jean-Cloude, aber nenn mich einfach Jean, ich mag diesen Doppelnamen nicht wirklich. Und mit wem habe ich es zu tun?“ „Cliodne.“ „Ein ungewöhnlicher Name, woher kommst du?“ „Na ja …. Überall und nirgendwo …. .“ „Und was soll das heißen“, fragte Jean verständnislos. „Wir sind oft umgezogen weißt du, ich kann dir nicht wirklich einen Ort nennen.“ „Du bist eine Zigeunerin?“   Geschockt stand ich da und starrte auf dem Boden, mein Herz begann zu rasen. Ich wollte mich und meine Familie nicht verleugnen, doch war es unangenehm es zugeben zu müssen, ein Straßenratte zu sein, wie wir doch oft gerne beschimpft werden. In dieser Oper hier arbeiten zu können kommt mir vor wie ein Traum, den ich mir natürlich auf keinen Fall vermasseln will.   „Ja“, sagte ich kleinlaut. „Ich habe meine Gruppe aber verlassen und will mein Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen und ein normales Leben führen“, sprudelte es aus mir heraus und wurde zusehends nervöser. „Schon gut, beruhige dich, wovor hast du angst?“ „Das ich rausgeschmissen werde, wenn alle wissen was ich bin.“ „Wenn man wegen so was rausgeschmissen werden würde, dann gäbe es mehr als die Hälfte des Opernpersonals nicht“, lachte er.   Verwundert blickte ich Jean an.   „Tatsächlich?“, fragte ich skeptisch. „Natürlich. Viele von uns haben ihre Vergangenheit und ihre Geschichte, wie auch du sie hast. Aber vergiss sie einfach. Nun beginnt ein neues Leben und ich rate dir nichts zu tun was du später bereuen wirst, das hier ist deine einzige Chance, ein normales Leben führen zu können“, riet er mir.   Darauf erwiderte ich nichts mehr. Ich wusste es bereits und war ehrlich bemüht mich daran zu halten, auch wenn so manches Mal die alten Gewohnheiten ans Tageslicht treten wollten, wie ich schon hier und da bemerkt hatte. Es fiel mir schwer nicht meine Hand flink in die Tasche des feinen Herren zu stecken, der gerade an mir vorbei läuft und nicht beachtet, doch musste ich mich zügeln.   Nach wenigen Momenten mit Rowen, in denen ich mit ihm spielte und kuschelte, stand ich auf und sagte: „Ich muss wieder hinein. Mafalda wartet sicherlich auf mich.“   „Klar“, sagte Jean-Claude, „man sieht sich. Rowen ist sehr brav und klug. Ob wir ihn uns ab und zu ausleihen könnten?“   „Was meinst du damit?“, fragte ich verwirrt und blieb stehen.   „Na ja, wir bräuchten einen guten Wachhund. Er wäre zwar nur tagsüber hier, aber immerhin. Seit Caesar damals entführt wurde, ist Monsieur sehr besorgt um die Pferde und die Direktoren wollen keinen kaufen. 'Dafür das er nur den ganzen Tag rumliegt und gefüttert wird, brauchen wir keinen Hund', sagen sie.“   „Das musst du mit Rowen selbst klären“, grinste ich und ging hinein.   Ich wusste das Rowen brav war, doch würde er niemals auf einen anderen Menschen hören. Er war sehr lieb und tat niemanden etwas, doch Kommandos von anderen außer mir, wurden geflissentlich ignoriert. Da stellte er sich einfach taub.   Mit mulmigen Gefühl lief ich die langen Gänge zurück, in der Hoffnung mich nicht zu verlaufen. Es würde lange dauern ehe ich mich daran gewöhnen und mich hier auskennen würde. Schon bald erblickte ich den Wald aus Balken, mit den verschiedensten Stockwerken hinter den Kulissen der Bühne, auf dem die Requisiten für die Bühne und auch die Kostüme für die Darsteller hergestellt und gepflegt wurden.   Sogleich fand ich die Tür und bevor ich sie öffnen konnte, kam mir auch schon die rundliche Mafalda entgegen. „Ich habe schon gedacht, du kommst gar nicht mehr“, sagte sie und drückte mir sogleich meinen Eimer in die Hand. „Wenn du mit den Foyer fertig bist, komm gleich in den Zuschauerraum. Claudin wurde in die Garderoben geschickt, also beeile dich. Sonst werden wir nicht mehr fertig.“   Nach einer Stunde im Foyer, noch immer von allen Menschen die ein und aus gingen ignoriert werdend, lief ich mit schmerzenden Handgelenken und meinem Putzeimer in den Zuschauerraum und begann in der hintersten reihe der linken Seite des Saales, wie Mafalda es mir angeordnet hatte.   Während ich mit der Bürste die Fusseln und Krümel von den Sitzen entfernte konnte ich nicht den Blick von der Bühne lassen. Madame Giry war mittlerweile mit ihren Ballettmädchen in ihren bezaubernden, weißen Tüffkleidchen und probten ein Stück aus einer Oper. Erschrocken hörte ich die strenge Stimme von dieser liebreizenden Frau, die so gut zu mir war, durch den Saal schimpfen. „Marie, konzentriere dich. Chantall du wirkst wie ein schwerfälliger Elefant, etwas mehr Contenance, ich weiß du bist erschöpft“, rief sie und schritt mit strengem Blick durch die Reihen.   Sie war streng, doch sah man auch das stolze Nicken, wenn eine Tänzerin etwas für sie Schwieriges gemeistert hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl Madame Giry so zu sehen und doch bewunderte ich diese Frau für das was sie geschafft hatte. Frauen hatten in dieser Männerdomäne von Welt nur selten die Gelegenheit eine gute Arbeit zu bekommen, ohne im Schatten eines Mannes zu stehen. Doch Madame Giry war die einzige Ballettmeisterin in diesem Haus und auch ohne Zweifel die Beste. Nie hatte ich ein Ballett gesehen und hatte davon so viel Ahnung wie eine Bettlerin von den neuesten Kleidern der großen Leute, doch wie ich sie so beobachtete, konnte es nicht anders sein.   „Hör auf zu glotzen“, rief Mafalda und peinlich berührt beugte ich mich wieder hinunter und ging meiner Arbeit nach. Aber nicht, ohne hin und wieder einen Blick zur Bühne zu riskieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)