Wingless von Elena_Jenkins (Leseprobe) ================================================================================ Kapitel 6: ... verstehen kann. ------------------------------ Thanks to: [[ Arisa_abukara]] Love ya ³ --------------------------------------------------------------------------------- --------- ... verstehen kann. --------- - 24. Juni. 2011 – Klirrend flog der Maulschlüssel auf den Werkzeugwagen zurück, dreckige, verölte Hände wurden an dem schmierigen Handtuch abgewischt, das am Gürtel hing. „Nathan, mach Feierabend“, rief ihm eine weibliche Stimme zu. Langsam ging er unter der Hebebühne hervor, blickte die Treppe hinauf und sah die Tochter des Meisters dort stehen. Nicki, eine bald dreißig jährige Frau, mit langen, schwarzen Haaren, braungrünen Augen und einer super Figur, stand dort und zog gerade den Reißverschluss ihres Overalls auf. „Ich brauch nicht mehr lange…“, antwortete er. „Dann schließ aber ab und sei Montag zehn Minuten früher hier, da du den Schlüssel hast!“, kam es zurück und Nathan nickte leicht für sich, lächelte. Nicki war cool. Er arbeitete gern mit ihr zusammen. War sie doch selbst auch schon Meister und seine Ausbilderin. Dabei war es eher unüblich, eine Frau in diesem Beruf vorzufinden. Immerhin war die Arbeit in einer Werkstatt nicht die leichteste, die man sich vorstellen konnte. Damit verlor er die Dunkelhaarige auch aus dem Blick und wendete sich der Unterseite des Wangens zu, an welchem er gerade arbeitete. Das einzige, was er noch hörte, war wie die Hinterhofstür zuschlug, dann kehrte Ruhe in die große Werkstatt ein. Bis auf das wenige Klimpern und das leise Surren der Lampen an der Decke, herrschte absolute Stille. Immer wieder klimperte es ein wenig, wann immer er die Werkzeuge zurück legte oder tauschte. Schmierstreifen hatten sich inzwischen auf seiner Stirn und seiner Wange eingefunden, da er sich die Haare versucht aus dem Gesicht gestrichen hatte. Jedoch sorgte das Klacken von Absätzen auf dem glatten Estrichboden dafür, dass er in seiner Bewegung inne hielt und über seine Schulter sah. Langsam kam seine Schwester in die große Halle spaziert. Die Hände in den Taschen des großen, viel zu weiten Pullis versteckt, wirkte sie etwas verloren, als sie nur wenige Schritte von ihm entfernt stehen blieb. „Hallo, Nathan“, gab Lindsay von sich, sah ihn kurz an, ehe ihr Blick auf den Boden glitt. „Hey. Was machst du hier?“ „Ich wollte wissen, wie es dir geht. An dein Handy gehst du ja nicht mehr und … du warst nie bei Cooper, wenn ich da war“, erklärte sich die Rothaarige. Nathan seufzte nur leise, legte alles zurück und ging auf sie zu. Seine Finger wischte er an seinem Overall ab, strich ihr dann vorsichtig eine Strähne hinter die Ohren, die sich gelöst hatte. „Warum trägst du meine Klamotten?“, fragte er ruhig nach. Natürlich freute er sich, seine Schwester zu sehen. Vor allem nach den Wochen, in denen er den Kontakt zu seiner Familie gemieden hatte. „Weil ich dich vermisst habe…“ „Macht man das nicht eigentlich nur, wenn man seinen Lover vermisst?“ Ein dämliches Grinsen legte sich auf seine Lippen, doch er erhielt dafür nur einen Schlag auf seine Brust von seiner Schwester. „Vor allem stehen dir meine Hosen nicht.