Ich war einmal furchtlos von Elster (Sherlock BBC) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Welt ist eine Summe von Fakten. Die Dinge wie sie sind und die Dinge wie sie waren, die Veränderungen, die sie dazwischen unterliefen. Es gibt keinen Platz für Unsicherheit in der Vergangenheit oder der Gegenwart, nur die Unfähigkeit zu begreifen. Die Wahrheit steht in den Fakten geschrieben, wenn du sie lesen kannst. Die einzige Unsicherheit auf der Welt ist die Zukunft, diese nicht einschätzbare Summe von Möglichkeiten. Das Unbekannte. Das Wartezimmer ist in blassem Grün gestrichen, Grün, um Vertrauen einzuflößen, das Sherlock nicht aufbringen kann. Er hat diesen Raum zu lang beobachtet, er fühlt sich, als wäre er hier für Tage gefangen gewesen. Die Kratzer auf dem Fußboden, die staubigen Abdrücke von Schuhsohlen in der Ecke dort, die Fusseln auf einem der Stühle, die liegengelassene Zeitung, der Abfall im Papierkorb, Fingerabdrücke auf dem Getränkeautomaten und den Fensterscheiben, die schwachen Spuren von Parfüm in der Luft gegen den sterilen Krankenhausgeruch; Sherlock kann die Geschichte dieses Raumes bis zurück zum Anfang der Woche rekonstruieren, als die Leuchtröhre in einer der Lampen ersetzt wurde, er weiß, wieviele Menschen heute hier saßen, könnte von den meisten von ihnen eine vage Beschreibung liefern ohne sie je gesehen zu haben. Es ist einfach da, Fakt, und es ist unwichtig und langweilig und macht ihn verrückt, weil er nicht aufhören kann, über den halb gegessenen Marsriegel im Papierkorb nachzudenken, über denjenigen, der ihn da gelassen hat, um aus dem Raum zu rennen, über all die anderen Dinge, die keine Bedeutung haben. In seinen Kopf geht er ein Stück von Bach durch, aber einige Noten fehlen und er kann sich nicht an den Titel erinnern. Etwas in d-Moll, es ist lächerlich, dass es ihm nicht einfällt, er weiß, er hat es das erste Mal im Radio gehört, in ihrem Wohnzimmer, an einem lange vergangenen Tag im späten November, als Mycroft seine Hand gehalten und mit ihm gewartet hat, während ihr Vater im zweiten Stock starb. d-Moll ist die traurigste aller Tonarten. Die Zukunft wurde in zwei Welten gespalten: eine die weitergeht, die sehr ähnlich wie die ist, an die Sherlock gewöhnt ist, und eine ohne John. Und es ist unmöglich zu wissen, welche von ihnen einmal Fakt sein wird. ~ John lächelt schwach als er die Augen öffnet und Sherlock sieht. “Du bist okay”, sagt er, Stimme rauh, aber fest, und er zieht seine Hand zwischen Sherlocks hervor, um seinen Arm über dem Ellbogen zu fassen. Beruhigend, wobei Sherlock nicht sicher ist, für wen von ihnen mehr. John hat allerdings Unrecht. Sherlock kann das leichte Brennen der oberflächlichen Wunden auf seinem Bauch spüren. Er erwidert das Lächeln und belügt John und versucht nicht über Johns Blut, das ihm durch die Finger rinnt, nachzudenken. John wird überleben, das ist Fakt, das ist von Bedeutung. ~ Sie lassen ihn nicht ununterbrochen im Krankenhaus bleiben, also geht Sherlock zwischen den Besuchszeiten nach Hause. Er schläft nicht, er sucht in alten Fallakten und bei all seinen Verbindungen nach Spuren von Moriarty. Er muss den Plan herausfinden. Moriarty muss aufgehalten werden. Johns Sessel ist leer und der Schädel äußert nichts als düstere Prophezeiungen. Wenn es unerträglich wird, geht Sherlock in die Küche und macht Tee, so wie John ihn mag. Er schmeckt natürlich falsch, die billige Marke, die John bevorzugt, zu kurz ziehen gelassen, mit zu wenig Zucker und zu viel Milch. Aber Sherlock trinkt ihn und tut so, als wäre John da und erlaubte ihm, ihn zu stehlen. ~ John redet