Wingless von Elena_Jenkins (Leseprobe) ================================================================================ Kapitel 8: Zurück zur familiären Wiedervereinigung? --------------------------------------------------- 26. Juni. 2011 Gegen siebzehn Uhr stand Nathan an seinen Wagen gelehnt auf dem Parkplatz neben dem Van seines Vaters. Seit ungefähr einer viertel Stunde starrte er auf die Haustür hinauf, haderte mit sich selbst, ob er hoch gehen sollte, oder nicht. Lindsay hatte ihn am Vortag noch einmal angerufen gehabt. Die ganze Nacht hatte er nicht richtig schlafen können. Er wollte seine Schwester nicht allein lassen, wirklich nicht… Entschlossen stieß er sich ab, zog die weite Jeans ein wenig höher und bewegte sich auf die Treppe zu, stieg sie wenige Sekunden später hinauf. Seinen Schlüssel verwendete er nicht, dafür klingelte er. Eine ganze Weile dauerte es, bis er die Vorhängekette hörte, die seine Mutter immer vorschob. Einen Spalt breit wurde die Tür geöffnet und er blickte in das verwunderte Gesicht seiner Mutter. „Nathan, was machst du hier?“, fragte sie ihn. Ihre Stimme klang so, wie sie aussah. Verwundert. „Ich dachte, ich wohne hier?“, gab er von sich und weniger als ein Augenblick später riss seine Mutter die Tür auf und umarmte ihn. Überrumpelt von diesem Gefühlsausbruch seiner Mum, legte er nur zögerlich die Arme um sie. Es war komisch für ihn, dass seine Mutter so reagierte. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist…“, gab sie von sich und Nathan konnte hören, dass sie schon wieder mit den Tränen zu kämpfen hatte. Sie weinte einfach zu viel in den letzten Monaten. Er folgte ihr in die Wohnung, als sie ihn endlich losgelassen hatte und setzte sich zu ihr in die Küche. „Hast du wirklich bei Cooper gewohnt? Die ganze Zeit? Was macht die Ausbildung? Hast du eine Freundin? Hast du andere Leute kennen gelernt?“ Sie lehnte sich ein wenig über den Tisch, stützte ihre Unterarme auf die Tischplatte und sah ihn direkt fragend und neugierig an. „Ja, ich habe bei ihm gewohnt, die ganze Zeit über. Aber es war anstrengend, ihn die ganze Zeit um sich zu haben… Die Ausbildung läuft wunderbar. Meine Ausbilderin ist total in Ordnung und manchmal ein wenig bockig, wenn ich das schon weiß oder kann, was sie mir erklären will… eine Freundin habe ich nicht…“, sagte er dann, lächelte aber leicht. Daher hatte Lindsay ihre Neugierde. Das lag alles an den Genen ihrer Mutter! „Aber?“ „Ich habe gestern ein Mädchen kennen gelernt, als ich bei Freunden war.“ „Wie, du warst bei Freunden? Ich dachte, du hast keine Freunde? Hast du selbst immer gesagt…“ „Ich habe sie in Jacksonville kennen gelernt, auf einem Konzert.“ „Und? Wie sind sie so?“ „Sie sind in Ordnung, Ma.“ „Und dieses Mädchen? Wer ist sie? Was macht sie?“ „Sie heißt Samantha, ist Musikjournalistin und wohnt in Miami.“ „Aber wenn sie in Miami wohnt, dann ist die Chance doch so gering, dass ihr euch besser kennen lernt?“ „Sie will hier her ziehen. Nächsten Monat.“ Ein zufriedenes Lächeln erschien auf den Lippen seiner Mutter und sie schien sich irgendwie richtig für ihn zu freuen. „Das ist so schön! Ich freu mich so, dass du wieder hier bist. Es war, als hätte ich meinen zweiten Sohn auch noch verloren.“ „Dann müsst ihr beide aber auch mal etwas dafür tun, dass ich eure Sohn bleibe“, gab er nur von sich. „Ich bin nicht irgendwer, dem man vorschreiben kann, was er zutun und zulassen hat. Ich bin nicht das Arschloch, Ma. Ich habe mich geändert, ok? Also tut ihr auch mal etwas dafür, dass ich gern hier bin.