“ „Nein? Ich dachte, das wär mal was anderes… aber ich musste ein paar Löcher mehr in den Gürtel machen, damit sie hält“, gestand Lindsay, lächelte nun auch und verschränkte die Arme vor der Brust, anstatt ihre Hände in den Taschen zu verstecken. „Nathan? Bitte, komm wieder nach Hause. Mama hat schon nach dir gefragt und Paps … selbst er hat gefragt, wie es dir geht…“ „Sagst du das nur, damit ich wieder einen Fuß in diese gottverdammte Familie setze?“ „Nein. Das ist die Wahrheit. Wir alle vermissen dich… Die Schwestern im Krankenhaus sagen immer, dass du bei deinem Bruder bist. Warum bist du dann nie bei uns?“ „Lindsay, hör zu. Bitte, hör einfach mal zu.“ Seine Hände legten sich auf ihre Schultern und er blickte ihr direkt in die Augen. „Diese Familie, in welcher ich leben soll, will mich nicht.“ „Ich will dich aber da haben!“ „Du, vielleicht. Aber weder Dad noch Mum wollen mich sehen. Denen ist es doch nur recht, dass ich weg bin“, kam es Nathan. „Nathan. Bitte. Ich vermisse dich, das macht mich ganz krank, daheim herum zu sitzen, das Geheule von Mum ertragen zu müssen und das Geschimpfe von Dad. Dann fahren wir ewig ins Krankenhaus, nichts passiert bei Blake und die Hoffung, dass da etwas passieren wird, sinkt immer tiefer. Alles bricht auseinander, merkst du das nicht?“ Tränen traten in die hellen Augen, flossen über die Wangen hinunter und wuschen den Mascara von den Wimpern. „Ich will nicht, dass das alles kaputt geht. Bitte.“ Das Schluchzen, das ihre Kehle verließ, hallte in der großen Halle wieder und ein Schütteln ging durch ihren ganzen Körper. „Ich will nicht, dass … dass wir alles verlieren, was wir einmal hatten. Alles, was wir einmal waren. Es macht mich fertig, dass wir als Familie auseinander brechen…“ Ohne Worte nahm er sie in den Arm, drückte den schmalen Körper an sich und legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab. Finger krallten sich in den Stoff seines Overalls, das Schluchzen Lindsays ging an seiner Schulter unter. So bitterlich hatte er seine Schwester noch nie weinen gesehen. Und es tat ihm leid, dass sie sich so fühlte. Dabei wusste er auch ganz genau, dass es nicht allein seine Schuld war. Diesmal war es nicht nur er. Diesmal waren es auch seine Eltern, die mit die Schuld trugen. „Bitte, komm wieder nach Hause“, hörte er die erneute Bitte seiner Schwester und er war so kurz davor, ja zu sagen. So kurz. Aber hatte er doch erwartet, dass auch sein Vater vielleicht mal einen Schritt auf ihn zutun würde… Oder seine Mutter. Doch musste er sich einmal mehr eingestehen, dass er nur für seine Schwester von Wichtigkeit zu sein schien… „Ich werde es mir noch einmal überlegen, ja?“, versuchte er sie zu beruhigen und er hoffte inständig, dass es klappte. „Du weißt, dass ich nie viel will.“ Das stimmte. Lindsay gab sich mit den einfachen Dingen des Lebens schnell zufrieden. Erst recht, seit Blakes Unfall. „Ich weiß…“ „Erfüll mir bitte nur diesen einen Wunsch. Bitte…“ „Vielleicht.“ Er sprang oft genug über seinen eigenen Schatten, ob er es heute schaffen würde, wusste er nicht. Er wollte ehrlich gesagt auch nicht. Egal, wie viel Lindsay ihm bedeutete. Wieder diese Erniedrigung seines Vaters? Er konnte nur erahnen, was ihm blühte, sollte er heim kommen… Langsam drückte Lindsay sich von ihm ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, schniefte einmal leise und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Das würde mir so viel bedeuten… Du bist doch mein großer Bruder…“ „Das weiß ich doch.