über seine Krankenschwester. Allem Anschein nach ist sie ganz reizend. Sherlock hasst sie. Er hofft, John redet nur von ihr, weil seine Tage im Krankenhaus so sterbenslangweilig sind. Er darf sich nicht viel bewegen, zu viel empfindliches Gewebe, das reißen und bluten könnte. Sie lächelt charmant als sie Johns Zimmer betritt und bietet Sherlock das Du an. Mary mag Sherlock, weil er John das Leben gerettet hat. Das ist eine Fehleinschätzung. Sherlock ist lediglich aufgewacht und zu John hinübergekrochen und hat versucht, das Blut und die Innereien an ihrem Platz zu halten, bis die Sanitäter ihn gezwungen haben loszulassen. Es war ein Moment so komplett außerhalb seiner Kontrolle, dass die aktive Tat der Rettung eines Lebens eine Unmöglichkeit darstellt. Es ist Glück, dass John am Leben ist. Das war Moriartys Münzwurf. ~ Er träumt den Rückstoß der Pistole, aber nicht den Knall. Er weiß, was passieren wird, aber er spürt dennoch den Überraschungsmoment, als nichts explodiert. In seinem Traum kann er Moriarty grinsen sehen. Der Traum reproduziert nicht den widerlich süßlichen Geruch des Betäubungsmittels, aber er endet mit diesem Augenblick der Klarheit. Ein Moment des absoluten Begreifens, der Erkenntnis darüber, wie falsch er gelegen hat. Er erwacht zusammengerollt auf Johns Bett. Er starrt den Wecker an, ergibt sich der Müdigkeit für ein paar Sekunden mehr, bevor er sich aufrappelt. Einige Stunden zum Arbeiten und dann Besuchszeit im Krankenhaus. Vielleicht kann John bald nach Hause kommen. Im Badezimmer, nach dem Duschem, starrt er sein Spiegelbild an. Die Nachricht verschwindet langsam. Nur ein paar flache Schnitte, die nicht einmal Narben hinterlassen werden, wenn er sie sauber hält. Er denkt darüber nach, sie wieder zu öffnen, sie tiefer zu machen. Es steckt eine Lektion in diesen vier kleinen Worten und dem untiefen unterstreichenden Schnitt darunter, der niemals vernarben wird wie sein Pendant auf Johns Bauch. Eine Warnung und eine Lektion. Am Ende siegt sein Widerwillen gegen Moriartys Spuren auf seinem Körper, also entscheidet er, sie heilen zu lassen und lediglich sicherzugehen, dass er sie niemals vergisst. Kannst du es fühlen? ~ Als John nach Hause kommt, ist er entschlossen. Sherlock arbeitet immer noch daran, Moriartys Netzwerk zu verstehen, einen Weg zu finden, ihn zu fangen, und John ist schwach, es wird Wochen dauern, bevor er wieder stark genug ist. „Wir stecken hier zusammen drin, Sherlock“, sagt John eines Abends und seine Stimme mischt sich mit der letzten Note, die in Sherlocks Geige nachklingt. Ein ernster und besorgter Schlusssatz zu Sherlocks nachdenklicher kleiner Fuge. Sie tauschen einen langen Blick, Sherlock sieht ein, dass es viel zu spät ist, Verwirrung über Johns zusammenhangslose Äußerung zu heucheln. Vielleicht gab es von Anfang an keine Chance dazu, John ist auf seine eigene Art gefährlich. „Du machst das nicht allein, ist das klar? Ich weiß, du denkst darüber nach, aber du darfst nicht. Du muss warten, bis es mir besser geht. Du brauchst mich.“ Sherlock wendet den Blick ab und beginnt von Neuem zu spielen. Er kommt auf keine Lösung für dieses Problem. ~ Das Leben kehrt zur Normalität zurück, mehr oder weniger. Es wird niemals wieder sein wie vorher. John und Mary treffen sich immer noch. Gehen aus. Sherlock kann sie nicht hassen, wenn sie John zum Lächeln bringt. Er kann sie nicht hassen, wenn sie niemals ein schlechtes Wort über ihn oder die Fälle verliert, wenn sie John so glücklich macht. Einmal haben sie einander angesehen als John nicht im Raum war und in ihren Augen war dieselbe Angst, die Sherlock