Fairy's Act von Flordelis ================================================================================ Prolog: Spirit -------------- Sie erinnerte sich an ihre Vergangenheit. Viel zu gut sogar. Der Ausbilder des Lagers, in dem sie sich zuerst befunden hatte, war ein netter Mann gewesen. Er hatte ihr einen Namen gegeben, ihr erklärt, was sie war und was sie zu tun hatte. Immer trug er ein Lächeln im Gesicht, selbst wenn er davon sprach, wie man am besten tötete, wenn er sie unterrichtete, wie sie ihresgleichen mit dem ihr gegebenen Eien Shinken am Wirkungsvollsten aus der Existenz riss. Bei ihm war sie gewesen, bis sie in das Alter gekommen war, um dem Spirit Corps von Rakios beizutreten. Dort hatte sie etwas Wichtiges gelernt: Egal wie sehr sie Menschen beschützen wollte und ganz gleich wie angestrengt sie kämpfte, damit die Bürger nicht sterben mussten, die Menschen hassten sie, verabscheuten sie geradezu und wollten nichts mit ihr und ihren Artgenossen zu tun haben. Sie kämpfte für das Überleben derer, die ihr den Tod wünschte, es war paradox, fand sie. Doch lange fand sie kein Wort dafür, weder dieses – paradox – noch ein anderes. Bildung war für ihresgleichen unwichtig, überflüssig, verschwendet, über kurz oder lang würde sie sich ohnehin in Staub auflösen und sie wurde nicht beschäftigt, damit sie sprach oder nachdachte. Sie lebte in einem dunklen Tunnel, ohne jede Hoffnung auf Licht. Ein Tunnel, der nur eine Richtung kannte, direkt in ihr Verderben hinein, ohne jeden Zwischenstopp. Erst eine bestimmte Person schaffte es, ihrem Leben einen vernünftigen Sinn zu geben. Nicht, weil er sie als Individuum wahrnahm – denn das tat er nicht – oder besonders gut zu ihr war – denn das war er nicht. Aber er bildete sie zu seiner Leibwächterin aus, er gab ihr das Gefühl gebraucht zu werden. In seiner Gegenwart war sie nicht mehr irgendwer, nicht mehr nur ein Spirit. Sie war Lia und sie würde Soma Ru Soma beschützen und jeden seiner Befehle befolgen, bis sie sich in Manastaub auflösen würde. Kapitel 1: Ungewöhnliche Ereignisse ----------------------------------- Auch an diesem Tag war es wieder kalt. Die Kälte griff jeden freiliegenden Zentimeter Haut und biss mit unsichtbaren Zähnen hinein, unfähig zwar, Fleisch herauszureißen, aber doch genug, um sie rot werden und schmerzen zu lassen. Die Bewohner des Son Rim Plateau waren es bereits gewohnt. Dort, in diesem von Bergen eingerahmten Landstrich, war es immer kalt und Schnee ein ständiger Wegbegleiter. Es gab keinen Einwohner dort, der nicht mindestens fünf Mäntel griffbereit im Schrank hängen hatte. Woran genau es lag, wusste niemand, aber außer Schnee verfügte das Plateau auch über ein Übermaß an Mana. Spirits waren deswegen dort besonders mächtig, deswegen waren alle Menschen froh, dass es keine Kämpfe dort gab. Aufgrund der anhaltenden Kälte schien man sich dort in einem beständigen Winterschlaf zu befinden, während dem jede Störung unerwünscht war. Son Rim besaß keine eigenen Spirits, keine anderen Spirits wurden dorthin geschickt, die Menschen lebten in Frieden ihr Leben, unberührt von dem Krieg, der den Rest des Kontinents in Unruhe warf. Sie alle lebten jeden Tag auf dieselbe Art und Weise. Deswegen wusste er nicht, was er tun sollte, während er die Spuren im Schnee anstarrte. Er hielt das Feuerholz im Arm und eng an seine Brust gepresst, aber sein Blick galt den Spuren. Sie schienen einer Frau zu gehören. Einer Frau, die etwas Großes hinter sich herschleifte. Da es in der Nacht zuvor noch geschneit hatte, diese Spuren aber vollkommen unberührt waren, mussten sie neu sein. Aber wohin führten sie? Und von wem kamen sie? Unsicher wippte er auf seinen Füßen vor und zurück und dachte fieberhaft darüber nach, ob ihm irgendwann einmal beigebracht worden war, was er in einem solchen Fall zu tun hätte. Aber eine solche Lektion war ihm nie erteilt worden. Sein ausgestoßenes Seufzen wurde von einer weißen Wolke begleitet. „He, was ist los?“ Die Stimme seiner Begleiterin erklang direkt neben ihm und ließ ihn erschreckt zusammenzucken. Statt etwas zu sagen, blickte er sie nur kurz an und sah dann wieder zu den Spuren. Sie folgte seinem Blick und neigte den Kopf. „Huh...“ Doch statt lange zu zögern, machte sie einen Schritt vorwärts, was er nicht einmal verwunderlich fand, immerhin war sie gut drei Jahre älter als er, schon fast 16, da war es doch nur normal, dass sie mutiger war als er. Zumindest redete er sich das ein, damit er sich nicht selbst so erbärmlich betrachtete, als er sie leise zurückrief: „Was tust du da?“ „Ich will nachsehen, wo die Spuren hinführen.“ Da sie sich nicht aufhalten ließ, folgte er ihr argwöhnisch, immerhin wollte er sich nicht nachsagen lassen, dass er ein Feigling sei, wenn sie später ihren Freunden davon erzählen würde. Nach einigen Schritten entdeckte er plötzlich eine Gestalt, die zwischen den Bäumen verschwand. Das blaue Haar und die schwarze Kleidung hoben sich mehr als überdeutlich von dem weißen Schnee ab, er hielt wieder inne. „War das ein Spirit?“ Seine Stimme brach ein wenig ein, während er sprach, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken: „Wenn das so ist, umso besser. Spirits greifen immerhin keine Menschen an, schon vergessen? Ich werde nur schnell nachsehen, was er hier macht.