Der Blutmaler von Sky- ================================================================================ Kapitel 1: Kontakt ------------------ Der Tag hätte düsterer und grauer nicht sein können, als Naomi Misora von einer dreistündigen Motorradtour zurückkam und sich erst einmal aus der Lederjacke befreite. Sie war schweißgebadet durch die hohe Luftfeuchtigkeit und es donnerte bereits draußen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher und ihr Verlobter Raye saß im Sessel und schnarchte. Naomi schmunzelte und weckte ihn mit einem Kuss auf die Wange und müde rieb sich der FBI Agent die Augen. „Naomi, seit wann bist du wieder hier?“ „Ich bin gerade erst zurückgekommen. Bist du so lieb und machst Kaffee? Ich muss schleunigst unter die Dusche.“ Nur langsam stand Raye auf, kratzte sich am Kopf und schlurfte in die Küche, während Naomi zuerst in ihr Schlafzimmer ging, um sich frische Kleidung rauszulegen und anschließend ins Bad zu gehen. Diese Fahrt hatte sie wirklich gebraucht, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, nachdem sie in den Nachrichten gehört hatte, dass der berüchtigte BB-Mörder auf freien Fuß gesetzt wurde, weil den Juristen ein Fehler unterlaufen war und die Haftstrafe somit aufgehoben werden musste. Danach war er untergetaucht. Naomi hatte sich furchtbar aufgeregt, hatte sie doch ihr Herzblut in diesen Fall gesteckt, um ihn zu fassen und jetzt konnte er wieder morden, nur weil die Staatsanwaltschaft schlampig gearbeitet hatte. Verdammtes Rechtssystem, dachte sie als sie schon wieder daran denken musste. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, diesen Kerl sofort wieder ins Gefängnis zu befördern, wenn er schon wieder morden sollte. Nach einer entspannenden heißen Dusche setzte sie sich mit Raye bei einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer, um mit ihm ein wenig zu reden. „Hast du schon gewusst, dass Steven bald befördert wird?“ begann Raye und schenkte seiner Verlobten ein wenig Milch zum Kaffee ein und rührte seinen eigenen um und trank einen Schluck. Steven Kazan war ein guter Freund der beiden, zehn Jahre älter und ein richtiger Haudegen beim FBI. Er hatte seine Mannschaft mit eiserner Faust im Griff und ließ sich nichts vorschreiben, was ihm den Respekt einflößenden Titel „Iron Fist“ Kazan gebracht hatte. Vor nicht allzu langer Zeit gelang es ihm, die Engelmörderin zu schnappen, die ihren Opfern Hände und Füße amputierte, den Schädel einschlug und den Mund zunähte. Es gab keine Spuren, nicht einmal ein Haar, nur eine kleine weiße Engelfigur aus Porzellan, die die Täterin mit Blutstränen präpariert hatte. Die Mörderin war eine totgeglaubte Millionärstochter, die vor Jahren entführt und in den Selbstmord getrieben wurde und jahrelang im Koma lag. Nun hatte sie sich an ihren Entführern und Vergewaltigern gerächt und wurde in eine Psychiatrie eingewiesen. Für Naomi, die sich ebenfalls einen Namen durch die Festnahme eines berühmten Serienmörders gemacht hatte, war es frustrierend jetzt erfahren zu müssen, dass ihr Mörder jetzt als freier Mann durch die Straßen lief. Raye konnte ihr vom Gesicht ablesen, was sie beschäftigte und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Naomi, dich trifft doch keine Schuld, dass dieser Ryuzaki oder wie der Kerl sonst heißt, auf freiem Fuß ist. Ich verstehe dich gut, aber manchmal passiert so etwas einfach.“ „Ich weiß aber ich hatte echt gehofft, so ein Punkt würde nicht in meinem Führungszeugnis auftauchen, wenn du verstehst was ich meine.“ „Mindestens ein Mal muss ein FBI Agent miterleben, wie sein Festgenommener auf freien Fuß gesetzt wird, sonst war man nicht lange genug beim FBI. Da hat Steven Recht gehabt und so etwas lässt sich nicht verhindern. Dinge wie diese passieren manchmal, was willst du machen? Akzeptier es einfach.“ Manchmal hatte Naomi das Gefühl, dass Raye sie nicht wirklich verstand und das ärgerte sie. Um nicht gleich loszuschimpfen, schaltete sie den Fernseher ein wo gerade eine hübsche blonde Frau eine Meldung brachte, dass es ein neues Opfer des Blutmalers gab. „Naomi, schalt doch bitte den Fernseher aus.“ „Nein, das muss ich sehen.“ Naomi schaltete lauter und hörte interessiert zu. Von diesen bizarren Morden hatte sie bereits gehört, kannte aber die Details nicht. Sie wusste nur, dass der Mörder seinen Opfern den Kopf abschlug und mitnahm, ihnen dann vom Rücken sie Haut abtrennte und mit dem Blut des Toten nach sorgfältiger Bearbeitung der Haut ein Bild malte. Deswegen hatte man dem Mörder später nicht mehr den Henker, sondern den Blutmaler genannt. Überhaupt war die Idee, mit Blut etwas zu malen, total verrückt aber es gab so etwas tatsächlich. Dieser Blutmaler hatte sich einen zweifelhaften Ruhm erworben, malte aber stets mit seinem eigenen Blut. Naomi hatte diese Bilder gesehen und musste zugeben, dass sie wunderschön waren. Die Bilder des Täters hatte sie aber nicht gesehen, da diese nicht veröffentlicht worden waren. Der Fall klang wirklich interessant und war gleichzeitig sehr außergewöhnlich. Den Rest des Tages redeten sie nicht viel und da Raye zu einem Einsatz musste, verbrachte sie den Abend alleine. Zum Essen machte sie sich aus reinster Faulheit heraus eine Tütensuppe und schaltete das Radio an, wo gerade die Top 10 in den Charts gespielt wurden. Einer dieser Songs gefiel ihr so gut, dass sie die Melodie mitsummte und leichte Tanzbewegungen dazu machte, bis sie das Telefon ablenkte. „Hallo?“ Doch es kam keine Antwort und sofort wurde wieder aufgelegt. Seltsam, dachte Naomi kopfschüttelnd und sah auf das Display, wo „Unbekannt“ angezeigt wurde. Da musste sich jemand wohl verwählt haben. Gerade wollte sie das Telefon wieder auf die Ladestation zurückstellen, da klingelte es erneut und irgendwie wurde es ihr ein wenig unheimlich. „Hallo?“ „Lesen Sie „Das Grab der Schmetterlinge“. Es könnte Ihnen weiterhelfen.“ „Wer spricht denn da? Hören Sie, wenn das ein Scherz sein sollte…“ „Kein Scherz. Gehen Sie zu Ihrem Briefkasten, wo Sie ein Paket finden, das Ihnen vielleicht in der Mordserie des Blutmalers weiterhelfen könnte.“ Die Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor und sie ging zum Fenster um nachzusehen, ob sie beobachtet wurde. Aber selbst wenn, sie befand sich im dritten Stockwerk und von der Straße konnte man nicht hineinsehen. Außerdem war es nicht gleich gesagt, dass sie beobachtet wurde. „Würden Sie bitte die Freundlichkeit besitzen, mir Ihren Namen zu nennen?“ „Ich ziehe es lieber vor, unerkannt zu bleiben, zumindest vorläufig… bis wir uns persönlich treffen. Bis dahin zähle ich darauf, dass Sie Ihre Hausaufgaben machen. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.“ Damit legte der anonyme Anrufer auf und Naomi wusste erst einmal nicht, was sie tun sollte. Wer immer sie auch angerufen hatte, er schien wichtige Informationen zu haben und wandte sich an sie, obwohl sie den Fall gar nicht bearbeitete. Das konnte man ja fast schon als eine Art Deja-vu betrachten. Genauso hatte doch alles mit der BB-Mordserie angefangen. Konnte es vielleicht sein, dass es L war? Nein, die Wahrscheinlichkeit bestand zwar, sie war aber relativ gering, da L sicher nicht so ein Geheimnis daraus gemacht, sondern direkt die Karten auf den Tisch gelegt hätte. Nein, da hatte sie es mit jemand anderem zu tun und da sie gerne herausfinden wollte, wer es war, ging sie auf den Hausflur hinaus die Treppen hinunter, bis sie ihren Briefkasten erreichte. Da drin befand sich etwas in einen Versandumschlag verpackt, welches tatsächlich ein Buch war. Es war nicht sehr dick und fasste maximal 220 Seiten und auf dem Cover war ein toter Schmetterling zu sehen, dem ein Flügel ausgerissen worden war und neben ihm lag. „Das Grab der Schmetterlinge“, geschrieben von Ruby Miller. Soweit sie wusste, gehörte es zu den dystopischen Büchern, in denen von einer Zukunft berichtet wurde, wie sie schlimmer nicht sein könnte. In der Schule hatte Naomi unter anderem „Schöne neue Welt“ und „1984“ gelesen. Aber warum zum Teufel schickte ein anonymer Anrufer ihr dieses Buch hier? Was hatte es mit den Blutgemälden zu tun? Naja, vielleicht erfuhr sie es ja, wenn sie das Buch erst einmal gelesen hatte. Nachdenklich sah sie sich das kleine Buch an und schlug die erste Seite auf. Hier hatte der Autor eine Widmung hinterlassen „Für jene, die ich liebe“. Eine seltsame Widmung… Normalerweise schrieb man doch die Namen rein, damit man auch wusste, wer genau gemeint war. Tja, jeder hatte da so seine Eigenheiten. Naomi schaltete die Heizung ein, kuschelte sich in ihre Lieblingsdecke ein und begann zu lesen. Die Lektüre war recht simpel geschrieben und erzählte die Geschichte eines Auftragsmörders, der in einer Gesellschaft lebt, die vom Geld und von Konzernen regiert wird. Kriminalität steht an der Tagesordnung und Menschen werden als lebende Versuchsobjekte missbraucht. Eines Tages gerät der Auftragsmörder Noah in eine Schießerei, wird schwer verletzt und von dem kleinen Mädchen Mima gerettet, welche in einem Forschungslabor zur Welt kam und sich vor den Soldaten versteckt. Sie verfügt über besondere Fähigkeiten und kann Noah vor dem Tod retten. An dieser Stelle machte Naomi erst einmal Schluss. Sie war noch nie wirklich die große Leseratte gewesen und legte das Buch beiseite. Gerade mal 10 Seiten, ein ziemlich trauriges Ergebnis. Dafür schaltete sie stattdessen den Fernseher ein, wo irgendwelche Krimiserien, Kochshows und Soaps liefen. Sie entschied sich für die Soaps, da sie von Krimis heute nichts wissen und sie auch vom Kochen nichts hören wollte. Genüsslich schlürfte sie dabei ihre Suppe und verbrachte den Rest des Abends auf der Couch, bis sie einfach vor dem Fernseher einschlief. Mitten in der Nacht jedoch wurde sie von einem Geräusch geweckt. Es klang nicht nach Raye, wenn er wieder nach Hause kam. Seine Schritte würde sie unter tausenden wieder erkennen. Es waren andere. Ein lautes Klirren war zu hören. Anscheinend hatte der Einbrecher etwas umgestoßen. War es etwa derselbe Unbekannte, der ihr das Buch zugeschickt hatte? Aber warum schlich er sich in ihrer Wohnung herum? Das würde ihm teuer zu stehen kommen, denn nur ein Vollidiot würde in die Wohnung einer FBI Agentin einbrechen, die natürlich nicht ganz ungeschützt war. Sie hatte vor einiger Zeit noch mit Steven Kazan zusammengearbeitet und der hatte ihr eingebläut, immer auf der Hut zu sein und niemals vollkommen ungeschützt zu sein. Zuerst hatte sie gedacht gehabt, er leide unter Verfolgungswahn, da er sogar einen Peilsender rund um die Uhr bei sich trug, aber diese Vorsichtsmaßnahme hatte sich wirklich bewährt. Kazan wurde nämlich von einer gefährlichen Bankräubergruppe als Geisel genommen und konnte über diesen Peilsender aufgespürt und befreit werden, ohne dass man großartig ermitteln musste. „Ein Polizist oder FBI Agent muss sich immer im Klaren sein, dass er trotz aller Berufserfahrung und allem drum und dran immer gerne als Ziel benutzt wird. Deswegen darf er niemals leichtsinnig werden!“ Wie recht er doch jetzt hatte und im Geiste dankte Naomi, dass sie auf ihn gehört hatte. Ihre Pistole hatte sie hier im Wohnzimmer in einem kleinen Tresor verschlossen und da der Raum einen Teppichboden hatte, konnte sie zum Schrank rüber, ohne verdächtige Geräusche zu machen. Der Tresor befand sich ganz unten im Schrank und nachdem sie den Code eingegeben hatte, holte sie ihre Beretta heraus und lud sie durch. Auf Zehenspitzen und immer schön an der Wand entlang schlich sie sich langsam zur Tür und lauschte angestrengt. Kein Geräusch, die Wohnungstür war verschlossen aber ein kalter Windzug wehte vom Schlafzimmer her. Dort befand sich auch die Feuerleiter. Der Einbrecher musste also über diese hier hereingekommen sein. Da sie ihn nicht auf dem Flur gesehen hatte, musste er noch im Schlafzimmer sein. Vorsichtig schlich sie sich weiter vorwärts und stellte fest, dass das Licht immer noch ausgeschaltet war. Da, eine Bewegung! Naomi war sich sicher, dass sich irgendetwas bewegt haben musste und zwar genau neben dem Bett am Fenster. „Keine Bewegung, ich habe eine Pistole bei mir und werde Gebrauch davon machen! Kommen Sie sofort raus!“ Naomi schaltete das Licht ein und trat langsam näher. Die Waffe entsichert und schussbereit wagte sich immer weiter vorwärts und jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Wenn sie auch nur eine verdächtige Bewegung sah, einen Waffenlauf, dann würde sie schießen. Sie kannte die Voraussetzungen, die erfüllt werden mussten, wenn man aus Notwehr handelte und wusste auch, dass man nicht einfach so schießen durfte, wenn man einen Einbrecher in der Wohnung hatte. Pflichtgemäß hatte sie ihn gewarnt, nur musste sie aufpassen, dass sich nicht noch aus Versehen ein Schuss löste. Vor einiger Zeit war ihr das passiert und hatte ihr eine Suspendierung eingebrockt. Doch so schnell würde das nicht noch einmal geschehen und so blieb sie auf der anderen Seite des Bettes stehen. „Kommen Sie sofort hervor!“ befahl sie, aber es kam immer noch keine Reaktion. Dann aber schoss etwas unter dem Bett hervor an ihrem Bein vorbei und Naomi erschrak dermaßen, dass sie aufschrie und dabei fast einen Schuss abfeuerte. Es rannte bis zur Tür und blieb stehen, wo es Naomi mit gelben Augen ansah und miaute: Eine Katze. Erleichtert atmete Naomi auf, sicherte ihre Waffe wieder und steckte sie ein. Verdammt noch mal, sie hatte vergessen das Schlafzimmerfenster zu schließen und da war ihr wohl eine Katze in die Wohnung hineingeklettert. Es war ein pechschwarzer und ungewöhnlich großer Kater, der eine rote Schleife mit einem Glöckchen daran um den Hals trug. Allem Anschein nach war er ausgerissen und würde sicherlich gesucht werden.. Auf dem Schleifchen war ein Name eingenäht: Yoru. Anscheinend war der Kater irgendjemandem weggelaufen. Naja, das Tier sah irgendwie süß aus und da Naomi an diesem Abend sowieso zu faul war, beschloss sie, den kleinen Kater erst einmal über Nacht hier aufzunehmen und dann zu gucken, wo er hingehörte. Kapitel 2: Schmetterling ------------------------ Am nächsten Morgen wurde Naomi von Yorus lautem Miauen geweckt. Erwartungsvoll sah sie der pechschwarze Kater mit seinen leuchtenden Augen an und stupste sie vorsichtig mit der Pfote an. Vorsichtig setzte sich Naomi auf und versuchte erst mal ihre Haare zu ordnen. Jeden Morgen sah sie aus wie dieses Geistermädchen aus diesem Horrorfilm und bekam das von ihrem Verlobten auch noch mal zu hören. Genau aus diesem Grund band sie sich ihre Haare immer zu einem Zopf zusammen, nur dieses Mal hatte sie es wohl vergessen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits 11 Uhr war. Seltsam, Raye war immer noch nicht zurück. Der muss wohl einen Großeinsatz gehabt haben und hoffentlich war ihm dabei nichts passiert. Naja, wenigstens war sie nicht alleine. Da sie kein Katzenfutter hatte, musste sie wohl oder übel zum Supermarkt gehen. Eigentlich hätte sie sowieso einkaufen müssen, denn die Milch war schon seit einer Woche abgelaufen und sonst würde es nichts zum Frühstück geschweige denn zum Mittagessen geben. Schnell ging sie ins Bad und zog sich eine Jeans, einen Rollkragenpullover und Stiefel an. Ein bisschen dezentes Make-up und schon war sie fertig. Natürlich durfte ihre Lieblingsjacke nicht fehlen, eine schwarze Lederjacke, die sie sich in Beverly Hills gekauft hatte. Das Teil hatte unverschämt viel gekostet, aber Naomi trug sie schon seit knapp zwei Jahren und sie war immer noch wie neu. Der Kater folgte ihr und kuschelte sich an ihr Bein, wobei er schnurrte. Ein sehr zutrauliches wie kuschelbedürftiges Tier. Vorsichtig schob Naomi ihn beiseite und schloss die Tür hinter sich. Irgendwie konnte sie sich an den Gedanken gewöhnen, ein Haustier zu haben. Ein Hund war ihr nicht ganz geheuer, diese Tiere waren zwar sehr loyal, aber wenn man sie nicht unter Kontrolle hatte, konnten die echt gefährlich werden. Als Kind hatte ihr mal ein ausgewachsener Pitbull ins Bein gebissen und sie war noch mit dem Schrecken davongekommen, aber durch dieses Erlebnis hatte sie keine Lust auf einen Hund. Raye hatte sie diesen Gedanken schnell abgewöhnt, denn der schwärmte von einem echten altdeutschen Schäferhund als Haustier. Sie wollte da lieber eine Katze haben. Vielleicht hatte sie ja Glück und sie konnte Yoru behalten, wenn sich sein Besitzer nicht auffinden ließ. Fröhlich summend ging Naomi die Treppen hinunter und traf auf ihre Nachbarin Mrs. Goldfarb. Sie war eine nette wenn auch nicht mehr ganz geistig fitte Dame mit scharlachrotem Haar und dazu passendem roten Kleid. Sie sah aus wie eine Diva und trug Goldschmuck am Hals und an den Handgelenken und ihre Ohrringe waren so schwer, dass die Ohrläppchen schon auszuleiern schienen. Im ganzen Haus war sie bekannt dafür, dass sie gerne tratschte und dabei gerne mal die Wahrheit ein klein wenig „dehnte“, so wie sie es nannte. Mit übertriebener Freude begrüßte sie die FBI Agentin und legte sogar das Verhalten eines Hollywood-Veteranen an den Tag. „Ach meine Liebe, wie schön Sie zu sehen. Sagen Sie, ist Ihr Verlobter vielleicht zuhause? Es gibt da so eine Kommode, die unbedingt entsorgt werden muss und auf meine alten Tage bin ich leider nicht mehr so kräftig.“ Jetzt bloß nichts Falsches sagen sonst tratscht die noch rum, Raye würde fremdgehen. Blöde Kuh… „Tut mir leid, aber Raye hat einen wichtigen Einsatz und ist schon früh raus.“ „Oh ja, Sie sind ja beide Beamte, ich vergaß. Sagen Sie, haben Sie das auch schon in den Nachrichten gehört dass dieser furchtbare Serienmörder auf freiem Fuß ist, den Sie gefasst haben?“ War ja klar, dass das jetzt so kommen musste. Diese alte Klatschtante hatte immer ihre Freude daran, über andere herzuziehen und unangenehme Dinge wie diese hier zum Gesprächsthema im ganzen Haus zu machen. Erst vor knapp zwei Monaten hatte sie erzählt gehabt, Naomi würde eine Affäre mit Kazan haben und hätte dieser sie und Raye nicht beruhigt, dann hätten sie diese Mrs. Goldfarb längst angezeigt und zur Schnecke gemacht. „Das ist eine Sache der Juristen, ich habe getan, was meine Pflicht war. Einen schönen Tag noch, Mrs. Goldfarb!“ „Passen Sie gut auf sich auf, man kann ja nie wissen, welch unheimliche Individuen sich auf der Straße herumtreiben.“ Genervt ging Naomi die Treppe hinunter und war heilfroh, endlich diese aufgetakelte Oma los zu sein. Egal was man sagte, die hatte echt ein Talent dafür, alle Tatsachen zu verdrehen und sie gegen einen anderen zu verwenden. Da das Motorrad sich nicht für einen Einkauf eignete, nahm Naomi Rayes Auto und fuhr zum nächsten Supermarkt. Dieser hatte nebenan sogar eine Zoohandlung, wo sie das Nötigste für ihren kleinen Gast bekam. Im Anschluss fuhr sie noch zur nächsten Tankstelle und als sie wieder zurück war, waren schon fast drei Stunden vergangen und ihr Magen knurrte. Verdammt, mit leerem Magen ließ sich beim besten Willen nicht richtig kochen. Wenigstens gab sie schon mal Yoru sein Futter und der schien sich wirklich zu freuen. Da Naomi selbst nicht lange warten konnte, ließ sie die Kocherei und schob sich einfach eine Tiefkühlpizza in den Ofen. Während sie die Einkäufe aus den Tüten holte, lief das Radio und spielte gerade die aktuellen Charts. Ungeduldig summte Naomi mit und starrte immer wieder zum Backofen in der Hoffnung, die Pizza würde schnell fertig werden. Zwar brauchte sie nur zehn Minuten aber wenn man Hunger schob und sich schon das Frühstück gespart hatte, kam die Zeit einem ewig lang vor. Doch kaum hatte sie die Einkaufstüten in den Müll geworfen, war es auch schon soweit. Yoru war jedenfalls fertig und machte es sich auf der Couch gemütlich. Naomi sah zu, wie er sich mit seinen Pfoten ein Kissen zurechtlegte und seinen Kopf darauf bettete. „Du scheinst ja einer von der ganz gemütlichen Sorte zu sein.“ Nach dem Essen begann Naomi mit ihrer hausfräulichen Tätigkeit und schaltete dabei das Radio lauter. Irgendwann kam Raye völlig erschöpft und todmüde nach Hause und sah ziemlich mitgenommen aus. „Wir haben eine Razzia nach der anderen durchgeführt und ein ganzes Drogenkartell ausgehoben. Nimm es mir nicht übel, aber ich…“ Er führte den Satz nicht zuende als er etwas Schwarzes und Pelziges auf der Couch liegen sah. „Was hat das zu bedeuten, Naomi?“ „Ich hatte einen kleinen Einbrecher gestern Abend. Der Kleine da ist über die Feuerleiter durchs offene Fenster geklettert und solange sich der Besitzer nicht meldet, bleibt er erst mal bei uns.“ „Kommt gar nicht in Frage! Du weißt, dass ich es hasse, wenn überall Katzenhaare kleben und diese Biester stinken.“ „Nicht wenn man sie sauber hält“, entgegnete Naomi und sah ihn ein wenig kühl an. „Es ist ja auch nur so lange, bis ich Yorus Besitzer gefunden habe.“ „Glaub bloß nicht, ich würde dich nicht durchschauen.“ Was sollte das denn jetzt? Manchmal wurde sie aus Raye nicht schlau und während er sich ins Bett legte, machte sie es sich neben Yoru bei einer Tasse Kaffee bequem und las das Buch weiter. Wenigstens kam sie heute um einiges weiter und schaffte es tatsächlich in einem durch. Obwohl es in einem einfachem Stil geschrieben war, war das Buch doch sehr emotional und auch wenn Naomi so schnell nichts aus der Fassung brachte, hatte sie doch am Ende fast weinen müssen. Die Geschichte sah insgesamt vor, dass das kleine Mädchen einen geheimen Garten hatte, in welchem sie Schmetterlinge züchtete. Nirgendwo auf der Welt gab es noch Pflanzen und Tiere und diese Dinge waren auch verboten. Als man dahinter kam, brannte man den Garten nieder und erschoss das Mädchen. Als der Auftragsmörder sie fand, war sie bereits tot und in ihren Händen hatte sie einen Schmetterlingskokon. In seiner Trauer und Verzweiflung sprengte er die isolierende Kuppel der Stadt, welche diese vor der herrschenden Eiszeit schützte. Mit der toten Mima in den Armen verließ er die Stadt und ließ diese zurück. Wohl wissend, dass er die Menschen dort zum Sterben verurteilt hatte. Er stieg auf einen schneebedeckten Hügel und sprach zu Mima, dass sie jetzt endlich frei seien und dass sie jetzt überall hingehen könnten. Wenn die Eiszeit erst einmal vorbei wäre, dann würde es überall blühen und Schmetterlinge würden im Wind tanzen. Das alles rief er so laut aus und trotzdem hörte ihn niemand und keiner sah, wie sehr er dabei weinte. Das kleine Mädchen fest an sich gedrückt sank er schließlich zu Boden und starb. Eine sehr bewegende Geschichte. Auf der letzten Seite war etwas aufgeklebt worden: Ein Polaroidfoto, auf dem ein seltsames Bild zu sehen war. Mit roter Farbe war ein Schmetterling gemalt worden und unter dem aufgeklebten Foto stand in einer eleganten Handschrift geschrieben „Was will uns der Blutmaler wohl mit diesem Bild sagen, meine liebe Frau Misora? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort. Rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an und wir werden gemeinsam den Mörder finden.“ War das etwa ein Tatortfoto? Aber wie war der Absender da dran gekommen? Irgendwie war Naomi das Ganze sehr suspekt und sie glaubte kaum, dass dieser Unbekannte wirklich mit legalen Mitteln arbeitete. Aber was sollte sie jetzt tun? Entweder sie ignorierte das Ganze oder sie ließ sich auf das Spiel ein. Selbstverständlich entschied sie sich für Nummer zwei und begann nun zu überlegen, was es mit dem Schmetterling auf sich hatte. Sicher hatte sich dieser Absender etwas dabei gedacht, ihr Buch und Foto zusammen zu schicken. Er hatte sich etwas dabei gedacht und wollte sie testen. Na, dann wollte sie die Erwartung dieses Jemands nicht enttäuschen. Also, der Blutmaler hatte eine ganz besondere Verbindung zu Schmetterlingen. In dem Buch symbolisierte der Schmetterling die Hoffnung auf ein besseres Leben und auf Freiheit. Aber warum ausgerechnet ein Schmetterling? Normalerweise war doch der Adler das Wahrzeichen für Freiheit… aber auch für Macht. Und um Macht ging es ihm nicht. Ein Schmetterling war zerbrechlich und klein, außerdem war er schön anzusehen. Hätte der Blutmaler seine Macht zum Ausdruck bringen wollen, hätte er genauso gut ein anderes Motiv wählen können. Und außerdem bliebe da noch die Frage, warum er mit dem Blut seiner Opfer malte und als Leinwand ihre Haut benutzte. Das grenzte echt an Perversität. Und interessant wäre auch, warum der Mörder immer nur den Kopf mitnahm. Wozu brauchte er ihn? Nein, sie durfte sich jetzt nicht von so etwas ablenken lassen. Im BB-Fall hatte sie gelernt, erst eine Frage zu klären, bevor sie auf die nächste überging und in diesem Fall hier musste sie die Bedeutung des Schmetterlings klären. Sie holte erst einmal ihren Laptop heraus um zu überprüfen, welcher Art dieser Schmetterling angehörte. Die Suche war ein Reinfall, da der Täter sich die Motive wohl lieber selbst ausdachte, anstatt sich auf eine bestimmte Art zu konzentrieren. Gut, der Täter wollte nur den Schmetterling. Fest stand, dass der Täter dieses Buch hier als Vorlage für seine Morde genommen hat oder zumindest das Motiv etwas mit Schmetterlingen zu tun hatte. Nein, diese kleinen Tierchen waren eher eine Metapher. Wer würde schon wegen so etwas schon so bestialische Morde begehen? Das war ja völlig hirnrissig. Yoru maunzte und setzte sich auf Naomis Schoß und ließ sich von ihr streicheln. „Hast du vielleicht eine Ahnung, wer der Blutmaler sein könnte?“ Der Kater schnurrte brav und Naomi begann ihn am Hals zu kraulen, was ihm offensichtlich sehr gefiel. Er hatte ein so weiches und kuscheliges Fell und sie wollte gar nicht mehr aufhören ihn zu streicheln. So in Gedanken verloren hätte sie beinahe vergessen, was sie eigentlich noch mal wollte. Irgendwann sprang Yoru vom Sofa und begann die Wohnung zu erkunden. Währenddessen kaute Naomi auf ihrem Kugelschreiber herum und überlegte weitere Anhaltspunkte zum Fall. Also gut, wenn der Blutmaler dieses Buch gelesen hatte, bestanden folgende Möglichkeiten: Er personifizierte sich mit einer der Figuren aus dem Buch und wollte mit den Schmetterlingen seinen Wunsch nach Freiheit ausdrücken oder die Schmetterlinge symbolisierten etwas ganz Bestimmtes für ihn, was niemand außer ihn sah. Also, wofür standen Schmetterlinge noch mal? Schönheit, Leichtigkeit, Unbeschwertheit, Freude und Wandel. Ja genau: Metamorphose. Eine Raupe verpuppte sich und wurde zu einem Schmetterling. Schnell zog Naomi noch mal das Buch zu Rate und schlug die letzte Seite auf, wo ein Spruch geschrieben stand. „Was für die Raupe der Tod ist, bedeutet für den Schmetterling den Anfang.“ Okay, dann waren diese Punkte also höchstwahrscheinlich von Bedeutung. Dann stellte sich nur die Frage, ob der Mörder den Schmetterling nur auf sich oder auch auf seine Opfer bezog. Naomi hatte vor einiger Zeit mal den Film „Schweigen der Lämmer“ gesehen, wo auch ein Schmetterlingskokon einen Hinweis auf den Mörder gab. Irgendein Verrückter, der seinen Opfern die Haut entfernte und sich daraus ein Kleid oder so nähte. Das war seine Verwandlung, aber welche Verwandlung lag hier vor? Der Täter zog seinen Opfern zwar Haut ab, allerdings immer nur vom Rücken und er benutzte sie nur, um darauf sein Blutgemälde zu malen und legte sie an den Tatort der nächsten Leiche. Moment mal. Wenn wirklich jedes Mal die Haut beim nächsten Opfer wieder auftauchte, woher kam dann die erste? Irgendwo musste das doch seinen Anfang haben. Naomi stand auf und ging zum Telefon und war kurz davor die Telefonnummer zu wählen, doch da kam ihr die Türklingel dazwischen. Am Türspion erkannte sie die überaus neugierige Mrs. Goldfarb und Naomi spürte schon, wie ihr die Galle hochkam. Was wollte die schon wieder hier? Nur widerwillig öffnete Naomi die Tür und blieb an der Schwelle stehen, um ihr unmissverständlich klarzumachen, dass sie nicht in die Wohnung reingelassen wurde. „Hallöchen meine Liebe, ich habe zufällig gesehen, wie Ihr Verlobter nach Hause kam und wollte ihn wegen der Kommode fragen.