gefühlt hat, dieselbe stumme Bitte, ihn nicht wegzunehmen. In seinen Träumen lacht sie, sanft, fast mütterlich küsst sie Sherlock bis er blutet und nimmt seine Augen heraus, sodass er sehen kann, wie John sie ansieht. Sie streichelt sein Haar, zu gut und zu grausam, seine Bitten zu erfüllen und sein Herz herauszureißen. Wenn sie es äße, könnte das alles aufhören und die Welt würde sich wieder zurechtrücken. Sherlock wacht auf dem Sofa auf und blinzelt sich Tränen aus den Augen. Er fühlt sich labil. Die Wohnung ist leer. John wird heute Abend nicht heimkommen. ~ Es braucht Monate, bis Sherlock alle Spielsteine aufgestellt hat. Sobald er sie in Bewegung setzt, hat er es nicht mehr in der Hand, eine Kaskade von Ereignissen die er überleben könnte oder auch nicht. Sein erster Zug ist prosaisch. Ein langer und detaillierter Brief an die Staatsanwaltschaft. Seine vollständige Aussage befindet sich in Mycrofts Obhut, bis der Prozess beginnt, im Falle, dass er nicht in der Lage sein wird, persönlich auszusagen. Die Poizei ist schnell, die Untersuchungen gut geplant, und sie haben ein paar Mal Glück, Beweise, die ganz unerwartet auftauchen. Moriarty schickt Auftragskiller. In der Nacht zum dritten Tag gibt es ein Feuer in der Baker Street. Es wird schnell gelöscht, nichts Wichtiges ist verloren, nur eine Menge Rauch und Wasserschaden, aber es ist genug, um seine Absichten zu erklären. In dieser Nacht bricht Sherlock in Marys Wohnung ein, wo John inzwischen die halbe Zeit über wohnt. Die meiste Zeit, in den letzten Tagen, weil Sherlock verschwunden war. „Wir reisen heute Nacht ab“, sagt Sherlock und ist sich nicht sicher, ob er befürchtet oder hofft, dass John seine Forderung (sein Versprechen) vergessen hat und mit Mary hierbleiben will. John nickt einfach nur und geht aus dem Zimmer, um sich umzuziehen und ein paar Sachen zu packen. Er hat Sachen zu packen in Marys Wohnung, Sherlock versucht darüber nicht näher nachzudenken. Mary steht neben Sherlock im Wohnzimmer, klein in ihrem leuchtend orangen Bademantel und ihrem zerknitterten Nachthemd. Sie sieht ängstlich und tapfer aus. „Bitte Sherlock“, sagt sie. Sie betrachtet ihn, besorgt, als würde sie ihn kennen. Als würde sie ihn mögen. Sie sieht ihn ein bisschen an, wie John ihn ansieht und Sherlock ist sich nicht sicher, warum das so wehtut. „Das Wichtigste“, sagt sie, „ist, dass ihr beide zurückkommt.“ Was sie meint, ist natürlich, dass John überleben muss. Sherlock gibt sein Wort. ~ Für ein paar Tage fühlt sich Sherlock überschwänglich. Eigenartig frei, sein einziges Ziel ist es, am Leben zu bleiben, bis Moriartys Netzwerk zu Hause in London zerstört ist. Nur er und John, die sich durch Europa schleichen. Fast wie es vor Moriarty war. Der Scharfschütze findet sie in Antwerpen. Sherlock kann ihn früh genug ausmachen, es fällt kein Schuss, aber er bleibt an ihnen dran, immer nur einen Schritt hinter ihnen, den ganzen Weg durch Belgien. Sie schütteln ihn ab, als sie die deutsche Grenze in einem Auto mit zwei Studenen überqueren, die Sherlock in Liége aufgegabelt hat. Eines der Mädchen ist ernsthaft und zurückhaltend und redet mit John in ungelenk präzisem Englisch über Medizin, während sie fährt. Das andere Mädchen ist nicht im geringsten zurückhaltend und flirtet hartnäckig mit Sherlock, der durch die Rückscheibe den Verkehr beobachtet. „Spar dir die Mühe“, blafft er sie auf Deutsch an, als sie zu nervtötend wird, „ich bin vergeben.“ Sie folgt seinem kurzen Blick zu John und seufzt. Ein paar Stunden später, im Nachtzug nach Süden, gibt John immer noch hin und wieder ein Kichern von sich. Sherlock funkelt ihn wütend an. „Es war keineswegs dermaßen komisch.