“ Während sie weiterlief, blieb er wie festgefroren stehen. Seine Füße weigerten sich, auch nur noch einen Schritt zu tun, selbst wenn sein Verstand ihm sagte, dass er von Spirits nichts zu befürchten hatte. Immerhin wurde schon Kindern beigebracht, dass sie keinem Menschen, sondern nur einander schadeten. Sie verschwand zwischen den schneebedeckten Tannenbäumen. Eine unheimliche Stille trat ein, während der nichts geschah. Er wollte ihr gerade folgen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, da konnte er plötzlich einen erstickten Schmerzenslaut hören, direkt danach sah er, wie Blut auf den Boden unter den Bäumen spritzte, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Er registrierte, was geschehen war, das Brennholz fiel aus seinen kraftlosen Armen. Ohne zu zögern, wirbelte er herum und stürmte wieder in Richtung seines Zuhauses davon, um dort zu berichten, was geschehen war – auch wenn er davon überzeugt war, dass niemand ihm glauben würde. Manchmal fand er es noch ein wenig seltsam, sich vorzustellen, dass sie sich mitten im Krieg befanden, wenn er morgens wach wurde. Die Sonne schien in sein Zimmer und zauberte Muster auf den hellen Holzboden, die weißen Vorhänge bauschten sich im Wind und irgendwo, weit entfernt, sang ein Vogel sein Lied. Das alles bedachte er, während er, noch ein wenig müde, auf seinem Bett saß und aus dem Fenster in den blauen Himmel starrte. Erst ein leises Lachen in seinem Inneren riss ihn aus seinen Gedanken. „Dummes Schwert“, murmelte er leise und erntete dafür einen stechenden Kopfschmerz. Er war dieses Gefühl inzwischen derart gewohnt, dass es ihn schon gar nicht mehr wirklich störte. Also ignorierte er das, während er aufstand und sich anzog. Nach dem Frühstück würden sie – wieder einmal – nach Sargios aufbrechen, immerhin befanden sie sich gerade in einer Schlacht, auch wenn er das gerne einmal vergaß. Dank der Ether Jump Technologie war es ihnen möglich, tagsüber im weit entfernten Sargios zu kämpfen und nachts im heimischen Rakios zu schlafen, somit mussten sie auf keinen Luxus verzichten. Im Moment befanden sich die Spirits aus den zweiten Quartieren an der Front, um diese zu halten, gemeinsam mit Kouin, der sie anführte, während Yuuto nicht bei ihnen war und Kyouko, die ein Auge auf Kouin warf, solange er bei den jungen Spirits war. Yuuto wollte es sich zwar nicht vorstellen, aber dennoch schien es ihm durchaus möglich, dass Kouin versuchen würde, sich einem dieser unschuldigen Spirits – vorrangig Nelie, Shiah oder Helion – unsittlich zu nähern. Doch statt sich weiter damit zu beschäftigen, griff er nach dem keulenförmigen Schwert, das in einer Ecke von ihm gegen die Wand gelehnt worden war. Wenn man es betrachtete, sah es äußerst schwer aus, aber für ihn fühlte es sich überraschend leicht an. Noch dazu kam man sicher nicht auf die Idee, dass die dunkle Klinge scharf sei, sie sah für Yuutos Augen reichlich stumpf aus. Lediglich die ungezählten Spirits, die er damit bereits getötet hatte, hatten ihm verraten, dass die Klinge doch rasiermesserscharf war. Als er vor seinem inneren Auge sah, wie ein Spirit sich in Manafunken auflöste, spürte er einen heftigen Impuls von 'Motome', dem Schwert, kommend. Es wollte mehr, mehr Mana, mehr Vernichtung, mehr Macht...! Aber inzwischen war Yuuto geschickt darin, diesen Impuls niederzukämpfen. Mit einem leicht flauen Gefühl im Magen, das von der Anstrengung am frühen Morgen herrührte, nahm er das Schwert an sich. Als er schließlich das Zimmer verließ, lief er direkt in Aselia hinein, die offenbar gerade an seine Tür hatte klopfen wollen. Sie lächelte fröhlich, als sie ihn sah. „Guten Morgen, Yuuto.“ „Guten Morgen, Aselia. Wolltest du mich wecken?“ „Hnn!“ Sie nickte enthusiastisch, was ihm ein Lächeln entlockte. Seit seiner Ankunft damals in Rakios, hatte das Mädchen sich extrem verändert. Von einem verschlossenen, blauen Spirit, der nur wusste, wie man kämpfte, war sie zu einer fröhlichen jungen Frau geworden. Er dachte gern, dass es sein Verdienst war und womöglich stimmte das sogar. Aber woran er noch viel lieber dachte, war die Liebe, die er zu ihr empfand – und die sie sogar erwiderte. Aber genau deswegen stimmte es ihn umso trauriger, dass sie immer noch kämpfen und ihresgleichen töten musste. Aselia konnte so viel mehr als das, zum Beispiel... nun, im Moment fiel ihm nichts ein, aber es gab mit Sicherheit noch mehr Talente in ihr. Lächelnd hakte sie sich bei ihm ein und ging gemeinsam mit ihm in das Esszimmer des Hauses. Sowohl der hölzerne Tisch als auch der Boden war blank poliert, es war mit Sicherheit möglich, etwas einfach über die Oberfläche schlittern zu lassen – und Orupha demonstrierte ihm das auch sofort. Auf Socken nahm sie Anlauf und schlitterte ihm entgegen, so dass er sie automatisch auffing. „Papa!“ Ihr Gesicht strahlte überglücklich, wie immer, wenn sie ihn sah und sogar ihre roten Augen glitzerten dabei. Schon früh am Morgen derart energisch zu sein, war für den Langschläfer Yuuto immer noch seltsam, aber Orupha schaffte das äußerst gut. Ihr rotes Haar war wie üblich mit gelben Haarbändern zu Pferdeschwänzen gebunden, die sie noch um einiges jünger erscheinen ließen. Sie erinnerte ihn an Kotori, immer noch, und das war einer der Gründe, weswegen er sie von Anfang an gemocht hatte. „Guten Morgen, Orupha.“ „Papa, Papa! Bist du schon fertig für heute?“ Er nickte wortlos. Ihre Vorfreude auf die kommende Schlacht, die sie dank ihrer Ausbildung lediglich als Spiel betrachtete, schmerzte ihn immer noch. Anfangs hatte er versucht, ihre Einstellung zu ändern, es aber irgendwann aufgegeben, weil keines seiner Worte die Lehren ihres Ausbilders zu überdecken vermochte. Er behielt sie weiterhin auf dem Arm, während er die nächste Hausbewohnerin begrüßte: „Guten Morgen, Uruka.“ Der weißhaarige Spirit, der stets in schwarzer Kleidung herumlief, deutete eine Verbeugung an. „Guten Morgen, Yuuto-dono.“ Ihre ruhige Stimme war Balsam für seine Nerven und bildete einen interessanten Kontrast zu Oruphas Lebhaftigkeit. Nach ihrer ersten Begegnung miteinander, hätte er nie gedacht, das einmal über sie zu denken, aber inzwischen zählte er sie zu seinen engsten Vertrauten. Er konnte von Glück reden, dass sie die Seiten gewechselt hatte. Damit fehlte nur noch eine Hausbewohnerin, die er begrüßen sollte. Aber von dieser war noch nichts zu sehen. Auch aus der Küche erklang nichts, was darauf schließen lassen würde, dass sie gerade dort war, um das Frühstück zuzubereiten. „Wo ist Esperia?