“ „Er kommt von einer stundenlangen Nachtschicht zurück und schläft. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde ihm schon Bescheid sagen.“ Neugierig stellte sich die alte Dame auf ihre Zehenspitzen und versuchte an Naomi vorbeizuschauen, um irgendwelche interessanten Dinge auszuspähen, die sich vielleicht in der Wohnung abspielen konnten. Doch Naomi versperrte ihr den Weg und versuchte ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. „Mrs. Goldfarb, wir sind sehr geduldig mit Ihnen gewesen, aber Ihre aufdringliche Art wird uns langsam zuviel. Wenn Sie nicht endlich damit aufhören, werden wir die Sache noch vor Gericht bringen.“ „Aber was habe ich denn Falsches getan? Habe ich gegen das Gesetz verstoßen?“ „Sie haben vor Raye behauptet, ich würde ihn mit unserem besten Freund betrügen und er hat sie dabei gesehen, wie Sie sogar unseren Müll durchsucht haben. Haben Sie nicht auch Mr. Tucker erzählt, ich wäre unfruchtbar? So etwas grenzt schon an übler Nachrede und wenn Sie nicht endlich mit dieser Tratscherei aufhören, wird das noch ein böses Nachspiel haben!“ Naomi hatte jetzt endgültig genug von dieser neugierigen Nachbarin und wollte jetzt endlich mal Klartext reden. Allein schon, dass diese Person in ihre Wohnung reingucken wollte, war schon dreist genug. Mrs. Goldfarb richtete sich nun zu ihrer ganzen, wenn auch mickrigen Größe auf und starrte Naomi böse an. „Das sieht Ihnen ja ähnlich. Nur weil Sie und Ihr Lebensgefährte beim FBI arbeiten glauben Sie, Sie könnten hier machen, was Sie wollen. Glauben Sie bloß nicht, Sie seien etwas Besseres. Wenn Sie mir drohen wollen, kann ich Sie genauso gut anzeigen.“ „Tun Sie sich da mal keinen Zwang an. Guten Tag Mrs. Goldfarb!“ Damit schlug Naomi der alten Frau die Tür vor der Nase zu und stöhnte genervt. Endlich hatte sie gesagt, was sie schon immer sagen wollte und fühlte sich richtig gut. Die alte Schreckschraube würde schon noch sehen, was sie davon hat. „Was für eine Hexe!“ Yoru schien ihr mit einem Maunzen beipflichten zu wollen, setzte sich auf die Fensterbank und schaute aus dem Fenster hinaus. Nun ging Naomi zu ihrem Telefon und wählte die Nummer, die auf den Buchseiten notiert war. Doch es dauerte lange, bis überhaupt jemand den Hörer abnahm. „Frau Misora, wären Sie an ein Treffen interessiert?“ „Würden Sie mir erst einmal verraten, wer Sie eigentlich sind?“ „Keine Sorge, ich bin kein Perversling oder jemand, der Ihnen nach dem Leben trachtet. Ich bin ein alter Bekannter und ich appelliere einfach an Ihr Interesse, diesen wahnsinnigen Mörder zu schnappen, bevor noch mehr Menschen daran glauben müssen.“ „In Ordnung, dann erklär ich mich bereit für ein Treffen.“ „Sehr schön, auf Sie ist wirklich Verlass. Gut, ich schlage einen neutralen Treffpunkt vor. Sie kennen sicherlich das „Lovely Evening“. Dort werde ich morgen um Punkt 13 Uhr auf Sie warten und dann können wir über Ihre Erkenntnisse reden. Einen schönen Tag noch.“ Damit war das Gespräch beendet und der Unbekannte legte auf. Komischer Kauz, dachte Naomi und stellte das Telefon wieder auf die Ladestation zurück. Aber sie war sich hundertprozentig sicher gewesen, dass sie diese Stimme kannte. Naja, sie würde heute Abend schon erfahren, wer dieser Kerl war und bis dahin kümmerte sie sich erst einmal um Raye. Der schlief erst mal drei Stunden, dann machte sie ihm etwas zu essen und ließ sich von ihm erzählen, was für ein Durcheinander da geherrscht hatte. Bei den Festnahmen konnte einer fliehen und sie hatten ihn bis nach Pasadena verfolgt, bis er durch ein entgegenkommendes Fahrzeug gestoppt wurde. Danach musste er ins Krankenhaus gebracht werden und lag nun auf der Intensivstion. Diese ganzen Verhöre hatten eine Ewigkeit gedauert und vorher konnte Raye auch nicht weg. Zum Trost für diese ganzen Überstunden begann Naomi ihrem Verlobten Nacken und Schultern zu massieren. „Naomi, du hättest Masseurin werden sollen. Keiner kann das besser als du.“ „Klingt so, als hättest du da Erfahrung“, gab sie scherzhaft zurück und lächelte. „Ich habe übrigens unsere alte Klatschtante getroffen. Sie wollte, dass du eine Kommode für sie schleppst.“ „Was hast du ihr gesagt?“ „Zuerst habe ich sie nur vertröstet, aber dann habe ich ihr klargemacht, dass sie mit der Tratscherei aufzuhören hat. Die war sauer!“ Beide mussten lachen bei der Vorstellung, wie verärgert die rote Hexe jetzt war. „Das hat die alte Goldfarb auch mal verdient.“ Während Naomi ihrem Verlobten die Schultern massierte, begann sie zu überlegen, ob sie nicht vielleicht von dem Anrufer erzählen sollte, der ihr das Buch und das Tatortfoto geschickt hatte. Auf der einen Seite wollte sie keine Geheimnisse haben, aber auf der anderen Seite wusste sie, dass Raye sich nur unnötig Sorgen machen würde. Er war die Sorte Mensch, die nach außen hin wie ein Fels in der Brandung wirkte, innerlich aber völlig unsicher war. Genau das fand Naomi immer so süß an ihm und fand es wirklich rührend, als Raye ihr seine Liebe gestanden hat. Der arme Kerl hatte fürchterlich gestammelt am Anfang, aber dann doch noch die Kurve gekriegt. Erst später hat sie erfahren, dass es Kazans tatkräftige Unterstützung gewesen war, die Raye geholfen hatte, seine Unsicherheit zu bekämpfen. Aber oft war es auch so, dass er Angst um sie hatte und es nicht gerne sah, wenn sie sich mit dubiosen Gestalten abgab. Sicher würde er ihr am Ende noch verbieten, an diesem Fall außerdienstlich zu ermitteln und das würde sie lieber gerne vermeiden. Sie beschloss erst mal, die Sache für sich zu behalten und ihn später einzuweihen. Wer weiß, vielleicht lief es ja auch darauf hinaus, dass sie sich gar nicht weiter mit dem Fall beschäftigte. Möglich war alles… Kapitel 3: Besprechung ---------------------- Im Lovely Evening war in der Mittagszeit nicht viel los und da Naomi nichts gekocht hatte und Raye wieder arbeiten musste, bestellte sie sich etwas zu essen. Der Koch hier war wirklich gut und da sie eine Stammkundin war, gab es ein Getränk umsonst. Ein wirklich toller Service, deswegen ging Naomi auch so gerne hierhin. Als sie noch in der Ausbildung war, hatten sie, Raye und Steven Kazan hier den Tag ausklingen lassen und über alles Mögliche geredet. Von ernsthaften Themen bis hin zu belanglosem Tratsch. Als sie auf ihre Uhr schaute musste sie feststellen, dass es gerade erst 12:30 war und sie noch genügend Zeit hatte. Sie aß ein Steak mit Kartoffeln und einer würzigen Pilzsauce dazu und bestellte sich im Anschluss darauf ein Mineralwasser. Im Hintergrund lief „Carry on My Wayward Son“ und es gefiel ihr so gut, dass sie leise mitsang. Das Lovely Evening war ein sehr gemütliches Lokal, wo hier ein Gefühl von Nostalgie herrschte. Es war nicht so wie diese 60er Jahre Restaurants, wo alles bis ins kleinste Detail so nachgeahmt war und alles vollgestopft war. Nein, es waren die kleinen Dinge, die das Gesamtbild ausmachten. Eine alte Jukebox, an den Wänden hingen diese Route 66 Schilder und Plakate von Bands, die heute kaum noch jemand kannte. Hin und wieder wurden hier tatsächlich solche 70er oder 80er Partys gefeiert, meistens am ersten Samstag jedes dritten Monats. Nachdem der Kellner ihren Platz leer räumte, bestellte sie noch einen Kaffee und sah auf die Uhr. Sie hatte noch fünf Minuten Zeit, genügend um noch mal ihre Schlussfolgerungen zu überdenken. Also der Täter verglich sich selbst mit einem Schmetterling oder vielleicht auch seine Opfer und sah den Tod als eine Art Wandlung an. Was für die Raupe der Tod ist, bedeutet für einen Schmetterling den Anfang. Dann betrachtete er vielleicht die Menschen als Raupen und tötete sie in dem Glauben, sie würden sich verwandeln? Aber das machte keinen Sinn. Der Täter zerstückelte seine Opfer regelrecht und nahm den Kopf jedes Mal mit, da konnte doch keine Verwandlung stattfinden. Der Körper wurde zerstört und nicht verwandelt. Es sei denn, diese Zerstückelung war das Ziel des Täters. Nein, es war eher wahrscheinlicher, dass er die Metamorphose auf sich selbst bezog. Nur war da noch die Frage offen, ob dieser Prozess bei ihm abgeschlossen war oder nicht. Das könnte entscheidend sein für den Verlauf des Falles. „Diese nachdenkliche Miene steht Ihnen wirklich gut zu Gesicht, Frau Misora. Schön Sie wiederzusehen.“ Naomi wären fast die Augen rausgefallen als sie erst einmal realisiert hatte, wer da eigentlich vor ihr stand: Beyond Birthday. Er hatte sich kein bisschen verändert und wirkte zudem gut gelaunt. Was hatte er hier zu suchen? War er etwa der anonyme Anrufer? Ohne großartig auf ihre verblüffte Miene zu achten, setzte sich der Serienmörder in seiner gewohnten Haltung auf den Stuhl und holte ein Glas Marmelade hervor. „Nun starren Sie doch keine Löcher in die Luft. Bin ich etwa ein so furchtbarer Anblick?“ „Was haben Sie hier zu suchen?“ „Nun, ich kontaktierte Sie, um Ihnen meine Hilfe im Falle des Blutmalers anzubieten.“ „Ich glaube Ihnen nicht! Sie führen sicher etwas im Schilde.“ Nun setzte ihr Gegenüber eine beleidigte Schmollmiene auf und wirkte wie ein Kind. „Sind Sie etwa immer noch so nachtragend, dass ich versucht habe, Ihnen hinterrücks den Schädel einzuschlagen? Das ist nicht nett, immer wieder diese alten Kamellen aufzuwärmen.“ „Alte Kamellen? Das ist gerade erst mal zwei Monate her!“ „Trotzdem sind Sie ganz schön nachtragend.“ Seufzend schüttelte Naomi den Kopf. Dieser Kerl war wirklich unverbesserlich und sie fragte sich, ob er sich nur bei ihr gemeldet hatte um es ihr richtig schön unter die Nase reiben zu können, dass er jetzt ein freier Mann war, obwohl er drei Menschen auf dem Gewissen hatte. Sicher hatte er jetzt seinen Heidenspaß daran, sie jetzt so zu sehen und zu wissen, dass sie ihn nicht wieder festnehmen konnte, ohne einen begründeten Verdacht. Dabei hatte der Tag doch so schön angefangen. Beyond schien zu merken, dass die FBI Agentin alles andere als erfreut darüber war und begann seine Marmelade zu essen. „Frau Misora, am besten ist es, dass wir mit offenen Karten spielen: Ich habe nicht die Seite gewechselt und mache keinen auf Gerechtigkeitsverfechter. Das ist Ihr Job, nicht meiner. Ich verspreche mir auch nichts Besonderes durch eine Zusammenarbeit mit Ihnen. Mir geht es einfach nur darum, den Blutmaler zu finden und ihn hinter Gittern zu bringen, weil er mir schon seit längerer Zeit auf die Nerven geht. Ich habe bei diesem Angebot keine Hintergedanken und ich habe auch garantiert nicht vor, Ihnen das Leben schwer zu machen oder auf eine Gelegenheit zu warten, Sie umzubringen oder etwas anderes zu tun.“ Nun, das klang glaubwürdig, aber so ganz traute Naomi diesem Kerl immer noch nicht. Sie war sich sicher, dass er irgendetwas wusste oder vorhatte, was sie noch nicht ahnen konnte und genau das gefiel ihr überhaupt nicht. Was sollte sie jetzt machen? Sich auf dieses Angebot einlassen, oder vielleicht lieber ablehnen? Ach verdammt, wozu war sie eigentlich FBI Agentin geworden, wenn sie sich die Chance entgehen ließ, einen Serienmörder wie diesen Blutmaler einfach zu ignorieren? Dann könnte sie sich ja selbst nicht mehr in die Augen sehen und da war es ihr noch herzlich egal, was Raye darüber dachte. „Also gut, ich bin dabei. Aber sollte ich auch nur im Ansatz merken, dass Sie mir oder Raye etwas antun wollen, dann sind Sie schneller hinter Gittern als Sie sehen können.“ „Raye?“ fragte Beyond und legte den Kopf ein wenig zur Seite und starrte sie fragend an. Der Kerl schien seine Hausaufgaben nicht gerade gründlich gemacht zu haben. Na egal. Beyond räusperte sich und versuchte auf das eigentliche Thema zurückzukommen. „Nun gut, ich denke mir mal, dass Sie sich schon Ihre Gedanken zu dem Fall gemacht haben. Also, lassen Sie mich an Ihrem Brainstorming teilhaben.“ Naomi trank einen Schluck Kaffee und begann von ihrer Idee mit dem Schmetterling und der Metamorphose zu erzählen, während Beyond ihr aufmerksam zuhörte. Als sie schließlich fertig war mit ihrem Bericht, nickte der Serienmörder bedächtig und lächelte. „Sehr gut, Sie haben wirklich einen hervorragenden Spürsinn. Mit der Metamorphose haben Sie richtig gelegen: Unser Mörder hat tatsächlich eine besondere Verbindung zu Schmetterlingen, weil sie für ihn Freiheit und Metamorphose bedeuten. Letzteres kann ich bereits schon aufklären: Der Blutmaler hat bereits die Metamorphose durchlaufen.“ „Und worauf stützen Sie Ihre These?“ „Ich hatte die Ehre, vor der Polizei am Tatort zu sein und habe einen toten Schmetterling gefunden, den das letzte Opfer in seiner Hand hatte. Aber keine Sorge, ich habe keine Spuren hinterlassen. Ich bin ja kein Anfänger.“ Nein, das war er wirklich nicht, auch wenn er etwas vollkommen anderes andeutete. Ein unverbesserlicher Mensch, der bis zum Tage seiner Gerichtsverhandlung keinerlei Reue gezeigt hatte und jetzt auch noch damit angeben konnte, dass er auf freiem Fuß war. Der war ja richtig stolz darauf. Aber vielleicht redete er so, weil es einfach seine Art war und er keine Lust mehr hatte, jemanden irgendetwas weiterhin vorzuspielen. Aus einer Tasche holte er mehrere Polaroidfotos heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. Darauf war ein enthauptetes Opfer gesehen, das auf dem Rücken lag. Ein großes Stück Haut war abgetrennt worden und an Armen und Beinen waren tiefe Schnittwunden. Blut, überall war Blut und der rechte Arm sah aus, als hätte man ihn durch den Fleischwolf drehen wollen. Die Knochen waren zertrümmert, was wohl zeigte, dass der Mörder absolut brutal war und scheinbar in einem Anfall von Raserei das alles angerichtet hatte. Aber im krassen Gegensatz dazu hatte er die Haut fein säuberlich entfernt und war dabei äußerst konzentriert vorgegangen. „Mich würde interessieren“, sagte Naomi schließlich „was zuerst durchgeführt worden ist. Der Mörder geht vollkommen emotionslos zu Werke, wenn er die Haut abtrennt und kaum, dass er das geschafft hat, verfällt er in eine totale Raserei. Oder umgekehrt…“ „Nein, mit Ihrer Theorie lagen Sie vollkommen richtig. Es scheint so, dass der Mörder seinem Opfer zuerst die Haut abzieht und dann auf ihn einsticht. Wahrscheinlich geschah das Hautabziehen, während das Opfer noch gelebt hat. Er hat es einfach betäubt, ihm die Kleidung ausgezogen und dann mit seiner Arbeit begonnen. Dann hat er den Kopf abgetrennt und wie wild auf den Leichnam eingestochen.“ „Haben Sie eine Idee, welche Waffe der Täter benutzt hat?“ „Ich vermute mal ein Messer. Da er wohl nicht in der Lage war, damit den Kopf abzutrennen, brach er seinem Opfer zuerst das Genick.“ Was für ein kranker Mensch, dachte Naomi als sie das hörte. Zuerst häutete er sein Opfer bei lebendigem Leibe und dann drehte er ihm den Hals um, bevor er den Kopf abtrennte. Das konnte nur ein Wahnsinniger sein, anders war das nicht zu erklären. Diese Art von Grausamkeit übertraf ja sogar noch die BB-Mordserie und die war schon auf ihre Weise schlimm genug gewesen. Ob Beyond deswegen den Kerl schnappen wollte, weil er eine Art Konkurrenten ansah? Möglich war alles…. „Aber warum trennt der Mörder zuerst den Kopf ab? Normalerweise wollen Mörder ihre Opfer vorher leiden sehen. Allerdings… wenn ich daran zurückdenke, wie Sie Ihre Opfer getötet haben, scheint der Mörder wohl auch nicht am Leid seiner Opfer interessiert zu sein. Das bedeutet also, dass es sich hier nicht um einen sadistischen Mord handelt.“ „Nun, so im Groben könnte man es nennen. Ich persönlich würde da eher sagen: Der Täter wollte nicht, dass sein Opfer Schmerzen zeigt.“ Das stand ja im krassen Gegensatz zu dem, was man auf diesen Fotos sah. Der Mörder hatte wie ein Irrer auf sein Opfer eingestochen und wollte nicht, dass es Schmerzen zeigte? „Ist das nicht ein wenig widersprüchlich?“ „Nicht direkt. Der Mörder ist zweifellos grausam und kaltblütig, aber er kann es nicht ertragen, dass es Leiden zeigt. Er ist aggressiv und hat auch keine Skrupel davor, seinem Opfer die Gedärme herauszureißen wie Watte aus Plüschtieren, aber er kann ihr Schmerzgeschrei nicht ertragen. Falls Sie es noch nicht verstehen sollten, erkläre ich es Ihnen gerne. Also: Der Mörder dringt in die Wohnung ein und ist bis dahin noch gefasst und ruhig. Er greift es von hinten an und betäubt es höchst wahrscheinlich mit einem Chloroformgetränkten Tuch. Es gab keine Kampfspuren und das Opfer war sofort außer Gefecht gesetzt. Bis dahin existierten auch keinerlei Gewalteinwirkungen. Dann riss der Blutmaler ihm die Kleider vom Leib und entfernte ihm mit äußerster Präzision die Haut, die er für sein Bild brauchte. Dann nahm er sich das Blut was er brauchte, verstaute alles fein säuberlich und ging erst dann an sein eigentliches Werk: Er drehte seinem wehrlosen Opfer den Hals um, damit er den Kopf besser abtrennen konnte und als er diesen in Händen hielt, sind die Gefühle mit ihm durchgegangen. Er tobte wie ein Verrückter herum und stach auf sein Opfer ein. Er schlitzte sogar den Bauch auf und riss ihm das Gedärm heraus und warf es einfach weg. Den Blutergüssen nach zu urteilen würde ich sogar sagen, er hat auch noch auf sein Opfer eingetreten. Wir können also davon ausgehen, dass der Mörder quasi zwei Seiten hat: Eine ruhige und ausgeglichene Seite, die jegliche Störfaktoren verhindern will und deswegen das Opfer ruhig stellt. Diese hat sich vollkommen unter Kontrolle aber in dem Moment, wo er den abgetrennten Kopf in den Händen hält, dreht er durch.“ Soso, dann geschah dieser Wutausbruch erst dann, als er den Kopf bereits abgetrennt hatte. „Man kann also sagen“, meinte Naomi schließlich, „dass der Mörder sozusagen die Metamorphose in dem Moment durchläuft, wenn er seinem Opfer den Kopf abgeschlagen hat.“ „So könnte man es betrachten. Er durchläuft sie immer wieder auf die gleiche Weise. Im Gesamtpaket betrachtet ist er also ein Schmetterling, der sich selbst in dem Moment als Raupe sieht, die ihre Metamorphose durchläuft. Der Mörder sieht sich erst dann als vollendet, wenn er den Kopf abgetrennt hat. Vorher betrachtet er sich als etwas anderes und sucht in seinen Morden etwas, welches ihm das geben soll, was er braucht um sich vollendet zu fühlen.“ Hm, das klang interessant und Naomi konnte das auch gut nachvollziehen, aber sie verstand nicht, was genau der Blutmaler wollte. Was genau versprach er sich von den Morden? Fakt war, dass die Enthauptung irgendetwas in ihn auslöste, was ihn seine Beherrschung vergessen ließ. Und das war noch milde ausgedrückt, der Kerl verfiel in totale Raserei! Irgendwann begann Naomi der Kopf zu rauchen und so gönnten sie sich eine kleine Denkpause. Stattdessen sprach Beyond sie auf etwas anderes an. „Wie hat Ihnen eigentlich das Buch gefallen?“ „Ganz gut, wobei besonders das Ende mich sehr berührt hat. Ich konnte nicht wirklich nachvollziehen wie man ein Kind erschießen kann, nur weil es anders ist.“ „Das ist nun mal grausame Realität.“ Beyond begann sich die Marmelade von den Fingern zu lecken und hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen, den Naomi nicht wirklich deuten konnte. „Kinder werden entführt, von den eigenen Eltern misshandelt und später tot aufgefunden.“ „Sie haben einer 13-jährigen die Augen ausgedrückt und ihr anschließend eine Brille aufgesetzt!“ „Wir sind nur Fremde in einer fremden Welt…“ Was war das denn jetzt für eine Antwort? Dieser Beyond Birthday wurde ihr mit jeder Minute immer seltsamer und dabei war das kaum noch zu toppen. Allein schon wie er aussah, aß und saß. Der Kerl war ihr ein einziges Rätsel aber auf eines konnte sie sich auf jeden Fall verlassen: Auf seinen Scharfsinn. Egal wie verrückt er auch war, er wusste genau, wovon er redete und ließ sich durch nichts beirren. „Frau Misora, Sie sind FBI Agentin und haben sicher schon mal mit Menschen zu tun gehabt, die schlimme Kriminelle waren, selbst aber Opfer sind. Wie denken Sie darüber?“ „Kommt ganz darauf an. Wenn man zum Mörder wird, weil die eigenen Eltern ermordet wurden, ist das eine dumme Ausrede. Man hat die Wahl, wie man sein Leben gestaltet und muss es nicht unbedingt nach einem negativen Vorbild richten.“ „Und jene die keine Wahl hatten?“ „Bevor ich mich auf den BB-Mordfall konzentriert habe, habe ich einen Einsatz geleitet. Es ging um einen Pädophilen, der seinen Stiefsohn missbraucht hat und ein Mitglied bei Nambla war. Das ist so ein Verein, in welchem Pädophile die Beziehung zu Minderjährigen legalisieren wollten. Der Stiefvater hatte Kontakt zu jemandem, der verschlüsselte Dateien für Kinderpornos hatte und sozusagen den Lockvogel spielen sollte. Dabei mussten wir auch den Sohn dazu bringen, mitzuspielen.“ „Und was passierte dann?“ „Der missbrauchte Sohn griff sich ein Messer und stach die beiden nieder. Jetzt sitzt er wegen Mordes im Gefängnis. Da ich die Verantwortung hatte, wurde ich suspendiert.“ Beyond sah sie prüfend an, als wolle er ihre Gedanken und Gefühle ergründen und nickte schließlich. „Sie glauben nicht, dass der Junge ein Täter ist nicht wahr?“ „Er ist ein Opfer, welches sich nur aus dem Elend befreien wollte und dabei keinen anderen Ausweg sah. In so einem Falle kann gibt es kein Rechtssystem geben, welches wirklich richtig greifen kann.“ „Da haben Sie Recht. Für den armen Jungen gibt es jetzt keine wirkliche Gerechtigkeit mehr. Und so etwas ist tragischerweise kein Einzelfall. Das passiert überall auf der Welt und das schon seit Anbeginn der Menschheit. Entweder man hat einen unglaublich starken Geist und kann mit dieser Last auf seinen Schultern leben, oder man geht daran kaputt und wird selbst zum Verbrecher.“ „Sprechen Sie da aus Erfahrung, nicht wahr?“ „Sie sind wirklich ein helles Köpfchen. Nun, ich hatte nicht gerade eine Kindheit, wie Sie sie vielleicht hatten. Mein Vater war ein Säufer und meine Mutter depressiv und hat alles vernachlässigt.“ „Da haben Sie wohl keine gute Erziehung genossen.“ „Guten Einfluss gibt es nicht, weil jede Art von Einfluss unmoralisch ist im wissenschaftlichen Sinne. Einfluss bedeutet nichts anderes, als den freien Geist zu manipulieren. Oscar Wilde hatte da nicht ganz unrecht.“ Irgendwie wich Beyond ihr aus und wollte nicht weiter darüber sprechen. Also beließ sie es dabei und nach einem netten Gespräch verabschiedeten sie sich schließlich voneinander. Beyond hatte noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen und Naomi musste noch die Handzettel für Yoru machen und verteilen. Sie hatte das wunderbare Gefühl, ein ganzes Stück weitergekommen zu sein. Kapitel 4: Probleme ------------------- Die Handzettel waren schneller fertig als gedacht und es waren insgesamt 50 Stück. Sie klebte sie einfach an die nächsten Straßenlaternen und summte dabei ein Lied vor sich her. Dabei dachte sie immer wieder über das nach, was sie mit Beyond besprochen hatte. Der Mörder hatte zwei Seiten, eine ruhige und unauffällige und eine vollkommen grausame und destruktive. Es würde nicht einfach werden, ihn zu schnappen und es würde noch eine menge Arbeit erfordern, ihn erst einmal zu finden. Der Mörder ging absolut sauber vor. Keine Haare, keine Fingerabdrücke und keine Zeugen. Nachdenklich starrte sie auf den Suchzettel, wo ein Foto von Yoru drauf war und raufte sich die Haare. Sie ärgerte sich einfach, dass ausgerechnet Beyond Birthday jetzt ihr Verbündeter war. Dieser verdammte Mistkerl, der lachte sich bestimmt ins Fäustchen wenn er sah, wie sehr sie die Tatsache beschäftigte, dass er wieder ungestört morden konnte. Schuld daran waren nur diese Juristen, die wirklich alles vermasselten. Aber sie war auf der Hut. Wenn sie auch nur ahnen sollte, dass er ein krummes Ding drehte, dann würde sie die Erste sein, die ihn vors oberste Gericht schleifte und ihn in der finstersten Zelle versauern ließ. „Ähm, entschuldigen Sie.“ Naomi hatte gar nicht die junge Frau bemerkt, die neben ihr stand. Sie hatte schwache asiatische Gesichtszüge, goldblondes Haar mit einer roten Schleife an der linken Seite. Beachtlich war vor allem ihre Größe! Sie war mindestens 180cm groß und trotz ihrer beachtlichen Körbchengröße zierlich. Ihre Augen waren blutrot und wirkten matt und leer. „Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Prudence Street finde? Ich kenne mich hier leider nicht so gut aus.“ Mensch sieht die gut aus, dachte Naomi und wurde ein klein wenig neidisch. Diese Frau hatte etwas Geheimnisvolles an sich und etwas, das an einen uralten und geschichtsträchtigen Adel erinnerte. Ihre Lippen waren rot geschminkt, ihre Kleidung wirkte dagegen ziemlich konservativ: Eine weiße Bluse mit roter Krawatte, einer schwarzen Weste mit goldenen Knöpfen und einen schwarzen Rock, der bis unter die Knie ging und ein wenig weit geschnitten war. Wenn die etwas Weiblicheres anzog, würden sich alle Männer nach ihr die Köpfe verdrehen. „Sie müssen drei Straßen geradeaus, dann links abbiegen, bis sie die Angus Street erreichen. Da gehen Sie rein und dann in der zweiten Straße nach rechts. Dann sehen Sie auch schon die Prudence Street.“ „Vielen Dank, Sie haben mir damit wirklich geholfen.“ Die junge Frau verbeugte sich und ging und Naomi schaute ihr nach. Selbst ihre Schuhe hatten nicht einmal hohe Absätze. Die schien wohl allein darauf zu vertrauen, dass ihre Natürlichkeit genug Aufmerksamkeit erregte. Manchmal wünschte sich Naomi, sie hätte auch blondes Haar. Vielleicht sah das gar nicht mal so schlecht an ihr aus, wer weiß… Nachdem sie die Zettel alle angebracht hatte, machte sie einen kleinen Umweg nach Hause, um kurz noch mal in der Apotheke vorbeizuschauen. Raye beklagte sich seit einiger Zeit über Kopfschmerzen und leider hatten sie keine Aspirintabletten mehr. Doch vor der Apotheke blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie Mrs. Goldfarb sah, die gerade mit dem Apotheker sprach. Naomi hatte das Gefühl, ihr drehe sich der Magen um und gerade wollte sie das Weite suchen um bloß nicht schon wieder in ein Gespräch mit ihr verwickelt zu werden, da war es auch schon zu spät. „Hallöchen Liebes, was treibt Sie denn hierher?“ Naomi versuchte cool zu bleiben und so abweisend wie möglich zu wirken. Die alte Dame aber schien entweder ziemlich stur und neugierig zu sein oder auch nur blöd. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht Mrs. Goldfarb. Guten Tag!“ „Warten Sie doch! Laufen Sie etwa vor mir weg? Haben Sie etwas zu verbergen?