“ „Ich dachte, ich bin hier, um dich vor Auftragskillern zu retten, nicht vor jungen Frauen.“ Sherlock würdigt das mit keiner Antwort und starrt aus dem Fenster in die Dunkelheit, bis er Johns Kopf gegen seine Schulter rutschen spürt. Er sieht auf Johns schlafendes Gesicht herab, fühlt weiche Haare gegen sein Kinn streichen. Es ist ein Moment voll Frieden und Grauen und perfekter Ruhe, abgesehen vom Rattern des Zugs, als er sich den Alpen nähert. ~ Sie befinden sich seit vier Tagen auf der Flucht und in den Kleinanzeigen der 'Sun' will MH wissen, warum 'naughtyshirley' so lange nicht online war. Sherlock grummelt vor sich hin und sucht das nächste Internetcafé. Auf einer populären Chatseite folgt er dem Link zur Registrierung und erzeugt einen Account als 'naughtyshirley'. Der CAPTCHA zeigt 'name 1stdog'. Wir hatten eine Katze, du Wichser, schreibt Sherlock und wird akzeptiert. Ein Chatfenster öffnet sich. BigBrother betritt den Chatroom. John, der über Sherlocks Schulter mitliest, gibt ein schnaubendes Lachen von sich. netz eingeholt, großer fisch entkommen Sherlock verdreht die Augen so sehr, dass es schmerzt. Lass das, ich bin nicht in der Stimmung für Agentenspielchen. SM hat L ein paar stunden nach euch verlassen JM gestern mehr verbindungen als erwartet weltweites netzwerk spuren verlaufen im sande Er ist hinter mir her. möglich komm zurück nach L im moment außerhalb seiner reichweite Und er wird außerhalb meiner Reichweite sein. Was ist dein Plan? Weiß nicht. Werde nach Gehör spielen. schlechte idee Was ist mit JW? „Ich bleibe bei dir“, sagt John. Sherlock sieht zu ihm auf, loyaler John Watson, und für einen kurzen Augenblick fühlt er nichts als Verzweiflung. Nicht deine Sorge, tippt er. Ich möchte meine entschiedenen Einwände unterstreichen. Vermerkt. Pass auf dich auf. Sherlock logt sich aus. ~ Es bleibt kein Raum zum Denken in der aggressiven Gemütlichkeit ihres Hotelzimmers und Sherlock ist, als würde er ersticken, also geht er raus für einen Spaziergang. „Aber du kommst wieder“, sagt John verhalten. Es ist nicht ganz eine Frage und nicht ganz ein Befehl. Sherlock nickt. „Ich muss nur nachdenken.“ „Sei vorsichtig.“ Sherlock gibt eine vage zustimmendes Brummen von sich und geht. Er ist verstört. Die düstere Vorahnung, die ihn im Zug nach Zürich befallen hat, hat nicht nachgelassen und Mycrofts Neuigkeiten waren in allen Punkten schlecht. Die Sache wird nicht so bald vorüber sein, Moriartys Organisation ist nicht tot, nur verwundet, aber Sherlock hat sein Blatt gezeigt, hat offengelegt, was er herausfinden kann, was er tun kann. Er ist eine Bedrohung für sie, er wird so lange auf der Flucht sein, wie die Organisation existiert. Der Scharfschütze in Antwerpen war Moran, Moriartys mutmaßliche rechte Hand. War er aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage Ernst zu machen, oder war es ihm verboten? Sherlock hat das beunruhigende Gefühl, dass sein weiteres Überleben ganz und gar von Moriartys Besessenheit mit ihm abhängt. Er versteht es nicht. ~ Das Hotelzimmer ist dunkel, als er es betritt, abgesehen von dem leichten Glanz auf dem Lauf von Johns Pistole, die auf ihn gerichtet ist. „Ich bin's.“ Der Schatten bewegt sich, Sherlocks Augen gewöhnen sich an das schwache Licht, das durchs Fenster hereinfällt, und er kann John ausmachen, der auf seinem Bett sitzt. „Ich dachte, du wärst weg.“ „Ich sagte, ich komme wieder“, sagt Sherlock überrascht. „Tja... Hab dir nicht geglaubt.“ „Du würdest mich einfach gehen lassen.“ Seine Stimme klingt seltsam in seinen eigenen Ohren. „Nein!