“, fragte er daher. Bei dieser Frage sah er Uruka an, aber es war Orupha, die ihm antwortete: „Esperia-nee-san ist bei der Königin im Schloss!“ Er zog die Brauen zusammen, als er das hörte. Es bedeutete selten etwas Gutes, wenn Esperia bei Lesteena war, aber die Tatsache, dass er noch nicht zur Königin beordert wurde, ließ ihn noch hoffen, dass es nichts sonderlich Schlimmes war. „Wer ist dann für das Frühstück verantwortlich?“, fragte Yuuto. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass Aselia sich gerade bereit erklären wollte und er dankte innerlich allen Göttern, die er kannte, dass in diesem Moment die Haustür geöffnet wurde und ihr somit das Wort abschnitt. Aber seine gute Laune verflog sofort wieder, als er den braunhaarigen Spirit sah, der hereinkam. Nicht, dass er sich nicht freute, Esperia zu sehen, aber ihre Stirn war gerunzelt und ihre Augen blickten nachdenklich direkt durch einen hindurch und das war nun wirklich nie ein gutes Zeichen bei ihr. „Was gibt es, Esperia?“, fragte Yuuto so neutral wie möglich. Sie schreckte aus ihren Gedanken und blickte ihn direkt an, aber ihre Stirn blieb gerunzelt. „Yuuto-sama, Ihre Majestät, Lesteena, hat uns alle zu ihr beordert.“ Er schluckte, um seine Nachfolgefrage so weit wie möglich hinauszuzögern. Dass sie extra zur Königin gehen mussten, bedeutete, dass sie an diesem Tag nicht zur Front zurückkehren würden, aber auch, dass etwas weitaus Größeres bevorstand. Er konnte nur hoffen, dass es nichts allzu Schlimmes war. „Worum geht es denn?“ Esperia biss sich auf die Unterlippe, zögerte mit der Antwort, so wie er zuvor mit der Frage. Doch dann besann sie sich der Dringlichkeit. „Auf dem Son Rim Plateau werden Menschen ermordet – und Gerüchte sagen, dass der Mörder ein Spirit ist.“ Kapitel 2: Eine neue Mission ---------------------------- Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie ihn das erste Mal traf. Der Himmel war blau, ohne jede Wolke und sie saß vor dem Haus, in dem sie lebte, um, den Kopf in den Nacken gelegt, nach oben zu sehen. Seine schweren Schritte lenkten ihren Blick vom Himmel auf die Person, die mutig genug war, sich den Baracken der Spirits zu nähern. Es war ein braunhaariger Mann mit Bauchansatz, er balancierte eine Brille mit runden Gläsern auf seiner breiten Nase, die braunen Augen saßen viel zu tief in ihren Höhlen, dafür war sein Kiefer überdeutlich ausgeprägt. Alles in allem war er kein Mensch, den man als hübsch bezeichnen könnte, selbst sie als Spirit fand ihn hässlich – und genau das war etwas, was sie sofort faszinierte. Spirits waren allesamt wunderschön und sie ähnelten einander wie Zwillinge. Aber dieser Mensch war anders, er besaß Charakter und er war mutig genug, hier vor ihr zu stehen, ohne sie zu beschimpfen oder auch nur abschätzig anzusehen. Die beiden letzten Punkte waren es, die ihn ihr sympathisch machten. „Und wer magst du sein?“ Der Ton, in dem er das sagte, klang überheblich und ein wenig so als ob er nicht mit ihr, sondern mit einer dritten Person sprechen würde, die gar nicht da war. Eingeschüchtert von seiner Art, konnte sie ihn nur schweigend ansehen. Er stieß ein tiefes, schweres Seufzen aus. „Kannst du etwa nicht sprechen?“ Da ihr beigebracht worden war, Menschen zu gehorchen und dieser hier offenbar wollte, dass sie etwas sagte, überwand sie das Gefühl der Einschüchterung und stand auf. Sie war immer noch kleiner als er und musste so den Kopf in den Nacken legen, um ihn in die Augen sehen zu können. „Mein Name ist Lia.“ Er hob wohlwollend eine Augenbraue. „Du bist einer der blauen Spirits von Rakios, ja?“ „Das ist korrekt.“ Sie nickte zustimmend. Noch einmal seufzte er, als trüge er eine schwere Last auf seinen Schultern. „Mein Name ist Soma Ru Soma. Ich bin ab heute für dich verantwortlich.“ Sie blinzelte, blickte einen Moment umher, um nach jemandem zu suchen, der ihr erklären könnte, was das zu bedeuten hatte. Aber sie fand niemanden außer diesem Mann, der dieses Mal nicht seufzte und stattdessen zu lächeln begann. „Ich denke, das könnte sehr interessant werden. Du wirst ab sofort alles tun, was ich dir sage, ja, Lia?“ Sie überlegte einen Moment, ob sie das wirklich tun sollte oder ob er sie anlog, entschied dann aber, dass es keinen Grund geben würde, sie anzulügen und nickte. „Verstanden.“ Sein Mundwinkel verzogen sich zu einem breiteren Lächeln. „Also, lass uns gleich mal mit der Lektion beginnen. Hör gut zu, Lia.“ Noch im Thronsaal war Yuuto über Esperias Aussage verwirrt. Ein Spirit, der Menschen umbrachte, so etwas war ungewöhnlich. Er war von einem Spirit angegriffen worden, direkt nach seiner Ankunft in Phantasmagoria, aber er war kein Mensch, er war ein Etranger, da galten andere Regeln. Wie konnte es also sein, dass sich ein Spirit dieser Regelung widersetzte und Menschen angriff? Diese Frage beschäftigte nicht nur ihn, sondern auch die vier Spirits, die mit ihm im Thronsaal standen. Aselia, Esperia und Uruka standen mit gerunzelter Stirn da, den Blick auf irgendeinen Punkt gerichtet. Selbst Orupha, die sonst immer fröhlich war und sich nie den Kopf über irgendetwas zerbrach, hatte die Stirn in Falten gelegt und die Arme in die Hüften gestemmt. Yuuto wusste einfach, dass sie gedanklich bereits plante, diesem Spirit eine Standpauke zu halten, gleichzeitig war ihm aber auch klar, weswegen er und die Spirits von Lesteena gerufen worden waren und es gefiel ihm absolut nicht. Aber andererseits... „Wenn die Feen so weit gehen, Menschen zu töten, müssen sie den Preis dafür zahlen.