“ Einfach weitergehen und sie ignorieren, redete sich Naomi immer wieder ein und merkte wieder, wie ihr die Galle hochkam. Irgendwie schien sie mit dieser alten Klatschtante gestraft zu sein und wünschte sich, sie würde einfach wegziehen und verschwinden. Und das Beste war ja noch, dass sie ihr gerade noch hinterher eilte und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Nichts wie ab nach Hause und dann die Tür abschließen. Während Naomi weiterging, plapperte die alte Dame munter weiter und vermochte ihr mit ihren kurzen Beinen kaum zu folgen. Ein Grund mehr, schneller zu laufen und diese Hexe endlich abzuschütteln. Als sie endlich das Haus erreichte, schloss sie hastig die Tür auf und nahm die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. Leider war Mrs. Goldfarb trotz ihrer 73 Jahre topfit und schaffte die Treppen im Nu. Am liebsten hätte Naomi ihr direkt ins Gesicht gesagt, sie würde sie verfolgen, aber das konnte sie ihr schlecht vorwerfen. Mrs. Goldfarb bewohnte das gleiche Stockwerk und die Wohnung gegenüber. Trotzdem war Naomi so, als würde ihr ein unangenehmer Schatten folgen, den sie beim besten Willen nicht abschütteln konnte. Doch dann tauchte jemand neben ihr auf, mit dem sie wohl nicht gerechnet hatte: Beyond Birthday. Was machte der denn hier? Als Mrs. Goldfarb ihn sah, bekam sie einen Heidenschreck. Sie schrie wie am Spieß und stolperte nach hinten und fiel die Treppen runter. Es polterte laut und als sie endlich das Ende der Treppe erreichte, blieb sie reglos liegen. Entsetzt sah Naomi auf die am Boden liegende Rentnerin und dann zu Beyond, der sofort eine abwehrende Haltung einnahm und sie mit unschuldiger Miene ansah. „Hey, dieses Mal bin ich es wirklich nicht gewesen!“ „Was suchen Sie hier eigentlich?“ „Ich hab Ihre Handzettel gefunden und wollte mich erkundigen, ob es tatsächlich mein Kater ist, den ich mir geholt habe. Ähm… ich möchte Ihnen wirklich keine Vorschriften machen aber mir scheint, dass diese Dame jetzt wohl einen Sanitäter braucht…“ Schnell holte Naomi ihr Handy und rief den Notarzt, dann eilte sie hinunter um zu sehen, wie es der alten Frau nun ging. Beyond blieb oben stehen und beobachtete das Ganze. Was keiner sah, war sein hämisches Grinsen und das Aufblitzen seiner Shinigami-Augen. Der Krankenwagen kam schnell und brachte Mrs. Goldfarb ins Krankenhaus. Sie lebte noch, hatte sich aber höchst wahrscheinlich die Hüfte gebrochen und musste erst mal eine Weile wegbleiben. Naomi schilderte den Fall und war froh, dass wenigstens nicht noch die Polizei aufkreuzte. Der ganze Tag war echt ein Reinfall. Da sie sowieso keinen Nerv mehr für irgendetwas hatte, widersprach sie auch nicht als Beyond ihr in die Wohnung folgte. Yoru miaute laut und begann zu fauchen, als er den Besucher sah. Und er fauchte nicht nur, sein Fell sträubte sich regelrecht. Naomi war erstaunt darüber und sah Beyond an. Der schien nicht wirklich überrascht zu sein und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Scheinbar kann er mich immer noch nicht leiden.“ „Hat er einen Grund dazu?“ „Keine Ahnung. Schon seit meiner Kindheit sind Tiere nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen. Hunde, Katzen, sogar Vögel und Reptilien. Ich mach nichts und sie hassen mich trotzdem. Tja und so wie es aussieht, kann Yoru sich nicht an mich gewöhnen.“ Das war wirklich komisch. Wie konnten Tiere eine derartige Feindseligkeit gegen jemanden hegen? Vielleicht weil sie instinktiv spürten, dass mit ihm etwas nicht stimmte? „Schade.“, murmelte Beyond schließlich „Das wird wohl nichts werden. Ich komme selbstverständlich für die ganzen Umstände auf, ich hoffe Sie hatten keine Schwierigkeiten mit ihm.“ „Nein, überhaupt nicht. Aber was haben Sie mit ihm jetzt vor?“ „Ich schätze mal, zurück ins Tierheim bringen.“ Na das wollte Naomi nun auch nicht. Den armen kleinen Kerl einfach in ein Tierheim bringen, konnte ja auch nicht die Lösung sein. Naomi nahm den schwarzen Kater auf den Arm und streichelte seinen Rücken. „Lassen Sie es gut sein, ich werde mich erst mal um den Kleinen kümmern, bis sich ein neuer Besitzer findet. Er fühlt sich ja recht wohl hier.“ „Das ist mir nicht entgangen“, bemerkte Beyond und schien ein wenig erleichtert zu sein, dass sein Kater bei ihr gut aufgehoben war. Damit war Yoru vorübergehend Naomis Haustier, zumindest solange noch nicht mit Raye geklärt war, ob das in Ordnung ging. Begeistert würde er erst einmal nicht sein und das könnte sicher noch ein längeres Gespräch geben aber sie hatte den kleinen Stubentiger ins Herz geschlossen. Beyond trat ein wenig auf der Stelle und schien ein wenig nervös zu sein. „Ich sollte jetzt besser gehen. Wenn ich was Neues habe, rufe ich Sie an.“ Damit ging Beyond zur Tür hinaus, ohne sich zu verabschieden. Irgendwie war er gerade ganz seltsam drauf gewesen und Naomi konnte sich nicht erklären, was es war. Beyond schien ein wenig verlegen gewesen zu sein, wahrscheinlich weil er zum ersten Mal die Wohnung jener Person betreten hatte, die ihn vor knapp zwei Monaten festgenommen hatte. Oder war es etwas anderes? „Ein merkwürdiger Mensch. Na komm Yoru, jetzt gibt’s erst mal was zu essen.“ Als hätte er es verstanden, eilte der Kater an ihr vorbei und wartete in der Küche auf sie. Von Katzenfutter hatte Naomi nicht besonders viel Ahnung, aber sie hatte einfach das mitgenommen, was sie essen würde, wenn sie eine Katze wäre. Und tatsächlich schien sie richtig entschieden zu haben. Während sie Yoru beim Fressen zusah, dachte sie noch mal über den Fall nach. Der Mörder ging äußerst gewissenhaft und geduldig vor, aber kaum dass er den Kopf abgetrennt hatte, drehte er durch. Warum löste ein abgetrennter Kopf so etwas bei ihm aus? Irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass diese Blutgemälde gar nicht zur eigentlichen Arbeit gehörte sondern nur Beiwerk oder eine bloße Signatur war. Es ging ihm um den Augenblick, wenn er den Kopf in Händen hielt. Irgendetwas wurde bei ihm ausgelöst, was ihn zu einem regelrechten Monster machte und emotional total durcheinander brachte. Der Mord an sich bedeutete ihm nichts, zumindest nicht in dem Sinne jener, die hauptsächlich aus egoistischen Gründen töteten oder weil sie sich eine seelische Befriedigung erhofften. Nein, eine Befriedigung waren ihm diese Morde nicht. Im Gegenteil. Für Naomi sah es nämlich so aus, als würde der Mörder nach etwas anderem suchen. Kein Seelenheil… aber was dann? Erhoffte er sich vielleicht so etwas wie Buße? Nein, keine Reue und keine Buße. Das gehörte ja zum Seelenfrieden und er schien zu wissen, dass er diesen nicht bekommen würde. War er so etwas wie ein Masochist? Es klang total bescheuert, aber es gab ja Menschen, die mordeten weil sie sich auf einer gewissen Art und Weise selber seelische Schmerzen zufügen wollten. Möglicherweise war der Blutmaler genauso. Naomi musste an die Gerichtsverhandlung denken, als Beyond Birthday wegen dreifachen Mordes verurteilt wurde. Kurz vor Beginn der Verhandlung hatten sie kurz miteinander gesprochen und Beyond hatte ihr etwas sehr merkwürdiges gesagt: „Es gibt Menschen, die töten weil sie einen Grund dazu sehen und jene, die keinen brauchen. Menschen, die keinen Grund benötigen, um jemanden zu töten, sind von Grund auf böse.“ Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Beyond etwas ganz Bestimmtes damit andeuten wollte. Er war eben der Typ Mensch, bei dem man immer zwischen den Zeilen lesen musste um zu verstehen, was er wirklich sagen wollte. Es war ein wenig schwierig, aber Naomi konnte teilweise seine versteckten Botschaften deuten. Zumindest glaubte sie das… Sie kochte sich Kaffee und setzte sich an den Tisch während sie sich die Polaroidfotos ansah. Auf der Rückseite hatte sich Beyond Notizen gemacht. „Insgesamt vier Opfer: Kayleigh Clarkson, Andrej Zachary, Rick Bicksby, Amanda Sanders. Habe Geheimnis bald gelöst.“ Geheimnis? Sag bloß, dass Beyond etwas wusste, wovon er sie noch nicht in Kenntnis gesetzt hatte. Vielleicht… steckte ja wie bei den BB-Morden ein Geheimnis dahinter. In diesem Mordfall hatten alle Opfer die Initialen BB mit Ausnahme des zweiten Opfers Quarter Queen. Sollte auch hier so eine Art Namensrätsel dahinterstecken? Vielleicht konnte Naomi ja das Rätsel vor Beyond lösen. Aus dem Wohnzimmer holte sie einen Notizblock mit Kugelschreiber und begann erst einmal die Initialen aufzuschreiben. Das Ergebnis war mehr als Enttäuschend: „KCAZRBAS“ und auch umgekehrt ergab diese Reihe wenig Sinn. Schließlich versuchte sie es mit einem Anagramm und leider kam nicht viel dabei heraus. „So ein Scheißendreck. Das ist nicht so einfach wie gedacht. Yoru, hast du vielleicht eine Idee?“ Doch der Kater gab nur ein maunzen von sich und setzte sich auf die Fensterbank, um wieder aus dem Fenster zu sehen. Naomi riss das vollgekritzelte Blatt ab, knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb. Sie sah sich noch mal die Namen an und schrieb sie untereinander. Vielleicht… vielleicht sollte sie nur die ersten Buchstaben des Nachnamens nehmen. Naomi schrieb auf: „CZBS“. Nicht wirklich besser und so versuchte sie es mit den Anfangsbuchstaben der Vornamen. „KARA“. Kara? Nun ja, es sah nicht wirklich so aus, als würde ihr das auch noch weiterhelfen. Vielleicht gab es ja kein Schema in dem Sinne wie bei den BB-Morden und sie hatte sich da in etwas verrannt. Aber warum schrieb Beyond Birthday dann so etwas auf? Er musste sich was dabei gedacht haben, nur so aus Spaß hätte er das sicher nicht gemacht. Sie verbrachte lange an diesem Rätsel, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen und merkte erst, dass Raye wieder zurück war, als er neben ihr stand. „Was sind das für Fotos Naomi?“ Erschrocken zuckte sie zusammen und hätte beinahe den Kugelschreiber fallen gelassen. „Ähm, das sind Tatortfotos. Ich beschäftige mich jetzt eben mit dem Fall des Blutmalers.“ „Und seit wann geht das?“ „Vorgestern habe ich einen anonymen Anruf erhalten und im Briefkasten lag ein Buch mit einem Polaroidfoto von einem dieser Blutporträts. Ich war mir noch nicht hundertprozentig sicher, was ich von der Sache halten sollte und wollte dir erst Bescheid geben, wenn ich der Sache vertrauen kann.“ Raye sah alles andere als begeistert aus und Naomi konnte es ihm nicht übel nehmen. Sicher glaubte er jetzt, sie würde Geheimnisse vor ihm haben und dabei vertraute er ihr doch. „Wann hattest du eigentlich vorgehabt, mir davon zu erzählen?“ „Spätestens heute Abend. Ich wollte doch nicht, dass du dir Sorgen machst.“ „Naomi, ich liebe dich aber wenn wir Geheimnisse voreinander haben, dann…“ „Es tut mir leid.“ Naomi stand auf und umarmte ihren Verlobten. „Ich liebe dich doch auch.“ Sie setzten sich nun gemeinsam hin und Naomi erzählte Raye alles, was sie bisher über den Blutmaler in Erfahrung bringen konnte. Doch im Gegensatz zu Beyond schien Raye da nicht so wirklich überzeugt zu sein und verschränkte schließlich die Arme. „Naomi, das sind alles Theorien aber woran willst du diese festhalten?“ „Aber wie willst du dann das Verhalten des Täters erklären? Diese Blutporträts sind nicht sein eigentliches Ziel sondern das, was er empfindet, wenn er sein Opfer enthauptet.“ „Und wozu macht er dann den ganzen Aufwand? Er könnte doch genauso gut dieses Hautabziehen und das Malen mit Blut sein lassen.“ Da hatte Raye nicht ganz Unrecht. Der Blutmaler machte sich doch unnötig Arbeit, er hätte wirklich die Möglichkeit, den einfachen Weg zu wählen und sein Opfer einfach zu enthaupten. Es sei denn, er wollte unbedingt, dass man auf ihn aufmerksam wurde. „Vielleicht macht er das, weil er eine Botschaft über die Medien vermitteln will und damit man diese Morde auch wirklich allesamt in Verbindung miteinander bringt, hat er…“ Naomi sprach den Satz nicht zu Ende, da sie selbst merkte, dass sie auf dem Holzweg war. Selbst ohne die Blutporträts hätte man die Morde zusammenbringen können. Es war immerhin jedes Mal dieselbe Vorgehensweise. „Vielleicht will er ja, dass er geschnappt wird. Es kann gut möglich sein, dass er jemanden mit diesen Morden eine Art Botschaft vermitteln will, die nur er versteht!“ „Naomi, hörst du eigentlich wie stumpfsinnig das klingt? Als FBI Agent hat man sich an Fakten zu halten und du steigerst dich in irgendetwas rein, was vollkommen abwegig scheint.“ „So vollkommen abwegig, dass es wiederum sehr wahrscheinlich sein kann. Denk nur an die BB-Morde.“ „Das kannst du aber nicht damit vergleichen!“ Entweder hatte Raye Recht und Naomi reimte sich irgendwelche Fantasiegeschichten zusammen, oder er sah diesen Fall nicht mit ihren Augen, weil er sich nur an die Fakten hielt und deshalb falsch lag. Irgendwie fühlte sich Naomi mies und kam sich wie ein Idiot vor. Sie legte die Fotos in einen Umschlag und legte diesen in ihre Tasche. Raye merkte, dass Naomis Stimmung erheblich gesunken war und versuchte das Thema zu wechseln. „Sag mal, hast du eigentlich schon den Katzenbesitzer gefunden?“ „Ja, er war auch schon bei uns. Er hat Yoru aus dem Tierheim geholt und kurz darauf ist er weggelaufen, weil er eine Abneigung gegen seinen Besitzer hat und ihn nicht heranlässt. Ich habe ihm angeboten, dass er den Kater so lange bei uns lässt, bis sich ein neuer Besitzer findet.“ Sie hatte geahnt, dass Raye nicht mit Luftsprüngen reagierte, aber dass er sich gleich so aufregte, konnte sie nicht nachvollziehen. Er ärgerte sich richtig drüber und starrte mit finsterer Miene auf den Kater, der gerade mit der Fellpflege beschäftigt war und sich nicht an seinen Blicken zu stören schien. „Hast du auch mal daran gedacht, das vielleicht mit mir abzusprechen?“ „Was regst du dich denn jetzt so auf? Was hast du gegen Katzen?“ „Das sind stinkige kleine Biester, die die Möbel zerkratzen und nur ihr Ding machen. Ich dachte wir wären uns einig darauf, dass wir uns einen Hund holen.“ „Raye, du weißt genau dass ich eine Heidenangst vor Hunden habe. Wir waren uns also gar nicht einig. Du warst dir höchstens einig mit dir selbst.“ Naomi wurde langsam wütend und verstand einfach nicht, wie verbohrt Raye manchmal sein konnte. Manchmal hatte sie das Gefühl, er würde sich überhaupt nicht auf sie einlassen und nur seine Interessen durchsetzen wollen. „Weißt du was Raye? Ich war einverstanden damit, mit der Arbeit aufzuhören, wenn wir erst einmal heiraten und ich bin zu dir gezogen und jetzt finde ich, dass du auch mal ein wenig auf meine Wünsche Rücksicht nehmen könntest.“ „Was soll das denn jetzt heißen? Willst du damit sagen, ich wäre egoistisch?“ „Ich will damit sagen, dass ich auch mal das Recht habe, mir etwas einzufordern. Ich wollte schon immer eine Katze als Haustier haben, aber ich habe respektiert, dass du keine Lust auf Katzen hast.“ „Habe ich etwa kein Verständnis gehabt, als du dich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hast, dass ich mir einen Schäferhund zulege?“ „Das ist aber etwas ganz anderes: Ich habe Angst vor Hunden und ich habe es dir schon mal gesagt: Wenn du einen Hund in der Wohnung halten willst, dann muss ich ausziehen.“ Der Streit zog sich zwei Stunden fort und endete schließlich damit, dass Naomi diese Nacht auf der Couch schlief und den Rest des Tages kein Wort mehr mit ihrem Verlobten wechselte. Sie ärgerte sich tierisch über Rayes Dickköpfigkeit und mangelndem Einsichtsvermögen. Immer wollte er seinen Willen durchgesetzt haben und war doch tatsächlich der Meinung, dass es das Gleiche war, wenn er sich gegen eine Katzenanschaffung wehrte, wenn Naomi sich weigerte, mit einem Hund in der Wohnung zu leben. Das war verdammt noch mal nicht das Gleiche! Sie hatte Angst vor Hunden, weil sie als Kind von so einem Tier gebissen wurde und Raye wollte nur deswegen keine Katze haben, weil er Sorge hatte, dass überall Haare herumfliegen würden. Aber das war bei einem Hund doch genau das gleiche Problem und auch ein Hund konnte stinken. Naomi konnte Rayes Denkweise wirklich nicht nachvollziehen und fand erst spät in der Nacht Schlaf. Kapitel 5: Streit ----------------- Am nächsten Morgen führten Naomi und Raye ein klärendes Gespräch und einigten sich darauf, Yoru zu behalten. „Tut mir leid, dass ich so stur war und dir diese Sachen an den Kopf geworfen habe. Du kannst ja nichts dafür, dass du vor Hunden Angst hast. Ich liebe dich Naomi und ich möchte doch nur, dass du glücklich bist.“ „Ich liebe dich doch auch und auch ich muss mich entschuldigen. Die Dinge, die ich gesagt habe, waren auch nicht nett.“ Um den Streit zu begraben, gönnten sie sich ein romantisches Sektfrühstück und sprachen über angenehmere Themen. Zumindest solange bis Mr. Tucker vor der Tür stand und erzählte, dass Mrs. Goldfarb gestorben sei. Der Schock saß bei Naomi tief, auch wenn sie diese rothaarige Hexe nicht leiden konnte. „Was ist denn genau passiert?“ „Man hat ihr wohl ein falsches Medikament gespritzt, was einen Herzstillstand zufolge hatte.“ Für einen Moment hatte Naomi geglaubt gehabt, Beyond Birthday würde hinter der Sache stecken. Sie konnte sich nicht erklären warum, aber es war ihr sofort in den Sinn gekommen. Schrecklich, selbst so eine Person wie Mrs. Goldfarb hatte einen derartigen Tod nicht verdient. Auch Raye war betroffen und senkte den Blick. „Was ist eigentlich genau passiert?“ „Mrs. Goldfarb ist auf dem Weg zu ihrer Wohnung die Treppe hinuntergestürzt und hat sich dabei schwer verletzt. Sie kam gerade von der Apotheke und ist mir quasi hinterhergelaufen. Auf der dritten Etage wartete der Besitzer von Yoru auf uns und dabei hat sich Mrs. Goldfarb erschrocken und ist nach hinten gestolpert.“ Naomi sagte nicht, dass es Beyond Birthday war, dessen Anblick Mrs. Goldfarb so sehr erschreckt hatte. Warum sie seinen Namen verschwieg, konnte sie nur damit erklären, dass sie Panik im Haus vermeiden wollte, wenn sich plötzlich Serienmörder auf den Fluren herumtrieben. Raye nickte bedächtig und legte seine Stirn in Denkfalten. „Also bedeutet das, es handelt sich um einen Ärztefehler.“ „So sieht es aus.“ Der alte Mr. Tucker, der seit einem schweren Unfall Frührentner war, hatte Mrs. Goldfarb trotz ihrer Makel sehr gemocht und nahm sich ihren Tod sehr zu Herzen. Deswegen entschieden Raye und Naomi, dem Alleinstehenden erst einmal Gesellschaft zu leisten. Mr. Tucker und Mrs. Goldfarb kannten sich schon seit fast vierzig Jahren und dass jemand auf so eine Weise starb, traf ihn sehr. Die beiden waren wie ein Paar gewesen und Naomi und Raye war nicht entgangen, dass der alte Tucker ein Auge auf sie geworfen hatte. Deswegen war es umso schlimmer für ihn, dass sie jetzt tot war. Familie hatte er keine. Seine Frau starb vor dreißig Jahren und seitdem hatte er nicht mehr geheiratet. Die Ehe war kinderlos gewesen und sonstige Verwandte hatte der arme Kerl keine. Sie leisteten ihm Beistand und versprachen, jederzeit für ihn da zu sein, wenn er Gesellschaft bräuchte. Als er gegangen war, herrschte eine bedrückte Stille. Raye nahm Naomis Hand und sah sie besorgt an. „Soll ich Steven bitten, meine Schicht für heute zu übernehmen?“ „Nein, schon in Ordnung. Es ist nur der Schreck. Außerdem musst du noch deine Drogendealer verhören und du weißt, dass Steven ihnen am Ende noch die Daumenschrauben anlegen wird.“ Doch Raye war trotzdem nicht sonderlich wohl dabei, Naomi allein zu lassen, entschied sich dann aber doch anders. Naomi verschob die Hausarbeit und ging ins Wohnzimmer, wo sie den Fernseher anschaltete, um sich ein wenig abzulenken. Yoru schien zu merken, dass mit seiner neuen Besitzerin etwas nicht stimmte und gesellte sich zu ihr und schmiegte sich schnurrend an ihre Hand. Naomi musste schmunzeln, als sie das sah. „Du möchtest mich wohl aufmuntern, nicht wahr? Ach Yoru, irgendwie kommt mir das ein wenig seltsam vor. Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet Beyond Birthday in Verdacht hatte, das getan zu haben. Vielleicht tu ich ihm Unrecht oder vielleicht steckt er wirklich dahinter. Ich bin total durcheinander. Was soll ich tun? Hast du vielleicht eine Antwort?“ Yoru gab nur ein maunzen zu Antwort und kratzte sich die Ohren. Lustlos zappte die beurlaubte FBI Agentin durch die Programme und sah sich irgendeine Verkaufssendung an. Mrs. Goldfarb war tot…. Irgendjemand hat ihr ein Medikament verabreicht, welches sie umgebracht hat. Und ihr erster Gedanke war, dass Beyond Birthday dahintersteckte. Litt sie jetzt schon unter Verfolgungswahn? Nachdem sie fast eine Stunde lang Shopping-TV geguckt hatte, machte sie sich an die anstehende Hausarbeit. Das nahm auch so seine Zeit in Anspruch und als sie fertig war, ging sie nach unten zum Briefkasten um die Post zu holen. Die Tageszeitung war da sowie die übliche Werbung, eine Rechnung und dann noch etwas anderes. Ein kleines Paket, welches ungewöhnlich leicht war. Kein Absender… ob Beyond ihr wieder etwas geschickt hatte? Sie nahm das Paket in die Wohnung mit und versuchte es zu öffnen, aber wer auch immer das Paket in den Briefkasten gelegt hatte, er hatte echt ganze Arbeit geleistet. Ohne Messer gelang es ihr kaum, das ganze Klebeband zu entfernen und als sie das Paket mit einem Ruck öffnete, spritzte ihr etwas ins Gesicht und in die Augen. Blind taumelte sie ins Badezimmer und schnappte sich ein Handtuch. Was auch immer das war, Säure war es nicht. Sie rieb sich das Zeug aus dem Gesicht und starrte auf das Handtuch. Blut… Auch an ihrer Kleidung klebte Blut. Sie sah aus, als hätte man mit einem Messer auf sie eingestochen. Meine Güte, das kam alles aus dem Paket. Naomi ahnte Schlimmes und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Raye anrufen und ihm sagen was passiert ist? Nein, erst einmal musste sie sehen, was in dem Paket drin steckte. Mit dem blutverschmierten Handtuch bewaffnet ging Naomi in die Küche, wo sie das Paket hatte liegen lassen. Dort war eine große Blutpfütze und auch an den Schränken zeichneten sich dunkelrote Flecken ab. Das Paket war so präpariert worden, dass von innen nichts Flüssiges auslaufen konnte. Aber warum schickte man ihr so etwas? War das eine Drohung an sie? Vorsichtig trat sie näher an das Paket und sah irgendetwas Dunkles darin herumschwimmen. Aus einer Schublade holte sie sich Einmalhandschuhe und tauchte vorsichtig eine Hand in das Blut. Seltsam, anscheinend war das Blut verdickt worden, damit es auch hundertprozentig nicht so schnell auslaufen konnte. Naomi hielt den Atem an als sie das herausholte, was sie in der dunkelroten Masse gesehen hatte. Es war klein… und rund… Der FBI Agentin blieb fast das Herz stehen als sie realisiert hatte, was sie da genau in den Händen hielt: Augen, menschliche Augen! Entsetzt schrie sie auf und ließ das grausige Geschenk fallen und wich zurück. Das konnte doch nicht wahr sein. Wer um alles in der Welt tat nur so etwas Abartiges? Naomi zitterte am ganzen Körper und trat direkt in die Blutpfütze und rutschte aus. Mit dem Hinterkopf schlug sie hart auf und verlor das Bewusstsein. Als Naomi wieder aufwachte, lag sie auf der Couch und ihr Kopf schmerzte stark. Sie brauchte eine Weile um sich wieder daran zu erinnern, was geschehen war. Das Paket… die Augen. Ja genau, sie war ausgerutscht und gestürzt woraufhin sie das Bewusstsein verloren hatte. Aber… wie kam sie auf die Couch? Ja genau, Raye musste wieder hier sein und hatte sie gefunden. So musste es sein… Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie aufzustehen, doch sie wurde wieder zurückgedrückt. „Das ist jetzt keine besonders gute Idee. Sie sind sehr unglücklich gestürzt und brauchen erst einmal Ruhe.“ Komisch, warum siezte Raye sie auf einmal? Oder… war das gar nicht Raye? Naomi blinzelte und konnte nur schwach die Konturen ihres Retters erkennen. War das etwa Beyond Birthday? „Was… was machen Sie denn hier?“ „Ich wollte Sie noch mal sprechen, weil mir etwas eingefallen ist und habe mir Sorgen gemacht, weil die Tür nicht abgeschlossen war. Ich habe mir die Freiheit genommen, hereinzukommen und sah Sie bewusstlos auf dem Boden liegen. Sie haben sich den Kopf an der Tischkante angeschlagen und die Verletzung musste genäht werden. Zum Glück habe ich eine Zeit lang Medizin studiert.“ Vorsichtig betastete Naomi die Stelle, an der sie verletzt war und musste feststellen, dass Beyond sie tatsächlich genäht hatte. Allerdings hatte sie das Gefühl, ihr Schädel würde jeden Moment explodieren. „Ich glaub, ich brauch erst mal eine Kopfschmerztablette.“ „Nehmen Sie besser die hier.“ Ohne auch nur im Ansatz misstrauisch zu werden, nahm sie die Kapsel und schluckte sie mit Leitungswasser dazu runter. „Danke.“ Ihr war schlecht und um sie drehte sich alles. Sie musste sich schlimmer den Kopf gestoßen haben, als sie gedacht hatte. Außerdem bot sie einen furchtbaren Anblick. Ihr Gesicht war leichenblass, ihr Haar zerzaust und ihre Kleidung voller Blut, genauso wie ihre Hände. „Ich muss mal dringend ins Bad.“ Beyond half ihr aufzustehen und stützte sie. Um Naomi drehte sich alles und ihre Beine fühlten sich an, als seien sie aus Gummi. Sie wusch sich erst mal das ganze Blut ab und wechselte ihre Kleidung. „Ich habe mir übrigens die Freiheit genommen“, rief Beyond vom anderen Ende der Türe her „diese Sauerei in der Küche zu beseitigen. Keine Sorge, ich habe Fotos gemacht und alles fein säuberlich eingepackt.“ „Haben Sie etwas damit zu tun?“ „Nicht im Geringsten. Ich vermute aber, dass der Blutmaler Ihnen dieses kleine Geschenk zugesendet hat. Es sollte wohl bedeuten, dass er Sie im Auge behält.“ Ein wenig wich die Übelkeit und ihr Kreislauf kam auch ein Stück weit wieder in Ordnung. Doch es dauerte noch eine Weile, bis die Kopfschmerztabletten zu wirken begannen. Sie gingen ins Wohnzimmer und Beyond kochte Kaffee. „Woher weiß der Blutmaler überhaupt, dass ich mit Ihnen an diesem Fall arbeite?“ „Er und ich führen eine Art Kampf gegeneinander und er wird versuchen, mich aus der Reserve zu locken, damit ich unachtsam werde. Wenn das passiert, wird er mich angreifen und versuchen, mich zu töten. Durch Hinweise, die er hinterlässt, will er mich dazu bringen, ihn zu suchen. Und wenn ich ihn finde, wird es darauf hinauslaufen, dass es wie bei einem russischen Roulette enden wird: Einer wird garantiert draufgehen.“ „Und auf so etwas lassen Sie sich ein?“ Beyond antwortete nicht, sondern brachte Naomi den Kaffee und schüttete in seine Tasse Unmengen von Zucker hinein. „Und sollte der BB-Fall auch zu dieser Aktion gehören?“ „Ja und nein. Es ging mir unter anderem darum, L von seinem hohen Ross herunterzuholen und ihm klarzumachen, dass ich nicht seine Marionette bin oder irgendein potentieller Nachfolger. Auf der anderen Seite wollte ich tatsächlich den anderen Serienmörder aus der Reserve locken, der jetzt als der Blutmaler bekannt ist.“ Dann wurde sich also abgewechselt. Mal war Beyond der Mörder, den es zu finden galt und jetzt dieser unbekannte andere. Aber warum nur machte Beyond so etwas mit? Etwa weil er an so etwas Spaß hatte? „Sie sind echt krank…“ „Ich weiß… und da bin ich nicht der Einzige. Eben deshalb müssen wir alles daran setzen, diesen Blutmaler zu finden.“ Beyond war auf einmal sehr ernst geworden und Naomi sah ihm an, dass er irgendetwas verheimlichte, was ihm wie ein Stein auf der Seele lag. Ein dunkles Geheimnis, welches er sogar mit ins Grab nehmen würde. „Frau Misora, ich habe Verständnis, wenn Sie nicht mehr an dem Fall arbeiten wollen…“ „Hey, Sie haben während der BB-Mordserie versucht, mir hinterrücks den Schädel einzuschlagen und ich habe bei vielen Einsätzen auch mal eine Morddrohung erhalten. Ein FBI Agent hat seinen Stolz und wirft nicht so einfach das Handtuch.