Die letzten Worte von Nugua ================================================================================ Die letzten Worte ----------------- Prolog Es war das letzte Wort, das sie miteinander teilten, bevor die Katastrophe endgültig über sie hereinbrach: „Lebwohl“. Kallen hatte ihn geküsst, verzweifelt und hilflos, auf der Suche nach einer Antwort, einem Grund, einer Emotion, irgendeiner Reaktion. Die Lippen des Königs blieben kalt, das Gesicht ausdruckslos, der Kuss unerwidert. „Lebwohl, Lelouch“, hatte Kallen gesagt, in der traurigen Gewissheit, dass dieser Abschied endgültig war. „Lebwohl, Kallen“, hatte Lelouch gesagt, in der traurigen Gewissheit, dass es kein Zurück mehr gab. Seine Worte waren nur ein leises Flüstern, ein eisiger Hauch, der ihr eine Gänsehaut über die Arme trieb. Sie war sich hinterher nicht einmal sicher, ob er wirklich gesprochen hatte, oder ob sie es sich in ihrer Verzweiflung einfach nur eingebildet hatte. Kallen hatte sich abgewandt und Lelouch, grausam wie er war, hatte sie gehen lassen. Genau wie damals, als die Black Knights Zeros Identität aufgedeckt hatten. Genau wie damals, als sie im grellen Scheinwerferlicht standen, umringt von anklagenden Gesichtern. Lelouch hatte sie belogen und verspottet, damit sie endlich aus der Schusslinie trat, damit Tohdoh sich nicht gezwungen sah, sie beide niederzuschießen. Und Kallen, blind wie sie war, hatte sich von ihm abgewandt. „Kallen, du musst überleben“, hatte er geflüstert. Ein eisiger Hauch, der ihr eine Gänsehaut über die Arme trieb. Es war bittere Ironie, dass sie seine wahren Absichten in beiden Fällen erst durchschauen konnte, als es bereits zu spät war. Wenige Wochen nach ihrem Kuss hatte Kallen in einer Zelle seines Kerkers gesessen. „Ich hasse dich!“, hatte sie geschrien. „Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!“ Lelouch hatte gelacht, dasselbe falsche Lachen, das sie schon so oft von ihm gehört hatte. Er war den Gang des Kerkers entlang stolziert, ein toter Mann unter der Fassade eines machtgierigen Diktators, vorbei an all den Menschen, die er verraten hatte. „Ich hasse dich!“, hatte Kallen geschrien. Die letzten Worte, die er von ihr zu hören bekam. Und Lelouch hatte gelacht. Eins Zwei Tage nach dem Zero Requiem erhielt Nunnally eine Nachricht von Jeremiah, die Lelouchs letzten Willen enthielt. Lelouch wollte anonym an einem ganz bestimmten Ort begraben werden und Nunnally sollte als Einzige von diesem Ort erfahren. Nunnally respektierte einen Teil des Wunsches und erlaubte Jeremiah, die Leiche ihres Bruders dort zu bestatten. Den zweiten Teil dieses Wunsches konnte Nunnally jedoch nicht berücksichtigen, und Kallen war dankbar dafür. Schließlich war Nunnally nicht die einzige Trauernde, die Lelouch zurückgelassen hatte. Drei Tage nach dem Zero Requiem stand Kallen zusammen mit Nunnally, Cornelia, Ohgi, Viletta, Tohdoh, Kaguya, Tamaki und einigen anderen Mitgliedern der Black Knights an Lelouchs Grab. Es war ein schlichtes Grab, das in keiner Weise erkennen ließ, dass dort der wahrscheinlich mächtigste und meistgehasste König der Geschichte ruhte. Kein Grabstein, kein Kreuz. Nur ein schmuckloser Holzpfahl ohne Namen, ein starker Kontrast zu all dem Prunk, der Lelouch in den letzten Wochen seines Lebens umgeben hatte. Zuerst hatte niemand von ihnen verstanden, warum Lelouch ausgerechnet diesen Ort, eine zerklüftete Klippe mitten im Nirgendwo, als seine letzte Ruhestätte auserkoren hatte, doch schon beim ersten Anblick der Grabstätte hatte die Erkenntnis Kallen wie ein Blitzschlag getroffen. Denn direkt neben Lelouchs Grab befand sich ein zweites Grab, genauso schlicht und anonym wie sein eigenes. Und an dem Holzpfahl