“ Ein Kuss folgte auf ihre Stirn. „Ich bin doch auch immer für dich da.“ „Hm…“ Sie schmiegte sich zurück in seine Arme, lehnte sich richtig gegen ihn. „Alles Gute noch zum Neunzehnten…“, flüsterte sie. „Danke.“ „Nathan?“ „Ja?“ „Kann ich dich anrufen? Gehst du an dein Handy?“ „Wenn du mit deinem Handy anrufst. So lange die Haustelefonnummer auf meinem Display erscheint, drücke ich eiskalt weg, glaub mir.“ „Ok…“ Sie hatte sich einigermaßen beruhigt, das hörte er ihrer Stimme sofort an. Es war selten, wirklich so verdammt selten, dass Lindsay diese Schwäche zeigte. War sie doch sonst immer die Kämpferin und diejenige, die niemals Tränen zeigte. Es musste ihr wirklich sehr, sehr nahe gehen, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Vor allem wenn sie schon Sachen von ihm trug… „Geh wieder nach Hause. Sonst wird Dad wieder irre und sucht die Stadt nach dir ab, Lin. Ich will nicht, dass unser Alter hier aufschlägt…“ „Ich ruf dich an… Wehe dir du hebst nicht ab.“ Ein misslungener, ernster Blick folgte diesen Worten, ehe sie sich von ihm löste. Er würde abheben, das sagte er bereits. „Alles klar…“ “War schön, dich wieder zu sehen, Nathan…“ „Hm.“ Langsam ging sie rückwärts von ihm, hob die Hand und verließ wenig später die Halle. Ein kurzer Besuch, dachte er sich, seufzte für sich und fuhr sich durch die Haare. Es machte ihn vollkommen fertig. Es schlug tiefe Risse in seine gar perfekte Mauer. Er wollte nicht, dass seine Schwester so fertig war. Sie sollte nicht mehr so leiden… Laut und dröhnend füllten die Beats von Mad Dog’s the Flow[/i9 die große Sporthalle. Ein Schlag nach dem anderen ging auf den schweren und großen Sandsack ein. Schweiß rann Nathan über die Stirn, perlte am Kinn ab oder versickerte im Top, welches er trug. Bereits dunkel eingefärbt, klebte es unangenehm am Oberkörper, begann ihn zu nerven und zu stören. Seine Bewegungen einstellend, fuhr er mit seiner rechten Hand in den Nacken, strich die losen, feuchten Haare Beiseite, löste den Zopf um ihn neu zu binden. Das Top zog er sich über den Kopf, schmiss es auf den Boden und ließ es dort ungeachtet liegen. Kurz rieb er sich über die Knöchel seiner Hand, ließ seine Schultern knacken und spürte die angenehme Entspanntheit, die sich in seiner Schultergegend breit machte. Irgendein instrumentaler Song löste the Flow ab und schickte ein paar eingängige Beats aus den Boxen. Es war angenehm, so spät abends noch hier zu sein. Allein. Ganz allein. So hatte er wenigstes seine Ruhe und musste nicht auf irgendwelche Kiddies aufpassen, damit diese sich nicht die Schädel einschlugen oder sonst etwas. So konnte er komplett allein trainieren, war für sich und konnte sich die Ruhe gönnen. Er war froh, sich mit Cooper ausgesprochen zu haben, so hatte er wenigstens eine Person, der er alles angetrauen konnte und bei der er wohnen konnte, so lange das mit seiner Familie so ein Chaos war… Vor allem aber erhielt er nun von Cooper auch ein anderes Training. Nicht mehr diese eintönigen Trainingsstunden, in denen das Alte geübt und das Neue immer weiter nach hinten geschoben wurde. Neue Techniken gaben ihm die Perspektive zurück, dass er beim nächsten Amateur-Wettkampf weiter vorn liegen würde, als er es dieses Jahr getan hatte. Nathan hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat. Viel zu sehr war er damit beschäftig, jede negative Emotion, die er verspürte, an dem Sandsack auszulassen, welcher immer noch vor ihm hing und sich so gut wie gar nicht bewegte. Er holte gerade zu einem Tritt aus, als die Musik verstummte. Wenig später hörte man nur ein ‚Alter!’ und jemand wich dem Sack aus, welcher sich ein paar Meter von Nathan wegbewegte. Seine Augenbraue hob sich, als er mit dem Handrücken über seine Stirn wischte. Er kannte die Stimme doch?! Langsam drehte er sich um, erblickte Mike, wie dieser auf ihn zukam. „Was machst du denn hier?“, brachte Nathan etwas außer Atem hervor. „Wir sind wieder zu Hause angekommen und ich hab zufällig erfahren, wie dein Trainer heißt.“ „Von wem?“, wollte er wissen. Von wem konnte Mike denn das wissen? „Ian hats mir gezwitschert.“ „Na klasse“, knurrte Nathan vor sich hin, ließ den Kopf in den Nacken sinken. Wollte er wissen, was dieser Idiot noch alles erzählte? „Hey, so hab ich dich wenigstens gefunden, wenn du schon nicht ans Handy gehst.“ „Sorry. Aber ich gehe dem sozialem Umfeld so gut wie aus dem Weg seit ein paar Wochen.“ „Warum?“ „Familiensegen hängt mächtig schräg.“ „Warum hab ich mir das denken können? Und dann verkriechst du dich hier?“ Er spürte den musternden Blick des Älteren auf sich. Musternd, nein, das war schon ein abcheckender Blick, den Mike an den Tag legte. „Verstecken brauchst du dich aber nicht, oder?“ Ein Grinsen erschien auf den Lippen des Musikers und erst da fiel ihm auf, dass Mike gar kein Make up trug. Selbst die Haare hingen nur ungestyled an dessen Kopf herunter, schmiegten sich an seine Wange. „Und du bist etwas breiter geworden, oder?“, hielt Nathan dagegen. „Und da hat er ja Flaum im Gesicht“, grinste er gleich drauf los, als er die schwarzen Härchen am Kinn Mikes sah, ebenso dies bisschen unter der Unterlippe. „Hey, willst du frech werden, oder was? Babyface?“ „Das ist mein Wort, Junge!“ „Wenigstens haste deinen Humor nicht verloren… Du, was ich dich fragen wollte…“ „Ja bitte?“ „Hast bock mit rüber zu kommen?“ „Was heißt rüber kommen, Mike?“ Er fand diese Frage durchaus berechtigt. So wusste er ja nicht, was der Screamer genau von ihm wollte. „Mit zu Seth und mir? So ein bisschen Ablenkung tut dir bestimmt gut und man könnte sich noch ein bisschen kennen lernen? Oder musst du morgen arbeiten?“ „Nein – also das ist es nicht…“ „Was dann? Wenn du keine Lust hast, ist das kein Weltuntergang. Aber es gibt Pizza.“ „Klasse“, kam es recht gelangweilt von Nathan. Pizza bekam er an jeder beschissenen Fastfoodecke und da brauchte er nun wirklich nicht in Euphorie ausbrechen. Und warum Mike sich so freute, verstand er auch nicht auf den ersten Blick. „Nathan.“ Mike kam etwas näher, grinste von einem Ohr zum anderen. „Eigentlich ist Seth der unbegabteste Koch unter der Sonne. Aber Pizza kann er wie kein Zweiter.“ „Das ist eine echt magere Argumentation, wenn du mich fragst.“ Sofort glitten Mikes Schultern nach unten, sein Kopf neigte sich nach vorn und ein Seufzten kam von ihm. „Das klingt beinahe wie: ‚Wenn du versuchst mich mir zu diskutieren, bist du ohnehin argumentativ am Boden.’ Und ich mag das nicht.“ „Was kann ich denn dafür, wenn du dich nicht wehren kannst?“ „Seit wann, bitte sag mir das, bist du so?“ „Wie bin ich denn?“ „Als ich dich kennen gelernt habe, saßt du in dieser ‚hoffentlich sieht mich niemand’-Haltung auf einem Klappstuhl und wolltest nicht auffallen und jetzt bist du so fies. Alter.