“ Er hatte es einfach nur satt, immer das gleiche zu hören. Er wollte nicht mehr an allen Dingen schuld sein, die passierten. Ihm sollte nicht mehr das mit Blake in die Schuhe geschoben werden, obwohl er selbst wusste, dass es ein Stück weit die Wahrheit war. Aber musste man es ihm dann immer wieder vor die Nase halten? Musste das sein? „Du hast uns aber immer so viel Ärger gemacht, Nathan.“ „Weil ihr mich dazu getrieben habt. Anders hättet ihr mich doch gar nicht wahrgenommen. Alles was ich wollte, war einfach nur ein bisschen Nähe, ein bisschen Akzeptanz von euch. Die habe ich doch vorn und hinten nicht bekommen, nur wenn ihr in die Schule kommen musstest oder wenn ihr mich mal wieder von den Bullen abgeholt habt. Sonst hab ich euch doch gar nicht interessiert!“ „Das stimmt doch gar nicht. Wir haben dich immer geliebt und auch dein Vater hat sich Sorgen gemacht, als die letzten vier Wochen weg warst.“ „Wo ist Dad überhaupt?“ „Er bringt Lindsay gerade zu Derek. Sie wird heute Nacht auch da bleiben, sie fahren morgen zusammen zur Schule.“ „Dann kommt er also gleich wieder?“ „Ja…“ „Klasse“, seufzte Nathan nur, bedeckte das Gesicht mit den Händen. Innerlich konnte er sich also schon einmal auf die Standpauke gefasst machen, die kommen würde…. 10. Juli. 2011 „Alter, wie geht’s dir?“ „Alles klar…“, gab Nathan nur von sich, hielt das Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, während er die Wäsche zusammen nahm, die gerade frisch aus dem Trockner kam. „Wo bist du? Bei deinem Trainer?“ „Seit zwei Wochen wieder zu Hause.“ Am anderen Ende vernahm er ein leises Seufzten von Mike. „Und wie läufts?“ „Könnte besser sein, aber es ist ok.“ „Nathan, nur ok ist nicht gut. Wenn’s Probleme gibt, du kannst bei uns vorbei kommen. Ein Zimmer wird schon frei sein.“ „Danke. Das weiß ich echt zu schätzen… wie läufts bei den Aufnahmen?“ „Hör mir damit bitte einfach nur auf… Es ist im Moment die Katastrophe schlecht hin. Nichts klappt.“ Ein leichtes Lächeln legte sich auf Nathans Lippen. Es hatte doch vorher so super geklappt, warum jetzt nicht mehr? „Dann macht doch einfach erst mal eine Pause. Geht essen, shoppen oder was man halt so macht.“ „Nathan, es ist Wochenende. An einem Sonntag shoppen gehen … ist scheiße.“ „Ok, stimmt auch wieder.“ „Sam ist aber hier. Wollst du nicht auch hier her kommen? Ein wenig quatschen?“ „Ich hab die Hausarbeit heute. Lindsay ist bei Derek, Mum und Dad sind Essen gegangen. Ich wollte nachher noch Blake besuchen. Wann anders, ok?“ „Ich werd noch einmal darauf zurückkommen, glaub mir. Hast du … hm, nächste Woche a[m Samstag was vor?“ „Vormittags haben wir die Werkstatt offen, heißt, ich muss arbeiten bis kurz nach eins. Warum?“ „Ian … er kommt doch hier her. Frag mich nicht, was ihn dazu animiert hat. Aber ich dachte, wir könnten alle gemeinsam was trinken gehen, uns ein wenig unterhalten und so?“ „Ich werds mir überlegen, ok? Wir haben im Moment gerade ein recht normales Familienleben aufbauen können, nachdem wir uns alle angeschrieen und fertig gemacht haben… vielleicht unternehmen wir am Samstag schon was. Ich weiß nicht…“ „Du willst nur Ian nicht wieder sehen müssen, oder?“ Er hörte zu deutlich aus Mikes Tonfall heraus, dass dieser lächelte. Inzwischen kannte er den Musiker schon recht gut um das einschätzen zu können. „Ok, erwischt. Du hast Recht, ich habe keine große Lust dazu ihn wieder zusehen.“ „Dann komm doch wenigstens wegen Sam her. Ihr habt euch doch so gut verstanden?“ „Woher weißt du das denn?“ Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. Woher wusste Mike denn davon? Sag nicht, der hat am Fenster gespannert?, dachte er sich und hörte für einige Minuten auf, sich um den Haufen Wäsche zu kümmern. „Ich hab am Fenster gestanden. Eigentlich wollte ich Samantha zurück bitten, aber als ich euch beide da so hab stehen sehen. Ihr seit ein süßes Paar, weißt du das?“ „Alter! Leck mich! Nur weil ich mit ihr nachher noch einen Kaffee-“ Mikes Lachen am anderen Ende ließ ihn stocken. Der würde ihm so oder so nicht mehr wirklich zuhören. Jetzt erst recht nicht. „Ihr wart einen Kaffee trinken. Das war ein Daytime-Date, Babe! Der erste Schritt in die Richtung eines richtigen Dates! Du magst sie nämlich!“ „Sie versteht was von Autos und … sie hat Modegeschmack… Ihren Musikgeschmack kann ich zwar nicht nachvollziehen, aber-“ „Nathan… du willst sie wieder sehen, glaub mir. Du wirst ohnehin mit ihr zusammen kommen.“ „Woher willst du Opfer das denn wissen?“ „Weil ich Sam kenne und weil sie dich mag“ , folgte die Erklärung Mikes und im Hintergrund konnte Nathan das Lachen einer jungen Frau hören. Dann drangen Gesprächsfetzen zu ihm durch. „Wer ist denn noch da?“ „Dana, also Sams Verlobte ist da.“ „Es ist gerade für Außenstehende sehr verwirrend. Du meinst euren Drummer Sam?“ „Ja. Genau. Scheiße, stimmt ja. Ich sollte mir angewöhnen, Samantha Sammy zu nennen. Ich glaube, das ist besser.“ „Allerdings…“ „Nathan! Mit wem sprichst du?“ „Mike, ich muss Schluss machen, meine Schwester ist wieder da…“ „Alles klar, ruf mich einfach an, wenn sich was wegen Samstag getan hat, ja? Ich hoffe doch, die stellst das Familiending nach hinten an. Ich will dich dabei haben!“ „Alles klar. Bye.“ Er legte auf, packte die letzten Wäschestücke in den Korb und erhob sich vom harten Fliesenboden. „Das war nur Mike“, gab er zurück, erhob sich und betrat den Flur. „Aber was machst du hier?“, fragte er gleich hinterher. „Ich hab was vergessen … also bin ich wieder hier her. Derek wartet draußen.“ „Wenn’s sonst nichts ist…“ „Gehst du heute zum Training?“ „Ich denke. Warum?“ „Ich wollts nur wissen“, sagte sie und kam aus ihrem Zimmer heraus. „Das hat bei dir doch immer so einen Hintergrund“, lächelte er stemmte die Hände in die Hüften und wartete auf eine Antwort. „Na ja“, begann sie um die Sache herum zudrucksen. „Du könntest mich ja eigentlich dann, weißt du, du könntest mich dann ja eigentlich abholen, heute Abend, oder?“ Bittend blickte sie ihn an, versuchte dabei besonders niedlich auszusehen. Das war ihre typische Masche, wenn sie irgendwas wollte. Dann war sie grundsätzlich der Engel auf Erden. „Ruf mich einfach an, ich komme dann vorbei.“ „Du weißt doch gar nicht, wo er wohnt!“, stellte sie überrascht fest. „Du glaubst gar nicht, was ich alles weiß, Lin. Ich komme schon dahin und hol dich ab.“ „Ich hab dich lieb!“ Ein glückliches und zufriedenes Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie auf ihn zuging und sich dann an ihn schmiss, ihre Arme um seinen Hals legte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. „Ich ruf dich dann an“, sagte sie noch hinterher und war dann auch schon wieder verschwunden. Die Tür knallte, es hallte etwas nach, dann legte sich Stille. Mit dem Rücken lehnte er sich an die Wand, ließ ein Seufzen über seine Lippen gleiten, ehe er an eben dieser Wand herunter rutschte und die Beine leicht anwinkelte. Was hatte er gerade noch zu Mike gesagt? Sie wären gerade alle wieder einigermaßen zu einer Familie zusammengekommen? Es liefe gut? Was versuchte er sich einzureden! Da war