hing, unverwechselbar für jeden, der es kannte, ein Medaillon – Rolos Medaillon. Lelouch war nicht allein. Ein tröstlicher Gedanke. Kallen trat aus der Menge heraus und ging ein paar Schritte nach vorn, bis sie direkt vor dem Grab stand. Sie starrte auf das Holz, hin- und hergerissen zwischen ihrer Wut über seinen Verrat und ihrer Trauer über seinen Tod. Und diese innere Zerrissenheit schien auf seltsame Weise angemessen zu sein. Schließlich waren ihre Gefühle für Lelouch von Anfang an widersprüchlich gewesen, nicht wahr? Also starrte sie auf das Holz und dachte an den Schüler, den sie wegen seiner Arroganz verachtet hatte. An den brillanten Strategen, den sie bewundert hatte. An den Jungen, der sich aus lauter Verzweiflung Refrain gespritzt hätte, wenn sie nicht dazwischen gegangen wäre. An den heldenhaften Visionär, der ihr und ihrem ganzen Volk neue Hoffnung geschenkt hatte. An den Jungen, der mit einem Blick aus Stahl aus dem Fenster gestarrt hatte. An den Anführer, für den sie ohne zu Zögern ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte. An den Jungen, der sie wegen einer Ohrfeige gekränkt und verstört angesehen hatte. An das Schulratsmitglied, das über das alberne Kostüm lachen musste, das Milly ihr aufgedrängt hatte. An den Bruder, der beim Anblick seiner kleinen Schwester herzerwärmend lächeln konnte. An den König, der gelacht hatte, als eine Gruppe von Aufständischen vor seinen Augen hingerichtet wurde. An den einen Menschen, dem sie ihren Traum anvertraut hatte. An den Mann, den sie geliebt hatte. An den Mann, der ihre Liebe weggeworfen hatte, um sie für ein größeres Ziel zu opfern. An den Mann, der sein eigenes Leben für die ganze Welt geopfert hatte (denn Lelouch konnte sich nicht mit halben Dingen zufrieden geben, es musste gleich die ganze Welt sein.) „Kallen, wenn das alles hier vorbei ist ... wirst du dann mit mir zusammen zur Ashford Akademie zurückkehren?“, hatte er einmal gefragt. Nun, da es endlich vorbei war, konnten sie nicht zurückkehren. Nicht gemeinsam. Sie glaubte nicht, dass sie jemals in der Lage sein würde, ihm das zu verzeihen. „Du bist jetzt Zero“, hatte sie einmal gesagt. „Du hast uns wieder Hoffnung geschenkt. Jetzt musst du auch die Verantwortung dafür übernehmen! Dieses Mal musst du deine Lüge bis zum Ende aufrecht erhalten. Du musst deine Rolle als Zero weiterspielen ... und du darfst nicht scheitern!“ Er hatte sie beim Wort genommen und bis zum Ende gelogen. Es war ihr Fehler gewesen, ihre Ignoranz, dass sie es nicht verstanden hatte. Sie glaubte nicht, dass sie jemals in der Lage sein würde, sich das zu verzeihen. Und Kallen flüsterte „Du kannst dich jetzt ausruhen, Lelouch. Wir werden dein Werk weiterführen und den Frieden, den du dieser Welt geschenkt hast, bewahren. Aber das wusstest du bereits vorher, nicht wahr? Wahrscheinlich hast du es schon vor deinem Tod genauso eingeplant. Manchmal möchte ich dich dafür hassen.“ Aber ich kann es nicht. Kallen trat in die Menge zurück, damit Tohdoh ihren Platz einnehmen und seine letzten Worte an Lelouch richten konnte. Sie war nicht imstande, diesen Worten zu lauschen. Obwohl sie von Freunden und Kameraden umringt war, nahm Kallen ihre Anwesenheit kaum war. Ihre Aufmerksamkeit galt dem strahlend blauen Himmel, dem Rauschen der Wellen und dem sanften Klingeln des Medaillons, das gegen den Holzpfahl schlug. Sie spürte eine salzige Nässe auf ihrem Gesicht. Waren es Tränen oder Überbleibsel der feuchten Meeresluft? Sie wusste es nicht. Es spielte keine Rolle. Nunnally ließ einen Papierkranich auf Lelouchs Grab legen. Er war pink, pink wie das Geass, und erst jetzt fiel Kallen auf, dass auch das Geass-Symbol die Form eines Kranichs hatte. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Pink Leidenschaft und Sehnsucht symbolisierte, aber sie war sich nicht sicher. Der Kranich wurde schon nach wenigen Sekunden von einer Böe in die Luft gehoben und über das Meer getrieben. Kallen blickte ihm nach, bis das Pink mit dem Blau des Meeres verschmolz. Nun sah das Grab wieder karg und leer aus. Sie beschloss, bei ihrem nächsten Besuch Blumen mitzubringen. Zwei Als sie die Gräber zwei Wochen später allein besuchte, waren sie bereits mit Blumen bepflanzt. Es war ein kunterbuntes Arrangement, schon aus einigen Metern Entfernung leuchteten ihr die verschiedenen Farbtupfer entgegen. Nunnally, dachte Kallen sofort. Wahrscheinlich hatte sie das Grab ihres Bruders in den letzten Tagen mehrmals besucht, trotz der wenigen Zeit, die ihr neben ihrer Arbeit blieb. Die Tapferkeit des jungen Mädchens war wirklich beeindruckend. Kallen ging vor Lelouchs Grab in die Hocke, betrachtete die Blumen genauer, nahm den Anblick der schillernden Blau-, Rot-, Gelb-, Orange-, Violett-, Magenta-, Pink- und Rosatöne in sich auf und lächelte traurig. Es war kaum möglich, ihre eignen Blumen in dieser Pracht unterzubringen, doch nach einer Weile fand sie zwei geeignete Stellen. Mit einer kleinen Schaufel grub sie zwei Löcher, in die sie ihre eigenen Blumen einpflanzte – Chrysanthemen für Lelouch, Lilien für Rolo, beide im schlichten Weiß. Für fröhlichere Farben war Kallen noch nicht bereit. Als sie fertig war, setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden und starrte unschlüssig in der Gegend herum. „Das ist so lächerlich!“, rief sie schließlich. „Ich sitze hier und rede mit einem Holzstumpf! Kannst du mich hören? Ist deine Seele ins Jenseits eingekehrt? Und wenn ja, ist sie im Himmel oder in der Hölle gelandet? Eigentlich würdest du beides verdienen.“ Ein verzweifeltes Lachen brach aus ihr heraus. Sie presste beide Hände auf ihren Mund und zwang sich ruhig durchzuatmen. Nach einigen Atemzügen konnte sie endlich ihre Fassung zurückerlangen. „Nunnally schlägt sich großartig“, sagte sie nach einer Weile. „Du kannst stolz auf sie sein. Sie wurde einstimmig zur neuen Königin von Britannia gewählt und die Leute lieben sie. Die britannischen Kolonien sind inzwischen alle wieder souveräne Einzelstaaten. Area 11 ist jetzt wieder Japan. Unser Traum ist Wirklichkeit geworden.“ Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Natürlich kann Nunnally noch nicht alles allein bewältigen. Cornelia steht ihr ständig als Beraterin zur Seite ... und der neue Zero unterstützt sie ebenfalls.“ Bei dem Gedanken daran verschwand ihr Lächeln. Kallen versuchte eigentlich immer, so wenig wie möglich über den Mann nachzudenken, der Lelouchs Platz eingenommen hatte. Sie wollte nicht über ihn reden, nicht über ihn nachdenken, den ungeheuerlichen Verdacht, der in ihrem Unterbewusstsein schwelte, nicht aussprechen. Ihren Freunden schien es leider anders zu gehen, besonders Tamaki versuchte ständig, ihr ein Gespräch über Zero aufzudrängen und zehrte damit gewaltig an ihren Nerven. Immer, wenn sie Nunnally und den Zero-Ersatz zusammen im Fernsehen sah, fiel ihr auf, wie unglaublich falsch alles an ihm war. Die Stimme. Die Wortwahl. Die Intonation. Die Gestik. Die Größe. Die Kondition. Falsch. Falsch. Falsch. Falsch, falsch, falsch! „Ohgi ist jetzt der neue Premierminister von Japan“, sagte Kallen, hauptsächlich um sich abzulenken. „Er regt sich gerne darüber auf, wie schwerfällig die diplomatischen Verhandlungen mit anderen Staaten vorangehen und dass er sich mit vielen bürokratischen Kleinigkeiten herumschlagen muss. Aber ich weiß, dass er übertreibt. Um ehrlich zu sein, habe ich ihn noch nie so glücklich