“ „Ich bin nicht fies. Ich bin grundsätzlich so, wenn ich völlig fertig bin mit der Welt. Gewöhn dich daran, wenn du mit mir verkehren willst, Dude.“ „Kommst du jetzt mit?“ Mike hatte seinen Kopf wieder in eine normalmenschliche Position gebracht, blickte ihn mit seinen dunklen Augen fragend und bittend zugleich an. „Ja. Meinetwegen… Ich geh kurz duschen“, verkündete er, klaubte sein Shirt vom Boden und schaltete im Vorbeigehen die Anlage direkt aus. „Dauert nicht lange.“ Damit verschwand er aus Mikes Sichtfeld und betrat die Kabinen, schmiss sein Shirt zu seiner Tasche, ebenso die anderen Klamotten die er trug und verschwand nebenan unter eine der vielen Duschen. Lauwarmes Wasser rann über seine Haut und zum ersten Mal ärgerte er sich, dass die anderen das heiße Wasser bereits verduscht hatten. Saubande, dachte er sich, griff blind nach dem Duschgel Er hatte nicht damit gerechnet, dass Mike hier auftauchen würde. Woher wusste der das überhaupt? Dumme Frage eigentlich, so unglaublich viele Vereine gab es hier auch nicht und dieser, in welchem er trainierte, war eigentlich der bekannteste im Umkreis von ungefähr fünfzig Kilometern. Aber was störte es ihn? Würde er gleich einfach mal mit fahren, sich ein wenig mit den beiden unterhalten und dann in sein Übergangsnachtlager zurückkehren. Was war schon dabei? Vor allem war er dann mal mit anderen Menschen zusammen. Nicht wie jeden Tag mit Nicki, Cooper oder dem Chef der Werkstatt. Das war vielleicht mal etwas anders und … er mochte Mike irgendwie. „Nathan. Gleich hast du Flossen, beweg deinen Arsch endlich aus der Nasszelle.“ „Stress mich nicht!“, rief er nur zurück, stellte das Wasser aus und griff nach dem Handtuch, welches er sich gerade noch mitgenommen hatte. „Ich stress dich gleich, so viel zum Thema: dauert nicht lange, was?“ Stumm äffte er die Worte Mikes nach, während er sich abtrocknete, sich umzog und seine Klamotten in die Tasche stopfte. Noch einmal nachsehend, ob er auch nichts vergessen hat, verließ er die Kabine und ging auf den Ausgang zu. „Beweg dich, Bitch“, sagte er in Mikes Richtung. Sofort kam dieser auch auf ihn zu, verließ mit ihm gemeinsam die Sporthalle. „Bist du mit dem Wagen da?“ „Ja, bin ich. Ich lauf doch nicht zu Fuß“, kam es gleich leicht geschockt von Nathan auf die Frage zurück. „Ok, dann fahr mir einfach hinterher.“ Nathan ging direkt auf seinen Chevrolet zu, schmiss die Tasche auf die Rückbank und gab ein ‚Ja, ja’ von sich, als er einstieg. Er parkte aus und folgte dann dem dunklen Wagen, in welchen er Mike hatte eingestiegen sehen. Im Hintergrund dudelte leise die Musik, während er weiterhin darauf achtete, wo Mike denn hinfuhr. Ein bisschen neugierig wurde er ja schon, je länger er ihm folgte. Wie wohnten sie? Wohnten sie in einer fünf Zimmer Bude oder wo anders? Jedoch gab ihm die Richtung, in welche sie fuhren, schon die Vermutung, dass es eben nicht diese fünf Zimmer Bude war. Die ordentlich stehenden Straßenlaternen, in dem eher ruhigen Stadtrandsviertel. Die sauberen Straßen. Ordentlich geschnittene und grünen Rasenflächen vor den hübschen Häusern, die Familienvans in den Garageneinfahrten… Was machten Leute wie Seth und Mike in einem Familienviertel wie diesem hier? Der Blinker des Wagens vor ihm ging an und er bremste etwas ab, schaltete seine Gedanken ab und wartete, bis Mike eingeparkt hatte. Er selbst stellte sich danach einfach hinter Mikes Wagen, zog die Handbremse, stellte den Motor ab und stieg aus. „Was macht ihr in dieser Gegend?