“ „Ich habe auch nichts anderes von Ihnen erwartet“, antwortete Beyond und lächelte. Er rührte in der sirupartigen Masse herum und trank sie schließlich. Naomi konnte einfach nicht verstehen, wie man so seinen Kaffee trinken konnte aber jeder Mensch schien so seine Eigenheiten zu haben. Und Beyonds waren eben, dass ihm nur überzuckerte Getränke schmeckten und er seine Marmelade so aß. Dass er davon nicht dick wurde konnte nur daran liegen, dass er Sport treiben musste, oder den gesamten Zucker durch seine Gehirnleistung verbrauchte. Anders war das einfach nicht zu erklären. Das plötzliche Geräusch der Wohnungstür ließ beide hochschrecken und als Naomi Rayes Schritte hörte, spielte sie erst mit dem Gedanken, Beyond zu verstecken, aber leider würden sich nur Bad und Schlafzimmer eignen und dazu müsste Beyond auf den Flur, wo Raye gerade war. Also hieß es, in den sauren Apfel zu beißen und Nägel mit Köpfen machen. „Bin wieder da!“ Beyond sah Naomi fragend an, doch die hatte erst mal andere Sorgen, nämlich wie Raye reagieren würde, wenn er einen fremden Mann mit ihr im Wohnzimmer sah und dann auch noch den Serienmörder, den sie vor zwei Monaten geschnappt hatte. Die Aussichten waren wirklich nicht die Besten. „Raye, kommst du mal bitte ins Wohnzimmer?“ Nichts ahnend kam der FBI Agent rein und ließ seinen Koffer fallen, als er Beyond sah, der aufstand und ihn missmutig anstarrte. „Naomi, bitte sag mir jetzt nicht dass es das ist, wonach es gerade aussieht.“ „Raye, das ist Beyond Birthday. Mit ihm arbeite ich gerade zusammen am Blutmalerfall.“ Was ihr Verlobter gerade dachte oder fühlte, ließ sich in diesem Moment unmöglich sagen. Entweder wusste er gerade selbst nicht, was er denken oder fühlen sollte oder er war in eine Art Schockstarre verfallen. Naomi fürchtete, dass beide Möglichkeiten zutrafen und versuchte die Situation zu retten. „Es ist wirklich alles in Ordnung Raye! Beyond ist nicht hier um Ärger zu machen.“ „Sag mal Naomi, bist du denn völlig von allen guten Geistern verlassen? Warum lässt du einen dreifachen und offensichtlich verrückten Serienmörder in unsere Wohnung? Hast du auch nur die leiseste Vorstellung, was in solchen Köpfen vorgeht? Wie kannst du nur so naiv sein?“ „Ähm, Sie wissen schon dass ich noch hier bin, oder?“ „Halten Sie jetzt mal die Klappe und machen Sie, dass Sie aus meiner Wohnung verschwinden.“ Doch Beyond schien sich stur zu stellen und seine Miene verfinsterte sich immer weiter. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und kam näher auf Raye zu. Nicht eine Sekunde wandte er den Blick ab und sah aus, als würde er Raye gleich den Hals umdrehen wollen oder ihm ein Messer in die Brust rammen. Doch stattdessen sagte er nichts sondern starrte ihn einfach nur an. Zuerst war Raye noch rasend vor Wut aber irgendwie schien dieser bohrende Blick ihn ein wenig runterzuholen. Irgendwie verunsicherte ihn diese Anstarrerei seines Gegenübers. „Haben sie irgendein Problem?“ Doch Beyond antwortete nicht, sondern starrte einfach weiter und stand da wie ein Fels in der Brandung, trotz seiner gekrümmten Haltung. Naomi beobachtete das alles und fragte sich, was Beyond mit dieser Aktion eigentlich bezweckte. Wenn es sein Ziel war, Raye zu beruhigen, dann war ihm das wirklich gelungen. „Warum… warum starren Sie mich so an?“ „Ich mag Sie nicht.“ Nun war auch Naomi baff und wenn es nicht so eine ernste Situation wäre, hätte sie darüber lachen können. Raye hingegen versuchte wieder, seine Fassung zurückzugewinnen. „Ach ja? Und warum starren Sie mich gerade an?“ „Ich überlege nur gerade, wie lange ich wohl daran zu arbeiten habe…“ „Und woran bitteschön?“ „Das sehen Sie noch früh genug. Und außerdem: Die Tür stand offen und ich habe Frau Misora bewusstlos auf dem Boden liegen sehen. Ich habe nur das getan, was jeder normale Mensch tun würde. Okay, ich bin zwar keiner von der Sorte, aber Ihre Verlobte versteht schon was ich meine.“ Raye sah nun zu Naomi und wartete auf eine Erklärung ihrerseits. Sie erzählte von dem grausigen Paket und wie sie sich den Kopf angeschlagen hatte. „Dann hat er dir also geholfen?“ „Sie brauchen mir nicht zu danken. Also dann, ich gehe dann mal lieber. Die Luft ist auf einmal so stickig hier.“ Damit verschwand er und verdattert sahen die beiden ihm nach. Dann aber wurde Rayes Gesicht rot wie ein gekochter Hummer. „Naomi, bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Du arbeitest mit dem Serienmörder zusammen, den du festgenommen hast und der versucht hat, dich umzubringen! Wie kann man nur so verdammt naiv sein?“ „Raye, er ist zwar ein Serienmörder und er hatte alle Chancen der Welt, mich umzubringen als ich bewusstlos auf dem Boden lag. Aber er hat mich nicht umgebracht und er wird es auch nicht tun.“ „Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich verstehe das wirklich nicht….“ Raye lief auf und ab und wurde immer lauter. Nun stand auch Naomi auf und ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie hatte eigentlich damit gerechnet hat, dass Raye besorgt um sie war, aber stattdessen hielt er ihr eine Standpauke. Nun platzte bei ihr endgültig die Hutschnur. „Er wird mich nicht töten, weil er meine Hilfe braucht. Und außerdem kann ich gut auf mich selbst aufpassen.“ „Anscheinend nicht.“ „Das ist ja mal was ganz anderes. Dass ich gestürzt bin, hätte jederzeit passieren können.“ „Das ist mir vollkommen egal. Naomi, ich lasse nicht zu, dass du noch weiterhin an diesem Fall arbeitest und dich in Lebensgefahr bringst.“ „So etwas kannst du mir nicht verbieten. Ich bin deine Verlobte und nicht irgendein kleines dummes Kind!“ „Naomi, du weißt ich liebe dich über alles. Aber wenn du dich einem Serienmörder lieber ans Messer liefern willst, dann lässt du mir keine Wahl: Entweder du lässt deine Finger von dem Fall oder es ist aus mit uns.“ Die Ohrfeige kam so plötzlich und unerwartet, dass Raye sie erst einen Augenblick später spürte. Naomi hatte ihn tatsächlich geschlagen und sie hatte Tränen in den Augen. Ohne ein Wort zu sagen ging sie ins Schlafzimmer und begann ein paar Sachen in einen Koffer zu legen. Rayes Wut verflüchtigte sich sofort als er das sah und eilte zu ihr um sie davon abzuhalten. „Moment mal Naomi, was soll das denn jetzt?“ „Wonach sieht es wohl aus? Ich lasse mir nichts vorschreiben oder verbieten. Ich brauche erst mal Abstand zu dir und dann sehen wir weiter.“ „Lass uns doch über alles reden.“ „Ein anderes Mal vielleicht, aber heute habe ich echt keine Lust mehr dazu. Ich finde dein Verhalten echt unmöglich. Du behandelst mich wie ein einfaches Hausfrauchen und versuchst mich vor jeder Gefahr fernzuhalten. Und genau dafür habe ich kein Verständnis mehr. Was willst du als nächstes tun? Mich in einen Schutzanzug stecken und in Watte einwickeln, damit ich mich bloß nirgendwo verletze? Du traust mir rein gar nichts zu und solange du das nicht abstellen kannst, werde ich erst mal für eine Weile woanders übernachten.“ Wütend knallte sie den Koffer zu und schleifte ihn aus der Wohnung. Raye eilte ihr hinterher und versuchte ihr den Weg zu versperren. „Und wo willst du hin? Etwa zu deinem Beyond Birthday?“ „Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Er hat überhaupt nichts mit dem hier zu tun. Ich fasse es echt nicht, du bist manchmal so ein Vollidiot! Und jetzt lass mich durch!“ Nur mit Mühe konnte Naomi an Raye vorbei, eilte die Treppen hinunter und stieg ins nächste Taxi. Sie war so stocksauer auf Raye und konnte sein Verhalten einfach nicht verstehen. Sie beide arbeiteten seit Jahren beim FBI und trotzdem behandelte er sie wie einen Bluter in einem Messerladen. So konnte das auf Dauer einfach nicht weitergehen und solange er das nicht begriff, musste sie einfach weg. Sie hatte auch nicht vor, bei Beyond Birthday unterzukommen. Sie wusste ja nicht einmal wo er wohnte. Nein, sicher würde sie fürs Erste bei Steven unterkommen. Kapitel 6: Pause ---------------- Steven half Naomi gerne und quartierte sie ins Gästezimmer ein und versprach, mal ein ernstes Wort mit Raye zu reden. Was seine Überängstlichkeit in Bezug auf ihr Leben und ihre Gesundheit anging, da stimmte er ihr vollkommen zu. So konnte eine Beziehung auf Dauer wirklich nicht auf Dauer weitergehen. Aber andererseits hatte er auch Verständnis für Rayes Bedenken, mit einem solch gefährlichen Serienmörder wie Beyond Birthday zusammenzuarbeiten. Naomi war froh, dass sie sich bei Steven mal so richtig aussprechen konnte. Er hatte ein Talent dafür, alles aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und beide Seiten sorgfältig abzuwägen. Naomi sah ja auch ein, dass so eine Zusammenarbeit mit Beyond Birthday nicht ungefährlich war, aber sie wünschte sich von Raye trotzdem mehr Vertrauen. So etwas war bei einer Partnerschaft unverzichtbar! Die Wohnung der Kazans war ziemlich groß und insgesamt bestand die Familie aus vier. Steven sowie seine Frau Janice, die bei der gleichen Bank wie Beyond Birthdays Opfer Backyard Bottomslash arbeitete und seine beiden 17-jährigen Söhne Curtis und Ryan. Die beiden Söhne waren wahre Computergenies und wollten Hacker werden, um für die Regierung Antivirenprogramme zu entwickeln und gegen die Cyberkriminalität kämpfen. Ein Bereich, von dem Kazan nicht viel verstand, aber die beiden waren Stevens ganzer Stolz. Während Janice bei der Arbeit und die beiden Söhne in der Schule waren, sprach Naomi mit ihrem besten Freund über den Fall in allen Einzelheiten. Aufmerksam hörte er zu und nickte. „Du bist wirklich eine hervorragende FBI Agentin Naomi, das sag ich dir immer wieder. Du kannst dich wunderbar in den Mörder hineinversetzen und du hast gute Ideen. Es stimmt zwar, dass man sich an Fakten zu halten hat, egal ob FBI oder Provinzpolizei, aber manchmal muss man eben verrückte Ideen haben, um überhaupt auf erste Fakten zu stoßen. Hat dein Partner dir schon neue Informationen gegeben?“ Naomi schüttelte den Kopf und kratzte sich am Kopf wobei sie schmerzhaft daran erinnert wurde, dass sie eine genähte Verletzung hatte. Von diesem blutigen Spiel, was zurzeit zwischen Beyond und dem Blutmaler ablief, sagte sie nichts. „Was meinst du dazu Steven?“ „Ich bin deiner Meinung. Es scheint so, als hätte der Blutmaler es wirklich nur auf die Köpfe seiner Opfer abgesehen, weil es in ihm etwas Bestimmtes auslöst. Nur deine Theorie, dass er die Medien benutzt um jemand bestimmten herauszufordern, ist ein wenig gewagt. Was glaubst du, an wen er sich wenden will?“ „An jemanden, der die Bedeutung seiner Morde versteht. Ich glaube nicht, dass der Mörder seine Macht zeigen will. Seine Vorgehensweise ist über alle Maße brutal und abartig, aber er will niemandem etwas beweisen oder demonstrieren. Dazu passt seine Vorgehensweise nicht. Er erledigt beinahe mechanisch seine Pflichtarbeit mit dem Hautabziehen und Blutabnehmen und geht erst dann wirklich zu Werke. Er geht viel zu emotional ran und interessiert sich nicht für andere.“ Dieser Mörder hatte diese Schmetterlingsbilder dazu benutzt, um in die Medien zu kommen und damit auch Beyonds Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber er musste eine Art geheime Botschaft an ihn gesendet haben und die Namen der Toten waren der Schlüssel. Das Rätsel war noch nicht ganz gelöst, das hatte Beyond notiert gehabt. Es musste noch etwas fehlen. „Was ich dir noch sagen wollte“, meinte Steven schließlich „wenn du dich mit Beyond Birthday treffen willst, dann bitte nicht in unserer Wohnung. Sonst kriegt Janice noch einen Herzinfarkt.“ „Ich bleibe auch nur solange, bis das zwischen mir und Raye geklärt ist.“ „Nimm dir ruhig die Zeit, die du brauchst. Ein Streit lässt sich nicht so einfach an einem Tag aus der Welt schaffen. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche.“ Steven war zehn Jahre älter als Naomi und mit Janice lange verheiratet. Sie hatten einmal einen so heftigen Streit gehabt, dass sie kurz vor der Scheidung standen. Der Grund dafür war wohl ein Eifersuchtsdrama gewesen. Naomi bedankte sich für die Hilfe und beschloss, sich erst einmal auszuruhen vom Stress des Tages. Außerdem schmerzte ihr der Kopf. Heute würde sie jedenfalls keine großen Taten mehr vollbringen können, so viel stand fest. Sie hoffte nur, dass Raye sich schnell wieder einkriegen würde und ernsthaft mal über sein Verhalten nachdachte. Beyond Birthday saß auf dem Dach eines Hochhauses und starrte in die Ferne. In seiner Hand hielt er ein Handy, auf dessen Display er starrte. Langsam wählte er eine Nummer, zögerte jedoch sie anzurufen. „Scheiße“, murmelte er und ließ den Kopf hängen. Es war alles seine Schuld. Er hätte diesen Wahnsinn schon viel früher beenden müssen. Aber damals… war er noch zu schwach gewesen und hatte noch nicht diese Kraft entwickelt, die er jetzt besaß. Das, was damals passierte, geschah wie eine schleichende Krankheit, die explosionsartig ausgebrochen war. Er hatte gewusst, dass diese Kette von Ereignissen unabsehbar war, aber damals war er noch so naiv gewesen und hatte geglaubt, es würde sich auch zum Besseren wenden können. Und jetzt stand er vor diesem Scherbenhaufen und er hatte keine andere Wahl. Der Stein von damals, der durch ein tragisches Ereignis ins Rollen gebracht wurde, hatte sich zu einer katastrophalen Lawine entwickelt, die unzählige Menschen in den Tod gerissen hatte. Er war nicht in der Lage, die Menschen vor dieser Lawine zu retten, das wusste er und wollte es deswegen auch gar nicht versuchen. Und alleine aufhalten konnte er sie auch nicht. Dazu war diese Lawine einfach zu stark. Nur mit Mühe gelang es ihm, selbst diese Kraft unter Kontrolle zu halten, um nicht auch noch eine Katastrophe herbeizuführen. Jeden Tag kämpfte er gegen diesen verlockenden Drang und oft gelang es ihm nicht, ihm zu widerstehen. Immer, wenn er sich an das Vergangene zurückerinnerte, schnürte sich in ihm die Brust zusammen und er versuchte dieses Gefühl abzutöten, indem er sich selbst einredete, er könne nicht anders. Er sei nun mal böse und klammere sich nur deshalb am Leben, weil er egoistisch und rücksichtslos war. Dabei belog er sich letzten Endes doch nur selbst. Es stimmte schon: Er war böse und konnte ohne Grund töten, aber er konnte seine Vergangenheit und auch seine Gefühle nicht verleugnen. Trotz allem, was er getan hatte, war er immer noch ein Mensch. Und solange er noch einer war, musste er diese Last auf seinen Schultern tragen. Gerade wollte er sein Handy wieder einstecken, da klingelte es und das Display zeigte eine unterdrückte Nummer an. Er nahm den Anruf an und sagte nur „Ja?“ „Es ist lange her…“ „Zu lange, ich weiß.“ „Du weißt, was du zu tun hast, oder?“ „Ja.“ „Falls du erneut Mist baust, dann wird Naomi Misora sterben. Ihr Kopf wird dann mir gehören.“ „Fass sie auch nur an und ich schlitz dich auf!“ „Das hoffe ich doch.“ Damit legte der Anrufer auf und in einem Anflug von Wut stand Beyond kurz davor, sein Handy vom Dach zu werfen und fluchte mit zusammengebissenen Zähnen. So hatte er sich das ganz sicher nicht vorgestellt. Dass dieses Monster schon solche Geschütze auffuhr, konnte nur bedeuten, dass dies die letzte Runde sein würde. Und wenn er es nicht schleunigst fand und ihm den Garaus machte, würde er noch teuer bezahlen müssen. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich schwarz zu ärgern. Er musste sich beeilen und herausfinden, was sein Gegner als nächstes vorhatte und dazu würde er erst einmal mit Naomi Misora ein neues Treffen vereinbaren. Dieser so genannte Blutmaler hatte noch etwas ganz Bestimmtes vor. Jedes Drama hatte seinen Höhepunkt und der würde noch folgen. Aber er hatte nur eine Chance, nämlich indem er das Rätsel hinter den Opfern entschlüsselte. Vielleicht gelang es ihm dann, dieses furchtbare Spiel ein für alle Male zu beenden. Er wählte Naomi Misoras Nummer, bekam aber stattdessen ihren nervtötenden Versager von Verlobten an den Hörer. „Ist Frau Misora vielleicht zugegen?“ „Sind Sie es schon wieder?“ „Ja, ich bin es schon wieder. Und ich mag Sie immer noch nicht. Ist Frau Misora da?“ „Halten Sie sich von ihr fern, oder ich bringe Sie persönlich hinter Gittern.“ Meine Güte, der kleine Ray-Ray war ja richtig mies drauf. Entweder gab’s schlechten Sex oder Streit. Na egal, dieser Schwachkopf interessierte ihn nicht im Geringsten. Der einzige Grund, warum er ihn überhaupt noch am Leben ließ lag einzig und allein daran, dass er es sich nicht mit Naomi Misora verscherzen wollte. „Ich kann also davon ausgehen, dass Ihre Verlobte nicht da ist. Gut, dann werde ich sie einfach auf ihrem Handy anrufen.“ „Fahren Sie zur Hölle. Und ich sage Ihnen nur eines: Wenn Sie ihr auch nur ein Haar krümmen, bringe ich Sie um.“ „Einen Dollar für jedes Mal, wenn ich das zu hören kriege…“ Damit legte Beyond auf und wählte direkt Naomis Handynummer. Die rauszukriegen war nicht schwer. Man musste nur unbemerkt zu Werke gehen und ein hervorragendes Gedächtnis besitzen. Er konnte ihr ja schlecht sagen, dass er schon mal in ihre Wohnung eingestiegen ist. Dann würde sie ja noch auf diesen seltsamen Trip kommen, dass das eine Verletzung der Privatsphäre sei. Pah, was kümmerte ihn schon so eine Bagatelle? Der Zweck heiligte eben auch so manch illegale Mittel. Wenn es zum Ziel führte, war ihm auch ein Mord recht. Es dauerte eine Weile, bis endlich jemand den Hörer abnahm aber es war nicht Naomi. „Wer zum Teufel ist da?“ „Ich bin ein Freund von Naomi und wer sind Sie?“ „Beyond Birthday, ich wollte sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“ Soso, sie war also bei einem Freund. Also handelte es sich um einen so genannten Beziehungsstreit. Er hatte schon mal darüber in Romanen gelesen und wenn sich Mann und Frau wegen irgendetwas uneinig waren und sich dermaßen stritten, dass sie sich fast die Augen auskratzten, packte die Frau ihre Koffer und kam erst mal eine Zeit lang bei Freunden unter. Tja, da hatte Ray-Ray wohl Mist gebaut. So ein Idiot. „Es tut mir leid, aber im Moment fühlt sie sich nicht gut und ruht sich aus. Soll ich ihr etwas ausrichten?“ „Sagen Sie ihr, ich warte morgen um 14 Uhr wieder im Lovely Evening auf sie. Es gibt da ein paar Dinge zu besprechen.“ „Keine Sorge, ich werde es ihr schon ausrichten. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Damit war das Gespräch beendet und Beyond steckte sein Handy ein. Dann sah er hinauf zum wolkenverhangenen Himmel und seufzte. Heute wird es noch ein heftiges Gewitter geben. „Vielleicht sollte ich die Nacht im Hotel verbringen…“ Naomi wachte knapp drei Stunden später auf und schlurfte in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Dabei traf sie auf Janice, die gerade von der Arbeit kam und einen Heidenschreck bekam. „Naomi, du siehst furchtbar aus!“ „So ungefähr in diese Richtung fühl ich mich auch. Ich hatte Streit mit Raye und hab mir bei einem Sturz den Kopf aufgeschlagen.“ „Ich hoffe dein Sturz geschah nicht während des Streits…“ Naomi und Steven hatten beschlossen, Janice über den Fall lieber im Unklaren zu lassen und auch, dass sie mit Beyond Birthday zusammenarbeitete. Die Bankkauffrau besaß nicht gerade die stärksten Nerven und würde nur unnötig Angst bekommen. Die FBI Agentin brauchte eine Weile, um wieder richtig nachdenken zu können und kramte in ihrer Handtasche herum, wo sie den Umschlag mit den Fotos aufbewahrte. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, als wären die jetzigen Morde noch nicht alles. Bestimmt würde noch etwas ganz Schlimmes folgen, das spürte sie bis in ihre Knochen. Oder konnte es an dem Gewitter liegen, was sich draußen anbahnte? Ein lautes Donnern bestätigte ihren Verdacht und sie überkam eine Gänsehaut. Innerlich fröstelte es sie und nicht einmal eine heiße Dusche konnte daran etwas ändern. Die Verletzung schmerzte kaum noch, aber trotzdem würde sie den Rest des Tages keine großen Heldentaten mehr vollbringen. Trotzdem sah sie sich die Bilder noch mal an und dachte nach. Irgendetwas an einem Bild war ihr seltsam vorgekommen. Sie konnte sich nicht erklären was es war, aber da war etwas, das sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Auf dem Tisch breitete sie noch mal alle Fotos aus und sah sich jedes einzelne genau durch. Doch was immer sie da gesehen hatte, sie sah es nicht mehr. Irgendwann kam Curtis herein und warf einen neugierigen Blick darauf. „Ist das nicht das Werk des Blutmalers?“ „Ja und irgendwie ist mir etwas ganz wichtiges entgangen. Vielleicht ist es irgendetwas total simples und nebensächliches und trotzdem komme ich nicht drauf.“ „Manchmal ist es schwierig die Dinge zu sehen, die direkt vor einem liegen. Zumindest sagt Dad das immer. Hast du eigentlich schon herausgefunden, ob es ein Mann oder eine Frau war?“ Eine sehr interessante Frage. Bis jetzt hatte sich Naomi noch nie mit dieser Frage beschäftigt aber vielleicht war es ja das, was sie unterbewusst beschäftigt hatte. Sie ging noch mal die Fotos durch und wurde fündig: Ein blutiger Fußabdruck. Anscheinend war der Blutmaler direkt in die Blutlache seines Opfers getreten und hatte einen Abdruck hinterlassen. „Das ist es“, murmelte sie und zeigte es Curtis. „Hier ist ein Fußabdruck. Nun gilt es nur noch herauszufinden, wie groß der Fuß eigentlich ist.“ Naomi begann nachzurechnen und stellte fest, dass der Fuß ungewöhnlich groß war. Schuhgröße 44 bis 45 schätzte sie. Es musste sich also um eine sehr große Person handeln. Raye hatte die gleiche Größe und war 181cm groß. Der Kraft und der Brutalität nach zu urteilen musste es sich außerdem um jemanden handeln, der körperlich stark war. Eine Frau schied da eher aus. Es war also eher wahrscheinlich, dass ein Mann dafür verantwortlich war. Und Beyond Birthday konnte es auch nicht gewesen sein, denn der zog es lieber vor, barfuß zu bleiben und seine Füße waren kleiner. Wenn er überhaupt Schuhe trug, dann Sneakers, die so abgenutzt waren, dass sie kaum noch Profil hatten. „Ach übrigens“, sagte Curtis schließlich, der zum Kühlschrank ging, um sich eine Limonade herauszuholen. „Dad bat mich dir auszurichten, dass dein seltsamer Kollege dich morgen um 14 Uhr im Lovely Evening erwartet.“ Vielleicht sollte sie da mal ihre Theorie ansprechen, was das Geschlecht des Mörders betraf. Es interessierte sie nämlich sehr, ob Beyond Birthday genauso dachte, oder ob er eine andere Idee hatte. Aus ihrer Tasche holte sie ihren Notizblock und Kugelschreiber und schrieb alles in eine Pro- und Contraspalte. Für einen Mann sprach der ungewöhnlich große Fuß, diese Kraft, die an den Tag gelegt wurde und die Grausamkeit. Zwar gab es auch Frauen, die entsetzliche Morde begangen hatten, aber sie waren vielmehr darauf ausgerichtet, ihre Opfer zu quälen. Meistens waren es Männer, die so etwas anrichteten. Und Naomi glaubte kaum, dass es Frauen gab, egal ob sie verrückt waren oder nicht, ihrem Opfer einfach so die Haut abzogen, um daraus eine Leinwand zu machen. Solche Fälle waren extrem selten und wenn, dann waren es Soziopathen. Und um einen Soziopathen konnte es sich hier nicht handeln, denn diese konnten menschliche Gefühle nicht empfinden und imitierten sie nur. Sie besaßen weder Gewissen noch Moral oder im Ansatz auch nur Empathie. Diese Mörder hier war gewiss kein Soziopath. Auch geistige Verwirrung war nur sehr schwer zu erkennen, dazu passte diese Präzision zu Anfang seiner Arbeit nicht. Wenn er psychisch derart instabil war, wie konnte er dann mit beinahe fachmännisch die Rückenhaut entfernen? Irgendwie steckte Naomi in einer Sackgasse und betrachtete ihre Liste. Kaum ein Punkt sprach dafür, dass eine Frau dahinterstecken konnte. Aber wenn sie an die Sache mit dem Kopf dachte, konnte es auch eine Frau sein. Immerhin hatte er nicht die nötige Kraft besessen, um seinem Opfer mit einem Messer den Kopf abzutrennen, sondern musste ihn vorher das Genick brechen. Zu dumm, dass Steven jetzt Dienst hatte, er hätte ihr vielleicht Antwort geben können. Naja, sie traf sich ja sowieso morgen mit Beyond Birthday und da konnte sie diesen Punkt auch ansprechen. Kapitel 7: Omen --------------- Naomi hatte sich ein wenig verspätet und Beyond Birthday wartete bereits am selben Tisch wie beim letzten Mal auf sie. Er tadelte sie nicht wegen ihrer 10minütigen Verspätung, sondern erkundigte sich stattdessen nach ihrem Wohlbefinden. „Es geht mir gut, danke.“ Die Kellnerin brachte ihnen beiden Kaffee und nach ein paar netten Worten begannen sie mit ihrer eigentlichen Arbeit. Naomi sprach ihre Entdeckung bezüglich der Schuhgröße an und ihre Frage, ob der Täter eine Frau oder ein Mann war. Beyond hob die Augenbrauen und sah sie erstaunt an. „Wirklich interessant, dass Sie das ansprechen. Was glauben Sie denn?“ „Also die Kraft und Größe spricht für einen Mann, ebenso, wie der Mord durchgeführt worden ist. Dieses Ausmaß an Brutalität fällt eher ins Schema der Männer und wenn Frauen zu solchen Mitteln greifen dann nur, weil sie ihre Opfer peinigen wollen. Dieses vollkommen distanzierte Vorgehen beim Hautentfernen sieht einer Frau auch nicht gerade ähnlich. Aber mich beschäftigt die Tatsache, dass der Blutmaler seinem Opfer erst das Genick bricht, bevor er ihm den Kopf abtrennt. Spricht das nicht für eine Frau?“ „Nicht unbedingt“, murmelte Beyond und schüttete Unmengen von Zucker in seine Tasse. „Es gab einen Mann, dessen Geschichte vor einiger Zeit verfilmt wurde. Er hatte nur ein Taschenmesser und steckte mit seinem Arm fest. Weil sein Messer nicht den Arm abtrennen konnte, hat er sich zuerst die Knochen gebrochen und dann seinen eigenen Arm amputiert.“ „Also spricht alles für einen Mann.“ „Oder eine sehr große und kräftige Frau. Aber halten wir uns nicht mit dem Geschlecht auf, das ändert sowieso nichts. Es gab heute übrigens einen fünften Mord. Das Opfer hieß Samuel Morgan und war stadtbekannter Kinderschänder und Drogenboss. Er wurde in seinem Haus gefunden mit den typischen Mustern und seine beiden Leibwächter sehen schlimmer aus als die Göre aus „Der Exorzist“. Gesichter zerschnitten, zwei Augen wurden ausgerissen und die Köpfe wurden um 180° verdreht. Ich glaube damit haben wir den Besitzer unserer Augen, die Sie mit der Post erhalten haben.“ „Dann sind sie also seit zwei Tagen tot?“ „Nein, die Augen wurden entfernt, während das Opfer gelebt hat. Dann wurde es mit Klebeband gefesselt und dann zum Tatort gebracht, wo es umgebracht wurde. Allerdings wurde nur von Samuel Morgan der Kopf mitgenommen. Was halten Sie davon?“ Das war wirklich merkwürdig. Normalerweise hatte der Blutmaler immer den Kopf mitgenommen aber warum war es hier anders? Waren ihm die Köpfe der Bodyguards etwa nichts wert? Naomi kam eine Idee. „Wissen Sie vielleicht, ob die bisherigen Mordopfer Kinderschänder waren oder zumindest wegen Kindesmisshandlung auffällig geworden sind?“ Aus einer Tasche holte Beyond einen Laptop heraus und begann zu recherchieren. Zwischendurch schlürfte er seinen Zuckerkaffee und sagte schließlich „Hier…“ Er drehte den Laptop Naomi zu damit sie lesen konnte. Die Übereinstimmung war erschreckend: Kayleigh Clarkson: Totschlag in Tateinheit mit schwerer Kindesmisshandlung Andrej Zachary: Mord an einem 8-jährigen Rick Bicksby: dreifacher Kindesmissbrauch Amanda Sanders: Verdacht auf Misshandlung Samuel Morgan: Kindesmissbrauch, Besitz von Kinderpornographie „Das gibt es ja nicht. Unser Blutmaler hat es hauptsächlich auf Leute abgesehen, die sich an Kindern vergreifen.