nichts, was sich wie ‚zu Hause’ anfühlte. Es fühlte sich rein gar nicht so an. Da war keine Vertrautheit. Da war nicht das Gefühl, sich auf zu Hause zu freuen. Nein. In den letzten beiden Wochen war es eher zu einem goldenen Käfig geworden, als zu irgendwas anderem. Manchmal fragte er sich ernsthaft, was er hier überhaupt machte. Es kam ihm so surreal vor. Diese Familie, die sie spielten, die gab es doch gar nicht mehr. Was tat er also hier? Seine Hände verdeckten sein Gesicht und ein kaum hörbares Seufzen verließ seine Lippen. Jedoch folgte diesem ein weiteres und noch eines, welches sich jedoch unverkennbar in ein Schluchzen wandelte. Man sah ihm nie an, was in ihm vor sich ging. Nie sah man das. Aber sobald er wusste, dass er mal ein paar Stunden für sich hatte, ließ er seine Mauer herunter. Nur damit er genug Kraft hatte, um die Mauer um sich herum wieder aufzubauen, die sonst vor zu vielen Gefühlen geplatzt wäre. Wie lange willst du dir das noch antun?, fragte er sich selbst. Immer noch hallte in seinem Kopf wieder, dass sein Vater ihn hier ohnehin nicht haben wollte und ihn nur akzeptierte, weil seine Mutter es so wollte. Er sollte doch ausziehen, sobald sich das Geld dafür bot. Er würde dies wahrscheinlich sogar tun, ertrug er das hier doch alles nicht mehr. Fahrig wischte er sich die Tränen von den Wangen, fuhr sich über die Augen, doch kamen für die, die er wegwischte, immer wieder neue nach. Nachher würde er ins Krankenhaus fahren. Er würde ein ruhiges Zimmer vorfinden, mit einem meist leeren zweiten Bett und einem Bett am Fenster, in dem sein Zwilling lag. Jedes Mal war es die gleiche Szene. Und nur manchmal, dann lag noch eine andere Person mit in dem Zimmer. Aber nur manchmal. Sonst war es bis auf Blake immer leer. Wieder würden die gelben Vorhänge aufgezogen sein. Wieder würde das Fenster gekippt sein. Wieder würden die Stühle in der gleichen Position stehen, wie sie es immer taten. Es wäre wie immer. So, wie er es kannte. Bald wäre es ein Jahr. Ein Jahr, in dem er allein war. Allein in dem Sinne, dass ihm eine Person fehlte. Und zwar genau die Person, die ihm den Halt im Leben gab. Langsam raffte Nathan sich zusammen, schluckte den Rest der Traurigkeit wieder herunter und verschloss sie irgendwo, hoffte, dass sie heute nicht noch einmal frei kommen würde. Er brachte die Wäsche in die verschiedenen Zimmer, machte die Küche fertig, räumte das Wohnzimmer auf und saß gegen halb drei allein in der Küche am Tresen zwischen Wohnzimmer und Küche und drehte einen grünen Apfel auf der glatten Fläche hin und her. Den Kopf auf die Hand gestützt, verfolgten seine Augen die Bewegungen des Obstes und er verspürte irgendwie den Wunsch, dieses an die Wand zu werfen. Nur, damit er sieht, wie es zerplatzt und sich auf der Tapete verteilt. „Scheiße!“, fluchte er, ließ den Apfel liegen und erhob sich von dem Hocker, ging in den Flur, nahm seine Schlüssel, schlüpfte in die Vans und verließ die Wohnung. Langsam ging er durch die Korridore des Krankenhauses, fuhr mit dem Lift in das Stockwerk, in das er immer fuhr. Die Schwestern, die er auf dem Weg traf, grüßte er. Er kannte sie beinahe alle mit Vornamen und sie kannten ihn ebenso. Es war … immer dasselbe Schauspiel. Ohne zu klopfen betrat er das Zimmer seines Zwillings und es war wie erwartet nicht weiter belegt. Das leise Surren und Piepen der Geräte hörte er schon gar nicht mehr, zu vertraut war es geworden, als dass er sich darum kümmern konnte. Leise zog er sich den Stuhl zurecht, blieb aber erst kurz stehen und sah auf seinen Bruder herunter. Vorsichtig strich seine Hand über die Wange Blakes, strichen die langen schwarzen Haare etwas von der Schulter zurück auf das Kissen. „Wenn du dich jetzt sehen könntest“, flüsterte er. „Lange Haare – jetzt siehst du aus, wie meine Zwillingsschwester.