“, brachte er auch sogleich heraus, als Mike aus seinem Wagen – der sich übrings als ein 2006er Mustang herausstellte – stieg. „Die Familien hier“, begann Mike, schob die eine Hand in die Hosentasche und mit der anderen folgte eine ausschweifende Geste. „Sind erst in den letzten zwei Jahren alle hier her gezogen. Ein altes Ehepaar wohnt gegenüber, die Familie Blair wohnt drei Häuser neben uns die Straße hoch. Dann wohnt hier neben uns noch eine alte verwitwete Sechzigjährige und auf der anderen Seite ein kinderloses Ehepaar. Die anderen sind erst in den letzten Jahren hier her gezogen“, erklärte er ihm. „Ist bestimmt auch schön, Kinder hier aufzuziehen, was?“ „Keine Ahnung. Ich hab keine und ich will auch keine“, sagte Mike lachend und nickte zum Haus. „Ok, erklärt sich eigentlich auch von selbst… Seit wann fährst du den Mustang?“ „Seit 2006. Als er heraus kam…“ „Woher hattest du das Geld?“ „Sagen wir es so … Ich hatte das Geld nicht für einen perfekten, tadellosen Neuwagen.“ „Aja.“ „Ja man“, lachte Mike, ging um den dunklen BMW herum, der vor der zweiten Garage stand. „Es war eine Fehlproduktion. Farbfehler und so Kleinigkeiten. Bisher funktionieren viele der Kleinigkeiten immer noch nicht. Aber das ist egal. Ich hab ihn umlackieren können und alles ist gut.“ „Was für Kleinigkeiten?“ „Fensterheber hinten, die Kofferraumzentralverrieglung geht nicht, musste immer mit dem Schlüssel aufschließen. Alle so was, aber das kann ich bei Zeit mal machen lassen.“ „Bring ihn mal vorbei. Ich mach dir das fertig…“ „Werkstatt?“ „Bist du irre? Nein. Privat”, grinste Nathan, ließ seine Hand über den dunklen Lack seines eigenen Wangens. “Warum nicht in der Werkstatt?“ „Ich bin Azubi. Da darf man so was noch nicht, laut Nicki…. Und das ist Seths?“, wollte er wissen, nickte auf den dunklen BMW. „Ja, den hat er sich Anfang dieses Jahres gekauft, als wir kurz zu Hause waren.“ „Ich bin nicht so der Fan von diesen neuen, getunten Karren. Aber dieser hier…“ Dunkelblauer Lack, mächtige Reifen, mattsilber Alufelgen… Härter, tiefer, breiter. Dieser Wagen war der absolute Hammer… „Ist sexy, was? Normalerweise fährt Seth solche Wagen nicht, hatte er vorher doch so einen kleinen gammligen Toyota als Anfangswagen und später einen gammligen Honda. Und dann diesen hier...“ „Verdient ihr so viel, mit eurer Musik?“, fragte Nathan nach, bewegte sich langsam auf Mike zu. „Man kann davon mehr als gut leben, sagen wir es so. Anfangs wars etwas schwer, aber jetzt geht’s inzwischen. Aber um es so zu sagen, ich hab einen millionenschweren Lebensgefährten. Sein Vater war Topmanager und Vize-Chef einer großen Firma. Seine Mutter Topanwältin der Schönen und Reichen. Da kommt was zusammen, also daher“. Unbeteiligt zuckte Mike mit den Schultern, ging dann zur Haustür. „Oh… Sind sie tot?“ “Flugzeugabsturz vor ... Jahren. Reden wir nicht drüber“, sagte er nur, winkte das Thema somit ab und schloss die Tür auf, ließ Nathan eintreten, als dieser sich endlich bewegt hatte. „Seth, ich bin wieder da.