gesehen. Er und Viletta wollen bald heiraten, und es dauert auch nicht mehr lange, bis ihr Kind auf die Welt kommen wird. Ist das nicht unglaublich? Ein ehemaliger japanischer Rebell und eine ehemalige britannische Ritterin! Noch vor wenigen Wochen hätte das niemand für möglich gehalten. Die Welt hat sich verändert, Lelouch. Viele Britannier sind trotz Japans Rehabilitation dort geblieben und leben nun friedlich mit den Japanern zusammen. Wenn ich heutzutage durch die Straßen von Tokio gehe, sehe ich keine Angst, keinen Hass und keine Verachtung mehr in den Augen der Menschen. Alle wirken so glücklich und unbekümmert wie schon seit Jahren nicht mehr.“ Und immer, wenn ich das sehe, frage ich mich, was um Himmels Willen mit mir nicht in Ordnung ist, weil ich ihr Glück nicht teilen kann. Drei Die Ashford Akademie wurde wieder geöffnet. Kallen zählte zu den Ersten, die sich erneut an der Schule anmeldeten, immerhin hatte sie ihren Abschluss vor ihrer Flucht nicht machen können. Sie besuchte den Unterricht und arbeitete nachmittags mit Rivalz im Schulrat zusammen, wohnte jedoch nicht wie die meisten anderen Schüler im Internat, sondern zuhause, damit sie sich auch um ihre kranke Mutter kümmern konnte. Es war tröstlich zu beobachten, wie sie sich unter Kallens Pflege allmählich von den Strapazen ihrer Refrain-﷓Sucht erholte, auch wenn es Kallen manchmal so vorkam, als würde sich ihre Mutter mehr um sie kümmern als umgekehrt. Wann immer sich Kallen nachts aus ihrem Zimmer schlich und durch die Straßen des ehemaligen Shinjuku Ghettos wanderte, weil sie nicht schlafen konnte, wartete ihre Mutter mit einem Lächeln und einem warmen Tee auf ihre Rückkehr. „Du hast diesen Jungen geliebt, nicht wahr?“, hatte sie eines Nachts gefragt. Es war erschreckend, dass schon diese simple Frage dafür sorgte, dass Kallen Tränen in die Augen schossen. Vier Noch erschreckender als ihre Tränen waren ihre Wutausbrüche, die zwar selten, aber dafür mit unberechenbarer Wucht entbrannten. Inzwischen wusste jeder in ihrem Umfeld, dass sie zu den wichtigsten Mitgliedern der Black Knights gehört hatte, aber nur wenige von ihnen wussten auch, dass Lelouch ursprünglich Zero war, und das erschwerte es ihr zusätzlich, mit seinem Tod abzuschließen. All ihre Klassenkameraden waren davon überzeugt, dass Kallen genauso glücklich und erleichtert über Lelouchs gewaltsamen Sturz sein musste wie sie selbst, und das machte sie so unglaublich wütend, dass sie diese Unwissenden am liebsten durchgeschüttelt und ihnen die Wahrheit ins Gesicht geschrien hätte. Aber natürlich tat sie das nicht, weil sie wusste, dass es ihr nur im erstem Moment Genugtuung verschaffen und dass sie es anschließend bereuen würde, Lelouchs Willen auf diese Weise zu missachten. Außerdem war es schon schwer genug gewesen, die anderen Black Knights von der Wahrheit zu überzeugen. Also lächelte sie; sie lächelte und lachte wie ein glückliches Mädchen, während ein Teil von ihr bei jedem Lächeln und jedem Lachen ein kleines bisschen mehr abstumpfte. Allmählich glaubte sie zu verstehen, wie Lelouch sich in den letzten Wochen seines Lebens gefühlt hatte, nur dass es für ihn noch hundert Mal schlimmer gewesen sein musste, weil er im Gegensatz zu ihr keine Freude, sondern Heimtücke vorgetäuscht hatte. „Kallen, kann ich ein Autogramm für meine Schwester haben? Sie ist ein großer Fan von den Black Knights und redet ständig davon, wie sehr sie dich bewundert, du bist eine richtige Heldin für sie!“ Ach, halt den Mund. Halt doch bitte einfach den Mund! Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon du da überhaupt redest! Es war unerträglich. Sie war ein Häufchen Elend, eine tickende Zeitbombe, die reinste Katastrophe. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Es war, als hätte sie ihr inneres Gleichgewicht völlig verloren und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie es wiederfinden sollte. An einem Samstagvormittag waren sie und Rivalz damit beschäftigt, das Clubhaus des Schulrats aufzuräumen. Milly, Nina und Gino halfen ihnen dabei, obwohl sie nicht mehr zur Schule gingen und somit nicht länger Mitglieder des Schulrats waren. In einem Regal lag das Schachbrett, mit dem Lelouch oft gegen sich selbst gespielt hatte. Die Figuren standen noch auf dem Brett; es wirkte fast so, als hätte er das Spiel erst vor Kurzem unterbrochen, als würde er gleich zurückkommen und weiterspielen. Doch nach einigen Sekunden fiel ihr auf, dass das Spiel bereits beendet war, weil der schwarze König vom weißen Springer mattgesetzt wurde. Wie überaus passend, dachte sie, als ihr in den Sinn kam, dass der Springer im Englischen „Knight“ genannt wurde. Wie in Trance hob sie das Schachbrett vom Regal – dann schleuderte sie es mit einem kurzen verzweifelten Aufschrei gegen die gegenüberliegende Wand. Die Figuren flogen kreiselnd durch die Luft, das Brett knallte gegen die Wand und hinterließ einen unansehnlichen Riss in der Tapete. Kallen rannte um den langen Arbeitstisch, der in der Mitte des Raums stand, herum. Sie hob das Schachbrett auf, hob es hoch über ihren Kopf und schmetterte es auf die Tischplatte. Das Schachbrett barst mit einem lauten Splittern entzwei. Ein lauter Knall und plötzlich stand Naoto nicht mehr neben ihr; plötzlich lag er in einer Lache seines eigenen Bluts und streckte mit vor Schmerz verschleiertem Blick die Hand nach ihr aus. Die eine Hälfte des Bretts rutschte vom Tisch, die andere Hälfte blieb in ihren Händen. Sie schlug noch einmal auf die Tischplatte ein. „Wir sind keine Rebellen“, sagte Zero, unbeeindruckt von den ungläubigen Blicken seiner Anhänger. „Wir sind sehr viel mehr. Wir sind Kämpfer für die Gerechtigkeit.“ Und noch einmal und noch einmal und noch einmal. Die Video-Aufnahmen, die einen Brechreiz in ihr auslösten, wann immer sie sie ansah: Prinzessin Euphemia stand vor dem Mikrophon, der Ausdruck auf ihrem Gesicht war seltsam entrückt. „Ich habe eine Bitte an alle Japaner – Würdet ihr bitte sterben?“ Dann ertönte der erste Schuss. Holzsplitter flogen in die Luft und rissen ihr Arme und Hände auf. Überall Leichen und irgendwo unter den Trümmern weinte ein Baby. Sie warf die Überreste des Schachbretts zu Boden und stampfte darauf herum. Sie schrie in das Walkie Talkie und bettelte nahezu um eine Antwort von Zero, doch alles was sie erhielt, war das wahnsinnige Lachen eines verzweifelten Jungen. Sie entdeckte den schwarzen König auf der Tischplatte, sie griff nach der Figur und hämmerte auch damit auf den Tisch ein. Sie warf sich vergeblich gegen ihre Fesseln, als der falsche Zero scheinbar mühelos Lelouchs Brust mit dem Schwert durchbohrte. Da war Blut auf Lelouchs Robe, viel zu viel Blut, und Nunnallys Schreie hallten in ihren Ohren wider, während der begeisterte Mob wie von Sinnen Zeros Namen brüllte. Der Kopf des Königs brach ab und kullerte über die lädierte Tischplatte. Er war ihr viel zu nahe, und die tiefe Verzweiflung in seinem Blick jagte ihr eine Heidenangst ein. „Dann tröste mich. Darin sollen Frauen doch gut sein, nicht wahr?