“ John bewegt sich auf dem Bett. „Nein, Sherlock. Komm her.“ Sherlock kann sich nicht bewegen, er ist wie betäubt, er fällt, nichts ergibt Sinn. Es war dumm wiederzukommen. Warum also? John kommt zu ihm, barfuß auf dem knarzenden Fußboden. Er legt eine Hand auf Sherlocks Schulter und Sherlock versucht nicht zurückzuzucken, sich nicht dagegenzulehnen. „Natürlich würde ich dich nicht einfach gehen lassen, ich hätte dich zur Strecke gebracht und dir Vernunft eingebläut.“ Und dann umarmt er Sherlock, fest und so warm vom Bett, gehüllt in einen Geruch nach Schlaf und Seife und Waffenöl. Sherlock kriegt keine Luft. „Wie könntest du mich finden?“ Es sollte herablassend klingen, aber es kommt hervor wie erwürgt und John drückt ihn fester. Sherlock klammert sich an ihn, er wird sich diesen einen Moment der Schwäche erlauben und dann wird er wieder stark sein, sagt er sich. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, gibt er zu, flüstert in Johns Ohr wie ein Geheimnis. Es ist mehr als ein Geheimnis, es ist eine Niederlage. Er kann Moriarty nicht entkommen lassen, weil Moriarty ihn nicht entkommen lassen wird und er kann nicht für immer davonlaufen. Er kann John nicht mit sich nehmen, denn das ist selbstsüchtig und falsch und es würde sie beide umbringen, und er kann John nicht allein lassen, weil Moriarty es weiß und John finden wird. „Uns fällt schon etwas ein“, sagt John gegen Sherlocks Schulter, beschwichtigend und voller Vertrauen und komplett im Irrtum. „Wir machen uns ganz gut, oder nicht? Und du bist brillant, du brauchst nur ein bisschen Schlaf, du bist nicht du selbst.“ Sherlock wünschte, das wäre wahr, er würde das mögen, ein wenig Distanz, um aus alldem schlau zu werden. ~ Für die längste Zeit liegt er wach in seinem Bett, horcht auf Johns leises Atmen von der anderen Seite des Raums und zeichnet die Buchstaben auf seinem Bauch mit der Fingerspitze nach. Er kann sie nicht spüren, das Einzige, was noch übrig ist, sind verblassende rosa Linien, gerade noch sichtbar aus nächster Nähe und unter bester Beleuchtung, eine weitere Woche und nichts wird zurückbleiben. Er wird immer wissen, wo jeder Einzelne war. Kannst du es fühlen? Es ist genial, das muss Sherlock zugeben, einen Mann auf diese Art als Geisel zu nehmen, mit nichts als vier Worten geschrieben in Blut und einer tiefen Wunde. Es sollte nicht funktionieren, aber es zieht Sherlocks kreisende Gedanken in immer engeren Bahnen hinab. „Wir müssen zusammen bleiben“, sagt John aus der Dunkelheit. Sherlock wusste, dass er nicht schläft. John ist auf diese Art gefährlich, er hat nicht alle Fakten, er kann von nichts wissen, und dennoch ist der da, bricht ein in Sherlocks Gedanken. „Du musst das nicht allein durchstehen, Sherlock. Du hast mich.“ Was ist mit Mary?, denkt Sherlock. Was, wenn es Jahre dauert, ein ganzes Leben? „Ich brauche dich“, gibt er zu und John scheint das als Zustimmung zu werten, denn er bleibt danach still. Akzeptanz, erinnert er sich, ist der erste Schritt, um eine Sucht zu brechen. ~ Sherlock schläft schlecht. Er träumt von John, der am anderen Ende der Baker Street steht, mit dem Rücken zu Sherlock. Er weiß, dass Moran auf einem der Dächer lauert, das Gewehr auf John gerichtet und er will rufen, ihn warnen, aber er kann kein Geräusch machen. Also rennt er, rennt so schnell er kann, aber John ist so weit weg, kommt niemals näher und seine Bewegungen sind verlangsamt, als würde er durch Wasser waten. Er guckt runter und sieht, dass das Blut bis zu seinen Hüften reicht, dick und klebrig, und ihn aufhält. Er hört Moriarty lachen und den Schuss, beide