“ Stille herrschte daraufhin – kurz. Wenige Sekunden später hörte man nämlich, dass leise Gitarrensaiten angeschlagen wurden. Nathan, der gerade seine Schlüssel in die Hosentasche steckte und den kurzen Flur musterte, in welchen sie standen, drehte sich zu Mike um. „Komm mit“, grinste dieser nur und ging Nathan voraus, nach rechts in das große Wohnzimmer. Es wirkte auf Nathan wie ein absolut großer Raum mit viel zu vielen Notenblättern, Gitarren und einfach nur Chaos. Er blieb einfach im Durchgang stehen, während sich Mike von hinten an seinen Freund heran schlich, der mit dem Rücken zum Durchgang auf der großen, grauen Couch saß. Und innerlich hatte Nathan jetzt schon Mitleid mit Seth. So würde dieser doch gleich einen Herzinfarkt bekommen, da er Kopfhörer trug und diese – wie die Gitarre – an den Verstärker angeschlossen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, fasste Mike Seth an den Schultern und der Überfallene schmiss beinahe seine Gitarre von sich, als er aufsprang. Wie gesagt, Nathan hatte Mitleid mit ihm. Er wollte gar nicht wissen, wie sehr das Herz des Gitarristen schlagen musste. „Mike, du Arschkrampe! Du siehst doch, dass ich arbeite!“, fauchte die kleine brünette Furie drauflos. Seit wann hatte Seth hellbraune Haare? Aber es waren ja schon ein paar Wochen vergangen, weswegen Nathan sich darüber mal keine Gedanken machte… „Ja, ich weiß“, hörte er und schüttelte den Kopf, als er sah, dass Mike dieses, für ihn, typische halbseitige Lächeln lächelte, seinem Freund die Kopfhörer vom Kopf strich und einfach auf die Couch fallen ließ. „Aber du bist mir nicht böse.“ Er sah das Kopfschütteln Seths, drehte sich aber dezent zur Seite, als sich das Pärchen küsste. So gern sah er dann zwei Männern dabei auch nicht zu. „Nathan, hast du schon gegessen?“, drang dann aber Seths Stimme an sein Ohr, als er gerade dabei war, irgendwelche Bilder an der Wand direkt neben dem Durchgang anzusehen. „Nein, habe ich noch nicht.“ „Das finde ich gut. Dann geh’ mit Mike rüber in die Küche, ich räum hier eben auf“, kam es ruhig und gelassen von Seth zurück. Seth wurde ihm immer sympathischer. Er war so ruhig, immer so gelassen und einfach total cool. Natürlich wusste er nicht, wie Seth noch sein konnte, dafür kannte er ihn nicht gut genug … wobei, eigentlich kannte er ihn rein gar nicht. Aber das war nicht der Punkt. „Und was sollen wir da machen, Babe?“, fragte Mike leicht verwirrt nach, strich sich die Haare nach hinten und hob elegant eine Augenbraue. „Ihr nehmt euch ein Messer?“ „Und damit sollen wir uns dann gegenseitig erstechen?“, kam es seltendämlich von Mike zurück, sodass sich Nathan ernsthaft ein Auflachen unterdrücken musste. „Nein, damit sollt ihr die Pilze schneiden und alles andere, was halt so auf die Pizza drauf soll. Ich wusste nicht, was du gern magst, Nate. Schau einfach, was dir von dem Zeug zusagt, das im Kühlschrank steht.“ Dass Seth ihn ‚Nate’ genannt hatte, überhörte er einfach gekonnt und zuckte die Schultern. Ihn nur Nath zu nennen war schon Schmerzen wert. Aber Nate? Nate war noch um Längen schlimmer, aber er wollte nicht unhöflich sein und Seth aus seiner Wunschvorstellung heraus reißen. „Alles klar… Wo ist das Bad?