“ Er ließ sich auf den Stuhl fallen, fasste die schlanke Hand seines Bruders, strich mit dem Daumen sanft über dessen Handrücken. Im Gegensatz zu seiner eigenen Hautfarbe wirkte Blake beinahe schon weiß. So hell und zerbrechlich – wie eine Porzellanpuppe. „Wenn du wieder wach werden würdest, könnte ich dir jemanden vorstellen. Du würdest nie erfahren, wer das sein würde. Glaub mir, es würde dich umhauen“, begann er drauflos zu reden. „Ich bin eingeladen, nächste Woche Samstag. Aber ich weiß nicht, ob ich Mum enttäuschen soll, wenn ich nicht mit zu diesem Familiending gehe… Aber … Samantha wird auch da sein. Ich mag sie… Sie ist total hübsch. Eine Frau, bei der man auch mal was in der Hand hat. Bei ihr muss man keine Angst haben, ihr was zu tun, wenn man sie fasst… Wie so viele andere Frauen…“ Ob er sich doof vorkam? Nein. Er sprach ja nicht mit einer Wand, sondern mit seinem Bruder. „Du würdest sie bestimmt auch mögen. Sie ist zwar nicht dein Typ, sie ist nicht blond und so, aber ich glaube, du würdest sie mögen…“ Eine Weile entstand eine Art angenehmes Schweigen, nachdem er seinen – sozusagen – Monolog beendet hatte. „Und wenn du hier wärst, wach wärst, könntest du mir auch sagen, was ich mit Ian machen soll. Ich hab dir schon von ihm erzählt, der Choreograph aus Miami… Obwohl er so ein Arsch ist, und obwohl er irgendwie so aufdringlich ist, fange ich an, ihn zu mögen. Verstehst du? Und dann die Sache mit Dad … Es klingt vielleicht egoistisch oder sonst was, aber wenn du endlich wieder deine Augen aufmachen würdest, würde er mich nicht mehr so ansehen. Mit diesem ganzen Hass, den er gegenüber Mum vielleicht verbergen kann, aber wen wir allein sind, würde er mich am liebsten achtkant aus der Wohnung werfen. Er hasst mich…“ Seine zweite Hand legte sich auf seine eigene, ehe er sich vorlehnte und auch seine Stirn darauf legte. „Ein beschissenes Jahr ist es bald, Blake. Ein Jahr – ohne dich. Willst du nicht mehr wieder zu uns kommen? Hast du keine Kraft, wieder wach zu werden? Ich brauche dich – was ich nicht alles dafür tun würde. Meinetwegen sogar mit dir tauschen.“ Nach Stunden die er folglich nur schweigend bei Blake am Bett sitzend verbracht hatte, klopfte es leise und zögerlich an der Zimmertür, ehe diese aufgeschoben wurde. Nathan bekam es schon gar nicht mehr mit, wie jemand ins Zimmer kam, befand er sich doch irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein. Erst die Hand auf seinem Rücken ließ ihn hochschrecken. Verwirrt blickte er sich um und sah direkt in das leicht lächelnde Gesicht Mikes. „Was machst du hier?“, fragte er nach, räusperte sich kurz, als er mitbekam, wie kratzig seine Stimme klang. „Woher … woher wusstest du-“ Er unterbrach sich selbst, als er merkte, was er für einen Stuss von sich gab. „Ich weiß alles“, gab Mike jedoch nur von sich, ließ seine Hand auf Nathans Rücken liegen und ließ seinen Blick auf Blake wandern. „Wie lange?“, fragte er nur, zog sich selbst einen Stuhl heran. „Bald ein Jahr.“ Es folgte ein Nicken von der Seite des Sängers, ehe dieser sich setzte. „Wie kommst du damit klar?“ „Gar nicht?“, lachte Nathan humorlos auf. „Ich komme damit gar nicht klar.“ „Kann ich nachvollziehen. Wirklich. Wie machst du das?“ „Was mach ich wie?