klingen wie eins, und fällt neben John auf die Knie, erschöpft und jenseits von Verzweiflung. Er kann die Worte auf Johns Stirn durch die Tränen in seinen Augen nicht lesen, aber das muss er nicht. Seine Hände sind rot und ungeschickt, als er versucht, die Blutung zu stoppen und er fühlt Johns Körper unter seinen Finger bröckeln, Knochen und Haut zerbrechen wie trockenes Laub, Wunden graben sich hinein, Blut fließt- Eine kühle Hand auf seiner Stirn weckt ihn auf und Sherlock kann ein Schluchzen nicht unterdrücken. „Es tut mir leid,“ sagt er, seine Stimme belegt und krächzend und nicht ganz seine eigene. „Es tut mir so leid.“ John brummt nur beruhigend und lässt seine Hand liegen, wo sie ist, sein Daumen zieht beruhigende Kreise auf Sherlocks Kopfhaut. Es dauert ein paar Sekunden, bis Sherlock zurück in die Wirklichkeit findet, er in kaltem Schweiß und John neben seinem Bett kniend. Immer noch in diesem grauenvollen Hotelzimmer in Meiringen, fahlgrün gefärbt vom allerersten Morgenlicht. „Du hast ein bisschen Fieber“, sagt John, stets besorgt. Sherlock schüttelt den Kopf, richtet sich, auf seine Ellbogen gestützt, auf und bereut es, als John seine Hand wegnimmt. „Es ist nichts.“ John sieht wenig überzeugt aus, aber sagt nichts weiter. Für einen langen Augenblick sehen sie einander an. Im Dämmerlicht ist Johns Gesicht wie Stein und seine Augen der hellste und dunkelste Ort. Sherlock weiß nicht, nach was sie in ihm suchen, aber er hofft, sie finden es. Er fühlt sich zerbrechlich, als ob es ihn in Stücke reißen könnte, wenn John jetzt aufstünde, als ob er verschwände, sobald John ihn nicht mehr ansieht. Sherlock berührt seine Schulter, fest und warm unter dem dünnen Shirt, dass er trägt, nur um sicher zu gehen. Es ist dumm, es war nur ein Traum, aber es ist trotzdem beruhigend, die kleinen Bewegungen von Knochen und Muskeln unter warmer Haut, als John zitternd ausatmet, als John sich zu ihm beugt, so nah, und Sherlock küsst. Es erschreckt ihn. Johns Lippen sind weich und trocken und kühl auf seinen eigenen. Sherlock kann nicht reagieren, er fühlt... zu viel, überwältigt, als ob sein Brustkorb explodieren könnte. Er kann nicht richtig denken, kann nicht einmal atmen. Es dauert nur ein paar Sekunden und dann zieht sich John wieder zurück, seine Augen ruhen wieder auf Sherlock und Sherlock versucht, seine Gedanken zur Ordnung zu rufen. Er lag falsch, denkt er mit einem Hauch Hysterie, mit den Dingen, die ihn in Stücke reißen könnten. ~ Ein paar Stunden später sitzt Sherlock an dem kleinen Tisch und sieht zu, wie ein Fleck Licht über den Fußboden auf sein Bett und Johns schlafende Gestalt zu kriecht. So wie jetzt sieht er nicht aus wie er selbst, sondern eigentümlich jung und verletzlich. Sherlock findet es faszinierend, aber er mag es nicht. Es gefällt ihm, wenn John aufwacht und aufmerksam und gefährlich wird. Er mag Johns ergrauende Haare und seine verschiedenen Narben, alle geheilt, alle schön, alles Dinge, die ihn nicht töten konnten. Rote und weiße Linien, die 'Überleben' in Johns Haut schreiben, Magie spinnen, ihn unverwundbar machen wie ein Bad in Drachenblut. Er schiebt die schwärmerischen Gedanken auf die frühe Stunde und das Flugblatt, das unter der Tür durchgeschoben wurde. Es ist frei von Fingerabdrücken. Besuchen Sie die Reichenbachfälle! Es muss enden, denkt er. „Wir sollten uns eine Pause gönnen“, sagt John vom Bett aus. Sherlock beobachtet ihn als er sich aufsetzt und eines seiner Augen reibt. „Nur ein oder zwei Tage, du siehst müde aus.