“ Er legte eine Hand unter ihr Kinn und neigte den Kopf, um sie zu küssen- Mit der zerbrochenen Figur in der Hand stand Kallen vor dem Tisch, ihr Atem ging schwer, ihr Haar war wirr und Schweiß stand auf ihrer Stirn. Ihre Freunde rührten sich nicht und blickten sie mit aufgerissenen Augen an. Mehrere Sekunden lang stand sie einfach nur schweigend dort, dann ging sie zum Schrank am Ende des Raums, holte Handfeger und Müllschaufel heraus und begann, die Überreste des Schachspiels wegzuräumen. Fünf Als sie das nächste Mal die Gräber besuchte, brachte sie Milly, Rivalz und Nina mit. Es hatte sie einiges an Kraft gekostet, den Dreien alles zu erzählen, doch sie waren Lelouchs Freunde gewesen und hatten genau wie sie ein Recht darauf, Abschied von ihm zu nehmen. Da standen sie nun, schweigend und mit ernsten Gesichtern. Kallen ließ sich ein wenig zurückfallen, damit ihre Freunde genug Zeit hatten, um den Anblick zu verdauen. Nach einer Weile räusperte sich Rivalz. „Ähm .. Kallen? Was ist das?“ „Hm? Was meinst du denn?“ „Zwischen den Blumen liegt ein Teller ... mit Pizza?“ Kallen beugte sich über das Grab und traute ihren Augen kaum. Er hatte absolut recht, auf Lelouchs Grab lag ein kleiner Teller mit einem einzelnen Pizzastück, er war zwischen den vielen Blüten kaum zu erkennen. Das Pizzastück konnte noch nicht lange dort liegen, es schien frisch zu sein. „Das muss eine Hexe herbeigezaubert haben“, sagte Kallen. Dann brach sie so unverhofft in Gelächter aus, dass ihre Freunde vor Schreck vor ihr zurückzuckten. Kallen lachte und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen, dann schwenke ihr Lachen in Weinen um und sie weinte hemmungslos. Plötzlich waren Milly und Rivalz neben ihr und umarmten sie, nach kurzem Zögern reihte sich auch Nina in die Umarmung ein, und sie weinten gemeinsam. Eine sanfte Brise kam auf, brachte Rolos Medaillon in Schwingung und kühlte ihre erhitzen Gesichter. Pling, pling, stieß das Medaillon gegen das Holz. Plitsch, platsch, tropften ihre Tränen zu Boden. Interludium How did we get here, When I used to know you so well? But how did we get here? I think I know The truth is hiding in your eyes And it’s hanging on your tongue Just boiling in my blood But you think that I can’t see What kind of man that you are, If you’re a man at all Well I will figure this one out On my own (I'm screaming I love you so) On my own (My thoughts you can't decode) How did we get here, When I used to know you so well? Yeah How did we get here? I think I know Do you see what we’ve done? We’ve gone and made such fools of ourselves How did we get here, When I used to know you so well? I think I know I think I know There is something I see in you It might kill me, But I want it to be true - Ausschnitt aus „Decode“ von Paramore Sechs „Aha, aha, aha!“ Milly drehte Kallen wie einen Kreisel um die eigene Achse und nickte dabei anerkennend. „Du siehst hinreißend aus!“ „Das hast du schon vor einer halben Stunde gesagt“, stöhnte Kallen, während sie versuchte, das Schwindelgefühl zu unterdrücken. „Kannst du jetzt endlich aufhören, an meiner Frisur rumzufummeln? Ich sehe sowieso keine Veränderung, also was auch immer du getan hast, es fällt niemandem auf.“ „Absolut hinreißend!“, wiederholte Milly, als hätte Kallen überhaupt nichts gesagt. „Dieses Kleid passt perfekt zu dir! Damit könntest du sogar der Braut Konkurrenz machen!“ „Um Himmels Willen, lass das nicht Viletta hören!“ „Aber vielleicht solltest du doch lieber die anderen Schuhe anziehen.“ „Hast du nicht erst vor einer Stunde gesagt, dass diese Schuhe hier absolut perfekt und definitiv die richtigen sind?!“ „Hmmm, andererseits bringen diese Stilettos deine Waden erst richtig zur Geltung ...“ Es war, als würde sie gegen eine Wand anreden. Eine äußerst lästige Wand, wohlgemerkt. „Ja, ich habe mich entschieden, wir bleiben doch lieber bei den Stilettos. Gino wird begeistert sein! Heute musst du aber unbedingt mit ihm tanzen!“ „Oh nein, fang jetzt nicht schon wieder mit diesem Thema an! Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass ich nicht mit Gino ausgehen werde!“ „Aber warum denn nicht? Du magst ihn doch! Und seine Gesellschaft tut dir gut, du wirkst nicht mehr so niedergeschlagen, wenn er in der Nähe ist. Außerdem ist es total offensichtlich, dass er auf dich steht!“ Es war zum Verrücktwerden. „Ich mag Gino, aber nur als Freund. Ende der Diskussion!“ Milly grinste auf eine Weise, auf die nur Milly grinsen konnte, und stimmte einen nervigen Singsang an: „Gino-und-Kallen-sitzen-auf-nem-Baum-“ „Aaaargh, Milly!“ Kallen stürzte sich mit einem frustrierten Schrei auf ihre Freundin und versuchte, mit ihren Händen Millys nervtötenden Quasselmund zuzuhalten. Das konnte nicht lange gut gehen; Milly stolperte über die Absätze ihrer Sandalen und schon fielen beide Mädchen zu Boden. Kallen spürte, wie sich die Schleife ihres Kleids, an der Milly zuvor stundenlang rumgezupft hatte, löste. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, wählte ein ausgesprochen hektischer Tamaki ausgerechnet diesen Moment, um die Tür aufzureißen. “Habt ihr die Ringe gesehen?!“ Kallen merkte kaum, wie ihre Kinnlade herunterklappte. „Die Ringe? Bist du bescheuert? Du bist der Trauzeuge! Die Zeremonie beginnt in einer Stunde!“ „Weiß ich doch, aber ich-“ „Milly, behalt den Boden im Auge!“ Kallen hatte Tamaki bereits unter den Achseln gepackt, bevor dieser auch nur auf den Gedanken kommen konnte zu protestieren, und schüttelte ihn auf der Stelle kräftig durch. Kurz darauf purzelten mit deutlich wahrnehmbarem Klimpern zwei Ringe aus Tamakis Hosenumschlag. Milly hechtete über den Boden und fischte sie auf. Eine bedrückende Stille breitete sich aus. „Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, waren sie noch in der Hosentasche“, sagte Tamaki schließlich kleinlaut. Kallen verpasste ihm ohne Vorwarnung eine Kopfnuss. „Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hattest du noch keine Beule auf dem Kopf! Und jetzt verschwinde und pass gefälligst ein bisschen besser auf, wenn du nicht willst, dass Viletta dir den Hals umdreht! Also ehrlich“, sie seufzte entnervt, als Tamaki sich aus dem Staub gemacht hatte, „Wie konnte Ohgi nur so blöd sein, ausgerechnet ihn als Trauzeugen auszuwählen?“ „Keine Ahnung“, sagte Milly. „Wie sieht’s aus, wirst du mit Gino tanzen?“ Kallen massierte sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen. „Wir schließen einen Deal ab, in Ordnung?“, sagte sie schließlich mit mühsam beherrschter Stimme. „Ich werde einmal mit Gino ausgehen – wenn du im Gegenzug endlich aufhörst, Rivalz hinzuhalten und ebenfalls mit ihm ausgehst. Aber komm bloß nicht auf die Idee, ein Doppeldate daraus zu machen, denn das würde eindeutig damit enden, dass ich versuche dich zu umzubringen.“ Sieben Wieder einmal saß sie vor Lelouchs Grab, und an diesem Tag gab es etwas Besonderes zu erzählen. „Die Prüfungen sind jetzt vorbei“, sagte Kallen. „Und seit gestern habe ich endlich meinen Abschluss in der Tasche!“ Sie zog ein Zeugnis aus ihrer Umhängetasche und hielt es stolz in die Höhe, als stünde jemand vor ihr, dem sie es zeigen wollte. Nach einer angemessenen Zeit ließ sie das Zeugnis wieder sinken. „Die letzten Wochen waren der reinste Horror. Ich hätte dich in dieser Zeit gut gebrauchen können, weißt du das? Rivalz hat mir erzählt, dass du sehr gut darin bist, Nachhilfe zu geben ...“ Sie seufzte. „Ich muss gestehen, dass ich diesem Tag nicht gerade mit freudiger Erwartung entgegengeblickt habe. Ich wusste lange Zeit nicht, was ich nach meiner Schulausbildung eigentlich machen soll ... und wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es immer noch nicht genau. Ich hatte darüber nachgedacht, in die Politik zu gehen, aber das ist wohl doch nichts für mich. Ich bin eine Kämpferin, keine redenschwingende Diplomatin ... das überlasse ich lieber Ohgi, Kaguya und Nunnally.