“ Er hörte 'Motomes' Stimme in seinem Kopf widerhallen und er wusste, dass er damit recht hatte, eigentlich – aber dennoch hoffte er, dass er einen anderen Weg finden könnte, sobald er diesem feindlichen Spirit erst einmal gegenüberstand. Vielleicht könnte er ihn zum Überlaufen überreden. Zumindest hoffte er das. Als Lesteena endlich den Thronsaal betrat, salutierten alle automatisch, sogar Orupha, die darauf von klein auf trainiert worden war. Lesteena nickte ihnen lächelnd zu, dann setzte sie sich auf den Thron – und im selben Moment war es als würde jemand einen Schalter umlegen. Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, das plötzlich wesentlich kantiger erschien, selbst ihre Augen wurden ein wenig dunkler. Dies war das Herrschergesicht von Lesteena Dai Rakios, das nicht im Mindesten darauf schließen ließ, was für ein warmherziger Mensch sie eigentlich war. „Etranger, Spirit Corp, ich habe euch herbeordert, weil ich eine neue Mission für euch habe.“ In Yuutos Inneren erwachte bereits der Widerwille, aber er zwang sich, ihr weiter zuzuhören. „Wie ihr sicher bereits gehört habt, gibt es auf dem Son Rim Plateau das Gerücht, dass ein Spirit für die dortigen Mordfälle verantwortlich ist. Ich möchte, dass ihr herausfindet, ob dieses Gerücht der Wahrheit entspricht und falls ja, dass ihr die Mordserie beendet.“ Yuuto beruhigte sich wieder ein wenig, als er bemerkte, dass sie offen ließ, wie sie mit dem Spirit zu verfahren hatten. Das bestärkte ihn in seinem Plan, mit ihr zu reden und sie davon zu überzeugen, das Richtige zu tun. Lesteena würde das bestimmt verstehen und die anderen es gutheißen. „Gibt es noch Fragen?“ Die Anwesenden schüttelten mit den Köpfen, worauf sie den Arm ausstreckte. „Dann beginnt die Mission!“ Damit waren sie aus dem Thronsaal entlassen. Sie mussten sich nicht lange überlegen, was sie nun tun sollten, es war eindeutig, dennoch sprach Esperia es aus: „Youtia-sama wird uns nach Sosuras bringen, das ist die südlichste Stadt auf dem Son Rim Plateau. Es ist übrigens sehr kalt dort.“ Yuuto versuchte, sich die Karte ins Gedächtnis zu rufen, die er bereits mehrmals wegen der verschiedensten Strategiebesprechungen hatte anstarren müssen. Das Son Rim Plateau war da eher klein und unscheinbar gewesen, so winzig, dass es fast schon verwunderlich war, dass es wirklich als eigene Nation galt. Seine Bewohner waren nicht aggressiv und führten keinen Krieg, deswegen war es für Yuuto bislang unwichtig gewesen, etwas darüber zu wissen. Aber einige Dinge darüber konnte er auch einfach aus den Dingen schlussfolgern, die er bereits bezüglich anderer Regionen gelernt hatte. In Malorigan, zum Beispiel, war es heiß gewesen, sehr heiß sogar, es war eine Wüste und das war so, weil es dort wenig Mana gab, so dass dort kaum etwas wuchs. „Wenn es dort kalt ist und viel Schnee gibt...“, begann er plötzlich, „gibt es dort dann besonders viel Mana?“ Esperia lächelte wohlwollend und mit einem Hauch von Stolz, da er immerhin so etwas wie ihr Lehrling war. „Das ist richtig. Die Konzentration an Mana ist dort besonders hoch und natürlich haben blaue Spirits dort einen beträchtlichen Vorteil im Kampf, während rote Spirits einen nicht zu unterschätzenden Nachteil haben.“ Yuuto fühlte sich ebenfalls ein wenig stolz darüber, dass er sich so etwas selbst erschließen konnte. Aber seine Freude darüber verging sofort wieder, als sie in Youtias Labor traten und er das Schmunzeln der Wissenschaftlerin sah. „Ah, Yuuto, hattest du zur Abwechslung mal einen lichten Moment oder warum grinst du so stolz?“ Sofort zog er verärgert seine Brauen zusammen. „Ich bin nicht zum Diskutieren hergekommen, Youtia.“ „Denkst du, das weiß ich nicht?“, erwiderte sie empört, dann grinste sie wieder. „Außerdem würdest du in einem geistigen Duell mit mir ohnehin nur verlieren.“ Er erwiderte darauf nichts mehr und überließ es lieber Esperia, weiterzusprechen: „Youtia-sama, wir haben eine neue Mission bekommen.“ Die Wissenschaftlerin nickte wissend. „Ich weiß, ich weiß. Eure Reise führt euch nach Sosuras, damit ihr diesen Mordfall untersuchen könnt. Wir werden euch mit Ether Jump schon hinbringen, nur keine Sorge.“ „Haben wir dort denn einen Client?“, fragte Yuuto. Youtia runzelte missbilligend die Stirn und wandte sich wieder ihm zu. „Natürlich haben wir dort einen, wir sind immerhin perfekt vorbereitet.“ Yuuto hasste den Ton, in dem sie ihm das mitteilte. Es war so überheblich und arrogant, der Ton einer Person, die wusste, dass sie besser war als alle andern und das auch jeden wissen lassen musste, egal wie lange oder kurz sie sich kannten. Genau genommen war sie wie Shun – nur dass Youtia auch einen guten Grund dafür hatte. Yuuto zweifelte nicht an ihren Fähigkeiten, er gab neidlos zu, dass sie ein Genie war, aber musste sie das dauernd auf diese Art und Weise demonstrieren? Abschätzig musterte sie jeden einzelnen. „Wollt ihr wirklich so gehen?“ „Wir haben ohnehin nicht vor, lange zu bleiben“, erwiderte Yuuto. Dieses Mal kommentierte sie es nicht, wohl auch deswegen, weil Orupha ihr das Wort abschnitt. Der rote Spirit breitete die Arme aus, ehe sie fröhlich „Aber ich will im Schnee spielen!“ krähte. „Ich habe noch nie Schnee gesehen!“, fügte sie erklärend hinzu. Esperia wollte sie gerade deswegen maßregeln, aber Yuuto tätschelte lächelnd ihren Kopf. „Wir werden sehen, vielleicht bauen wir zusammen sogar einen Schneemann.“ „Oh ja!“, kam es fröhlich von ihr, auch wenn er davon überzeugt war, dass sie keine Ahnung hatte, was das eigentlich bedeuten sollte. Youtia schob schmollend die Unterlippe vor, allerdings nur für einen Moment, dann schmunzelte sie wieder, so wie jedes Mal, wenn sie zufrieden war. „Okay, okay, schon verstanden. Dann kommt mal mit, Io wartet bestimmt schon auf uns.