“ Damit stand wohl fest, welche Beute der Blutmaler wohl bevorzugte. Und dass er ausschließlich nur solche Leute tötete, konnte bedeuten, dass er selbst ein Opfer gewesen war und Rache nehmen wollte. Nur die Frage war, ob er auch schon vorher ähnliche Morde begangen hat. Was das betraf, so war Beyond ihr jede Menge Antworten schuldig. „Sie kennen den Blutmaler persönlich?“ „Ich habe ihn vor Jahren gekannt, aber dann trennten sich unsere Wege für eine lange Zeit. Persönlich gesehen habe ich ihn seitdem nicht mehr.“ „Sie verschweigen doch etwas, nicht wahr?“ „Ich habe das persönliche Recht, Angaben zu verschweigen, wenn es mich selbst belastet. Ich sage Ihnen nur, dass der Blutmaler schon tötet, seit er neun Jahre alt ist!“ „Sie… Sie machen Scherze.“ Naomi fiel der Löffel aus der Hand und sie starrte Beyond fassungslos an. Mit neun Jahren einen Mord zu begehen sprach für jemanden, der absolut wahnsinnig sein musste. Oder für jemanden, der verzweifelt war. Sie musste an den Jungen denken, der seinen Stiefvater und seinen Freund niedergestochen hatte, weil er diesem Alptraum entkommen wollte, in welchem er gefangen war. Ob der Blutmaler genauso war? Beyond atmete tief durch und sah Naomi ernst an. „Glauben Sie an den Himmel?“ „Ich weiß nicht, wieso fragen Sie?“ „Ich für meinen Teil bin nicht religiös, aber ich weiß, dass es die Hölle gibt. Die Hölle existiert alleine in den Köpfen der Menschen. Der eigene Geist, die unauslöschbaren Erinnerungen, das Unterbewusstsein… und die tief verborgene Dunkelheit sind das, was die wahre Hölle ausmacht. Der Teufel erschafft nicht die Hölle, er wird aus ihr geschaffen.“ Das bedeutete also, dass der Blutmaler selbst durch die Hölle gegangen ist und sich angepasst hat, um überleben zu können. Aber warum hatte Beyond ihr das nicht früher gesagt? Etwa weil er Angst hatte, man könne seine eigene Vergangenheit aufdecken, die bis heute noch ein einziges Geheimnis war? Vielleicht aber gab es auf eine unangenehme Erinnerung, die er lieber verdrängen wollte. „Wenn Sie mir nicht sämtliche Informationen zum Blutmaler geben, könnte das noch unser Leben in ernsthafte Gefahr bringen!“ „Ich weiß, aber ich versichere Ihnen dass der Blutmaler Ihnen nichts antun wird, solange wir an dem Fall weiterarbeiten. Er hat es einzig und allein auf mich abgesehen.“ Naomi traute der Sache nicht und hatte das Gefühl, in diesem Spiel bloß eine Figur zu sein. Nur stellte sich die Frage, ob Beyond sie hintergehen würde, wenn er ihre Hilfe nicht mehr benötigte. Er jedenfalls schien sich seiner Sache sicher zu sein und lächelte. „Frau Misora, ich habe Sie bestimmt nicht ausgesucht, weil ich so etwas wie Rachegefühle habe und ein falsches Spiel treiben will. Das ist nun gar nicht mein Stil und außerdem haben Sie nur Ihren Job gemacht. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann ist mir Ihre Gesellschaft viel lieber als die eines anderen FBI Agenten.“ Naomi sah ihn ungläubig an und wusste nicht was sie davon halten sollte. „Wollen Sie mir etwa Komplimente machen?“ „Nein, ich wollte Sie nur anbaggern.“ Dem Kerl war echt nicht mehr zu helfen. Aber irgendwie war das auch süß, jedenfalls musste Naomi kichern. „Sie wissen aber schon, dass ich verlobt bin.“ „Ach, warten wir es ab, wie lange das noch andauert.“ Beyond holte ein Glas Erdbeermarmelade hervor und begann diese zu essen. Er war wirklich undurchschaubar aber Naomi hatte das Gefühl, er wollte ihr wirklich nicht in den Rücken fallen und sie zum entscheidenden Zeitpunkt hintergehen. Nein, in dieser Sache konnte sie ihm vertrauen. Aber jetzt wollte sie auf das Rätsel ansprechen. „Auf der Rückseite eines Fotos habe ich Ihre Notizen gefunden. Sie haben etwas von einem Rätsel erwähnt und die Namen der Opfer notiert.“ „Nun, es sieht folgendermaßen aus: Der Blutmaler, wie er jetzt von den Medien genannt wird, mordet schon seit er neun Jahre alt ist und hatte dabei jedes Mal den Kopf seines Opfers mitgenommen. Meist hat er diesen Job mit einer Axt erledigt und seine Opfer zerstückelt und dann versteckt. Er hat sich bis dahin also bemüht, seine Morde zu verbergen. Aber jetzt will er zum Finale ansetzen und um herauszufinden, wie dieses aussieht, muss ich sein Rätsel entschlüsseln und die Namen der Opfer sind der Schlüssel. Ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher, aber es werden insgesamt noch drei Tote folgen.“ „Und wie sicher sind Sie sich?“ „Zu 30,57%.“ Das war eine interessante Prozentzahl aber leider noch nicht hoch genug, um zur Tat zu schreiten. Beyond schrieb ihr die Namen auf. „Ich habe die Theorie, dass die Anfangsbuchstaben der Vornamen der Schlüssel zum Finale des Blutmalers sind. Wir haben also KARAS. Das ergibt als einziges einen Sinn und ich vermute, dass es sich um den Namen seines nächsten Opfers handelt. Karas ist leider noch nicht der vollständige Name und ich vermute, dass es sich um einen asiatischen Namen handelt. Ich habe bereits recherchiert und eine ellenlange Liste erhalten. Und es ist schwierig sie einzuschränken.“ „Und was ergab die Einschränkung auf jene, die mit Kindesmissbrauch oder ähnlichem zu tun haben?“ „Nur eine: Lucy Karasaki und die ist von Geburt an vom Hals ab gelähmt und wird von ihrer Familie versorgt.“ Merkwürdig, warum wollte der Mörder jetzt auf einmal sein Schema ändern? Das passte doch gar nicht ins Gesamtbild. Es sei denn… „Wenn wir davon ausgehen, dass der Blutmaler deshalb Leute tötet, die Kinder misshandelt haben, dann hat er doch selbst in seiner Vergangenheit ein Trauma erlitten.“ „Davon könnten wir ausgehen.“ „Dann wäre es doch möglich, dass die Person, deren Namen mit KARAS beginnt oder es zumindest beinhaltet, etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Vielleicht ist KARAS ja für etwas verantwortlich, was nicht an die Öffentlichkeit gelangte und nur der Blutmaler alleine weiß. Und eben diesen Vorteil nutzt er, indem er zwar ein Rätsel aufgibt, das aber niemand lösen kann oder so viel Zeit in Anspruch nimmt, dass es zu spät ist.“ Den gleichen Gedanken schien auch Beyond zu haben und begann mit einer finsteren Miene auf seiner Daumenkuppe herumzukauen. Dabei murmelte er immer wieder diesen unvollständigen Namen. Naomi hörte ihn dabei zu und hatte sofort eine Idee. „Ja genau das ist es. Ich weiß was mit Karas gemeint sein könnte.“ „Dann lassen Sie mal hören.“ „KARAS könnte das japanische Wort „Karasu“ bedeuten. Japaner lassen das „u“ unbetont sodass es wie ein Karas klingt. Und Karasu bedeutet übersetzt Krähe.“ Beyond sah Naomi mit seinen Shinigami-Augen an, welche sich langsam weiteten und man sah ihm an, dass er jetzt endlich die Antwort zu haben glaubte. „Frau Misora, Sie sind unglaublich. Das könnte wirklich die Lösung sein. Es gibt tatsächlich in Japan eine Familie, die als Familiensymbol die Krähe hat, weil ihr Name das Wort „Karasu“ enthält. Dass ich selbst nicht darauf gekommen bin.“ Hastig tippte Beyond etwas ein und Naomi rutschte mit ihrem Stuhl näher um mitzusehen. Beyond öffnete eine Homepage über die Karasuma Industries, eines sehr erfolgreichen Familienkonzerns in Japan, der sich hauptsächlich der Stahlerzeugung und Metallverarbeitung widmete und auch sehr viel mit dem Außenhandel zu tun hatte. Vor einiger Zeit war der Konzern in Diskredit geraten, weil angeblich Steuergelder unterschlagen worden waren, aber ansonsten war alles sauber. Schließlich hackte sich der Serienmörder in den Polizeirechner ein und fand die Familiendaten. Insgesamt 15 Familienmitglieder. Es gab eine Hauptfamilie und die Nebenfamilie. Die Hauptfamilie entstammte dem erstgeborenen Sohn des Familienoberhauptes und diese Hauptfamilie bildete sozusagen das nächste Oberhaupt aus. Die aktuellste Kandidatin war Yumiko Karasuma, die zurzeit an der Harvard University ein Auslandsstudium machte. Als Beyond ihr Bild vergrößerte, wurde Naomi stutzig. „Hey, die habe ich erst letztens gesehen. Sie hat mich auf der Straße angesprochen und gefragt wo die Prudence Street sei.“ Yumiko war bildschön und sah ein wenig verträumt aus. Ihr Haar war goldblond und sie hatte eher westliche Gesichtszüge. Allerdings… waren ihre Augen blau. Beyond suchte nähere Informationen zu ihr und las die Daten vor. „Yumiko Karasuma, geboren am 14.02.1978, also jetzt 26 Jahre alt. Sie ist sage und schreibe 180cm groß, wiegt 64kg und hat Blutgruppe AB. Ihr IQ ist beachtlich und sie hat bis jetzt nichts auf dem Kerbholz, höchstens ein Bußgeld wegen Falschparkens. Sie hat sich für soziale Projekte engagiert und drei Jahre bei einer Hilfsorganisation gearbeitet. Momentan studiert sie Betriebswirtschaftslehre und Englisch und ist eine der Besten an der Universität. Tja, viele Feinde wird sie nicht haben. Höchstens Neider.“ Yumiko Karasuma sollte also das nächste Opfer des Blutmalers werden. Aber warum? Was hatte so eine Vorzeigesoziale wie Yumiko verbrochen, dass der Kerl so einen Hass auf sie hatte? Es musste irgendetwas Dunkles in ihrer Vergangenheit geben, was dem Blutmaler einen Anlass gab, sie als Krönung des Ganzen umzubringen. Oder konnte es vielleicht sein, dass gar nicht Yumiko das Ziel war, sondern jemand anderes in der Familie? „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Yumiko das Finale bilden soll?“ „Tja, nicht gerade hoch, ebenso wenig wie beim Rest der Familie. Ich muss erst mal herausfinden, ob es überhaupt einen Grund für den Blutmaler gibt. Es könnte genauso gut sein, dass wir auf dem Holzweg sind.“ Während Beyond weiter recherchierte, musste Naomi auch an etwas anderes denken, nämlich an Raye. Sollte sie ihn vielleicht anrufen oder zumindest vorbeischauen? Nein, er hatte Mist gebaut und nun war es an ihm, sich bei ihr zu melden. Basta! Irgendwann gab es Beyond auf und schaltete den Laptop aus. „Ich hab nichts von großartiger Bedeutung finden können. Yumiko ist das Produkt einer Affäre. Ihr Vater war amerikanischer Geschäftsmann und ist kurz nach der Geburt einfach abgehauen und als seine Firma pleite ging, hat er sich den Schädel weggeschossen. Da Yumiko zur Hälfte Amerikanerin ist, hat sie deswegen blondes Haar und ist so ungewöhnlich groß.“ Schon blöd das Ganze. Konnte es tatsächlich sein, dass die Familie Karasuma die total falsche Adresse war? Dabei war sich Naomi so sicher gewesen. „Ich werde mich später noch mal umhorchen. Vielleicht findet sich ja irgendwo doch noch ein dunkles Kapitel. Sie haben schon so viele grandiose Einfälle gehabt, meine liebe Frau Misora, da müssen Sie auch dieses Mal richtig liegen. Eine hübsche Frau wie Sie…“ „Soll das wieder ein Anbaggerungsversuch werden?“ „Darauf könnte es eventuell hinauslaufen.“ Beyond grinste verschlagen und Naomi musste lachen. Nicht nur gefährlich, sondern auch ganz schön frech, dachte die FBI Agentin kopfschüttelnd. Ob diese seltsamen „Anbaggerungsversuche“ ernst gemeint waren oder nicht, das konnte sie auch nicht wirklich einschätzen. Naja, jedem das Seine. Aber eines beschäftigte sie noch. „Wenn der Blutmaler diese Aktion hier veranstaltet, dann muss er doch damit rechnen, dass alle nach ihm suchen werden und er Gefahr läuft, geschnappt zu werden.“ „Eben das will er“, erklärte Beyond geduldig und steckte sein Marmeladenglas wieder ein. „Für jemanden wie Sie ist es nicht ganz einfach zu verstehen, aber der Blutmaler ist eine tickende Zeitbombe. Man könnte schon fast sagen, er ist wie dieser grüne Hulk. Normalerweise ist er unauffällig und kann sich seiner Umgebung anpassen, aber in ihm schlummert ein Monster, das unkontrolliert ausbricht und herumwütet. Lange Zeit hat er dieses Monster gewähren lassen, aber jetzt ist er zu der Einsicht gekommen, dass es so nicht weitergehen kann.“ „Und warum stellt er sich nicht ganz einfach oder bringt sich selbst um?“ „Das kann er nicht. Das Monster will eben dies verhindern und so bleibt ihm keine andere Wahl, als diesen Weg hier zu gehen. Er vertraut darauf, dass ich ihn zuerst finde und töte. Dazu möchte ich Ihnen eines sagen: Wenn es dazu kommen sollte, dass Sie ihm alleine gegenüberstehen, dann zögern Sie nicht, sondern erschießen Sie ihn. Wenn Sie es nämlich nicht tun, wird er Sie töten!“ Diese Warnung war mehr als ernst gemeint und Naomi versprach ihm, diese zu beherzigen. Aber noch hatte sie keine Ahnung, welcher Wahnsinn ihr noch bevorstand und dass das, was sie bis jetzt erlebt hatte, noch gar nichts im Vergleich zu dem war, was bald folgen sollte. Nach dem Gespräch mit ihrem etwas seltsamen Partner ging sie shoppen, um sich ein wenig abzulenken. Sie brauchte dringend neue Handschuhe, da ihre alten Yoru zum Opfer gefallen waren. Anschließend holte sie sich noch einen Coffee to go und setzte sich auf eine Bank. Irgendetwas stimmte nicht. Sie konnte sich nicht erklären, was es war, aber auf einmal wirkte der Himmel im frühen rot der untergehenden Sonne wie blutgetränkt. War das ein Omen? Persönlich hatte sie niemals an so etwas wie Omen oder Aberglauben geglaubt, das war für sie alles nur Unsinn gewesen. Aber jetzt war sie sich nicht mehr so ganz sicher. Der ganze Himmel und die Wolken leuchteten in einem rot, das nur ein großes Unheil prophezeien konnte. Obwohl die Temperaturen sehr angenehm waren, fröstelte es sie und sie bekam eine Gänsehaut. Es war so, als würde sie ein dunkler Schatten beobachten und obwohl sie sich umsah, konnte sie nichts Verdächtiges ausmachen. Vielleicht… vielleicht war es ja besser, wieder nach Hause zu gehen bzw. zu Stevens Apartment. Schnell stand sie auf und machte sich auf den Weg ohne zu ahnen, dass zwei rot leuchtende Augen sie beobachteten und ein boshaftes wie unheilvolles Lachen zu hören war. Kapitel 8: Wahrheit ------------------- Naomi hatte sich noch nie so schnell bemüht, nach Hause zu kommen wie jetzt. Sie konnte sich nicht erklären, was ihr eine solche Angst einjagte, aber sie fühlte sich nicht mehr sicher auf der Straße. Sie bog in die Wallander Street ein und wartete an der nächsten Bushaltestelle. Ihr war nicht mehr so ganz geheuer und sie war heilfroh, dass sie den Bus noch nicht verpasst hatte und direkt einsteigen konnte. Dieses Gefühl hatte sie zuletzt als kleines Kind gehabt, als sie mit ihrer Familie nachts in einem still gelegten Industriepark unterwegs war und es teilweise so dunkle Ecken gab, dass man nichts erkennen konnte. Ihr Bruder Takuya, der vier Jahre älter gewesen war, hatte sich unbemerkt von ihnen getrennt, um diese dunklen Orte alleine zu erkunden. Er verschwand spurlos und bis heute hat niemand ihn niemand gefunden. Damals… da war Naomi gerade mal sechs Jahre alt gewesen aber dieser Vorfall hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Beunruhigt starrte sie aus dem Fenster und hörte plötzlich ein Surren. Seltsam, sie hatte ihr Handy doch gar nicht auf „stumm“ geschaltet. Sie kramte in ihrer Handtasche herum und fand tatsächlich ein Handy, das aber nicht ihr gehörte. Anscheinend musste es Beyond Birthday gehören und höchstwahrscheinlich war es in ihre Tasche gefallen, weil diese die ganze Zeit nicht verschlossen war. Aus reiner Neugier und vielleicht auch aus Misstrauen las Naomi die SMS, die ihm geschickt worden war. Der Inhalt aber ergab nicht gerade viel Sinn: „Euer Haus ist abgebrannt, benachrichtige deine Schwester. Bitte meldet euch bei mir, wenn ihr Zeit habt. Juan Ortega.“ Schwester? Beyond Birthday hatte eine Schwester? Nun hatte Naomi genug und stieg sofort aus dem Bus aus und eilte zurück ins Lokal in der Hoffnung, dass er noch da war. Jetzt hatte sie aber wirklich ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. So schnell ließ sie ihn dieses Mal nicht davonkommen. Als sie das Lovely Evening erreichte, fand sie ihn tatsächlich als er gerade dabei war, einen Eisbecher zu verdrücken. Als er Naomi sah, konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen. „Na, Sie sehen aber geladen aus. Haben Sie Streit mit Ray-Ray gehabt?“ „So, jetzt habe ich endgültig die Schnauze voll von Ihren kleinen Spielchen. Das müssen Sie mir jetzt mal erklären!“ Wütend knallte sie das Handy auf den Tisch und neugierig las Beyond die Nachricht, die er erhalten hätte. Er sah sie mit solcher Unschuldsmiene an, dass es schon an Provokation grenzte. „Das ist aber nicht sehr nett, mein Handy zu klauen und meine Nachrichten zu lesen. Sie sind ja ganz schön unanständig, meine liebe Frau Misora.“ „Hören Sie auf, mich weiterhin zu verarschen. Das mit dem Handy ist reiner Zufall gewesen, aber Sie müssen jetzt mal langsam mit der Wahrheit rausrücken oder glauben Sie, ich bin blöd?“ Beyond wollte gerade etwas sagen aber als er sah wie wütend Naomi war, behielt er es doch lieber für sich…. Naomi hingegen machte ein wenig mehr Druck. „Langsam werde ich das Gefühl nicht los, dass diese geheimnisvolle Schwester der Blutmaler sein könnte und sie beide ein ziemlich krankes Spiel treiben, wobei ich nur zu Ihrer Belustigung herumhampeln muss. Wenn Sie…“ „Beruhigen Sie sich erst einmal Frau Misora und setzen Sie sich. Da bekommt man ja seinen Eisbecher nicht runter. Ich merke schon, Sie sind wirklich eine einzigartige FBI Agentin. Also gut, ich gebe es zu: Ich habe eine Adoptivschwester. Sie ist nicht wirklich eine Blutsverwandte. Meine Eltern adoptierten sie, als sie vier Jahre alt war. Ihr Vater hatte sich in seiner eigenen Wohnung umgebracht und sie wurde drei Tage später von den Nachbarn befreit, die sich Sorgen gemacht haben. Mehr ist über ihre Vergangenheit nicht bekannt. Als unsere Eltern starben, hatten wir einen heftigen Streit und sie hat versucht, mich zu erwürgen. Danach ist sie verschwunden und seitdem habe ich nie wieder von ihr gehört.“ „Sie lügen!“ entgegnete Naomi und zog ihre Waffe, die sie bei sich trug und richtete sie auf Beyond. „Erzählen Sie mir alles über Ihre Adoptivschwester oder ich sehe mich gezwungen, ein wenig deutlicher zu werden.“ „Wer von seinem eigenen Vater mit der Waffe angeschossen wurde, der fürchtet sich nicht mehr, wenn ein anderer mit einer Pistole auf ihn schießt. Sie werden mich sowieso nicht erschießen. Denn im Gegensatz zu mir sind Sie an das Gesetz gebunden und müssen sich an die Spielregeln halten. Wenn Sie auf mich schießen, werden Sie entweder wegen gefährlicher Körperverletzung, versuchten Mordes oder wegen Mordes vor Gericht landen. Und ich glaube kaum, dass Sie so etwas wollen.“ Nun zeigte er endlich sein wahres Gesicht. Beyond Birthdays Shinigami-Augen blitzten auf und er grinste hinterhältig. Naomi entsicherte ihre Waffe und sie sah ihn entschlossen an, doch ihm war es vollkommen egal. „Falls Sie es noch nicht bemerkt haben“, sagte er schließlich „Sie sind zwischen die Fronten einer jahrelangen blutigen Fehde geraten und der einzige Grund, warum Sie überhaupt noch am Leben sind liegt einzig und allein daran, weil ich ein „gutes Wort“ für Sie eingelegt habe. Sonst hätte der Blutmaler Sie schon längst enthauptet. Und ich habe es Ihnen schon mal gesagt: Solange ich noch am Leben bin, kann der Blutmaler aufgehalten werden. Wenn ich sterbe, dann wird er endgültig außer Kontrolle geraten und ein noch nie da gewesenes Massaker anrichten. Also, was hätten Sie lieber?“ „Verdammter Mistkerl“, fluchte Naomi und sicherte ihre Waffe wieder. Es hatte keinen Zweck, Beyond Birthday hatte alle Trümpfe in der Hand und ihr blieb keine andere Wahl, als dieses Spiel mitzuspielen. Wenn sie jetzt ausstieg, würde sie und im schlimmsten Falle sogar Raye und Steven umgebracht werden und wenn sie mit Beyond zusammenarbeitete, war sie nichts anderes als seine Marionette. Er hatte das alles sicherlich von Anfang an so geplant gehabt. Als sie sich setzte, wich dieser bösartige Blick aus Beyonds Augen und er wirkte jetzt weniger bedrohlich als gerade eben erst. „Also gut, ich werde Ihnen etwas erzählen und es wird nicht sehr schön werden. Also hören Sie gut zu, denn ich werde sie kein zweites Mal erzählen: Mein Vater verlor seinen Job, als ich drei Jahre alt war und wurde zum Säufer. Oder er verlor seinen Job, weil er einer war… das wäre sogar wahrscheinlicher. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, um seine eigene Frau zu verprügeln oder sein Kind die Treppe herunterzustoßen. Zuvor hatten sie ein kleines Mädchen namens Rumiko adoptiert. Mutter entwickelte einen unerklärlichen Hass auf sie und ließ ihren ganzen Frust an ihr aus und in der Schule wurde sie das Opfer von rassistischem Mobbing. All das nahm sie schweigend hin und ließ sich von jedem in unserer Heimatstadt verprügeln, bespucken oder anderweitig hänseln. Man bewarf sie sogar mit Steinen und sie zog sich unbeschreibliche Blessuren zu. Es wurde schließlich zu einem einzigen Alptraum für uns beide, als Vater auf den Geschmack kam, sich an Minderjährige zu vergreifen. Ich muss da ja wohl nicht ins Detail gehen, oder?“ Naomi wurde ganz still und sah Beyond mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit an. Dieser jedoch fuhr unbeirrt fort. „Eines Tages zog eine Familie ins Nachbarhaus. Ein Vater mit seinem lernbehinderten Sohn, zu dem meine Adoptivschwester eine sehr enge Freundschaft hatte. Dieser Sohn wurde ebenfalls von seinem Vater erniedrigt, allerdings nur im psychischen Sinne. Rumiko wollte schließlich weglaufen und sich mit diesem Jungen treffen, doch dann verschwanden beide plötzlich. Die Polizei suchte die ganze Gegend ab, aber man fand nur Rumiko. Ihr fehlten fünf Fingernägel, sie war blutüberströmt und kaum in der Lage zu sprechen. Sie war mehr tot als lebendig.“ „Was ist mit ihr passiert?“ „Sie beteuerte immer wieder, dass der Nachbar seinen Sohn getötet habe, aber die Leiche wurde nie gefunden. Schließlich wurde der Nachbar tot aufgefunden. Man hatte ihn in seinem eigenen Bett mit einer Axt regelrecht filettiert und der Kopf wurde erst später im See gefunden. Schließlich wurde Vater überfallen. Er wurde niedergeschossen, fiel aus dem Fenster auf dem Zaun, wo er aufgespießt wurde. Mutter wollte mit uns weggehen, da hat Rumiko sie kurzerhand vor den Zug gestoßen und kurz darauf hat sie versucht mich zu erwürgen. Sie würgte mich bis zur Bewusstlosigkeit und als ich wieder zu mir kam, war sie verschwunden und ich hörte lange Zeit nichts mehr von ihr.“ Ein furchtbarer Verdacht stieg in Naomi auf, als sie diesen Bericht hörte und sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. „Hat Ihre Schwester… den Nachbarn erschlagen?“ „Ich weiß es nicht. Ein Kind ist kaum in der Lage, einem Menschen den Kopf abzutrennen. Aber ich weiß noch ganz genau, dass sich etwas an ihr verändert hatte, als sie nach den zwei Tagen wieder aufgetaucht war: Sie hatte einen unheimlichen Glanz in den Augen und erst später erkannte ich, dass es die Augen eines Todesgottes waren. Sie können gerne glauben, was Sie wollen Frau Misora, aber es gibt sie und Rumiko und ich wurden mit einer besonderen Gabe geboren. Aber sie hat sich erst bemerkbar gemacht, als die Dunkelheit uns vollständig verschlungen hat und wir schließlich kaum noch Menschen waren. Äußerlich sind wir zwar noch welche, aber im Inneren sind wir inzwischen etwas vollkommen anderes geworden… nämlich das, was die Menschen aus uns gemacht haben.“ „Dann… dann ist Ihre Schwester also tatsächlich der Blutmaler?“ Doch Beyond antwortete nicht, sondern reichte Naomi ein Klassenfoto. Darauf zu sehen waren unter anderem ein kleiner verschüchterter Junge, der offensichtlich Beyond Birthday war und daneben ein gebrechlich wirkendes Mädchen. Es hatte ein verbundenes Auge, einen bandagierten Arm und sah mit einem müden Blick in die Kamera. Sie hatte blondes schulterlanges Haar und trug ein schwarzes Kleid mit weißem Pullover darunter. Was außerdem auffiel war, dass sie größer war als die anderen Kinder in ihrer Klasse und leichte asiatische Gesichtszüge hatte. Genauso wie… Yumiko. „Ich habe das zunächst als einen Zufall gewertet, dann aber noch mal recherchiert und herausgefunden, dass der Mann, der Rumikos leiblicher Vater war, der selbe Vater von Yumiko ist. Können Sie eins und eins zusammenzählen?“ „Die beiden sind eineiige Zwillinge. Aber… aber warum wurden sie getrennt?“ „Weil es in der Hauptfamilie nur ein Kind geben durfte, da nur einer das zukünftige Familienoberhaupt werden kann. Da man einen Zwilling unmöglich abtreiben kann, hat man das andere loswerden wollen. Dieser amerikanische Geschäftsmann hat einen Zwilling in seine Heimat mitgenommen und hat sich vier Jahre später umgebracht.“ So war das also. Langsam fügten sich die Puzzleteile zu einem Bild zusammen. Beyonds Adoptivschwester hatte all diese Menschen getötet und wollte sich an ihrer leiblichen Familie rächen, weil sie sie einfach verstoßen hatten. „Wie gefährlich ist Ihre Schwester?“ „Auf einer Skala von eins bis zehn würde ich zehn sagen. Wenn sie richtig wütend ist, dann kommt sie locker auf 12. Dann geht sie auf jeden los, der in ihr Blickfeld gerät.“ „Aber warum enthauptet sie ihre Opfer?“ „Tja, das weiß ich leider nicht.“ Beyond fischte eine Erdbeere aus dem Eisbecher und aß sie mit Sahne oben drauf. Wenn Naomi jetzt also die ganzen Fakten zusammenzählte, ergab sich folgendes Bild: Rumiko war 180cm groß und hatte aufgrund dessen auch große Füße. Aufgrund dieser brutalen Morde musste sie auch noch eine außergewöhnliche Kraft besitzen. Sie hatte eine äußerst traumatische Kindheit und irgendetwas veranlasste sie dazu, ihre Opfer zu enthaupten. Und jetzt wollte sie Rache an ihrer leiblichen Familie nehmen. „Wir müssen die Karasuma-Familie kontaktieren und sie warnen, bevor es zu spät ist.“ „Und was wollen Sie denen sagen? Dass ihre verstoßene Tochter eine brutale Serienmörderin ist und auf Rache sinnt? Kann sein, dass Sie damit Erfolg haben, aber es könnte sich auch schwierig gestalten. Die meisten wissen sicher noch nicht einmal davon. Wahrscheinlich lief diese Sache nur zwischen Eltern und Großeltern ab und der Rest der Familie wusste davon nichts. Sie können es ja gerne versuchen.“ Nun hatte Beyond seinen Eisbecher aufgegessen und wollte gerade gehen, doch Naomi hielt ihn zurück. Sie sah ihn teils mit Bestürzung teils mit Wut an. „Warum will sie, dass ausgerechnet Sie das tun?“ „Weil ich der Einzige bin, den Rumiko nicht töten kann. Wir sind zwar keine Blutsverwandten, aber zwischen uns existiert ein Band, das über das normaler Geschwister weit hinausgeht. Das ist das Einzige, was sie noch daran erinnert, dass sie und ich mal Menschen waren.“ Beyond befreite sich aus Naomis Griff, zahlte seinen Eisbecher und den Kaffee und verließ das Lokal. Naomi hingegen bestellte sich erst einmal etwas Alkoholisches, um das, was sie gehört hatte, erst einmal zu verdauen. Nun verstand sie, warum Beyond sich so hartnäckig geweigert hatte, Persönliches von sich preiszugeben. Vom eigenen Vater verprügelt und missbraucht zu werden war etwas, woran sich niemand erinnern wollte. Deswegen hatte er auch nicht verraten, dass er eine Adoptivschwester hatte, weil es nur unangenehme Erinnerungen wachrief. Aber was hatte das mit den Todesgöttern zu bedeuten? War das etwa eine Art Metapher oder eine Art versteckte Botschaft? Naja, das war jetzt auch vollkommen nebensächlich. Naomi musste schnell nach Hause (zumindest zu Steven) und die Familie Karasuma vor dem bevorstehenden Unglück warnen. Wenn sie nicht schnell etwas unternahm, dann würde es noch ein fürchterliches Blutbad geben und sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es aussehen würde. Wahrscheinlich war das kein Vergleich zu dem, was sie bisher gesehen hatte. Und da hatte sie nicht ganz Unrecht. Beyond hatte sich auf einem still gelegten Hochofen zurückgezogen und wählte eine Nummer auf seinem Handy. Er musste jetzt dringend Rumiko sprechen und wissen, was sie jetzt vorhatte. Und er musste noch einmal ihre Stimme hören. Es dauerte eine Weile, da nahm sie endlich ab. „Was gibt es?