“, folgte die überraschte Frage. „Einfach so weiter zu leben? Du wirkst stark. Ich wusste gar nicht, dass sein Bruder im Koma liegt.“ „Wer hats dir gesagt?“ „…Versprich mit, ihn nicht zu töten, ok?“ „Ian?“ „Ja“, bestätigte Mike, legte die Hände im Schoß zusammen und lehnte sich an die Rückenlehne. „Nein … früher oder später hättet ihr es ohnehin erfahren…“ „Nathan?“ „Hm?“ „Du kannst das gut, oder?“ „Alles verstecken? Ja.“ „Warum?“ „Weil … es muss wenigstens einer in der Familie die Fassung halten. Meine Mutter schwimmt jeden Tag in ihren Tränen, Dad lässt seine Trauer an mir aus und Lindsay ist ewig bei Derek, damit sie wenigstens ein paar Stunden vergessen kann. Ich bin sozusagen die Rettungsboje, an der sich jeder ausheulen kann, weißt du?“ „Und was ist mir dir?“ „Was soll mit mir sein? Ich lebe wieder zu Hause, habe eine super Ausbildung…“ „Aber niemanden zum reden, oder?“ Nathans Kopf senkte sich ein wenig, ein Kopfschütteln folgte. „Jeder redet mit mir, schweigt mich im Umkehrschluss aber auch wieder an. Aber es ist ok.“ Sanft fasste Mike sein Kinn, drehte seinen Kopf in seine Richtung. „Hey, ich weiß wie scheiße es ist, mit niemanden zu reden. Oder besser gesagt, es nicht zu können. Rede mit mir.“ „Ich bin nicht gut darin, mit anderen zu reden. Ich kann das nicht“, sagte er. Dabei hatte er schon genug Probleme seine Stimme unter Kontrolle zu halten, verlor sie doch gerade mehr und mehr die Festigkeit, die sie sonst besaß. „Was kannst du nicht?“ Nathan wischte die Hand weg, die sein Kinn hielt, stand auf und wendete sich dem Fenster zu. Warum war Mike gerade jetzt hier? Warum? Konnte dieser nicht einfach wieder gehen? So sehr er es auch schätzte, dass er hier war – aber warum? Woher überhaupt? Woher wusste Mike, in welchem Krankenhaus Blake lag? Woher wusste Mike, dass er hier war? Woher? Hinter sich hörte er, wie auch Mike sich erhob und auf ihn zukam. „Was kannst du nicht?“, wiederholte dieser seine Frage. „Darüber reden. Ich bin jetzt schon der absolute Waschlappen, ich will nicht noch tiefer sinken…“, murrte Nathan vor sich hin, schob die Hände in die Tasche und blickte aus dem Fenster. Aber sobald er seinen Blick etwas hob, begegnete er dem des Sängers durch die Scheibe hindurch. „Du bist stärker als ich es in der Situation war“, drangen die ruhigen, ungewöhnlich tiefen Worte an Nathans Ohr. „Ich war eine wandelnde Leiche, Nath. Damals, als Seth im Koma lag, nach einer Op… Ich hab nicht so weiter gemacht wie du, ich hab alles schleifen lassen. Alles. Du kämpfst dich aber weiter durch dein Leben und tust auf gute Miene. Ich sehe in dir keinen Waschlappen – in dir sehe ich jemanden, der sich von nichts in die Knie zwingen lässt, und wenn, dann stehst du wieder auf.“ „Woher willst du das schon wissen?“, kam es gar schon spottend von Nathan zurück. Wie wollte Mike so über ihn urteilen können? Er kannte ihn nicht. „Woher willst du wissen, ob ich wieder aufstehe? Vielleicht liege ich die ganze Zeit schon am Boden?“ „Nein, würdest du das tun, wärst du nicht hier. Ich habe eine recht gute Menschenkenntnis entwickelt. Und glaub mir, du liegst nicht am Boden…“ Langsam drehte er sich zu dem Ältern um, blickte zu diesem hoch und sah in die grünen Augen, die er heute hatte. Das Kamäleon der Musikszene. „Das mit Seth…“ „Nach einer Op, vor ein paar Jahren. Er konnte nicht laufen, die Op sollte es ändern, aber er fiel ins Koma für zwei Monate. Zwei Monate in denen ich mich selbst nicht erkannt habe. Ian hat mir erzählt, was mit Blake war…“ „Es war meine Schuld.