“ Ein Zustand, den der weiße Spirit mit Sicherheit schon gewohnt war, immerhin war sie bereits seit Jahren bei Youtia und so wie Yuuto es sah, war sie schon immer so gewesen – und sie würde sich mit Sicherheit auch nie ändern. Wie hielt Io das nur aus? „Feen können sehr anpassungsfähig sein“, erklärte 'Motome'. „Und manchmal entwickeln sie regelrecht so etwas wie Liebe denen gegenüber, die sie nicht mit Verachtung strafen. Egal, wie seltsam es für andere aussehen mag.“ Yuuto wusste einen Moment lang nicht, was 'Motome' ihm damit sagen wollte, bezog es dann aber sofort auf sich und Aselia. He, Aselia und ich lieben uns gegenseitig! Das ist mehr als nur nicht-mit-Verachtung-strafen! Das Shinken lachte amüsiert. „Wer sagt denn, dass ich von euch beiden spreche?“ Peinlich berührt, blieb Yuuto ihm jede Antwort schuldig, worauf es amüsiert fortfuhr: „Wer sich den Schuh anzieht...“ „Blödes Schwert“, grummelte Yuuto leise, wofür er wieder einen stechenden Kopfschmerz erntete. Aselia, die neben ihm lief, warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. Er lächelte ihr beruhigend zu, damit sie sich keine Sorgen machte und kümmerte sich dann nicht weiter darum. Diese Mission behagte ihm nicht, immer noch nicht, aber er würde sie zu einem guten Ende führen, das versprach er sich innerlich selbst, während er dem Weg zum ansässigen Ether Jump Server zurücklegte. Kapitel 3: Sosuras ------------------ Somas Lektionen waren hart. Lia fand sich oft unfähig, diese wirklich zu befolgen. Er verlangte von ihr absolute Gehorsamkeit, nicht nachzudenken, sondern jedem seiner Befehle zu gehorchen, ohne sie zu hinterfragen. Es fiel ihr schwer, denn ihr alter Ausbilder hatte ihr beigebracht, zu denken und Entscheidungen zu treffen, die dem Wohle der Menschheit dienten. Aber Soma verlangte, Menschen anzugreifen, wenn er es befahl. Sie verstand nicht, warum er so etwas verlangen könnte, aber jedes Mal, wenn sie ihm versicherte, dass sie ihm gehorchen würde, bekam sie dafür eine Süßigkeit. Bislang hatte sie nie Süßigkeiten essen dürfen, ihr Ausbilder war davon ausgegangen, dass Süßes sie träge machen würde. Mit Sicherheit stimmte das auch, wenn sie zu viel davon essen würde, aber Soma gab ihr nur wenig davon. Gerade genug, um sie danach regelrecht süchtig zu machen und sie nach mehr verlangen zu lassen. Deswegen tat sie alles, was er wollte. Auch als sie bemerkte, dass sie offenbar nichts Besonderes für ihn war, denn er kümmerte sich auch um die anderen Spirits, nahm sich ihrer an und gab ihnen Süßigkeiten. Aber das änderte nichts daran, dass sie geradezu an seinen Lippen hing und jeden seiner Befehle ausführte. Auch als er von ihr verlangte, Rask zu töten, der ebenfalls mit der Ausbildung von Spirits betraut worden war. Sie fühlte keinerlei Bedauern, als sie das tat, aber warum auch? Immerhin hatte er es gewagt, Soma-sama zu bedrohen und für einen kurzen Moment hatte sie tatsächlich befürchtet, dass er ihr ihren Meister wegnehmen könnte. Deswegen hatte sie ihn getötete und sie hatte es nicht bereut, auch nicht, als sie gemeinsam mit Soma und den anderen Spirits Rakios den Rücken kehrte, um nach Sargios zu fliehen. Sie war bei Soma und nur das war wichtig, selbst dann noch als sie im Auftrag Sargios' gegen Rakios vorgingen. Aber es ging ihr schon lange nicht mehr um die Süßigkeiten, etwas anderes, weitaus Wichtigeres war an die Stelle ihrer Belohnung getreten. Ich werde alles tun, was Soma-sama von mir verlangt. Einfach alles. Eiskalt war noch untertrieben. Als Yuutos Bewusstsein in Sosuras erwachte, überkam ihn das Gefühl als würde er jeden Moment erfrieren, wenn er noch lange blieb. Dabei trug er bereits die Jacke seiner Schuluniform und darüber noch den Mantel, den er in Rakios bekommen hatte, als er deren Etranger geworden war. Er fragte sich, wie man in dieser unwirtlichen Gegend nur sein ganzes Leben verbringen konnte – und stellte diese Frage sofort an Esperia. Nachdenklich legte sie den Finger an ihre Lippen. „Heute ist es noch vergleichsweise warm. Es war schon kälter auf dem Plateau.“ Er blickte sie mit unverhohlenem Unglauben an, bis er von Orupha abgelenkt wurde. Der rote Spirit hatte Tränen in den Augen und zitterte erbärmlich. „Mir ist so kalt.“ Uruka nickte zustimmend. „Es ist wirklich nicht sehr angenehm, Orupha-dono.“ Die einzige, die von dieser Kälte absolut nicht beeindruckt schien, war Aselia, die sogar ein wenig lächelte. Aber als blauer Spirit war das auch nicht weiter verwunderlich, wie Yuuto wusste. „Und was tun wir jetzt?“, fragte er. „Könnt ihr den feindlichen Spirit spüren?“ Er konzentrierte sich ebenfalls auf die Energie eines ihm unbekannten Shinken, aber es war nichts zu spüren. Weder ein fremdes Shinken noch eine Feindseligkeit irgendwelcher Art. Seine Begleiterinnen schüttelten die Köpfe. „Nichts.“ Yuuto sah Esperia ratlos an, da sie meist diejenige war, die ihm sagte, was zu tun war – und auch dieses Mal ließ sie ihn nicht im Stich: „Wir sollten versuchen, herauszufinden, wer den feindlichen Spirit gesehen hat und wo das war und dann setzen wir unsere Suche dort fort.“ Yuuto war regelrecht erleichtert, als er diesen Vorschlag hörte und ihn auch direkt abnickte. „Machen wir uns auf die Suche.“ Damit setzten sie sich in Bewegung. Sosuras war nur ein kleines, ein wenig verschlafenes Dorf, wie es aussah. Schnee bedeckte die Dächer, aber auf den Wegen wurde er offenbar regelmäßig fortgeräumt, damit man nicht knöcheltief hindurchwaten musste. Nur wenige Menschen waren unterwegs und jene, die es waren, hielten nicht inne, sondern liefen schnell, um der Kälte zu entfliehen. Sie warfen neugierige Blicke zu Yuuto und den Spirits, keiner von ihnen schien auch nur den kleinsten Argwohn zu hegen oder Angst zu empfinden. Aber auch keiner von ihnen blieb stehen, um eventuelle Fragen zu beantworten. Keiner, außer ein Junge, der sich gegen eine Hauswand drückte und der Aselia mit einer Mischung aus Furcht und Wut ansah. Er schien der einzige zu sein, der ihnen möglicherweise helfen könnte. Yuuto gab ihnen zu verstehen, dass sie warten sollten und ging zu dem Jungen hinüber. „He, Kleiner.