“ „Wo bist du gerade?“ Er hörte eine laute Lärmkulisse im Hintergrund. „Ich bin dabei, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Ich hoffe du weißt, dass Naomi Misoras Leben von deinem Erfolg abhängt.“ „Ja ich weiß…. Trotzdem bedaure ich es, dass es so weit kommen musste.“ „Du kannst nichts dafür… und auch mir tut es leid, so etwas von dir zu verlangen. Aber so kann es nicht weitergehen. Ich… ich kann das nicht mehr lange… Entschuldige, aber ich muss auflegen.“ „Rumiko, warte!“ doch da hatte sie schon aufgelegt und Beyond fühlte diese unendliche Leere in seinem Inneren. Seine Brust schnürte sich zusammen und er hatte das Gefühl, vollkommen allein zu sein. Wie sehr vermisste er ihre aufmunternden Worte, als sie stundenlang bei Eiseskälte im Geräteschuppen ausgeharrt hatten, als ihr Vater im Haus randalierte und sogar bewaffnet war. Damals war er sechs oder sieben Jahre alt gewesen und es war im Dezember gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Ja genau. Sein Vater hatte ihn mit einer Fußfessel ans Bett gekettet… Rumiko kam mit einer Axt und hat die Kette durchtrennt. Sie hatte damals alles getan, nur um ihn vor den Übergriffen seines Vaters zu beschützen. Und jetzt war sie selbst ein Monster geworden. Als er sie das erste Mal seit Jahren gesprochen hatte, hatte sie zu ihm gesagt: „Wenn du mich als deine Schwester liebst, dann musst du mich töten.“ Erst jetzt verstand er, was sie wirklich gemeint hatte: Sie wollte, dass er sie tötete bevor sie vergaß, dass sie ein Mensch war und am Ende auch versuchte, ihn zu enthaupten. Sie konnte ihren mörderischen Hass nicht unterdrücken und hatte furchtbare Angst davor, jene zu verletzen oder gar zu töten, die sie liebte. Deswegen musste er sie töten, bevor sie ihr letztes bisschen an Menschlichkeit verlor, das sie noch besaß. Kapitel 9: Ruhe --------------- Naomi hatte stundenlang versucht, die Karasuma-Familie zu erreichen und es auch am nächsten Tag versucht. Dann aber bekam sie Haruko Karasuma, die Mutter von Yumiko an den Hörer und erklärte ihr die ganze Sache. Wie Beyond es angedroht hatte, reagierte sie sehr skeptisch. „Die Geschichte, die Sie da erzählen, klingt sehr merkwürdig. Sie behaupten allen Ernstes, ich würde ein Kind einfach so weggeben und ein anderes behalten? Das ist eine Unverschämtheit, so etwas muss ich mir nicht bieten lassen!“ Die Frau sprach fließend Englisch und beinahe akzentfrei. Kein Wunder bei einer Frau, die zusammen mit ihrem Mann einen mächtigen Konzern leitete und auch viel mit Export zu tun hatte. „Ich bitte Sie“, drängte Naomi. „Rumiko ist auf dem Weg nach Japan und will Rache nehmen, weil sie verstoßen wurde. Sie ist gefährlich und hat mehr als fünf Menschen auf dem Gewissen.“ „Lassen Sie mich mit Ihren Schauergeschichten in Ruhe. Ich habe nur ein einziges Kind und das ist meine Tochter Yumiko. Sollten Sie uns in irgendeiner Form weiter belästigen, dann werde die Polizei verständigen!“ Damit legte die Frau auf und Naomi kratzte sich ratlos am Kopf. Na super, das war ja nicht gerade gut verlaufen. Anscheinend hielt man sie für eine Verrückte, aber so schnell würde sie nicht aufgeben, sondern erst einmal bei der japanischen Polizei anrufen. Aber auch dort schien sie auf taube Ohren zu stoßen und war frustriert. Warum zum Teufel stellte man sich dort drüben so blöd an, wo es doch um Leben und Tod ging? In diesen Moment musste sie irgendwie an die Geschichte „Grab der Schmetterlinge“ denken. Der Auftragsmörder zerstörte die schützende Kuppel der Stadt, überließ die Menschen dem sicheren Tod, nur um mit der toten kleinen Mima im Arm ins Freie zu gelangen, wo eine ewige Eiszeit herrschte, nur damit sie endlich in Freiheit leben konnten. Rumiko wollte ihre Familie töten, um sich von ihrer Vergangenheit zu befreien und dann sterben. Diese Übereinstimmung war fast beunruhigend und Naomi wurde das Gefühl nicht los, dass Rumiko vielleicht hinter dieser Geschichte stecken konnte. Möglich war es doch oder wie sonst war Beyond ausgerechnet auf diese Lektüre gekommen? So ganz unwahrscheinlich war es ja nicht. Mima symbolisierte die unschuldige Kindheit, die als Einzige ein wenig Leben in eine Welt hineinbringen konnte, in der es für sie keine Liebe und keine Zuwendung gab. Doch diese schrecklichen Ereignisse, die Rumiko und Beyond zustießen, tötete ihre Kindheit und sie wurden zu jemanden, der in dieser Welt keine Hoffnung mehr sah und bereit war, das Leben anderer zu opfern, um endlich frei zu sein. Auch wenn sie wussten, dass es selbst ihren Tod bedeutete. Was für ein trauriges Leben… Aber trotzdem konnte Naomi nicht zulassen, dass Rumiko ihre leibliche Familie tötete. Sie musste sie aufhalten, solange sie noch konnte und da war es ihr egal, ob Beyond gerade zugegen war oder nicht! Sie versuchte es noch eine ganze Weile lang, Hilfe anzufordern aber man schenkte ihr wenig Glauben und so sah sie sich gezwungen, Beyond noch mal zu sprechen. Dieser antwortete recht schnell mit der Nachricht, er habe einen Abendflug gebucht um selber nach Japan zu reisen. An Naomi habe er selbstverständlich mitgedacht und gab ihr die nötigen Informationen. Also begann sie damit, ihre Sachen zu packen und sich auf eine Konfrontation mit Rumiko vorzubereiten. Sie nahm ihre Beretta und Magazin und umwickelte das alles mit einem speziellen Klebeband, welches eine hauchdünne Bleibeschichtung enthielt und somit die Scanner am Flughafen austricksen konnte. Nicht gerade der legale Weg, aber bei der Interpol wurde dieser Trick gerne benutzt, wenn es nun mal hieß, dass solche Wege gegangen werden mussten. Naomi war ja immer noch beurlaubt und war somit Zivilistin am Flughafen, weswegen sie sicher keine Extrawurst bekam. Neben ihrer Waffe packte sie eine Taschenlampe mit extra starker Leuchtfunktion ein, um ihren Gegner notfalls blenden zu können und noch ein paar andere Dinge. Man konnte ja nie vorsichtig genug sein. Sie hinterließ für Raye eine Nachricht, dass sie nach Japan reisen würde. Auf seine Antwort wartete sie gar nicht erst, sprach aber noch mit Steven über diese Sache. Dieser war sehr besorgt darüber und traute dem Ganzen nicht so wirklich. „Naomi, du begibst dich nicht in die Höhle des Löwen, sondern ins Innere eines Vulkans. Wenn dieser Beyond Birthday mit der Beschreibung seiner Adoptivschwester nicht übertrieben hat, dann begibst du dich in höchste Lebensgefahr und trotzdem willst du gehen?“ „Wenn ich ihn alleine gehen lasse, hat er gegen Rumiko keine Chance. Und außerdem wird er nicht zulassen, dass mir etwas passiert. Ich kann auch nicht erklären wieso aber ich glaube, dass er seinen Stolz hat und wenn ich sterben soll, dann durch seine Hand. Und wenn wir zu viele sind, dann wird es nur unnötig kompliziert werden.“ Trotzdem wirkte Steven alles andere als begeistert, aber dann hatte er eine Idee. Er gab Naomi sein Medaillon, in dem er den Peilsender versteckt hatte. „Ich habe einen guten Bekannten bei der japanischen Polizei und solltest du in Gefahr sein, wird sofort Hilfe geschickt. Versuch also, so lange wie möglich am Leben zu bleiben, dann holt man dich raus.“ Naomi bedankte sich und legte sich das Medaillon um. Vielleicht war das gar nicht mal so schlecht, wenn sie so etwas bei sich trug. Auf Steven konnte sie sich immer verlassen und sie vertraute darauf, dass Hilfe kommen würde, wenn sie welche brauchte. Trotzdem hatte sie etwas Angst vor der Konfrontation mit dem Blutmaler. Das war auch gut so, denn so würde sie nicht leichtsinnig werden und das könnte noch böse enden. „Bitte pass auf dich auf Naomi.“ Mit dem Taxi fuhr Naomi zum Flughafen und ging zu Subway, um sich ein Sandwich zu holen, da sie auf Fritten und Hamburger keine Lust hatte. Ihren „Partner“ fand sie auf einer Bank sitzend und einen Erdbeermilchshake schlürfen. Er hatte noch dunklere Augenringe als sonst und schien nicht gerade bester Laune zu sein. „Und? Haben Sie alles, was Sie brauchen?“ „Nur das Nötigste und ein wenig mehr. Man weiß ja nie. Gibt es übrigens irgendwelche Dinge, die ich noch wissen muss, bevor es losgeht?“ Beyond holte aus seiner Hosentasche eine zusammengefaltete Karte und zeigte auf eine kleine Insel, die nicht weit von der Küste entfernt war. „Diese kleine Insel hier gehört der Familie Karasuma. Dort treffen sich ein Mal im Jahr alle Mitglieder und Geschäftspartner um ungestört Verhandlungen durchzuführen und sonstige Dinge zu besprechen. Außer dem Anwesen gibt es nichts Besonderes auf der Insel, nur Bäume und einen kleinen See. Es ist der perfekte Ort, um ungestört töten zu können. Ich kann mir sogar vorstellen, welchen Plan Rumiko hat und der ist sehr gut durchdacht.“ „Wie meinen Sie das?“ „Kennen Sie nicht diese Filme, wo Zwillinge die Rollen tauschen? Ich vermute mal, Rumiko will sich als ihre Schwester ausgeben. Und das Praktische dabei ist: Sie haben dieselbe DNA. Rumiko braucht also nicht einmal ihre Spuren zu verwischen. Das ist schon wirklich ein perfekter Mord. Immerhin ist sie nicht einmal in den Geburtsurkunden angegeben.“ „Aber es könnte auffliegen, wenn die Schwester auftaucht.“ „Nicht wenn sie beseitigt wird. Ich kenne genug Mittel und Wege, um eine Leiche vollständig verschwinden zu lassen, so schwer ist das nicht. Und wenn Yumiko aus dem Weg geräumt ist, dann hat sie freie Bahn. Das kann man als perfekten Mord betrachten.“ Beyond schien sogar ein Stück weit begeistert davon zu sein und Naomi wurde klar, dass der sich nicht so schnell ändern würde. Sei’s drum, dachte sie und schaute wieder auf die Karte. Beyond deutete auf das Wasser. „Es gibt eine starke Strömung und wenn es gewittert, kann es sehr gefährlich werden. Schwimmend kommt man nicht rüber, da braucht man schon ein Motorboot. Wir werden uns eines mieten und damit zur Insel rüberfahren.“ „Sollten wir nicht besser bei Einbruch der Dunkelheit…“ „Auf gar keinen Fall, das ist viel zu gefährlich. Wir müssen am helllichten Tag hin, nur so haben wir eine Chance, Rumiko zu töten. Sie wird mit jeder erdenklichen Waffe angreifen, die sie in die Finger bekommt. Brechstangen, Gartenwerkzeug, Küchenmesser… selbst unbewaffnet ist sie gefährlich genug. Und was überlebenswichtig für Sie ist: Weichen Sie niemals von meiner Seite! Keine Alleingänge, sonst sind Sie so gut wie tot. Rumiko ist in dieser Hinsicht wie ein Raubtier, welches sich zuerst das schwächste Glied schnappt und das sind nun mal Sie, da wollen wir mal nichts schönreden. Sie wird also zuerst versuchen, Sie umzubringen und ich schätze, sie greift lieber aus dem Hinterhalt an. Achten Sie also immer auf Ihre Deckung.“ „Hat sie auch irgendwelche Schwachstellen?“ Beyonds Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hieß das wohl „Nein“. Das gibt es doch nicht, dachte Naomi kopfschüttelnd und seufzte. Jeder Mensch hatte doch irgendwo einen Schwachpunkt, den man ausnutzen konnte, egal wie stark er war. Rumiko musste irgendwo einen haben. „Frau Misora, Sie haben mir doch gesagt, Sie hätten eine Person getroffen, die eine deutliche Ähnlichkeit mit Yumiko habe, nicht wahr? Hat sie eine rote Schleife im Haar getragen?“ „Äh ja, das hat sie. Warum fragen Sie?“ „Rumiko hat von dem verschwundenen Nachbarsjungen diese Schleife geschenkt bekommen und ist auf jeden losgegangen, der sie angefasst hat. Vielleicht könnte darin ihr Schwachpunkt liegen…“ Nicht gerade hilfreich, aber in dieser Sache vertraute sie Beyond, dass er schon wusste, was zu tun war. Sie machten sich auf den Weg zu den Sicherheitskontrollen und zehn Minuten später saßen sie auch schon im Flugzeug. Tausend Gedanken gingen der FBI Agentin durch den Kopf, während sie die endlosen Wolkenfelder betrachtete. Was würde passieren, wenn sie erst einmal die Insel erreicht hatten und zu spät kamen? Würde Rumiko sie beide töten oder… gab es vielleicht doch noch eine Chance? Als sie zu Beyond sah, musste sie feststellen, dass er schlief. Na der hatte ja die Ruhe weg. In so einer Situation konnte sie ganz sicher nicht schlafen aber wenn sie bedachte, dass sie erst gegen 2 Uhr morgens in Tokio landeten, dann würde sich Schlaf sehr empfehlen. Was sie zudem bemerkte war, dass er Musik hörte und die Kopfhörer, die er hatte, ließen so viel Musik nach außen dringen dass man glauben konnte, er habe die maximale Lautstärke an. Allem Anschein nach hatte er eine sehr große Vorliebe für klassische Musik. Jedenfalls klang das Lied ganz schön traurig. Sie fragte sich, was wohl in ihm vorging. Immerhin würde er seine Adoptivschwester töten und das, obwohl sie ihn vor den Übergriffen seines Vaters beschützt hatte. Überhaupt fragte sie sich, wie man einen Menschen töten konnte, den man eigentlich liebte. Oder war sie auf dem falschen Dampfer und Beyond wollte seine Schwester töten, weil er einen Groll gegen sie hegte? Es war schon ziemlich schwierig, diese Situation richtig einzuschätzen. Beyond wachte auf und rieb sich die Augen. „Können Sie nicht schlafen?“ „Wie denn, wenn ich weiß, dass ich auf der Insel sterben könnte?“ „Sie werden nicht sterben, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Es wird auf mich und Rumiko hinauslaufen und einer von uns wird sein Leben verlieren. Wenn schon jemand Schlafprobleme kriegen sollte, dann ja wohl ich!“ „Wie können Sie eigentlich den Menschen töten, den Sie eigentlich lieben?“ „Eben weil ich sie liebe, muss ich sie töten. Nur auf diese Weise kann Rumiko endlich ihren Frieden finden. Solange sie am Leben bleibt, wird sie weiterhin in der Hölle leiden müssen, in die sie gedrängt wurde.“ Die Hölle existiert in den Köpfen der Menschen… Gefühle, unauslöschbare Erinnerungen und die tief verborgene Dunkelheit erschaffen sie und die Hölle erschafft den Teufel. Rumiko und Beyond waren selbst in dieser Hölle gewesen bzw. leben immer noch in ihr und wurden zu „Teufeln“… zu Mördern. Es gab für Rumiko nur noch den Ausweg, indem sie starb. Eine ziemlich traurige Geschichte. Nachdem sie gelandet waren, holten sie ihr Gepäck und fuhren mit dem Bus, bis sie das Moriya Hotel erreicht hatten. Dort bereiteten sie alles Nötige vor. Naomi lud ihre Beretta durch und zog sich eine kugelsichere Weste an, dazu noch packte sie sich Handschuhe ein. Beyond begnügte sich lediglich mit einem Messer mit 25cm langer Klinge. „Wollen Sie damit Rumiko töten?“ „Eine Pistole ist doch eine zu unpersönliche Art, einen Mord zu begehen. Da drückt man doch nur ab und tot ist er…. Das ist doch langweilig, da bevorzuge ich doch lieber das richtige Handwerk. Mit so etwas kann man im Gegensatz zu einer blöden Pistole noch wunderschöne Kunstwerke am menschlichen Körper schaffen.“ Naomi sagte lieber nichts dazu, sondern konzentrierte sich lieber darauf, dass sie auch alles dabei hatte. Die Angst in ihr wurde größer und sie hatte das Gefühl, dass es ziemlich kalt im Zimmer war. Dabei war es nur ein inneres Frösteln. Beyond drehte sich zu ihr um. „Ich hoffe Sie haben einen resistenten Magen. Was wir höchstwahrscheinlich zu sehen kriegen, ist nichts für schwache Nerven. Am besten essen Sie erst mal nichts mehr, sonst kommt es Ihnen nachher wieder hoch. Wir haben es immerhin mit einem Monster zu tun und wenn schon bei einem Opfer pro Tatort so eine Sauerei war, was glauben Sie, wie es wohl bei 14 Familienmitgliedern, 4 Geschäftspartnern und 6 engeren Freunden und 13 Angestellten aussieht?“ 40 Opfer also? Naomi merkte schon, wie sich jetzt schon ihr Magen zusammenkrampfte, allein von der Vorstellung her. Das war eine ungeheuerliche Zahl und kaum vorzustellen was passierte, wenn sie alle Rumikos Zorn zum Opfer fielen. Das würde wirklich ein Massaker geben, wie es die Geschichte nicht alle Tage zu sehen bekam. Und das Schlimmste war ja, dass die ganze Familie da drüben völlig isoliert war. Wenn Rumiko erst einmal sämtliche Kommunikationsmöglichkeiten unterbunden hatte, gab es keine Fluchtmöglichkeit. Sie saßen allesamt in der Falle wie auf dem Präsentierteller. Hoffentlich war es wenigstens ein paar gelungen, sich zu verstecken und darauf zu warten, dass man sie retten würde. „Ist es nicht ein wenig gefährlich, so weit draußen auf einer einsamen Insel zu leben?“ „Nun, soweit ich erfahren habe, haben die ihre eigenen Techniker und das Personal ist natürlich auch nicht auf der Straße aufgegabelt worden. Außerdem wohnen nicht alle dort. Hauptsächlich nur welche aus der Nebenfamilie, die abgeschieden leben wollen. Ein Teil des Personals wohnt ebenfalls dort.“ Nachdem sie die letzten Vorbereitungen getroffen hatten, gönnte Naomi sich noch ein klein wenig Ruhe. Bis zum Sonnenaufgang hatten sie noch etwas Zeit und bis dahin legte sie sich in den Sessel und es dauerte nicht lange, da fielen ihr die Augen zu. Beyond sah ihr schweigend beim Schlafen zu und hörte seine Musik. Immer und immer wieder musste er sich an die Szene am Bahnhof erinnern. Es war das erste Mal, dass er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Rumiko jemanden umgebracht hatte. Nämlich seine Mutter. Sie hatten auf den nächsten Zug gewartet um irgendwo hinzufahren. Wohin genau, das wusste er nicht mehr. Als ein Schnellzug durchfahren wollte, stieß Rumiko sie plötzlich vor dem Zug und alles, was von ihr auf dem Gleis verteilt lag, war kaum noch zu definieren. Zertrümmerte Knochen, Fleischfetzen und ein Arm war abgerissen. Sie war auf das Gleis gefallen und der Zug fuhr einfach über sie drüber. Ihre Beine waren völlig verdreht, das Gesicht kaum noch zu erkennen und überall Blut. Fassungslos hatte er da gestanden, dann zu Rumiko gesehen und sich auf sie gestürzt, um sie zu töten. Doch sie war stärker gewesen und hätte ihn fast erwürgt. Ab diesem Zeitpunkt hatte sie erkannt gehabt, dass sie für ihn eine einzige Gefahr war. „Du musst alles daran setzen, mich zu töten. Nur so kann ich dich vor mir selbst schützen.“ Das hatte sie ihm Jahre später gesagt, als sie sich zufällig trafen und Rumiko daraufhin drei Menschen ermordet hatte. Ihre Augen waren auf einmal so matt und leer gewesen… als hätte sie längst keine Seele mehr. Sie beide waren niemals akzeptiert worden und wollten es auch jetzt nicht. Warum denn auch? Sie gehörten nicht in diese Welt, weil sie anders waren. Wegen ihrer Shinigami-Augen konnten sie keine emotionale Bindung zu Menschen aufbauen und waren ständig von Tod umgeben. Warum sich also davor isolieren und davor flüchten, wenn sie sich doch des Todes bemächtigen konnten? Nämlich indem sie allein darüber entschieden, wer seine restliche Lebenszeit noch absitzen durfte, bevor er ins Nichts ging, oder wer vorher schon das Zeitliche segnete. Sie allein konnten das sehen und waren somit nicht bloß einfache Menschen, sie hatten schon fast etwas von Todesgöttern. Kapitel 10: Treffen ------------------- Naomi wachte um 7 Uhr auf und rieb sich müde die Augen. „Frau Misora, wir müssen jetzt gehen. Die Sonne geht bald auf.“ Doch sie brauchte erst einmal einen Kaffee, bevor sie irgendetwas anderes in Angriff nehmen konnte und eigentlich wollte sie sich noch ein Frühstück machen, aber Beyond ermahnte sie noch einmal, lieber mit leeren Magen zu gehen. Also beherzte sie lieber den Rat und folgte Beyond zum Hafen, um dort ein Boot zu mieten. Der Himmel war mit dunkelgrauen Wolken verhangen und es donnerte. Solange es noch trocken war, mussten sie zur Karasumainsel bevor die Strömung unberechenbar wurde und es noch gefährlich werden könnte. Sie mieteten sich ein kleines Boot und fuhren aufs Meer hinaus. Es zeigte sich, dass Beyond ziemlich gut fahren konnte und meinte nur nebenbei, dass es gar nicht so schwer sei. „Wir müssen so weit rausfahren, bis wir einen kleinen Felsen sehen, der auch „Drachenkopf“ genannt wird. Dann müssen wir nach Nordosten weiter bis wir die Insel sehen. Nehmen Sie das Fernglas und halten Sie Ausschau.“ Naomi holte aus Beyonds Tasche das Fernglas und sah sich um. Aber sonst war da nicht viel. Nur das offene Meer. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken und zog ihre Jacke fester zu. Irgendwann sah sie den Felsen und gab Beyond Bescheid, der noch ein wenig darauf zu fuhr und dann nach Nordosten einlenkte. Auf einmal glaubte Naomi einen unangenehmen Geruch wahrzunehmen, der von irgendwo herwehte. „Irgendwie stinkt es hier…“ „Der weht von der Insel rüber. Es ist der Geruch des Todes und er ist stärker, als ich ihn mir vorgestellt habe. Machen Sie sich also auf das Allerschlimmste gefasst, Frau Misora.“ Es dauerte eine Weile, bis sie die Insel sah, die von der Familie Karasuma bewohnt wurde. Sie war nicht gerade groß und von einem Ring von Bäumen eingeschirmt, wodurch man von keiner Seite aus direkt zum Anwesen sehen konnte. Wie eine Art natürlicher Sichtschutz. Hoffentlich konnten wenigstens ein paar flüchten und sich im Wald verstecken. „Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass niemand überlebt hat?“ „Etwa zu 99,9%.“ „Aber… das sind 40 Leute!“ „Na und? Das wird für Rumiko auch kein besonderes Hindernis darstellen…“ Beyond schien sich da wohl ziemlich sicher zu sein, aber Naomi konnte sich nicht vorstellen, dass eine einzige Person 40 Menschen innerhalb einer Nacht umbringen und so zurichten konnte, wie die Opfer, die sie als Blutmalerin begangen hatte. Erst einmal erforderte es unglaubliche körperliche Kraft und außerdem blieb es doch nicht unbemerkt, wenn plötzlich mehrere Leute aus einer Gruppe verschwanden. Und wenn man die Leichen gefunden hatte, dann musste doch jemand Alarm schlagen. Es sei denn, Rumiko hatte es so geschickt angestellt, dass niemand etwas bemerken konnte. In dem Falle war es wirklich sehr wahrscheinlich, dass alle bereits tot waren. Trotzdem hatte Naomi noch Hoffnung, wenigstens einer hätte überlebt. Sie legten am Strand an, der einzigen Möglichkeit, ohne auf ein Riff oder auf unterirdische Felsen zu stoßen. Etwas weiter weg trieben die verkohlten Überreste des Schiffes, mit dem die Familie Karasuma hierhergekommen war. Anscheinend hatte Rumiko das Boot von der Anlegestelle losgemacht und angezündet. Durch die Strömung trieb es ein Stück weit weg und schlug schließlich auf ein Riff auf oder auf einen Felsen, durch das es zerstört wurde. Somit war der einzige Fluchtweg von der Insel abgeschnitten. Sie vertäuten das Boot und gingen am Steg entlang, bis der Weg in einen kleinen Kiespfad endete, der direkt in den Wald führte. „Ich habe auch eine Karte der Insel auftreiben können. Warten Sie einen Moment…“ Beyond kramte sie hervor und breitete sie aus. „Wie Sie sehen können, schließt der Wald den Rest der Insel wie eine Mauer ein. Danach geht es einen Hügel rauf und auf diesem steht das Anwesen der Familie Karasuma. Es gibt ein großes Gewächshaus und einen See etwas weiter weg vom Haus. Wir werden durch das Gewächshaus ins Anwesen gelangen und uns dann erst einmal umsehen. Wir müssen uns zuerst genau die Umgebung ansehen, bevor wir uns um Rumiko kümmern. Wenn wir sie einfach so angreifen, ist es fatal wenn wir nicht wissen, wohin wir rennen und am Ende noch in einer Sackgasse landen.“ Naomi nickte und folgte Beyond durch den Wald hindurch. Der Weg war breit genug, um ungehindert durchzukommen und wieder stieg ihr dieser seltsame Geruch in die Nase. Je näher sie sich dem Anwesen näherten, desto intensiver wurde er und als sie endlich nahe genug am Haus waren, packte sie das Entsetzen. Auf dem Dach lagen, soweit sie mit ihrem Fernglas richtig sah, Leichen… Aufgeschlitzte nackte Leichen, auf die bereits die Krähen mit ihren Schnäbeln einhackten, um sie Stück für Stück aufzufressen. Überall hörte sie das Krächzen der Vögel und ein Schauer überkam sie. Doch das Schlimmste war der Zaun: Auf ihn waren abgeschlagene Köpfe aufgespießt wie zu Zeiten der französischen Revolution und auch hier hatten die Raben bereits die Augen gefressen und Wunden ins Fleisch gerissen. Am Haupteingang dann der Schreck: Dem Butler hatte man mit Nägeln an die Tür genagelt und seine Arme waren wie beim Christus ausgebreitet. Der Kopf war verdreht und sein Bauch aufgeschlitzt. Das Gedärm hing zur Hälfte raus und Fliegen schwirrten umher. Naomi wurde schlecht als sie das sah und sie wich einen Schritt zurück. Beyond zeigte keinerlei Gefühlsregung und packte Naomis Arm und zerrte sie in Richtung Gewächshaus. „Reißen Sie sich bitte zusammen.“ Das Gewächshaus war ein einziger Urwald, wo alle Arten von giftigen Pflanzen gezüchtet wurden. Nicht nur Farne und Adonisröschen sondern auch der Aronstab, Fingerhut, ein Buchsbaum und sogar Tollkirsche und Herbstzeitlose. Da schien jemand ein echt seltsames Hobby zu haben. Schließlich kamen sie an einem Tisch, wo ein Glas stand, auf dem „κώνειον“ geschrieben stand. Naomi nahm das Glas und schnupperte daran. „An Ihrer Stelle würde ich das nicht trinken“, warnte Beyond und Naomi stellte das Glas zurück. „Die Aufschrift ist griechisch und bei dieser Flüssigkeit handelt es sich um den so genannten Schierlingsbecher, mit dem Sokrates hingerichtet wurde. Hochgiftig also.“ Sie fanden nicht nur giftige Pflanzen, sondern auch Pilze. Warum zum Teufel züchtete man hier hochgiftige Pflanzen? Wollten die Karasumas etwa ihre Feinde vergiften? Oder etwa… die Kinder, die in der Hauptfamilie geboren wurden und überflüssig waren? Nein, das konnte nicht sein. Sonst wäre Rumiko kurz nach ihrer Geburt getötet worden… „Das erinnert mich an diese eine megareiche Geschäftsfrau Rachel Heaven. Die hat einen eigenen Zoo speziell für tödlich giftige Schlangen und andere gefährliche Reptilien. Sie wurde schließlich die „Kobra“ genannt. Sie sehen Frau Misora, reiche Leute haben echt komische Hobbys.“ Das sagt gerade der Richtige, dachte die FBI Agentin und ging weiter. Er hatte doch das merkwürdigste Hobby aller Zeiten: Menschen zu töten. Naja, sie hatte aber auch schon von anderen verrückten Menschen gelesen. Von einem Gefängniswärter, der angeblich die Tattoos seiner Insassen gesammelt hatte, einem anderen Menschen, der gerne Todesanzeigen sammelte oder von einem Geisteskranken aus Schottland, der einen Heidenspaß daran hatte, Häuser abzufackeln. Diese Welt war manchmal wirklich ein Sammelbecken für echt merkwürdige Gestalten. Sie kamen schließlich in die Abteilung für Fleischfressende Pflanzen und fanden auch hier viele exotische Exemplare. Dann aber erreichten sie die Tür, die ins Innere des Anwesens führte. Naomi, die sich vorsorglich schon die Handschuhe angezogen hatte, legte ihre Hand auf den Türgriff, zögerte jedoch. Dann aber nahm sie all ihre Kraft zusammen und öffnete sie. Der Schwall, der sie überkam wie eine Sturzflut, war überwältigend. Der Gestank der Leichen und des Blutes durchdrang sie vollständig und schien sogar von ihrer Kleidung aufgesaugt zu werden. Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte sich übergeben müssen. Stattdessen schlug sie sich hustend die Hand vor dem Mund und verzog angewidert das Gesicht. „Mein Gott, das ist ja mörderisch…“ „Damit treffen Sie auch den Nagel auf dem Kopf, meine liebe Frau Misora. Also dann, rein ins Vergnügen.