“ „Hier Treppe hoch und dann die Tür mit dem ‚WC’ dran“, erklärte ihm der Brünette. Nathan nickte, stieg vorsichtig über die gesammelten Werke an Notenblättern hinweg und ging die Treppe hinauf. Er hatte es einem schwulen Pärchen gar nicht zugetraut, dass sie so normal lebten. Für ihn wirkte es eher wie eine normale ‚WG’ oder was auch immer. Aber es sah nicht aus, als würde ein schwules Paar hier leben. Ganz ehrlich. Warum? Es sah alles so aufgeräumt aus. Es war nichts Pinkes hier, bisher ist ihm auch noch nichts entgegen gesprungen, was nach irgendwas Schlafzimmerintenen aussah und ebenso fehlten ihm die klischeeartigen Aktbilder von Kerlen an der Wand. Aber das war mit Sicherheit zu sehr Klischee gedacht. Allgemein hätte er Seth niemals für schwul gehalten. Ok, Mike schon ein bisschen. Aber eher aus der ersten Intuition heraus, wegen dem Style und vielleicht auch ein bisschen wegen der Stimme her, aber ganz sicher nicht wegen irgendwelchen bewegungstechnischen Sachen. Nach einem kleinen – vielleicht illegalen – Hausrundgang in der ersten Etage, kam er mit gewaschenen Händen wieder die Treppe herunter und fand Seth dabei vor, die Blätter ordentlich einzusortieren, während in der Küche gegenüber schon Licht brannte und Mike an der Mittelinsel der Küche stand und an irgendwas herum schnitt. Bildende Kunst?, dachte er sich, schlich an Seth vorbei und betrat den Kochsaal. Das Radio dudelte vor sich, Mike schien ihn noch gar nicht bemerkt zu haben. Der stand in aller Seelenruhe dort, schnitt die Pilze in dünne Scheiben und ließ im Takt der Musik seine Hüfte kreisen. „Mike.“ „Mäuschen?“, kam es auch gleich grinsen zurück. „Schwul mich nicht an, ok?“, konterte Nathan genauso grinsend. Jedem anderen hätte er dafür wohl einen Spruch gedrückt, aber bei Mike war das irgendwie – auf komische Art und Weise – anders. Der durfte das. „Gib mir’n Messer.“ „Die Salami liegt im Kühlschrank, die Messer sind im Messerblock neben der Kaffeemaschine.“ Die Kühlschranktür aufziehend, fand er das wohl geordnetste Kühlschranksystem vor, das er jemals gesehen hatte. Ein Grund, warum er gleich das Gesuchte fand. Jedoch in zweifacher Ausführung. „Mike?“ „Nath?“ „Lang und schmal oder doch lieber kurz und dick?“ Er hörte von Mike nur ein leises, überlegendes ‚Hm’, ehe eine kleine Pause folgte. „Lang und schmal.“ Das Lachen, in dem sie beide gar synchron ausbrachen, lockte ein ‚Was macht ihr da?’ von Seth hervor, der ihnen das rüberschrie. „Nichts. Wir entscheiden nur über die Salami.“ „Aha“, kam es auf Mikes Worte zurück und Nathan schloss kopfschüttelnd den Kühlschrank, stellte sich neben Mike, legte sich alles zurecht und blickte den größeren Screamer neben sich fragend an. „Ihr seid wirklich zusammen?“ „Ja? Wie oft denn noch?“, lächelte der Musiker. „Ihr kommt so … anders rüber. Weißt’e? Eher so, als wärt ihr beste Freunde und nicht das Paar, für das man euch halten sollte…“ „Das kommt davon, dass wir nicht das typische Paar sind. Wir sind schwul, und? Heißt das, dass wir uns nur Liebesbekundungen zuwerfen müssen? Dass wir nur wie die Geier übereinander herfallen? Dass wir kaum was anders tun, als zu turteln? Hey, auch ich hab’n Schwanz in der Hose, ich verhalt mich nicht wie eine Pussy. Seth auch nicht. Schieb das Klischee einfach mal bei Seite“, sagte er ihm und Nathan nickte nur. Jetzt kam er sich doch tatsächlich so ein bisschen dumm vor. Vor allem waren die beiden ja schon drei Jahre zusammen, da verhielt man sich nicht mehr wie ein verliebtes Teenagerpaar. Das stimmte schon alles. „Sorry, war’ne dumme Frage.“ „Es gibt nur dumme Antworten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)