“ Sherlock ist nicht müde, er ist erschöpft, aber Schlaf hat nichts mit alldem zu tun. Er geht die paar Schritte hinüber und lässt das Flugblatt in Johns Schoß fallen. John sieht mit gehobener Augenbraue zu ihm auf. „Dachte nicht, du wärst der Typ fürs Wandern.“ Sherlock zuckt die Schultern, abgelenkt von Johns Hand, die sich um sein Handgelenkt schließt und den Zügen seines nach oben gewandten Gesichts. Er lernt John aus neuen Blickwinkeln kennen und er spürt ein zartes Lächeln an seinen Lippen ziehen, ganz grundlos. John zieht an seinem Handgelenk und sie küssen sich wieder, als könnte es etwas Normales werden. ~ Der Junge erzählt die Geschichte bewundernswert, seine Mutter sei einen Hang heruntergestürzt, sie wären wandern gewesen, sie liege verletzt nur eine halbe Stunde den Weg ins Tal herunter. Er sei so froh, jemanden zu finden, der erste Hilfe leisten kann, einen Arzt sogar. Wenn Sherlock ihn nicht selbst bezahlt hätte, würde er auf das Handy in seiner Hosentasche hinweisen und die Tatsache, dass ein Junge aus der Gegend (offensichtlich) wissen würde, wo der nächste Ort ist, und keine halbe Stunde in die falsche Richtung laufen würde. John allerdings hinterfragt es nicht, all seine Aufmerksamkeit auf mögliche Verletzungen gerichtet und wie er helfen kann. Er zögert nur, um Sherlock anzusehen. „Geh nur“, sagt er. „Ich gehe vor und warte bei den Wasserfällen auf dich.“ „Bist du sicher?“ Es ist nur der Form halber, John hat sich schon längst umgedreht, um dem Kind zu folgen. Sherlock lächelt sanft. Wenn das das Letzte ist, was er von John sieht, ist es gut so. Entschlossen und kompetent und auf dem Weg jemandem zu helfen. John erwidert sein Lächeln, macht ein paar Schritte rückwärts, nur um ihn noch ein bisschen länger ansehen zu können, sein ganzes Gesicht verwandelt in das einer glücklicheren Person. Sie sind albern, es ist lächerlich. Und niederschmetternd, lässt Sherlock sich selbst denken, als er sich abwendet, sicher vor Johns Augen. Es hätte ihm gefallen, einen glücklichen John Watson kennenzulernen. ~ Er hat keinen Sinn für die Natur auf seinem Weg nach oben, es ist John, der eine schöne Aussicht und die friedliche Szenerie eines Waldes zu schätzen weiß. Es ist kunstlos, eine Art verschämt romantische, zahme Wildnis, die Sherlock als nichts anderes begreifen kann als eine Kulisse. Er holt sein Telefon heraus und beginnt eine E-Mail an John zu verfassen. Mein lieber John, schreibt er und starrt das Possessivpronomen fast eine Minute lang an, bevor er sich entschließt, es nicht zu löschen. Ich schreibe diese Mail, weil ich weiß, dass Moriarty mich bei den Fällen erwartet. Es ist unausweichlich, dass wir diese in die Länge gezogene Jagd beenden. Er darf nicht entkommen. In einer anderen Welt könnte ich in Versuchung gewesen sein ihn dieses Spiel weiterspielen zu lassen; es ist selbst jetzt in bitterer Gedanke, die Herausforderungen zu verlieren, die er mir hätte stellen können. Aber dann denke ich an Dich und ich weiß, dass er zur Strecke gebracht werden muss. Ich fürchte, dass mein eigener Tod ein Risiko ist, das ich eingehen muss, um die Welt von ihm zu befreien. Ich kann mir vorstellen, dass Du wütend sein wirst, wenn Du das hier liest, und es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Du wirst es schwer nehmen und mich dafür hassen, dass ich Dich getäuscht habe und ihm allein entgegengetreten bin. Bitte glaube mir, dass ich weder an Deinen Fähigkeiten noch an Deiner Loyalität zweifle, ich kann nur den Gedanken nicht ertragen, Dich in unsere gegenseitige Zerstörung mit hineinzuziehen. Ich kann Dich nicht verlieren und was wäre der Sinn darin, für eine Welt ohne Dich zu sterben? Er hält inne, sein Daumen über der