“ Zwei Hände legten sich auf seine Schultern, als er wieder auf den Boden blickte, dem Blick Mikes versucht auswich. „War es nicht. Du konntest nichts dafür – wärst du früher gegangen, wärst du es nun, der hier liegen würde. Ok? Es war nicht deine Schuld.“ „Warum sagen das alle? Warum? Dabei hätte ich da sein müssen!“ Ein heftiger Ruck ging durch seinen Körper, als der Sänger ihn einmal schüttelte. „Gib dir nicht die Schuld für etwas, an der du sie nicht trägst!“ „Ich bin schuld an dem Zerbrechen meiner Familie. Deswegen hasst mein Vater mich, deswegen weint meine Mum nur noch… Deswegen ist Lindsay so oft weg, deswegen … das alles – es ist … es ist, als würde ich in tiefes Loch fallen, immer und immer tiefer. Als hätte es keinen Boden, auf dem ich aufschlagen könnte und dieses ewige, unaufhörliche Fallen macht mir Angst!“, wisperte er vor sich hin und schloss für einen Moment die Augen. Seine Zähne bohrten sich in seine Unterlippe, während er krampfhaft versuchte, das herunter zu kämpfen, von dem er glaubte, er hätte es verschlossen. Wenigstes für diesen Tag, aber da hatte er falsch gedacht. Vorsichtig schloss Mike ihn in die Arme. Es war ungewohnt, von jemanden umarmt zu werden… Zögerlich erwiderte er diese Umarmung, erlaubte es sich, sein Gesicht in Mikes Halsbeuge zu verstecken und für einen Moment einfach die Nähe zu einem Menschen zu genießen, der es wohl wirklich ernst meinte, mit dem, was er sagte. „Wenn dir nach einer gepflegten Runde heulen ist, tu es einfach.“ „Ich vermeide es“, kam es nur zurück. „Nein, es ist wirklich ok, Nath. Manchmal braucht man das.“ „Manchmal ist nicht jetzt.“ „Du bist wirklich nicht schuld. An nichts von dem. Bitte, glaub das, ja?“ Darauf hin kam jedoch keine Antwort. Nathan war es leid, immer die gleichen Floskeln zu hören, dabei musste er doch am besten wissen, woran er schuld war und woran nicht, oder etwa nicht? „Komm, lass’ einen Kaffee trinken gehen oder so, damit du wieder runter kommst.“ „Ich muss Lindsay abholen…“ „Dann holst du sie ab, bringst sie nach Hause und kommst dann zu mir. Seth ist zwar einkaufen, aber ich denke, das stört nicht, oder?“ „Nein … ok…“ Langsam lösten sie sich von einander, Mike wuschelte ihm durch die Haare und gab ein: „Und jetzt lächle wieder“, von sich. „Steht dir viel besser.“ Wie automatisch legte sich ein Lächeln auf seine Lippen und Mike schlug ihm sanft auf die Wange. „Geht doch“, gab dieser von sich und warf einen letzten Blick auf Blake. „Wir sehen uns dann gleich?“ „Ja. Ich bin ungefähr in einer halben Stunde dann bei dir.“ „Schön.“ Ein Grinsen erschien auf Mikes Lippen und er verließ das Zimmer kurz darauf. Er würde diesen schrägen Typen nie wieder loswerden, wie es aussah. Aber vielleicht war es auch gar nicht mehr so schlecht, dass er jemanden hatte, wie Mike? Nur, dass nicht Seth irgendwann auf die Idee kam, eifersüchtig zu werden oder so… „Ich komme die Tage wieder, B“, sprach er an seinen Bruder gewandt und verließ dann ebenso langsam das Zimmer. Langsam fuhr er auf die Einfahrt zu, auf welcher auch schon Dereks schrottreifer Sportwagen stand. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, stieg er aus und ging auf die Haustür zu, klingelte. Während er sich umdrehte, darauf wartete, dass man ihm die Tür öffnete, erblickte er am Straßenrand den alten Sportwagen, den er selbst schon gefahren hatte. Der dunkle, mit der hübschen Innenausstattung und dem einmaligen Sound… Die Tür hinter ihm ging auf und ein: „Wer will was?“, war zu hören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)