“ Jetzt musste sie schmunzeln. „Aber vor ein paar Tagen hatte Milly eine wundervolle Idee: Wir werden eine Weltreise unternehmen, zusammen mit Rivalz, Nina und Gino. Ich denke, das ist genau das Richtige für mich, und ich freue mich schon sehr darauf, neue Länder und Kulturen kennenzulernen ... Auch wenn es natürlich schöner gewesen wäre, wenn du mitkommen könntest ... und Shirley.“ Kallen ließ ihren Blick über das Meer schweifen, während sie nach den richtigen Worten suchte. „... Es wird allmählich besser“, sagte sie schließlich leise. „Es tut immer noch weh, an dich zu denken, aber ... nicht mehr so schlimm wie früher. Wenn ich jetzt an unsere gemeinsame Zeit zurückdenke ... muss ich manchmal auch lachen, über die schönen Dinge, die wir gemeinsam erlebt haben. Wenn ich jetzt die glücklichen Menschen auf der Straße beobachte ... bin ich nicht mehr verbittert über den Preis, den es gekostet hat, sondern freue mich über das, was wir erreicht haben. Ich war wohl so lange in meinem Leben damit beschäftigt zu kämpfen, dass ich, als der Kampf endlich vorbei war, kaum noch wusste, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Aber jetzt weiß ich es ... jetzt fange ich langsam wieder an zu leben. Das ist es auch, was du wolltest, nicht wahr? Es ist schon seltsam, dass die meisten Menschen letztendlich genau das tun, was du für sie eingeplant hast ... aber in diesem Fall ist es okay. Weil ich es selbst auch möchte.“ Sie erhob sich, ging um das Grab herum und legte eine Hand auf das Holz. „Es wird sicher eine Weile dauern, bis ich das nächste Mal vorbeischauen kann, aber ich werde dir als Entschädigung ein Souvenir aus dem Ausland mitbringen. Immer nur Blumen müssen auf Dauer ziemlich langweilig sein.“ Sie strich mit den Fingern über das Holz, zeichnete die Linien der Maserung nach und lächelte flüchtig. „Bis bald“, flüsterte sie zum Abschied. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Guren. Vor ihr lag noch eine lange Reise. Epilog „Und hier“, Kallen blätterte zu einer bestimmten Stelle des Fotoalbums, „ist das Hochzeitsfoto! Sieht die Mami in ihrem Kleid nicht wunderschön aus?“ „Mami sieht immer wunderschön aus!“, antwortete der Junge sofort, und Kallen lachte. Sie blätterte weiter, bis ihre Blicke auf ein bestimmtes Foto fielen. „Hey, den kenne ich ja gar nicht! Wer ist das?“, rief der Junge und patschte mit seinem Finger mitten aufs Foto. Es zeigte Kallen zusammen mit Milly, Rivalz und Lelouch, ein Teil von Shirleys Haarschopf war auch noch zu sehen. Kallen grinste über ihre Katzenkostüme. „Willst du das wirklich wissen?“, flüsterte Kallen verschwörerisch. „Klar doch!“, erwiderte er, und seine Augen funkelten vor Neugier – er hatte den gleichen dunklen Teint wie seine Mutter und auch die Haarfarbe ähnelte der von Viletta, aber die Augen erinnerten mehr an seinen Vater. Kallen lehnte sich zurück und lächelte. „Das ist ein ganz besonderer Freund, dem deine Eltern und ich viel verdanken. Eines Tages erzähle ich dir seine Geschichte.“ „Waaaas? Warum nicht jetzt gleich?“ „Weil du jetzt noch zu klein dafür bist!“ „Aber ich bin doch schon fünf!“ „Und deshalb bist du noch zu klein.“ Kallen versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen, hatte jedoch bei seinem trotzigen Gesichtsausdruck Schwierigkeiten, ein Lachen zu unterdrücken. „Es ist nämlich eine sehr traurige Geschichte.“ „Oh ...“ „Ja, sie ist traurig“, murmelte Kallen, als sie gedankenverloren seine Haare zerwuschelte. „Aber am Ende geht sie trotzdem gut aus.“ Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)