“ Sie erreichten das Foyer, wo schon der blutrote Teppich für sie ausgelegt war. Es sah aus als hätte ein Schlachthaus alles Blut hier abgeladen. Der Teppich war getränkt davon und so hinterließen sie überall blutige Fußabdrücke. Auf der großen breiten Treppe, die in die obere Etage führte, lagen die zerstückelten Leichen zweier Dienstmädchen. An den Wänden klebte Blut, die Gemälde waren mit einem Messer zerstört worden und in einer Tür steckte noch eine Axt. Vorsichtig öffnete sie die Tür und betrat einen riesigen Raum, der wohl als Konferenzraum diente. An den Wänden stand geschrieben „Lügner!“ und vom Kronleuchter baumelte eine Frau herunter, deren untere Hälfte fehlte. Diese fand sich auf dem Tisch mit verdrehten Füßen. Noch immer tropfte Blut herunter und entsetzt sah Naomi, dass diese Tote die Mutter von Yumiko und Rumiko war. „Wie zum Teufel hat sie das hinbekommen?“ „Den Kronleuchter kann man mithilfe eines Mechanismus herunterholen und was die Leiche angeht: Mit einer Säge lässt sich vieles bewerkstelligen.“ Immer mehr kam sich Naomi wie in einem furchtbaren Museum vor, in dem Mordopfer auf bizarrste Art und Weise präsentiert wurden. Das zeigte sich besonders in der Küche, wo sich die Innereien der Küchenhilfen im Kühlraum befanden und der Kopf des Küchenchefs im Backofen vor sich hinschmorte. Ein Apfel steckte in seinem Mund und auf seine Stirn stand geschrieben „Guten Appetit“. Es stank abscheulich und schnell stellte Naomi den Ofen aus, dann öffnete sie ein Fenster. Die Luft war hier dermaßen schlecht, dass sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Doch das war noch nicht alles gewesen, was sie hier erwartete. Die Arme waren an die Wand genagelt worden und in den Töpfen köchelte etwas. Vorsichtig trat Beyond näher und schien sich ebenfalls alles andere als wohl zu fühlen. Er hob den Deckel hoch, sah rein und sah aus, als müsse er sich übergeben. Hustend sank er in die Knie und sofort war Naomi zur Stelle um zu sehen, was da drin war. Doch sah sie nur eine blutig rote Masse da drin und mehrere Augenpaare, die sie anstarrten. Nun bekam sie Panik, wahrscheinlich durch die stinkende beklemmende Luft und dem grausigen Anblick hier ausgelöst. Schnell verließen sie die Küche und fanden eine Tür mit der Aufschrift „Toiletten“. „Ich glaube… den Anblick da drin können wir uns sparen…“ Naomi nickte und folgte Beyond bis sie den Fahrstuhl erreichten. Er war nicht groß und offenbar für jene gedacht, die nicht in der Lage waren, die Treppe zu benutzen. Wenigstens war hier drin kein Leichnam, aber dafür war alles mit Blut vollgespritzt. Sie sahen sich die anderen Räume an und bemerkten schnell, dass diese mit den anderen Räumen ebenfalls verbunden waren. Die Türen waren noch intakt und außen steckten überall die dazugehörigen Schlüssel. Das änderte Beyond schnell, indem er die Schlüssel herauszog und nach innen steckte. Nur bei den Verbindungstüren ließ er alles so wie es war. „Wir müssen uns genau merken, wie die Schlüssel bei den Verbindungstüren positioniert sind. Wenn wir flüchten müssen, kann es uns zum Verhängnis werden, wenn wir jetzt extra den passenden Schlüssel suchen oder herausziehen müssen.“ Dieses ganze Anwesen war wie ein mörderisches Spielfeld. Es ging einzig und allein darum, wer es besser kannte. In den weiteren Räumen, die sie besichtigten, fanden sie weitere Leichen, die vollständig gehäutet worden waren. Die Häute waren wie zu einem Quilt zusammengenäht und geschrieben stand „Haltet mich auf!!!“ Ein Hilfeschrei eines verzweifelten Menschen, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Irgendwann schien Naomi gegen diesen Gestank resistent zu werden und sie glaubte auch, dass sie nichts mehr noch schocken könnte. Überall sah es entsetzlich aus und die Leichen waren aufs Bizarrste entstellt und zur Schau gestellt worden. In einem der Schlafzimmer fanden sie ein Paar, das man wie Marionetten an Klaviersaiten aufgehängt hatte. In die Gesichter war ein blutiges Grinsen geschnitten und mit einem Faden wieder zusammengenäht worden. Die Augen wurden entfernt und durch Glasmurmeln ersetzt. Irgendwann aber konnte sie nicht mehr, da die Übelkeit einfach zu groß war und so setzte sie sich in eine Ecke, da sie lieber nicht die Treppe nehmen wollte, wo immer noch die toten Dienstmädchen lagen. Beyond sah sie ein wenig besorgt an. „Sie sind ganz schön blass Frau Misora.“ „Im Gegensatz zu Ihnen bin ich solch einen Anblick nicht gewöhnt…“ „Hey, ich sehe so etwas auch zum ersten Mal in dieser Form.“ „Ja schon gut… aber wir haben uns jetzt fast überall umgesehen und Ihre Adoptivschwester ist nirgendwo.“ „Doch, aber sie will uns Zeit geben, ihr Werk zu bewundern und das Spielfeld genau zu studieren, bevor es losgeht.“ Beyond reichte ihr die Hand und half ihr hoch, dann wollten sie sich auf den Weg zum Ostflügel machen. Kaum hatten sie diesen erreicht, erklang eine Melodie. Sie kam so plötzlich, dass Naomi erschrocken zusammenzuckte und beinahe einen Schuss abgefeuert hätte. Irgendjemand spielte im Ostflügel Klavier. Nein, nicht irgendjemand sondern Rumiko Karasuma. Nun überkam Naomi die Angst. Jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass die wahnsinnige Serienmörderin, die mit Sicherheit über 44 Menschen getötet hatte, hier in diesem riesigen Haus war. Innerlich hatte sie gehofft gehabt, Rumiko wäre nicht da. Mit so einem gefährlichen Gegner hatte es Naomi noch niemals zu tun gehabt und sie glaubte nicht, dass sie ohne einen Kratzer aus dieser Sache herauskommen würden. Das Klavierspiel wurde lauter und Beyond zerrte Naomi unbeirrt weiter. Innerlich überkam sie ein Schauer, denn sie spürte diese unheimliche Präsenz von etwas, das nicht menschlich war. Sie war um weiten stärker ausgeprägt als bei Beyond, da bei ihm höchstens die Tiere etwas spürten, was Ihnen Angst einjagte. Sie waren noch nicht einmal in ihrer Nähe und schon schrie Naomis Unterbewusstsein förmlich danach, die Beine in die Hand zu nehmen und abzuhauen, solange noch die Chance dazu bestand. Aber sie musste sich an Beyonds Worte erinnern, dass er es allein nicht schaffen würde. Sie konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen… dann könnte sie sich niemals wieder im Spiegel ansehen. „Keine Sorge Frau Misora, ich werde nicht zulassen, dass Rumiko Ihnen etwas antut.“ „Für Anbaggerungsversuche ist hier wirklich nicht der richtige Ort.“ „Wer sagt hier was von anbaggern? Ich wollte Sie nur aufmuntern. Meine Güte, Sie denken aber auch nur an das Eine.“ Zur Strafe für diesen unverschämten Kommentar fing sich der Serienmörder einen Ellebogenstoß in die Seite ein. Sie suchten nach der Quelle der Melodie und gingen schließlich ins obere Stockwerk, wo es lauter wurde. Das Klavierspiel war ein wenig düster, aber sie schien ein wenig zu Rumiko zu passen, jedenfalls war Naomi so der Meinung. Nicht ein einziger Fehler, alle Noten harmonierten perfekt und alles war in einem perfekten Gleichgewicht. Egal wie verrückt diese Rumiko auch war, musikalisch war sie wirklich talentiert. „Soweit ich gehört habe, hat sie unter dem Namen Ruby Miller nicht nur ihre Geschichte „Das Grab der Schmetterlinge“ geschrieben, sondern auch als Musiklehrerin unterrichtet.“ „So eine unterrichtet auch noch?“ „Rumiko ist nicht durch und durch schlecht. Es war schon immer ihr Traum gewesen, eines Tages Musiklehrerin zu werden und sie hat niemals einen Schüler angegriffen.“ Wenigstens das, dachte Naomi und atmete tief durch. Vorsichtig öffneten sie die Tür des Salons, einem riesigen Raum, wo es einen Kamin und schwere Sessel gab. Die Fenster waren riesig und die schweren purpurnen Vorhänge ließen nur wenig Licht durch. An den Wänden hingen riesige Gemälde von Leuten, die wahrscheinlich zur Hauptfamilie der Karasuma gehörten. Sie waren jedoch beschmiert, sodass man die Gesichter nicht erkennen konnte. Dieser Raum hier war der Einzige, in dem sich keine Leiche befand. In einer Ecke saß an einem Flügel Rumiko und spielte. Da sie keinerlei Reaktion zeigte, bedeutete wohl, dass sie die beiden gar nicht bemerkte. Naomi sah ihre Chance und richtete ihre Waffe auf die Pianistin, um auf sie zu schießen, doch Beyond hielt sie davon ab. „Es ist unhöflich, eine Dame bei ihrem Spiel zu unterbrechen.“ „Und außerdem würde das nur von Feigheit zeugen. Du hast dir wirklich einen merkwürdigen Menschen ausgesucht, kleiner Bruder.“ Naomi zuckte innerlich zusammen, als sie das hörte. Rumiko hatte sie also längst bemerkt und trotzdem besaß sie die Ruhe, um Klavier zu spielen. Entweder war sie verrückt, oder sie war sich ihrer Sache sicher. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch Klavier spielst. Du hast es doch vor Jahren schon aufgegeben, als ich angefangen habe, es zu lernen.“ „Stimmt“, sagte Rumiko und lächelte. „Ich habe stattdessen Geige gespielt, um eines Tages mit dir Duett spielen zu können…“ Rumikos Hände zitterten ein wenig und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Beyond drückte Naomi ein wenig nach hinten und stellte sich vor sie. „Kannst du noch durchhalten?“ „Kaum noch… warum?“ „Weil ich gerne etwas wissen möchte: Warum das alles? Warum hast du dich damals für dieses Leben entschieden?“ „Weil… weil…“ Rumiko begann zu weinen und unterbrach ihr Klavierspiel. Irgendetwas schien sie schwer traumatisiert zu haben und es musste ziemlich schlimm gewesen sein. „Ich wollte leben… deswegen hab ich mich dafür entschieden, ein Monster zu werden. Ich war es leid immer nur verprügelt, missbraucht, mit Steinen beworfen oder ausgelacht zu werden. Alles was ich wollte war doch nur, dass wir eine normale Familie sein können. Aber das Schlimmste war immer noch, dass Jamie…“ „Wer ist Jamie?“ „Der Nachbarsjunge der verschwunden ist“, erklärte Beyond und sah sehr besorgt aus. „Ich habe doch erzählt, dass er und Rumiko verschwanden und sie erst zwei Tage später wieder auftauchte.“ In Rumikos Augen leuchtete wieder dieses dämonische Rot auf und ihr Blick veränderte sich. Nicht mehr lange, dann würde das Monster in ihr erwachen und sie würde jeden töten, der in ihr Blickfeld geriet. „Ich habe an jenem Tag auf Jamie gewartet, damit wir gemeinsam unsere Flucht planen konnten. Doch er kam nicht. Dafür aber sein Vater mit einer roten Sporttasche. Er stellte sie ab und verschwand kurz. In der Tasche… darin…“ Rumiko sah auf ihre Hände, die immer heftiger zitterten, genauso wie ihre Stimme und die Tränen rannen ihre blassen Wangen hinunter. „Er hat ihm den Kopf abgeschlagen. Er hat sein eigenes Kind umgebracht… Ich sah in Jamies tote Augen und hatte seinen Kopf in den Händen. Mir wurde klar, dass er mich ebenfalls töten würde und habe mich in der Hütte am See in einer kleinen Kiste versteckt. Aber kaum hatte ich sie von innen verschlossen, stürzte ein Regal darauf und ich war zwei Tage darin eingesperrt. Ich habe geschrieen und mit aller Kraft versucht mich zu befreien. Dabei… habe ich mir die Fingernägel ausgerissen.“ Fassungslos starrte Naomi auf sie und konnte selbst ihre Tränen kaum zurückhalten. Was für eine schreckliche Geschichte. Rumiko war in einer kleinen Kiste eingesperrt und das zwei Tage lang und hatte dann auch noch die zerstückelte Leiche ihres Freundes gefunden? In was für einer grausamen Welt war sie da nur aufgewachsen? „Es war so unglaublich heiß und stickig in der Hütte und am zweiten Tag wurde mir klar, dass mich niemand retten kommt… weil mich keiner will. Aber dann hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass es jetzt Zeit wäre, endlich abzurechnen. Wenn ich leben wolle, dann sollte ich die Kraft annehmen, die ich wirklich besitze. Hätte ich es nicht getan, dann wäre ich damals wirklich gestorben. Und ich hatte nur einen Gedanken: Jamies Tod zu rächen und so nahm ich die Axt aus dem Schuppen und schlug 25 Mal auf diesen Kindsmörder ein. Ich hackte ihm den beschissenen Kopf ab und sagte dann lachend „Siehst du? Jetzt hast du nichts mehr zu lachen, du Wichser!“ Danach habe ich den Kopf in den See geworfen. Dieser Bastard hat es nicht anders verdient, genauso wie es deine Eltern verdient haben zu sterben. Ich habe die Pistole genommen und das ganze Magazin in den Körper deines Vaters reingeschossen und deine Hexe von Mutter vor den Zug gestoßen.“ Die traurige und verzweifelte Rumiko wechselte immer mehr zur hasserfüllten und aggressiven Rumiko Karasuma und es war erschreckend, wie schnell das ging. „Um in dieser Welt zu überleben, habe ich diese Kraft angenommen und mich an jenen gerächt, die es nicht anders verdient haben. Ich habe es diesen Rotzgören in meiner Schule heimgezahlt und mit dem Besenstil auf meinen Peiniger Roger Myers eingeprügelt und anschließend den Arm gebrochen. Und ich habe den Wagen meines Psychiaters sabotiert, dass er bei einem Unfall verunglückt. Ja, meine Liste ist unglaublich lang. Ich habe sogar den Kindern, die mich gezwungen haben verdorbene Milch zu trinken, die Haustiere mit Bleichmittel vergiftet und sie übers Wochenende in der Besenkammer des Hausmeisters der Schule eingesperrt. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen. Das war wunderbar!“ So war das also, dachte Naomi und hob wieder die Beretta. Rumiko enthauptete ihre Opfer, weil sie sich immer wieder den Tod ihres einzigen Freundes vor Augen hielt. In dem abgeschlagenen Kopf sah sie Jamie und musste wieder daran denken, dass es sein eigener Vater gewesen war und spürte dann wieder diese rasende Wut über diese Grausamkeit, die sie nicht verhindern konnte. Trauer und Angst wurden zu Hass… so funktionierte das Monster in ihrem Inneren. Kein Wunder also, dass sie es nicht kontrollieren konnte. „Und nun werde ich jene töten, die mich im Stich gelassen haben. Ja genau Bruderherz, ich werde dich töten und jeden anderen Menschen in der Stadt. Oh ja, sie alle werden mit ihrem Blut bezahlen, dass sie meine Hilfeschreie ignoriert haben. Und du wirst auch bezahlen Beyond. Die ganze Zeit habe ich mich für dich aufgeopfert und du hast nichts anderes als Vorwürfe für mich übrig gehabt.“ Rumiko stand auf, ging direkt auf Beyond zu und gab ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. „Was hattest noch mal gesagt gehabt, als ich versucht habe, dich vor deinem Vater zu verstecken? Sag schon, was hast du gesagt? Ich will es hören?“ „Das ist alles nur deine Schuld und ich wünschte, du würdest verrecken…“ Naomi ahnte, dass da ein ganz gewaltiger Geschwisterstreit am Laufen war und der ausgerechnet heute ausgetragen wurde. Rumiko war in einer Art Hassliebe gefangen. Sie hasste ihn dafür, dass er ihr diese Dinge an den Kopf geworfen hat und wollte ihn töten, aber andererseits liebte sie ihn und konnte ihm das nicht antun. „Also lassen wir jetzt diese überflüssige Konversation und kommen endlich zur Sache. Bringen wir das zu Ende, was wir 17 Jahre lang aufgeschoben haben. Ich erklär noch mal die Spielregeln: Jede Waffe darf benutzt werden, die Räume ebenfalls. Der Kampf findet einzig und allein hier statt und wenn ihr auch nur versucht Hilfe zu holen, dann werde ich richtig böse. Unsere werte FBI Agentin hier ist besonders gewarnt. Solltet ihr schummeln, dann wird Raye Penber einen Kopf kürzer gemacht!“ „Wir werden nicht kneifen und auch nicht fliehen.“ „Fein“, sagte Rumiko mit einem verächtlichen Lächeln und sah sie beide abwechselnd an. „Dann wollen wir mit dem Spiel beginnen.“ Kapitel 11: Hassliebe --------------------- Bevor Naomi überhaupt reagieren konnte, warf Rumiko etwas auf den Boden und ein beißender Qualm breitete sich aus. Verdammt eine Rauchbombe, dachte sie und versuchte aus dem Qualm zu entkommen. Das Zeug brannte in Augen, Nase und Hals und sie musste husten. Da schoss plötzlich Rumiko vor, bekam sie am Schopf zu fassen und rammte ihren Hinterkopf gegen die Wand. Die Wucht des Aufschlages raubte ihr fast das Bewusstsein, da traf sie ein brutaler Faustschlag in die Magengrube. Naomi stöhnte gequält auf und sank zusammen. „Zu einfach“, lachte Rumiko höhnisch und holte eine Machete vor, wie man sie aus diesem Horrorklassiker Freitag der 13. kannte. „Und jetzt verabschiede dich von deiner unteren Hälfte.“ Doch da reagierte Beyond und stieß Rumiko mit vollem Körpereinsatz weg, aber sie fiel nicht hin, sondern blieb auf den Beinen und trat ihren Angreifer weg. „Verlassen Sie den Raum Frau Misora!“ Beyond blockte mit seinem Messer den Machetenhieb ab und verdrehte Rumiko den Arm, um sie dazu zu bringen, ihre Waffe fallen zu lassen. Er hielt sie von hinten fest und drückte ihr ein Messer an die Kehle, um ihr die Halsschlagader durchzustechen. Ein todsicheres Vorgehen normalerweise, aber da stieß Rumiko ihm ihren Absatz auf den Fuß und anschließend den Ellebogen in den Bauch. Beyond verzog vor Schmerz das Gesicht und taumelte zurück, konnte aber noch rechtzeitig den nächsten Angriff abblocken und seine Adoptivschwester mit einem Überwurf auf die Matte schicken. Schnell schnappte er sich ihre Machete und sein Messer und stieß Naomi in Richtung Tür. Diese sah mit Entsetzen, wie schnell Rumiko wieder auf die Beine kam. Sie holte sich den Schürhaken vom Kamin und kam mit Wutgeschrei auf sie zu und zielte damit direkt auf Beyonds Kopf, der schnell genug reagierte, um den Angriff mit der Machete abzublocken. Naomi zielte mit der Beretta und feuerte einen Schuss ab, der aber leider sein Ziel verfehlte. Schnell flüchteten sie zur Tür raus den Gang hinunter in Richtung Foyer. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie dermaßen stark ist.“ „Tja, auch ich habe sie gewaltig unterschätzt. Frau Misora, gehen Sie ins Foyer die Treppe rauf und warten Sie dort. Rumiko wird Sie direkt von vorne angreifen und ich werde ihr von hinten den Fluchtweg abschneiden. Sie schießen und ich gebe ihr den Rest.“ Naomi nickte und erhöhte ihr Tempo, während Beyond ein wenig zurückfiel und nur knapp dem Schürhaken ausweichen konnte, der auf seinen Kopf zielte. Die Waffe traf eine Gipsbüste, die auf einen Sockel stand und zerschlug sie in tausend Stücke. Wieder holte Rumiko aus und diese ungedeckte Bewegung nutzte Beyond um ihr mit demselben Trick, wie ihn einst Naomi angewandt hatte, als er sie hinterrücks angegriffen hatte, direkt einen Tritt ins Gesicht zu verpassen. Nicht gerade die feinenglische Art, mit einer Dame umzugehen, aber Rumiko war keine Dame und nur solche Methoden konnten im Ansatz helfen. Tatsächlich taumelte sie nur ein wenig zurück und Blut lief aus ihrer Nase, ansonsten war wohl nichts passiert. Fassungslos und traurig sah sie ihn an. „Warum?“ fragte sie plötzlich wieder mit dieser sanften Stimme und sah Beyond traurig an. „Warum tust du mir das an Beyond? Habe ich dich nicht all die Jahre lang beschützt? Warum bist du jetzt so grausam zu mir? Liebst du mich denn nicht, kleiner Bruder?“ „Hör auf mit deinen widerlichen Psychospielchen, du Monster. Eben weil ich meine Schwester liebe, muss ich das tun. Also halt deine verdammte Klappe und stirb!“ „Wie kannst du nur so etwas sagen, nach all den Opfern, die ich für dich gebracht habe?“ Beyond spürte, wie sich seine Brust zuschnürte als er sie so reden hörte. Nein, sagte er sich und nahm all seine Kraft zusammen. Das ist nicht die Rumiko, die ich kenne. Das ist sie nicht, das ist das Monster, sonst niemand. Rumiko weiß, dass uns keine andere Wahl bleibt und würde so etwas niemals sagen. Also reiß dich zusammen und mach dem Ganzen endlich ein Ende. Beyond nahm die Machete und wollte sie in Rumikos Brust stoßen, doch sein Gegenüber ließ sich einfach fallen und schlug den Schürhaken gegen seine Schienbeine. Der Schmerz war unbeschreiblich und der Serienmörder hatte das Gefühl, ihm würden gleich die Knochen brechen. Einen Augenblick lang wurde er aufgrund dessen unaufmerksam und so packte Rumiko ihn an den Haaren und stieß ihn wie eine Wahnsinnige mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Immer und immer wieder, bis sich Beyond Birthday nicht mehr bewegte und bewusstlos zusammenbrach. „Schlaf schön Bruderherz, jetzt kümmere ich mich erst um diese kleine nervige FBI Agentin, dann bist du an der Reihe.“ Naomi hatte es einiges an Überwindung gekostet, über die Leichen zu steigen und besonders abstoßend wurde es erst recht, als sie auf der riesigen Blutpfütze ausrutschte, die sich im Foyer ausgebreitet hatte. Ihre Hose, ihre Jacke sowie auf ihre Hände waren voller Blut und ein Schauer überkam sie. Aber lange hielt sie sich nicht damit auf. Nein, das wäre zu gefährlich. Sie zog die Handschuhe aus, die total blutbeschmiert waren und rannte die Treppe hoch. Auf halbem Wege hörte sie Beyonds Schrei und hoffte, dass Rumiko ihn nicht getötet hatte, sonst konnte sie echt einpacken. Gegen so ein Monster konnte nicht einmal eine ganze Einheit etwas ausrichten, die wusste eben, wie man sich mit Händen und Füßen zur Wehr setzte. Aber wie zum Teufel konnte eine Frau so stark sein? Das war doch unmöglich. Als sie das Ende der Treppe erreichte, versteckte sie sich hinter dem Geländer, um nicht sofort von Rumiko gesehen zu werden. Aber da hörte sie schon die Schritte dieser Frau und sah, wie sie im Foyer stehen blieb, als würde sie sich umsehen. Das heißt… eigentlich sah sie sich gar nicht um. Sie blieb einfach stehen, so als würde sie angestrengt lauschen. Ja, das muss es sein. Naomi versuchte so leise wie möglich zu atmen und sah hinunter zu Rumiko, die wie ein Todesengel da stand und die Machete in der Hand hielt. Moment, hatte Beyond ihr die Waffe nicht weggenommen? Oh nein, konnte es etwa sein, dass sie ihn umgebracht hatte? Rumiko hob den Blick und sah direkt in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich und ein teuflisches Grinsen zeichnete sich auf ihre Lippen. „Ich kann deine Angst spüren.“ Jetzt oder nie, dachte Naomi und feuerte zwei Schüsse ab, doch leider nur ein Streifschuss in den Oberarm und den schien Rumiko nicht einmal zu bemerken. „Mein Bruder hat sich wirklich ein süßes Exemplar ausgesucht für unser Spiel. Hat er eigentlich schon erwähnt, was unsere Spiele so unterhaltsam macht? Der Gewinner darf die Überlebenden töten. Du bist der Hauptgewinn in diesem Spiel oder hast du allen Ernstes geglaubt, ein Mörder wie er hätte dich nur zum Spaß mitgenommen? Dann bist du noch naiver als du glaubst. Warte mal, kann es sein dass du auf meinen Bruder stehst?“ „Da reimen Sie sich nur was zusammen.“ „Vielleicht steht er ja neuerdings auf so billige und oberflächliche Frauen wie dich. Versteh mal einer die Männer. Die einen stehen auf kleine Kinder und andere wiederum auf so eine billige und hässliche Tussi wie dich.“ Diese Rumiko legte es ja richtig darauf an, sie zu provozieren, aber Naomi war nicht blöd und ließ sich so leicht in die Falle locken. Das wäre reiner Selbstmord, wenn sie jetzt unbedacht handelte. Genau auf so eine Gelegenheit wartete Rumiko. Sie war wie ein Raubtier, das seine Beute aus der Reserve locken wollt, um blitzschnell zuschnappen zu können. Wie eine Schlange…. „Kann es sein, dass du nur eifersüchtig bist?“ Naomi wusste, dass eine Provokation ihrerseits ziemlich gefährlich war, aber sie musste dieses Risiko eingehen. Rumiko war schnell und stark, aber nicht unbesiegbar. Ein Schuss ins Herz oder in den Kopf würde sie nicht so einfach wegstecken können, ganz sicher nicht. Monster hin oder her, sie besaß immer noch einen menschlichen Körper. „Und außerdem ist es echt traurig, dass du ihm die Schuld gibst. Was glaubst du wohl, warum er sich auf das hier überhaupt eingelassen hat? Weil er sich Vorwürfe macht, dass er dir damals nicht helfen konnte. Er war nur ein Kind und was du ihm an den Kopf wirfst, ist einfach nur gemein. Du solltest aufhören, deinen Hass an ihm auslassen, er hat es schon schwer genug.“ „Tu nicht so als ob du ihn verstehst!“ schrie Rumiko und kam die Treppe hoch. Naomi kam aus ihrer Deckung hervor und zielte mit der Waffe direkt auf Rumiko und drückte ab. Doch dann trat das ein, was sonst nur in Alpträumen passieren konnte: Die Waffe verklemmte sich. Rumiko lachte herablassend und stürmte die letzten Treppenstufen herauf, die Machete schlagbereit. Naomi wusste sich in dem Moment nicht besser zu helfen und verpasste ihr einen kräftigen Tritt in den Brustkorb und sah mit an, wie Rumiko die Treppe hinunterstürzte. Es sah übel aus und sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau das unbeschadet überstanden hatte. Vielleicht aber auch gar nicht…. Rumiko lag regungslos am Ende der Treppe und schien offenbar bewusstlos zu sein. Aber Naomi wollte kein Risiko eingehen. Schnell entfernte sie die Patrone, lud noch einmal durch und damit war die Waffe wieder schussbereit. Vorsichtig stieg sie hinunter und zielte dabei auf Rumikos Kopf. Nur eine verdächtige Bewegung und sie musste schießen. Knapp einen Meter blieb sie stehen und sah, wie sich die Gestürzte vor Schmerz stöhnend zur Seite drehte und nach Luft schnappte. Sie spuckte Blut und versuchte wegzukriechen. Dabei begann sie zu schluchzen. „Tu es nicht Daddy, lass ihn in Frieden. Er ist auch ganz brav. Du darfst meinem kleinen Bruder nichts tun.“ Rumiko begann wie ein kleines Kind zu schluchzen und machte sich ganz klein, als wolle sie sich vor jemanden schützen, der sie schlagen wollte. Naomi zögerte, auf sie zu schießen und trat ein paar Schritte näher um sich zu vergewissern, dass Rumiko keine Gefahr darstellte. Eine Persönlichkeitsstörung, sie und blieb stehen. Sie hatte schon mal davon gehört und vermutete hier einen besonders schweren Fall. Bedingt durch ein Nahtoderlebnis sowie unzähliger Kindheitstraumata, hatte sie eine schwere psychische Störung und diese wirkte sich wie eine Persönlichkeitsstörung aus. Es gab die liebevolle und aufopfernde Rumiko und die grausame und brutale Mörderin, die auch „Monster“ genannt wird. Offenbar schuf sie diese Persönlichkeit aus reinem Überlebenswillen, da sie sonst gestorben wäre. Beide Persönlichkeiten standen in einem ernsthaften Gewissenskonflikt zueinander. Der guten Rumiko widerstrebte es, Gewalt anzuwenden und sie ertrug lieber welche, um nicht noch jemanden in Gefahr zu bringen, den sie liebte. Ihr anderes Ich hingegen war egoistisch, vulgär, rücksichtslos und in höchstem Maße sadistisch. Diese Persönlichkeitsspaltung geschah allein nur deswegen, weil sich die beiden Seiten so extrem unterschieden und in Sachen Moral, Gefühl, Empathie und Charakter wie gleichgepolte Magneten abstießen. Allem Anschein nach trat Rumikos negative Seite dann zum Vorschein, wenn sie große Angst hatte oder anderweitig mental extrem instabil war. Vielleicht hatte Naomi ja eine Chance, diese negative Seite in ihr zu unterdrücken. „Es ist alles in Ordnung Rumiko, dein Vater kann dir nichts tun. Ihr seid beide in Sicherheit.“ „Nein…“ Nur mit Mühe konnte Rumiko aufstehen, schien starke Schmerzen am linken Arm zu haben und sie taumelte ein wenig. „Nichts ist in Ordnung. Ich… ich kann meinen kleinen Bruder nur beschützen, indem ich sterbe. Es ist allein mein Fehler, dass so viele Menschen sterben mussten. Ich konnte nicht einmal jene beschützen, die ich liebe. Bitte Frau Misora, Sie müssen mich aufhalten, bevor ich Beyond noch mehr verletze. Töten Sie mich, jetzt hier!