“ Nur widerwillig wandte der Junge den Blick von Aselia ab, um Yuuto anzusehen. „Was ist?“ „Du hast den feindlichen Spirit gesehen, stimmt's?“ Der Junge runzelte seine Stirn und nickte zustimmend. „Habe ich. Er hat meine Schwester getötet!“ „Wir kommen aus Rakios, um den Spirit zu fangen.“ Bei diesen Worten hellte sich das Gesicht des Jungen auf. „Ja, wirklich?“ Yuuto nickte. „Kannst du mir sagen, wo du diesem Spirit begegnet bist? Wir haben im Moment keinen Anhaltspunkt.“ Es war gut möglich, dass sie bereits das Land, möglicherweise sogar den Kontinent, verlassen hatte und deswegen nichts spürbar war, aber vielleicht wollte der Spirit sie das auch nur glauben lassen. Sie mussten alles tun, was in ihrer Macht stand, um herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Der Junge nickte sofort. „Natürlich kann ich das, solange ihr diesen Spirit dafür bestraft.“ Unverhohlener Hass flammte in seinen Augen auf und Yuuto konnte ihm das nicht einmal verübeln. Aber dennoch, er war sich sicher, dass der Spirit einen Grund haben musste, um Menschen anzugreifen und er würde herausfinden, was der Grund war. „Dann tu das bitte.“ Der Junge nickte noch einmal und wartete darauf, dass Yuuto die Spirits mit sich winkte. Orupha kam sofort herübergestürmt, um den Jungen zu begrüßen. „Hallo, du!“ Er blickte sie nicht sonderlich begeistert an, was sie mit Verwirrung erfüllte. Als junger Spirit besaß sie einen speziellen Draht zu Kindern, aber die offene Abneigung dieses Jungen gegenüber Spirits irritierte sie offenbar ein wenig. Normalerweise, so wusste Yuuto, waren Kinder ihnen gegenüber aufgeschlossen, die Erwachsenen waren es, die ihnen mit Angst und dem daraus resultierenden Hass begegneten. Aber dieser Junge war Zeuge geworden, wie eine ihm nahestehende Person von einem Spirit getötet worden war, daher konnte Yuuto dieses Gefühl nachvollziehen. Würde das Gefühl nicht besänftigt werden, war zweifellos sicher, dass er zu einem Erwachsenen heranreifen würde, der Spirits verabscheute und dann würde er über kurz oder lang ein Vater werden, der seinen Kindern lehrte, dass es richtig sei, Spirits zu hassen. Früher hatte Yuuto sich noch nie Gedanken darum gemacht, was Furcht alles anrichten konnte, aber seit er mit den Spirits zusammen lebte, dachte er wesentlich mehr über solche Dinge nach. Ohne auch nur ein Wort an die Spirits zu richten, führte der Junge sie durch die Stadt. Die Gebäude weckten in Yuuto die Überlegung, ob es wirklich gut war, in einer solchen Gegend Häuser aus Stein zu bauen. Stein neigte dazu, schnell zu verkühlen und war dann nur schwer wieder warm zu bekommen. Holz war warm, aber die Gefahr, das gesamte Haus abzubrennen war jederzeit gegeben. Vermutlich war es diese Begründung gewesen, die alle von Steinhäusern überzeugt hatten. Die Gedanken lenkten ihn von der Kälte ab, was er auch gut gebrauchen konnte. Die Sonne hatte inzwischen ihren höchsten Stand im Süden erreicht, aber sie erschien hinter den hellen Wolken nur wie ein milchiger Fleck, der nicht imstande war, Wärme zu spenden und auch mit seinem Licht nur zurückhaltend war. Nein, für Yuuto war diese Gegend absolut nichts, was er sich zum Leben vorstellte. Ein wenig wehmütig dachte er an seine Heimat zurück. Selbst im Dezember war es nur selten so kalt geworden, dass er oder Kaori Mäntel anziehen mussten oder dass Schnee gefallen wäre. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie hoch die Heizkosten ansonsten geworden wären. In Rakios würde er sich selbst nach dem Krieg keine Sorgen darum machen müssen. Aber dennoch war er entschlossen, mit Kaori zurück nach Hause zu gehen. Er warf einen Seitenblick zu Aselia, die neben ihm lief. Ihr würde er auch noch sagen müssen, dass er wieder nach Hause ging, er musste noch überlegen, wie er das am besten bewerkstelligen sollte. Aber vorerst war der Spirit wichtiger und so folgte er dem Jungen weiter, ohne etwas zu sagen. Kapitel 4: Menschlichkeit ------------------------- In Sargios wurde das Leben schlimmer. Spirits wurden dort noch mehr verachtet als in Rakios, selbst der Herrscher hielt nichts von ihnen und ließ sie bis zur Erschöpfung allerlei Arbeiten erledigen, von denen sie in anderen Ländern ferngehalten wurden. Soma schien sich nicht darum zu kümmern, auch nicht um Lia, die sich rasch überfordert fühlte und sogar Verletzungen davontrug. Sie ertrug das alles, damit Soma sie weiterhin lobte, aber er schenkte ihr nicht einmal mehr einen Blick, sondern widmete seine ganze Aufmerksamkeit jenen Spirits, die ihm in Sargios unterstellt worden waren. Allein der Gedanke, dass sie sich eines Tages in Manastaub auflösen und ihn das vollkommen kalt lassen würde, machte sie geradezu wahnsinnig. So sehr, dass sie bei einem Ausflug Somas nach Malorigan, wohin sie ihn begleitete, schließlich die Nerven verlor. „Soma-sama...“ Er hielt inne und wandte ihr das Gesicht zu. Sein herablassender Blick, der ihr sonst Respekt einflößte, schaffte dies heute nicht. Vor kurzem waren sie Spirits aus Rakios begegnet; Esperia, mit der sie in den Baracken zusammengelebt hatte; Selia, mit der sie im Ausbildungslager gewesen war und Aselia, die aufgrund des Namens vermutlich aus demselben Lager stammte. Diese Begegnung hatte ihr klargemacht, dass Soma im Laufe des Krieges sterben würde und sie auch, die Entschlossenheit ihrer Feinde war geradezu greifbar gewesen. Sie musste das verhindern, ob er wollte oder nicht. „Was ist? Nun sprich!“ Seine gereizte Stimme weckte sie aus ihren Überlegungen. „Soma-sama, bitte, lasst uns den Krieg vergessen und fortgehen!