Rücksetztaste. Ich habe darüber nachgedacht, den letzten Satz zu löschen, schreibt er schließlich, aber ich sollte zumindest in diesem Brief ehrlich sein. Im Idealfall werde ich überleben und Dir diese Mail niemals zeigen, aber wenn ich über die Alternative nachdenke, male ich mir eine Welt aus, die sicherer ist als diese, dank mir – für Dich und vielleicht eines Tages für Deine Kinder. Ich stelle mir Dich vor, wie du ein gutes, langes Leben lebst. Mary für Dich und meine Arbeit für mich... In letzter Zeit habe ich begonnen, dieses Szenarium zu verabscheuen, aber wenn ich heute sterbe, wünsche ich Dir nichts als Glück. Ich hoffe, du kannst mir diese extremen Maßnahmen vergeben. Ich bitte Dich um Verzeihung für alles, das zu tun oder zu sagen ich zu feige war. Ich hoffe, Du weißt, ich bin Dein ergebenster Freund, Sherlock Holmes ~ Moriarty ist da wie erwartet. „Ein dramatischer Hintergrund für ein dramatisches Ereignis“, schreit er über das Brüllen des Wassers. Eine Kaskade von sieben Fällen, potentielle Energie verwandelt in ohrenbetäubendes Rauschen, Nebel und zermalmende Kräfte. Es ist ein wenig länger her als eine Woche, seit Sherlock ihr letztes Spiel begonnen hat und es hat seine Spuren auf ihnen beiden hinterlassen. Moriarty ist blass, angespannt, und seine Augen mörderischer als je zuvor, sein hämisches Grinsen gefährlicher. Er sieht sich um, theatralisch, legt den Kopf schief. „Wo ist dein kleiner Freund hin? Abgehauen? Ich hatte so eine hübsche Überraschung für ihn parat.“ Seine Augen zucken zur Seite, unbewusst wahrscheinlich, aber vielleicht will er, dass Sherlock es weiß. Hinter ihm ist die Felswand und ein Platz über der Klamm, wo ein Schütze lauern könnte. Sherlock kann ihn nicht sehen, aber er ist sich plötzlich sicher, dass Moran hier ist. Er sieht zurück in Moriartys lächelndes Gesicht. „Du, ich, hier, zu guter Letzt“, sagt Moriarty schleppend, als könnte er sich nicht dazu aufraffen, seine Gedanken genauer zu äußern. „Ich gebe zu, es ist alles ein bisschen Mantel und Degen, aber es ist nicht wirklich ein Duell, nicht wahr?“ „Ist es nicht?“ fragt Sherlock und hebt eine Augenbraue. Er fühlt sich jetzt ruhig. Moriarty zuckt die Schultern. „Es hätte eines sein können, aber du bist so enttäuschend. Ich trete deinen Hund und du nimmst es so persönlich. Es ist abstoßend. Kann keinen Spaß verstehen.“ Hinter jedem Wort, das er sagt, steckt mehr Zorn, bis er über die donnernden Fälle kreischt. „Du musstest mich unbedingt wütend auf dich machen!“ „Und jetzt willst du mich deshalb umbringen?“ „Versteh mich nicht falsch“, sagt Moriarty, wieder irritierend ruhig. „Ich hatte wirklich Spaß dabei, aber ich habe ein Geschäft zu führen.“ Er dreht sich zu dem Pfad um, der in den Stein gehauen ist. Es gibt hölzerne Geländer, glitschig vom ewigen Niesel der Fälle. „Komm schon“, ruft er über die Schulter. „Du solltest das sehen, könnte das Letzte sein.“ Sherlock folgt ihm, weil der Pfad ihn vom Scharfschützen wegführt. So nah bei den Fällen betäubt das Wasser alle Sinne. Rauschender Lärm, weißer Nebel, selbst der Geruch ist nur ununterscheidbare Nässe. Moriarty dreht sich um und kommt näher, Sherlock wappnet sich für einen Angriff, der nicht kommt. „Du weißt, was passiert, wenn ich sterbe und du hier lebend rauskommst?“ Moriartys Stimme geht fast unter im fallenden Wasser. „Moran wird mich erschießen?“ Moriarty grinst und schüttelt den Kopf. „Das ist es, was ich tun würde. Sebastian ist eher traditionell. Auge um Auge.“ Sherlock nickt und holt sein Telefon heraus, um eine E-Mail zu senden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)