“ Doch irgendetwas in Naomi widerstrebte ihr, sie zu erschießen. Sie konnte es nicht. Rumiko war schwer verletzt und unbewaffnet. Ein FBI Agent durfte nicht auf einen Wehrlosen schießen und außerdem entsprach es nicht ihren moralischen Vorstellungen. Rumiko erkannte wohl was in ihr vorging und packte ihre Hand, die die Pistole umklammerte. „Denken Sie nicht nach, sondern tun Sie es einfach, verdammt! Wenn Sie es nicht schnell tun, wird das Monster wieder aufwachen und ich will nicht, dass noch jemand stirbt. Ich flehe Sie an! Erst gerade eben habe ich Beyond fünf Mal mit dem Hinterkopf gegen die Wand geschlagen und er ist schwer verletzt. Ich will das alles nicht mehr, bitte töten Sie mich!!!“ Sie war wirklich verzweifelt und fest davon überzeugt, dass nur ihr Tod den ganzen Horror beenden konnte. „Wenn Sie mich schon nicht töten wollen, schießen Sie mir einfach in den Kopf.“ Da Naomi immer noch zögerte, verfinsterte sich Rumikos Blick und mit einem lauten Schrei stürzte sie sich auf die FBI Agentin und riss ihr die Waffe aus der Hand. „Brav meine Liebe, beinahe hätte es noch ein Unglück meinerseits gegeben. Dafür wird es gleich eines deinerseits geben. Sayonara, Naomi Misora!“ „Nein, tu das nicht Rumiko!!!“ Beide wandten ihren Blick zu der Quelle des Aufschreis und sahen Beyond, der sichtlich angeschlagen war und am Kopf blutete. „Ich bring dich um, wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst. Na komm schon, such dir einen Gegner, der dir die Stirn bieten kann!“ „Ach wie süß, du willst dich für sie opfern? Kann es sein, dass du das nur tust, weil du Schuldgefühle hast? Ja klar, du konntest mich nicht retten also versuchst du jetzt einen billigen Ersatz zu finden. Oder… hast du etwa eine Art Mutterkomplex?“ „Behalte deine gespaltene Zunge hinter deinen Zähnen du Monster und kämpfe verdammt noch mal.“ Es schien, als würde diese Aufforderung wirken, denn Rumiko ließ nun von Naomi ab und warf die Beretta weg. Stattdessen holte sie die Machete wieder hervor und ging damit auf Beyond zu. „Also schön. Du willst dein Leben für diese Frau aufs Spiel setzen. Dann bete, dass diese Entscheidung nicht dein Untergang ist.“ Beyond hatte den Schürhaken in der Hand und schien zu allem bereit zu sein. Naomi konnte die Anspannung nicht nur sehen sondern auch fühlen. Die Luft war wie elektrisiert und beide begannen sich langsam zu umkreisen wie zwei Raubtiere. Beyond würde es nicht schaffen, das wusste Naomi. Sie musste irgendwie an ihre Beretta herankommen und Rumiko einen Schuss in den Kopf verpassen. Vorsichtig kroch sie in die Richtung, wo Rumiko ihre Waffe geworfen hatte, ganz langsam und gemächlich, um nicht aufzufallen. Beyond versuchte zwar, seine Adoptivschwester abzulenke,n aber wenn diese den Trick durchschaute, dann konnten sie einpacken. Beyond musste sie weiterhin beschäftigen. Rumikos Angriff kam wie ein Blitzeinschlag. Nur knapp konnte Beyond dem Machetenhieb ausweichen und blockte mit dem Schürhaken. Das Geräusch von aufeinander prallendem Metall klang furchtbar und ein erbarmungsloser Kampf entfachte. Noch nie hatte Naomi einen solchen Kampf zwischen zwei Menschen gesehen und hätte beinahe ihre Beretta vergessen. Beyond schlug den Schürhaken wie einen Golfschläger und riss mit der gekrümmten Spitze einen Riss in Rumikos Ärmel und verletzte sie am Arm. Den zweiten Schlag konnte sie mit ihrer Machete abwehren und verpasste ihm eine Kopfnuss. Benommen torkelte dieser zurück und konnte nicht rechtzeitig reagieren, als die Klinge eine tiefe Wunde in seine Brust schnitt. Beyond beschloss den Rückzug anzutreten und eilte hinaus aus dem Haus. Rumiko eilte ihm direkt hinterher und direkt im Anschluss kam Naomi. Was hatte Beyond bloß vor? Es passte gar nicht zu ihm, einfach abzuhauen wie ein Feigling. Er musste etwas Bestimmtes planen. Egal was es war, hoffentlich hatte es mehr Erfolg als die bisherige Aktion. Beyond rannte in Richtung Wald und blieb zwischendurch stehen, um sich zu vergewissern, dass Rumiko ihm immer noch folgte oder ob sie doch lieber auf Naomi losging. Irgendwann aber war Beyond zwischen den Bäumen verschwunden, ebenso wie Rumiko. Naomi blieb stehen und sah sich um. Verdammt noch mal, wo waren die beiden denn jetzt? Spielten sie jetzt etwa Verstecken im Wald oder was? Aber die beste Frage war, was sie jetzt tun sollte. Etwa nach Beyond rufen und damit riskieren, dass Rumiko sie hörte oder einfach weitergehen und dabei Gefahr laufen, aus dem Hinterhalt angegriffen und enthauptet zu werden? Naja, egal wie sie sich entschied, die Chancen standen nicht zum Besten. Wenigstens konnte sie jetzt endlich wieder frische Luft atmen. Eine wahre Erholung dafür, dass sie fast eine Stunde in dieser Todeshölle ausgehalten hatte. Gut, also jetzt musste sie sich die nächsten Schritte genau überlegen und vor allem herausfinden, was Beyond plante. Es war höchstwahrscheinlich, dass er nur deswegen freies Gelände gewählt hatte, um sicherzugehen, dass er klar im Vorteil blieb. Oder aber er hatte etwas ganz Bestimmtes im Sinn. Was für Möglichkeiten gab es insgesamt? Also Versteckspielen im Wald, eine kleine Bootstour oder Schwimmen gehen. Moment mal, wenn sie sich nicht täuschte, dann gab es einen Punkt auf dieser Insel, wo es fast 20 Meter in die Tiefe ging. Ja genau, die Klippen im Westen. Vielleicht wollte Beyond ja versuchen, Rumiko die Klippen hinunterzustoßen. Okay, das musste es sein. Jetzt galt es nur noch herauszufinden wo Westen ist. Also, sie war jetzt die ganze Zeit geradeaus gelaufen und in die Richtung lag ihr Boot. Sie hatten südlich der Insel angelegt… Gut, dann wusste sie jetzt, wo sie hingehen musste. Hoffentlich hatte sie Recht. Kapitel 12: Trauer ------------------ Naomi erreichte nach knapp zehn Minuten die Klippen und sah tatsächlich Beyond, der im Schatten eines Baumes saß und seine Verletzungen notdürftig mit Klebeband verarztete. Er war leichenblass und dem Anschein nach ziemlich angeschlagen. Kein Wunder… er hatte harte Schläge am Kopf einstecken müssen und jetzt wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Naomi holte ein Taschentuch heraus und untersuchte die Verletzung. Sie sah nicht gut aus und musste wahrscheinlich genäht werden. „Sie schenken sich beide wirklich nichts, oder?“ „Wenn ich Rücksicht nehmen würde, dann wäre ich schon längst tot Frau Misora. Aber wenigstens habe ich eine kleine Pause, bevor es weitergeht. Um mir dreht sich alles und mir tut jeder Knochen weh…“ Rumiko hatte ihm wirklich übel mitgespielt und es war ein Wunder, dass sie ihn nicht umgebracht hatte, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht… hatte er ja Recht und sie konnte es wirklich nicht tun. Aber darauf verlassen sollte man sich besser nicht. Das könnte noch sehr böse enden. „Frau Misora, ich weiß nicht ob ich diese Sache heil überstehen werde…“ „Reden Sie keinen Unsinn, Sie schaffen das schon. Es braucht schon mehr als eine Frau wie Rumiko, um Sie klein zu kriegen.“ Beyond lächelte müde und presste das Taschentuch gegen seine blutende Wunde am Hinterkopf. „Scheiße, das versaut einem echt den ganzen Tag“, murmelte er und holte aus seiner Hosentasche ein kleines Döschen und schluckte eine kleine Pille. „So, damit müsste es eigentlich gleich wieder gehen…. Also, hören Sie mir jetzt genau zu: Sie werden sich verstecken, wenn Rumiko auftauchen sollte und schießen nur auf mein Zeichen. Und wenn ich sage, Sie sollen schießen, dann tun Sie es auch, selbst wenn Sie mich dabei erwischen. Wenn Sie Gewissenskonflikte bekommen, dann sage ich Ihnen folgendes: Wenn Sie nicht schießen, schlitze ich Ihnen ganz langsam den Hals auf!“ Es schien ihm mehr als ernst zu sein und so nickte Naomi. In dieser Situation musste sie ihm vertrauen. Er würde sich sicher schon so seine Gedanken über den weiteren Verlauf gemacht haben… „Ich werde versuchen, Rumiko die Klippen hinunterzustoßen. Da unten gibt es unzählige Felsen und die Chancen sind sehr gering, dass sie das unbeschadet übersteht und außerdem kann sie von der Strömung ins offene Meer gerissen werden, was ihren sicheren Tod bedeutet. Sie weiterhin mit dem Messer zu bekämpfen, ist reine Zeitverschwendung. Außerdem würde ich so etwas keine dreißig Minuten mehr durchhalten.“ Das glaubte sie ihm sofort. Beyond brauchte dringend einen Arzt und es war nicht auszuschließen, dass er neben äußeren auch innere Verletzungen hatte. Wenn er weiter so heftig kämpfte, dann würde das noch wirklich böse für ihn enden. „Ich habe erst einmal dafür gesorgt, dass Rumiko uns für ein paar Minuten vom Hals bleibt. Das gibt mir die nötige Zeit, um letzte Kräfte zu sammeln.“ Beyond sah zum Himmel und seufzte. Irgendetwas Bestimmtes schien ihm durch den Kopf zu gehen und Naomi hatte das Gefühl, als war er gerade dabei, sich auf seinen eigenen Tod vorzubereiten. „Wissen Sie, was an Raben so besonders ist? Sie sind angeblich die Augen und Boten des Todes und können zwischen den Grenzen von Leben und Tod reisen. So ähnlich wie Shinigami, nur dass die Raben ihren natürlichen Platz haben…“ „Was… was wollen Sie damit sagen?“ „Ich frage mich… ob das Nichts das Endgültige nach dem Tode ist, oder ob es nur ein vorübergehender Zustand ist. Ich meine, eine Seele muss doch irgendwo herkommen. Vielleicht kehrt sie ja nach dem Sterben des Körpers wieder zur Quelle zurück.“ Solch philosophische Gespräche kannte Naomi von ihm überhaupt nicht aber vielleicht war das ja eine Art Begleiterscheinung zu seiner Vorbereitung auf den eigenen Tod. „Und wo glauben Sie, wo diese Seele herkommt?“ „Nehmen wir mal an, es gibt eine Art Verkörperung von Leben und Tod. Dann muss die Seele doch ein Bruchteil des Lebens sein und muss irgendwann wieder zurückkehren… Wäre doch zumindest logisch. Vielleicht ist das Nichts ja nur eine Bezeichnung dafür, dass das eigene Bewusstsein gelöscht wird und das eigene Ich für immer verschwindet. Es wird dann Eins mit dem Ganzen.“ „Sie werden nicht sterben!“ rief Naomi und konnte sich selbst diesen Gefühlsausbruch nicht erklären. Stumm sah Beyond sie an und sein Blick war irgendwie leer. Fast genauso leer wie Rumikos. Doch dann aber setzte er ein Lächeln auf. „Frau Misora, es ist schon in Ordnung. Aber eines möchte ich Ihnen noch sagen: Sollte ich das überleben und irgendwann mal wieder polizeilich gesucht werden, dann werde ich mich einzig und allein nur von Ihnen festnehmen lassen, Frau Misora.“ „Soll das schon wieder ein Anbaggerungsversuch sein?“ Doch Beyond antwortete nicht sondern lächelte verschmitzt und stand auf. „Sie sollten sich jetzt besser verstecken. Rumiko ist bereits auf den Weg hierher.“ „Werden Sie das auch wirklich schaffen?“ „Nun gehen Sie schon.“ Naomi wusste, dass Widerworte sinnlos waren und so eilte sie zu einem Baum und versteckte sich. Tatsächlich dauerte es nicht lange, da hörte sie von links her Schritte und sah Rumiko, die immer noch mit der Machete bewaffnet war. Sie blutete stark am Kopf, als hätte Beyond sie niedergeschlagen und sie humpelte. Vor Schmerz stöhnend stützte sie sich an einem Baum ab und wimmerte leise. Anscheinend war ihre gute Seite zum Vorschein gekommen, die andere hätte sicher vulgär geflucht und laut herumgetobt. Beyond stand regungslos da und schien auf sie zu warten. Er griff nicht einmal an und Naomi fragte sich ernsthaft, ob sie nicht jetzt schon schießen sollte. Bis jetzt hatte sie noch leichtes Spiel aber andererseits musste Beyond einen ganz bestimmten Plan haben, denn ihr Handicap musste er doch mit eingerechnet haben. Trotzdem machte sie sich bereit sofort zu schießen, sollte auch nur etwas verdächtig erscheinen. Erschöpft sank Rumiko in die Knie und ließ die Machete fallen. „Es tut weh, mein Bein tut so weh… bitte hilf mir!“ Ohne auch nur eine Gefühlsregung von sich zu geben kam Beyond auf sie zu und reichte ihr die Hand. Er zog sie hoch und nahm sie in den Arm. „Es tut mir leid Rumiko. Es tut mir leid, dass ich so gemeine Sachen zu dir gesagt habe und dir wegen Jamie nicht glauben wollte. Wenn ich dir damals geglaubt hätte, dann… dann hätte es nicht so weit kommen müssen.“ „Nein, es war schon zu spät.“ Rumikos verletztes Bein sah nicht danach aus, als wäre es gebrochen, aber eine Verstauchung war nicht ganz auszuschließen. Vielleicht kam das ja von dem Treppensturz und konnte, da sie jetzt wieder normal war und konnte deshalb den Schmerz nicht mehr aushalten. „Wenn ich mich nicht entschieden hätte, Menschen zu töten, dann wäre ich gestorben. Es war falsch von mir, dir die Schuld zu geben… ich bin echt eine miese Schwester. Dabei… dabei bin ich noch nicht einmal deine große Schwester, sondern nur adoptiert….“ „Für mich warst du immer eine große Schwester.“ Sie standen am Rande der Klippe und fielen sich in den Arm. Rumiko weinte und krallte sich an Beyond fest. Noch nie hatte Naomi einen Menschen derart verzweifelt gesehen und fragte sich, wie viel man einem Menschen zumuten konnte, damit er zu einem Monster wurde. Dass Beyond noch nicht durchgedreht war, das war schon eine Art Wunder aber andererseits war sein jetziges Leben auch nicht normal. Naomi hatte schon oft davon gehört oder gelesen, dass Kinder mit einer Kindheit voller Gewalt und Unterdrückung aufwuchsen, oft selbst gewalttätig wurden. Ob das auch bei Beyond so war? Dass keiner von beiden noch nicht als Kinderschänder aktiv geworden war, das grenzte an ein Wunder. Oftmals waren solche nämlich selbst Opfer gewesen. Während Rumiko sich an seiner Schulter ausweinte, zog Beyond langsam sein Messer und nun erkannte Naomi, was er vorhatte. Blitzschnell stieß der die Klinge in Rumikos Rücken und rief „Jetzt!!!“ Die FBI Agentin feuerte ihr gesamtes Magazin ab, bis ein Klicken ihr signalisierte, dass die Munition leer war. Immer noch hatten sich die beiden fest umschlossen und stürzten die Klippen hinunter. Naomi hatte das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde verschwinden und sie in eine schwarze Tiefe stürzen. Das… das war jetzt doch nur ein böser Traum, oder etwa nicht? Beyond hatte doch gesagt, er würde Rumiko bei der nächstbesten Gelegenheit von der Klippe stoßen, aber dass er mit ihr gehen würde… davon war niemals die Rede gewesen. Naomi eilte zu der Stelle, wo die beiden gerade noch gestanden hatten und sah in die Tiefe, doch außer den Wellen, die sich an den Felsen brachen, sah sie nichts. Sie waren beide fort… Die Sonne begann bereits unterzugehen und Naomi saß immer noch an derselben Stelle als wartete sie darauf, dass einer von beiden irgendwann auftauchen würde. Aber sie wartete vergebens und so machte sie sich auf den Rückweg zum Boot. Sie dachte oder fühlte nichts mehr, sondern starrte apathisch ins Leere und versuchte erst gar nicht, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte einfach nur noch nach Hause… nach Hause zu Raye. Aus ihrer Tasche holte sie ihr Handy und wählte Rayes Nummer. Bitte, bitte geh ran. Ich brauch dich jetzt, dachte Naomi und merkte erst jetzt, dass ihre Hände zitterten. Es dauerte, bis Raye endlich dran ging und seine Stimme ließ Naomi alle Dämme brechen und sie konnte nicht mehr aufhören zu weinen. „Raye… bitte komm nach Japan. Ich brauche dich…“ „Naomi, bitte beruhige dich doch. Sag schon was ist passiert? Hat dieser Kerl dir etwas angetan?“ „Ich kann dir das nicht am Telefon sagen. Bitte komm so schnell wie möglich hierher. Ich möchte nicht alleine sein.“ Raye, der wahrscheinlich das Allerschlimmste befürchtete, versprach sofort mit dem nächsten Flug zu kommen und bat Naomi, so lange im Hotel zu warten. Doch die beurlaubte FBI Agentin brauchte noch eine Weile, bis sie es schaffte, weiterzugehen und als sie das Boot erreichte, fuhr sie zurück. Zum Glück hatte Beyond ihr erklärt gehabt, wie das ging und so fuhr sie problemlos zum Hafen zurück. Danach ging sie in ein Restaurant und betrank sich nebenbei dermaßen, dass sie zwei Mal das falsche Hotel ansteuerte. Sie fühlte sich furchtbar und ihre Augen waren gerötet von Tränen. Und sie konnte nicht einmal sagen, weswegen sie mehr weinte. Über die Geschichte dieser beiden vergessenen Kinder oder ihr grausames Ende. Das war nicht gerecht… warum nur war ihnen kein Leben als Familie gegönnt? Warum nur waren sie in einer derart grausamen und lieblosen Welt aufgewachsen? Naomi sah zu den Sachen, die Beyond gehörten und musste wieder weinen. Sie brauchte frische Luft um sich wieder zu beruhigen. Heute würde Raye es ja sowieso nicht schaffen. Also verließ sie wieder das Hotel und ging zum Strand. Früher hatte sie als Kind die Sommerferien am Strand verbracht und oft Flaschenpost verschickt, jedoch niemals eine Antwort erhalten. Vielleicht konnte sie ja dort endlich mal zur Ruhe kommen. Dort angekommen zog sie ihre Schuhe aus und lief barfuß durchs Wasser. Das eiskalte Wasser brachte ihr wieder einen klaren Kopf aber trotzdem fühlte sie sich furchtbar. „Einen schönen guten Abend.“ Naomi hatte gar nicht den Mann bemerkt, der auf sie zugekommen war. Er hatte ein freundliches und warmherziges Lächeln, brünettes Haar welches sein linkes Auge verdeckte und er trug einen Anzug. Seit wann war er hier? „Ich habe gesehen, dass Sie großen Kummer haben.“ „Ach es ist schon in Ordnung…“ „Das sieht mir aber nicht danach aus. Entschuldigen Sie, ich will nicht aufdringlich wirken, aber wenn man an einem so schönen Abend eine so unglückliche Frau allein am Strand sieht, dann macht man sich seine Sorgen. Kommen Sie, setzen Sie sich doch erst einmal.“ Eigentlich war es nicht Naomis Art, einfach so mit Fremden mitzugehen aber im Moment war ihr jede seelische Stütze recht. Sie setzte sich auf eine Bank und der Japaner neben sie. „Also, was bedrückt Sie denn?“ „Ich habe einen Bekannten verloren. Er und seine Schwester hatten eine furchtbare Kindheit und sind auf den falschen Weg geraten. Jetzt haben sie Selbstmord begangen.“ „Das ist wirklich schlimm“, murmelte der Mann verständnisvoll und reichte ihr ein nach Kirschblüten duftendes Taschentuch. „Es ist immer schmerzlich einen Menschen zu verlieren, den man geliebt hat oder den man schätzte. Manchmal betrauert man seinen Feind, weil man ihn braucht und es ist ganz natürlich, wenn man so einen Verlust betrauert. Ich kenne das sehr gut. Ich habe zwei Brüder und einer von ihnen ist einen Weg gegangen, der seinen Untergang bedeutet hat und auch wir konnten nicht verhindern, dass er von uns ging. Wichtig ist nur, dass man nicht seinen Glauben verliert.“ „Den Glauben an was?“ fragte Naomi und wischte sich die Tränen weg. „An was soll ich denn glauben? An Gott? Wenn es einen gibt, warum lässt er zu dass Kinder geschlagen und misshandelt werden und sie selbst als Verbrecher enden und bis an ihr Lebensende unglücklich bleiben? Es gibt überhaupt keine Gerechtigkeit…“ Der Mann sah sie schweigend an, dann legte er sanft eine Hand auf ihre Schulter und diese tröstende Geste bedeutete Naomi im Moment mehr als zehn Umarmungen. Wer immer dieser Mann auch war, sie war ihm dankbar dafür, dass er sie angesprochen hatte. „Es ist sehr schwer, nach einem solchen Schicksalsschlag noch an Gerechtigkeit oder an einen Gott zu glauben. Ich will Ihnen auch nicht vorschreiben, ob Sie überhaupt an etwas glauben sollen, aber es gibt Menschen, die erklären sich das von Gott geduldete Leid auf ihre Weise. Sie glauben, dass alles einem höheren Gleichgewicht unterliegt. Ohne das Negative kann das Positive nicht existieren, aber oftmals erscheint es so, als würde das Leid der Menschen den glücklichen Momenten überwiegen. Dabei scheint es nur so. Die Menschen haben nun mal die merkwürdige Angewohnheit, immer nur die traurigen Geschehnisse zu berichten oder ins Gedächtnis zu prägen, weil die einfachen glücklichen Momente als selbstverständlich erachtet werden.“ „Trotzdem ist es nicht fair, dass diese beiden sterben mussten. Sie hätten ein glückliches Leben verdient.“ „Der Tod ist nicht so grausam und das Leben nicht immer so schön wie es erscheint. Der Tod sowie auch das Leben sind sehr beschäftigte Zeitgenossen und suchen sich nicht die Leute nach Belieben aus. Das Schicksal legt die Lebensspanne jedes Einzelnen fest, der Tod ist nur der natürliche Bestandteil des ewigen Kreislaufs, genauso wie das Leben. Und oft wird statt des Todes das Leben verdammt. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass Sie nicht trauern dürfen. Die Trauer bedeutet nur, dass der Verstorbene Ihnen nicht egal war und das ist gut so. Es ist besser, dass jemand um ihn trauert, als dass er stirbt und niemanden kümmert es. Sie scheinen eine sehr mitfühlende Frau zu sein und das ist eine wunderbare Eigenschaft.“ Naomi fühlte sich langsam viel besser und atmete tief durch. Wie sehr hatte sie jetzt so etwas gebraucht: Jemanden, mit dem sie über ihre Trauer über den Tod zweier unglücklicher Seelen reden konnte und der ihr direkt Trost spenden konnte. Wenigstens fühlte sie sich jetzt nicht mehr so allein. „Sie scheinen ja gerne philosophische Gespräche zu führen.“ „Ich würde es eher tiefgründig nennen.“ „Arbeiten Sie im Krankenhaus?“ „Naja, ich habe sehr viel mit Geburten zu tun und wenn der Bruder stattdessen als eine Art Bestattungsunternehmer arbeitet, dann bringen beide Jobs so etwas mit sich.“ Der Mann erhob sich und verbeugte sich. „Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend, Frau Misora.“ „Moment mal, woher kennen Sie meinen Namen?“ „Eines Tages werden Sie alle Antworten auf Ihre Fragen erhalten. Ich wünsche Ihnen bis dahin ein langes und erfülltes Leben.“ Damit ging er und verschwand im Dunkeln der Nacht. Naomi versuchte noch ihn einzuholen, sah aber kaum noch etwas und die Spuren im Sand wurden von den Wellen des Meeres fortgespült. Irgendwie war dieser Mann seltsam gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihn seit einer Ewigkeit zu kennen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht hatte der irgendwie ein Allerweltsgesicht, das konnte gut möglich sein. Müde ging sie zurück ins Hotel und es dauerte nicht lange, da schlief sie ein. Epilog: Geschenk ---------------- Raye kam am nächsten Tag an und erleichtert schlossen sich die Verlobten in die Arme. In allen Einzelheiten berichtete Naomi alles Geschehene und fand bei Raye Halt und Trost. Sie verständigten die örtliche Polizei über das Massaker auf der Karasuma-Insel, allerdings stellte Naomi das Ende des Falls ein wenig anders dar. Der Blutmaler habe sie angegriffen und sie habe sich mit einem Schuss gewehrt, jedoch sei er daraufhin ins Meer gestürzt. Seine Identität verschwieg Naomi jedoch. Es war schon schlimm genug, dass Rumiko niemals Gerechtigkeit erfahren hat, sie musste nicht noch als brutalste Massenmörderin des Jahrhunderts eingehen. Das war nicht sie sondern das namenlose Monster, welches ihre Verzweiflung und Angst ausgenutzt hatte, um sie für seine Zwecke zu missbrauchen. Die echte Rumiko war nicht so…. Naomi und Raye blieben insgesamt drei Tage in Japan und flogen anschließend wieder zurück nach Amerika. Dort gab es genug zu tun. Sie würden bald in ein Haus ziehen, welches sie sich vor einiger Zeit ausgesucht hatten und mussten ihren Umzug vorbereiten. Die Bilder zum Fall, die Beyond ihr gegeben hatte, verschloss sie in einem kleinen Kistchen und packte es ebenfalls in den Umzugskarton. Raye schüttelte den Kopf. „Warum hebst du diese Bilder auf?“ „Erinnerungsstücke“, antwortete Naomi nur und begann den vollgepackten Karton mit Klebeband zu verschließen. „So einen Fall wird man so schnell nicht mehr bekommen und außerdem habe ich keine Fotos von Beyond Birthday. Immerhin hat er mir auf der Insel das Leben gerettet.“ Raye sagte nichts dazu. Eigentlich war ihm das überhaupt nicht recht, aber man pflegte ja über Tote nur Gutes zu reden und er wollte seiner Verlobten nicht vor den Kopf stoßen. Außerdem waren diese ganzen Eifersuchtsstreite Vergangenheit und er musste endlich lernen, Naomi mehr zu vertrauen. Trotzdem beschloss sie, in knapp zwei Monaten den Job als FBI Agentin an den Nagel zu hängen und den Rest ihres Lebens an seiner Seite zu verbringen. Steven hatte zwar protestiert, eine so engagierte FBI Agentin solle doch bleiben und Naomi hätte noch Chancen richtig Karriere zu machen. Sie aber sagte, dass sie durch den Fall erkannt hatte, dass Gesetz und Moral oft sehr weit auseinanderliegen und sie das nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren könne. Den ganzen Tag dauerte der Umzug und die Kazans halfen alle mit und so dauerte der Aufbau auch nicht so lange wie zunächst befürchtet. Nur Yoru schien sich noch nicht an die neue Umgebung gewöhnt zu haben und ging lieber im Haus auf Erkundungstour. „Weißt du, wir sollten eine Feier veranstalten, um die Nachbarn besser kennen zu lernen“, schlug Raye schließlich vor und setzte sich zusammen mit Naomi auf das Sofa um sich erst einmal von den Strapazen auszuruhen. Das hatten sie sich auch wirklich verdient und zur Feier des Tages gab es auch ein Bier. „Aber erst einmal müssen wir die restlichen Kartons ausräumen, bevor wir noch eine wilde Party feiern. Außerdem müssten wir die Kazans einladen und du weißt, dass Steven trinken kann wie ein Loch. Du brauchst also keine zwei Kästen Bier, sondern eine ganze Brauerei!“ „Da hast du wohl recht.“ Beide lachten und wollten es sich gerade so richtig gemütlich machen, da klingelte es an der Tür. Naomi stöhnte. „Och nee, ich hab jetzt echt keine Lust aufzustehen. Gehst du bitte ran Raye?“ „Also gut… aber nur, wenn du mir nachher die Schultern massierst.“ „Ich tu alles für dich!“ Es dauerte aber nicht lange, da kam er auch schon wieder zurück und er hatte ein kleines Paket dabei. Er machte einen etwas verwirrten Eindruck. „Da lag nur ein Paket für dich, ohne Absender.“ Er reichte es Naomi und diese stellte fest, dass das Päckchen, wie man es eher nennen konnte, ungewöhnlich leicht war. Erst als Raye ihr ein Messer aus der Küche gab, konnte sie es öffnen und befürchtete zunächst, sie würde wieder mit Blut übergossen werden doch zum Glück war es was anderes: Eine kleine Puppe, eine Strohpuppe. Sie trug um den Hals eine kleine rote Schleife und unter der kleinen Puppe lag ein Brief aus Büttenpapier. Ziemlich edel und mit einer wunderschönen Schrift beschrieben. Allerdings stand da so gut wie gar nichts drauf, nur „thank you“ und darunter waren zwei Schmetterlinge gezeichnet worden. Zuerst begriff Naomi nicht so wirklich, was das zu bedeuten hatte, doch dann, als ihr klar wurde, was diese kleine Strohpuppe zu bedeuten hatte, aber dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Und als sie endlich die Wahrheit erkannte, konnte sie nicht anders und musste weinen. Raye begriff nicht und sah sie fragend an. „Was ist Naomi, warum weinst du?“ Doch Naomi sagte nichts. Das, was sie im Moment fühlte, konnte man nicht in Worte fassen. Sie stand auf und ging zum Terrassenfenster und sah zum dunklen Nachthimmel wo die Sterne bereits leuchteten. Mit ihrem Ärmel wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und sagte „Danke“. Es war so leise und kaum hörbar aber sie war sich sicher, dass da irgendjemand in der Ferne war, der diesen Dank hören konnte, selbst wenn sie ihn nur in ihren Gedanken ausgesprochen hätte. Und es gab tatsächlich jemanden, der dies hörte und mit einem Lächeln antwortete „Gern geschehen“. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)