“ Er runzelte die Stirn. „Was erlaubst du dir eigentlich? Du bist ein Spirit, es steht dir nicht zu, so mit mir zu sprechen! Du lebst nur für den Krieg!“ „Es geht auch nicht um mich, sondern um Euch!“, fuhr sie verzweifelt fort. „Ich möchte nicht, dass Ihr sterbt!“ „Du bist paranoid.“ Er machte ein verachtendes Geräusch und wandte sich dann von ihr ab, um weiterzugehen. Er glaubt mir nicht, fuhr es durch ihren Kopf. Er wird sterben, wenn ich es nicht verhindere. Sie zog ihr Shinken, während er arglos weiterging. In ihrem Kopf existierte nur noch der Gedanke, dass sie etwas tun musste, sie musste verhindern, dass ihm etwas geschah. Damit stürzte sie mit erhobener Klinge vor. „Verzeiht mir, Soma-sama!“ Der Junge führte sie zu einem kleinen Schneehügel. Bei näherer Betrachtung bemerkte Yuuto, dass es sich dabei um Holz handelte, das achtlos fallengelassen worden war, wonach sich Schnee darauf gelegt hatte. An dieser Stelle musste der Junge beobachtet haben, wie der Spirit seine Schwester umbrachte. Er deutete zwischen die Bäume. „Der Spirit ist dorthin verschwunden. Ihr könnt ihm folgen.“ Yuuto nickte. „Du wartest hier besser. Oder nein, geh lieber wieder nach Sosuras zurück. Wir schaffen das bestimmt ohne dich.“ Der Junge sah ihn noch einmal mit undurchdringlichem Blick an, dann fuhr er grußlos herum und ging davon. „Können wir ihn wirklich einfach so gehen lassen?“, fragte Esperia. „Er kennt sich hier besser aus als wir“, erwiderte Yuuto. „Er wird schon heil ankommen.“ Ohne noch etwas zu sagen, ging er auf die Bäume zu. Schnee fiel herab, als er sich an den Ästen vorbeischob, fiel auf seinen Kragen und schmolz dort zu Wasser, das ihm unangenehm kalt den Rücken hinablief. Die Spirits folgten ihm, ohne dass er ihnen die Anweisung dazu geben musste. Inmitten der Bäume entdeckte er keinen Spirit, aber er konnte abgerissene Äste sehen, die ihm zeigten, in welche Richtung er gehen musste. Zuerst konnte er nichts spüren, aber nach wenigen Schritten bemerkte er plötzlich tatsächlich die Anwesenheit eines weiteren Shinken, das er nicht kannte. Eine überraschend starke Woge des Hasses ging von diesem aus, die anderen Spirits bemerkten ihn ebenfalls und griffen sofort nach ihren Waffen. Die Energie näherte sich ihnen nicht, deswegen zog Yuuto sein Shinken und ging vorsichtig weiter. Jenseits der Bäume entdeckte er eine Höhle, die offenbar ihr Ziel darstellte. „Neben der Fee ist auch ein Mensch dort.“ 'Motomes' plötzlicher Kommentar ließ Yuuto innehalten. „Aber die Energie der beiden ist fast erschöpft.“ Nach wenigen Schritten war es ihnen möglich, jemanden zu sehen. Ein blauhaariger Spirit saß dort auf dem Boden und strich immer wieder einem Mann über den Kopf, der auf ihrem Schoß gebettet war. Dabei summte sie leise. Den Spirit erkannte Yuuto nicht, aber durchaus den Mann. Das ist Soma Ru Soma. Esperia blinzelte. „Lia?“ Erst als sie diesen Namen sagte, hielt der fremde Spirit inne und wandte ihnen den Kopf zu. Ihre Augen waren gespenstisch leer, sie stand kurz davor, ihre Seele zu verlieren. Yuuto hasste diesen Anblick und war deswegen bemüht, ihn bei dem ihn unterstellten Spirits zu vermeiden. „Esperia...“ Lias Stimme klang kraftlos, aber immerhin war es ihr noch möglich, sie zu erkennen. Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck, er wurde ängstlich, panisch fast. Sie drückte Soma an sich, worauf dieser ein schmerzerfülltes Keuchen von sich gab. „Ihr dürft mir Soma-sama nicht wegnehmen! Er gehört mir!“ Yuuto war ein wenig verwundert, dass Soma sich nicht wehrte. Sein Blick wanderte an dem Mann hinab, er wurde blass, als er bemerkte, dass seine Beine in einem ungesunden Winkel abstanden und seine Kleidung blutgetränkt war. „W-was hast du mit ihm gemacht?“ Orupha sog schockiert die Luft ein. „Du hast einen Menschen verletzt! Das ist nicht in Ordnung!“ Esperia und Uruka wirkten sogar ein wenig erleichtert, offenbar hatten sie keine guten Erfahrungen mit diesem Mann gemacht, Aselia war so unbeteiligt wie immer. Offenbar erkannte Lia nun die Bedrohung in ihnen, denn sie ließ Somas Kopf achtlos zu Boden fallen und stand auf. Ihr Körper und ihr Shinken leuchteten in einem unheimlichen blauen Licht, das Yuuto automatisch ein wenig zurückweichen ließ. Ihre Stärke schien sich plötzlich mindestens verdoppelt zu haben, sie musste wirklich glauben, dass sie ihn gegen eine Bedrohung beschützen müsste. „Wir sollten es besser schnell hinter uns bringen, Yuuto-dono“, sagte Uruka. Er wollte ihr zustimmen, aber er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Sein Blick war stur auf die Augen Lias gerichtet, die plötzlich nicht mehr leer, sondern voller Leben, nein, Hass, waren. Doch mit einem Blinzeln von ihr, schwand auch diese Emotion und zurück blieben nur die leeren Augen, die davon zeugten, dass sie ihre Seele verloren hatte. Schwarze Flügel sprossen aus ihrem Rücken, als sie zu einem Angriff ansetzte. Sie stürzte überraschend schnell auf Yuuto zu, doch es gelang ihm dennoch rechtzeitig, sein Schild aufzubauen. Sie prallte mit einem schmerzhaften Knacken daran ab, aber es kümmerte sie nicht weiter, als sie sich wieder aufrichtete. Orupha schnaubte wütend und konzentrierte sich auf das Mana, das um sie herum existierte. Es sammelte sich, wandelte sich in rotes Mana, erzeugte Hitze, Orupha deutete mit den Handflächen auf Lia. „Apocalypse!