Das wahre Spiel von Night_Baroness (Die Tribute von Panem) ================================================================================ Kapitel 5: Das Lächeln des alten Mannes --------------------------------------- Als ich Distrikt 3 erreiche, ist es dunkel. Stockdunkel. Obwohl ich weiß, dass es lächerlich ist, glaubt etwas in mir, dass es nie wieder Tag werden wird, etwas in mir glaubt, dass das Sonnenlicht mit meinem Lächeln gestorben ist und nun mit Luca begraben wird. Was für ein lächerlicher Gedanke. Ich weiß selbst nicht genau, was mich letztendlich dazu bewegt hat, herzukommen. Ich kannte Luca nicht sonderlich gut, eigentlich kannte ich ihn überhaupt nicht. Aber trotzdem bin ich hier, obwohl ich nicht einmal zu seiner Beerdigung eingeladen wurde, was natürlich verständlich ist. Immerhin hassen alle Distrikte die Kapitolbewohner, manche mehr, manche weniger, bemessen an der Zahl der Siege in den Spielen. Warum bin ich hier? Um Abschied zu nehmen? Oder vielleicht um seinen Tod in meinem Geiste real werden zu lassen? Auf dem Friedhof ist niemand. Natürlich nicht. Es ist ungefähr vier Uhr morgens und es bleibt noch ein wenig Zeit, bis zur Dämmerung. Müde setze ich mich auf einen Baumstumpf und warte, während mein Blick nachdenklich über die düsteren Gräber streicht, die aussehen wie missgestaltete dämonische Fratzen. In der Dunkelheit kann einem selbst das Gesicht eines Engels Todesangst einjagen. Ich seufze und stehe auf, der Gedanke hier ruhig zu sitzen und ein Ziel zu bilden – für was auch immer – gefällt mir nicht. Warum bin ich hier? Ja, warum? Was bringt es? Das nasse Gras quietscht unter meinen Schritten und fühlt sich unangenehm an, so als würde der modrige Boden nachgeben. Oder als würde der Tod die verwesende Hand nach einem ausstrecken, flüstert es ihn mir. Oh ja, der Tod kommt immer plötzlich und unerwartet, selbst dann, wenn man damit rechnet. Vielleicht fürchten wir Menschen ihn deshalb so sehr. Weil uns nichts so sehr ängstigt, wie ein Kontrollverlust. „Machtlosigkeit.“ Ich drehte mich überrascht um. „Das ist es, was den Menschen wirklich Angst macht: Ausgeliefert zu sein.“ Wäre ich nicht in diesem seltsam tauben, tranceähnlichen Zustand gewesen, hätte ich vermutlich geschrien. Jetzt blicke ich den Mann mittleren Alters, dessen Laterne sein schon sehr zerfurchtes Gesicht, ebenso wie die leicht grau-melierten Haare, spärlich beleuchtet, irritiert an. Sein Blick kommt mir ähnlich vor, jedoch nicht überrascht, sondern neugierig, als frage er sich, wohin dieses Gespräch führen könnte. Aus irgendeinem Grund sind mir seine klugen, grauen Augen unheimlich, sie wirken, als könnten sie alles durchschauen, als könnten sie mich durchschauen. „Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte.“ „Schon gut. Auf einem Friedhof ist man ja irgendwie darauf vorbereitet, dass einem etwas Eigentümliches widerfährt, auch wenn diese Angst normalerweise nicht bestätigt wird.“ Der Mann lacht und tritt etwas näher an mich heran, als wollte er mein Gesicht studieren und sich die Züge ganz genau einprägen. „Verrückt, nicht wahr? Dass sogar die Toten uns Angst machen. Der Mensch ist wirklich sonderbar. Er gibt sich erhaben und allem überlegen, solange er eine Situation kennt, aber sobald sein Verstand etwas nicht mehr erfassen kann, sobald etwas nicht den Regeln entspricht, gerät er in Panik. Da unterscheiden wir uns nicht von Tieren.“ Der Mann lässt seinen Blick über die schattenhaften Umrisse der Gräber wandern. Er wirkt vollkommen in Gedanken versunken, vielleicht hat er bereits vergessen, dass ich neben ihm stehe und ihn beobachte. „Es gibt keinen Gott“, sagt er unvermittelt. „Wenn es einen Gott gäbe, müsste der Mensch nicht Gott spielen, er müsste ihn nicht erst erschaffen.“ Mein Herzschlag beschleunigt sich ein wenig. Die Stimme des Mannes klingt ernst und kräftig, nicht bedrohlich, aber mir läuft trotzdem ein Schauer über den Rücken. „Deshalb brauchen sie ihre Diktatur und deshalb brauchen sie auch ihre Spiele, die Menschen brauche ihre Illusion von Ordnung und Frieden und von Gerechtigkeit. So grausig sie auch sein mögen, Regeln geben Menschen immer halt, Anarchie und Chaos jedoch bringen selbst die größten Idealisten zum Fall und machen sie zu Sklaven ihrer Instinkte. Deshalb sind die Spiele notwendig, nicht wahr?“ Er lächelt eigenartig. „Um die Menschen vor sich selbst zu beschützen.“ Ich starre ihn fassungslos an. „Nein! Die Spiele sind nicht notwendig.“, meine Hände ballen sich zu Fäusten, als ich ihm das Wort vor die Füße spucke. „Menschen können zusammenleben, ohne dass es so etwas gibt. Sie sind einfach zu faul etwas dagegen zu unternehmen! Sie verfallen in einen Trott aus Gewohnheit und falscher Überzeugung, weil sie immer den leichteren Weg wählen. Es trifft ja immer die anderen und man selbst kommt davon, so glaubt man zumindest. Aber das ist keine Gerechtigkeit!“ Ich rede mich richtig in Rage, während ich den Unbekannten anfunkle wie eine zornige Katze. Dieser schmunzelt nur wieder. „Das Chaos bringt selbst die größten Idealisten zum Fall. Ideale sind gut, aber sie machen uns auch zu Sklaven und wenn wir nicht aufpassen, zerfressen sie uns ebenso, wie uns ihre falsche Ordnung in Ketten legt.“ Dann war der Mann verschwunden. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es passiert ist, beinahe bin ich geneigt zu behaupten, es sei ein Traum gewesen. Allerdings war es das nicht, es kann kein Traum gewesen sein. Auch wenn ich mir das jetzt insgeheim wünsche. Denn wenn ich nicht ein eigentümliches Leuchten im Gras gesehen hätte, wenn ich mich nicht gebückt hätte, wer weiß, vielleicht wäre diese Geschichte dann anders verlaufen, vielleicht hätte alles ein vollkommen anderes Ende genommen. Als ich es aufhebe und betrachte, vergesse ich alles um mich herum, nur das Lächeln des Mannes bleibt in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich soll es nie wieder vergessen. „Alle Maschinen laufen normal.“ Die Frau legt dem Arzt eine dicht beschriebene Akte vor, dieser betrachtet sie kopfschüttelnd. „Wie erklären Sie sich diese Anomalie?“ Anomalie. Was für eine harmlose Umschreibung. „Es gibt keine Erklärung dafür. Zumindest keine, die einem Menschen begreiflich ist.“ „Und das bedeutet?“ Als ihre Blicke sich treffen, schüttelt er den Kopf. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)