“ Trotz der Kälte schoss eine erstaunlich kräftige Flammenwand dem feindlichen Spirit entgegen, schmolz den Schnee, versengte die umliegenden Bäume. Lia machte keine Anstalten, diesen Zauber zu kontern, stolz und mit erhobenem Kopf stand sie inmitten der Flammen und Yuuto konnte nicht anders als ihr eingeschüchtert entgegen zu sehen. Plötzlich schoss sie vor, sprang durch die Flammenwand und griff wieder an. Aselia erkannte, dass Yuuto sich nicht bewegen würde und fing das angreifende Schwert ab. Uruka nutzte den Moment und griff nun selbst an, aber selbst ihren gewohnt schnellen Hieben konnte Lia ausweichen. Ihr eigener neuer Angriff wurde von Esperias Schild abgewehrt. Die Wucht des Aufpralls ließ sie rückwärts fallen und auf Soma aufkommen, der inzwischen nichts mehr von sich gab. Alle seiner verbündeten Spirits blickten zu Yuuto, der wusste, dass sie von ihm erwarteten, etwas zu tun, möglicherweise sogar den letzten Hieb auszuführen, aber er konnte nicht anders als zu zögern. Das Feuer war inzwischen mangels Nahrung wieder erloschen, so dass er einen ungehinderten Blick auf Lia bekam und er konnte nicht anders als Mitleid mit ihr zu verspüren. Sie wollte nur Soma beschützen, der ihr aus welchem Grund auch immer, viel bedeutete. Sie war nicht böse, aber dennoch war bereits so viel von ihrer Seele verloren, dass er wusste, dass jedes Wort sinnlos war. Und doch konnte er sie nicht angreifen, sie war unschuldig, noch mehr als die anderen Spirits, so schien es ihm. Lia richtete sich auf und wollte wieder angreifen, bemerkte dann aber, dass sie in einer Blutlache stand. Sie hielt inne und – Yuuto konnte es kaum fassen – plötzlich kehrte das Leben wieder in ihre Augen zurück. „Soma-sama!“ Mit einem Laut der Bestürzung fiel sie auf die Knie und rüttelte an seiner Schulter. „Soma-sama!“ Er rührte sich nicht mehr, aufgrund des immensen Blutverlusts konnte Yuuto auch ohne näher bei ihm zu stehen sehen, dass er tot sein musste. Nicht, dass er den Tod dieses Mannes, der sein Feind gewesen war, betrauerte, aber es tat ihm um Lia Leid. Ihr war deutlich anzusehen, dass der Verlust sie schmerzte. Das unmenschliche Heulen, das sie ausstieß, verstärkte diesen Eindruck noch einmal. Da er immer noch nichts tat, übernahm Esperia wieder den Befehl über die Einheit. „Aselia.“ Sie nickte und stürmte mit erhobenem Shinken vor. Oft, sehr oft sogar, hatte Yuuto inzwischen gesehen, wie Spirits sich in Manafunken auflösten, die in die Luft stiegen und schließlich verschwanden, um zu ihrem Ursprung zurückzukehren und als neuer Spirit geboren zu werden. Aber noch nie hatte er sich so traurig und bestürzt gefühlt wie in diesem Moment. „Sie hat ihn wirklich geliebt.“ Seine tonlose Stimme verriet nichts von seinen Gefühlen. „Sie hat ihn geliebt... und ihn verletzt, damit er sie nicht verlässt.“ Woher er diese Gewissheit nahm, wusste er nicht, vermutlich war es ein von 'Motome' eingeimpfter Gedanke, aber er machte sich nicht die Mühe, lange darüber nachzudenken. Aselia, die neben ihm stand, nickte. „Hnn...“ „Würdest du das auch tun, wenn ich dich verlassen würde?“ Zur Antwort legte sie eine Hand auf ihr Herz und neigte den Kopf. Er wusste, dass es bedeutete, dass sie sich nicht sicher war, weil sie ihre Emotionen in einem solchen Fall nicht einschätzen konnte. „Bleib einfach bei mir, dann passiert es auf jeden Fall nicht.“ Sie lächelte über ihre einfache Logik, ihm war nicht im Mindesten danach. „Sie war im letzten Moment wieder sie selbst...“ Doch Esperia, die nicht weit entfernt stand, schüttelte sanft mit dem Kopf. „Nein, nicht wirklich. Das war nur noch ein kurzes Aufflackern. Sie wäre nicht mehr normal geworden, nicht ohne... ihn.“ Sie vermied es, den Namen auszusprechen oder ihn auch nur anzusehen. „Dann gab es nichts, was wir hätten tun können?“ „Gar nichts“, bestätigte Esperia. „Sie hat ihre Wahl selbst getroffen.“ Yuuto stieß ein schweres Seufzen aus. „Dann gehen wir.“ Damit fuhr er herum und ging langsam davon, er fühlte sich immer noch wie betäubt. Orupha sprang fröhlich lächelnd auf ihn zu. „Papa, Papa! Bauen wir jetzt einen Schneemann?“ Er lachte leise, dann tätschelte er ihren Kopf. „Sicher, ich habe es dir ja versprochen.“ Orupha schaffte es mit ihrem fröhlichen Wesen stets, ihn wieder aufzumuntern. Einen Schneemann zu bauen wäre vielleicht eine gute Idee, wenn er so darüber nachdachte. Das hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht, zuletzt als er noch ein Kind gewesen war. „Mal schauen, ob ich mich überhaupt noch daran erinnere, wie das funktioniert.“ Mit immer noch schwerem Herzen, aber nun zumindest lächelnd, setzte er mit seinen Spirits den Rückweg an. Aber egal, was noch geschehen würde, er war sich sicher, dieses kurze Erlebnis nicht einfach so zu vergessen. Epilog: Wärme ------------- Sie kannte diese Wärme. Menschen erinnerten sich nicht an das, was vor ihrer Geburt geschehen war, aber Spirits taten es, selbst wenn es nur unbewusst war. Jeder Spirit erinnerte sich an das warme, wohltuende Gefühl, das sie umgab, wenn sie sich an ihrem Ursprung befanden. Die Wärme war angenehm, verleitete einen dazu, ewig zu schlafen, wenn das denn möglich wäre. Man wollte sich niemals davon trennen, sondern für immer und ewig in diesem Gefühl schwelgen. Diese Wärme war wie die Liebe einer Mutter, die jedem Spirit stets fremdgeblieben war. Sie wurden nicht wie Menschen geboren, sie entstanden aus dem Willen eines Shinken heraus, trennten sich von dessen Mana ab und wurden dann eigenständige Wesen, die nach ihrem Tod wieder zu einem Teil dieses Shinken wurden. Deswegen kannte sie diese Wärme, die sie fast schon nostalgisch werden ließ, obwohl sie im Moment nicht einmal mehr wusste, was dieses Wort bedeutete. Und sie liebte diese Wärme, von der sie sich nie mehr trennen wollte. Sie vergaß all ihren Hass, ihren Zorn, ihr Unverständnis und auch ihre Angst, während das Bewusstsein namens Lia sich zerstreute, um zu einem neuen Wesen zu werden. Aber was sie dennoch nie vergaß und an jedem einzelnen Funken haften blieb, war die Liebe, die sie zu Soma empfunden hatte, auch wenn es keine sonderlich gesunde Form davon gewesen war. Es war die einzige Art von Liebe, die ein Spirit wie sie hatte empfinden können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)