Last Despair 2 von Sky- (Die zweite L.A. Mordserie) ================================================================================ Kapitel 1: Kontakt ------------------ Die Feuerwehr war bereits dabei, die verkohlten Leichen aus den Trümmern zu bergen und an einigen Stellen stieg noch schwärzlicher Qualm empor. Steven Kazan, der vor einiger Zeit zum Special Agent befördert worden war, unterdrückte sein Verlangen nach einer Zigarette aus Respekt vor den Toten. Stattdessen schob er sich einen Kaugummi in den Mund und stieg über einen verkohlten herabgestürzten Balken. „Was haben wir hier?“ „Brandstiftung. Die Kindergärtnerin Estelle Wagner hat Benzin verschüttet und angezündet. Es gibt keine Überlebenden.“ Kazan schüttelte den Kopf und kniete vor einem Benzinkanister nieder. Obwohl er genauso schwarz verkohlt war wie der Rest des Trümmerhaufens, war er gut erkennbar und nicht weit davon entfernt lag ein Feuerzeug. Die Tote war wirklich gut durchplant vorgegangen. Sie hatte Türen und Fenster fest verschlossen und hatte das Benzin an den Notausgängen vergossen und jede Fluchtmöglichkeit genommen. Es war schon der sechste Fall in diesem Monat. Der letzte war ein Anwalt gewesen, der Bomben in einem Gerichtssaal gelegt und alles in die Luft gesprengt hatte. Seit zwei Monaten lief das schon so und zunächst war man von normalen Amokläufern ausgegangen, aber inzwischen artete es immer mehr aus und seit der Sache mit Kira tat man so etwas nicht mehr als „normal“ ab. Kazan hatte schon von Anfang an das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Völlig normale Menschen, die niemals auffällig geworden waren und sich niemals etwas zu Schulden kommen lassen hatten, wurden plötzlich zu Amokläufern? Nun gut, Amokläufer waren in der Öffentlichkeit genauso unauffällig wie diese ganzen Pädophilen heutzutage. Aber selbst im Umfeld war nichts Interessantes zu finden. Allesamt normale Menschen mit einem uninteressanten Leben. Kein Mobbing in der Vergangenheit, keine traumatischen Erlebnisse und kein beunruhigendes Verhalten, was auf ein eventuelles Attentat hindeuten konnte. Es schien so, als hätte man einfach einen Schalter umgelegt. Eine Gruppe Schaulustiger hatte sich an der Polizeiabsperrung versammelt und machte Fotos. Wie Kazan sie doch hasste diese neugierigen Gaffer, die sich am Leid und Tod anderer ergötzten. Hier waren um die 40 Kinder bei lebendigem Leibe verbrannt, da konnte man doch etwas mehr Anstand erwarten. Der Special Agent holte aus seinem Trenchcoat einen Notizblock und ging zu einem Mann in Sportlermontur, der zum Zeitpunkt des Brandes die Straße entlang gejoggt war und die Feuerwehr verständigt hatte. Als er sich eine Zigarette anzünden wollte, hielt ihn Kazan davon ab. „Zeigen Sie etwas mehr Respekt, hier sind immerhin Kinder verbrannt.“ Der Mann, ein übernervöser Kerl Mitte vierzig, entschuldigte sich hastig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Geben Sie bitte Ihre Personalien und dann schildern Sie in aller Ruhe, was Sie zum Zeitpunkt vor und während des Brandes gesehen haben.“ Ihm wurde ein Personalausweis gegeben dem Kazan entnahm, dass er Jonathan Mooney hieß, 41 Jahre alt war und als Versicherungsvertreter arbeitete. Genauso alt wie ich, dachte Kazan und kratzte sich an der Wange und spürte die borstigen Bartstoppeln. Er musste sich dringend mal rasieren. Jonathan Mooney räusperte sich und begann zu erzählen. „Viel hab ich nicht gesehen. Das Feuer brach explosionsartig aus und die Fenster sind zersprungen.“ Das bedeutete, dass Estelle Wagner schon vor längerem das Benzin verschüttet hatte. Wie jeder wusste (zumindest der, der von Chemie eine Ahnung hatte), war lediglich das Gas brennbar und wenn der Brand explosionsartig ausgebrochen war, musste sehr viel davon verströmt sein. Kazan nickte und Mooney fuhr fort. „Dann hab ich gesehen, wie die Frau aufs Dach gestiegen ist. Sie hat in den Himmel geschaut und hat sich selbst in die Luft gesprengt. Ich dachte, da wäre irgendetwas Sektenmäßiges am Laufen, oder es sind Terroristen.“ Auch hier wieder. Jedes Mal töteten die Täter, dann stiegen sie aufs Dach und sprengten sich selbst in die Luft. Im ersten Fall schoss ein Schuldirektor Lehrer und Schüler nieder, stieg aufs Schuldach und sprengte sich den Kopf weg. Der Rechtsanwalt, der den Gerichtssaal in die Luft jagte, ging ebenfalls hoch aufs Dach und sprengte sich in die Luft. Es war immer das gleiche Verhalten und so etwas passte nicht zu einem normalen Amokläufer. Diese handelten meist grob durchgeplant und beendeten ihr blutiges Werk meist aus einem Affekt heraus. Dass sich völlig verschiedene Personen, die sich noch nie zuvor getroffen hatten, alle auf die gleiche Weise umbrachten, nämlich indem sie auf einen Aussichtspunkt stiegen, das passte nicht zu einem Amokläufer. Zumindest nicht auf die Weise. Jeder Amokläufer hatte seine eigene Vorgehensweise und würde niemals das Verhalten eines anderen kopieren, denn bei einem Amoklauf spielten vor allem Gefühle eine Rolle. „Haben Sie sonst noch etwas beobachten können? Hat sich jemand verdächtig verhalten?“ Doch Mooney schüttelte den Kopf und so gab Kazan ihm seine Karte, damit er ihn jederzeit anrufen konnte, wenn es Neuigkeiten gab. Im Grunde war es jedoch verschwendete Zeit. Genauso wie in den anderen Fällen würde es nichts Hilfreiches geben und so war er gezwungen, alleine weiterzusuchen. Ein Fall ohne Antworten. In dem Augenblick musste er an seinen Fall vor drei Jahren denken, den Engelmordfall. Neun Verbrecher wurden übel zugerichtet aufgefunden und der Mörder hatte jedes Mal eine Engelsfigur da gelassen. Die Hände und Füße abgetrennt, der Mund kurz vor dem Tod zugenäht und der Kopf zertrümmert. Die Mordserie entpuppte sich als Familiendrama, das sich in Kazans Gedächtnis gebrannt hatte. Die Punkerin Angeline Heaven alias Amy Hollow wurde als Kind entführt, von ihrem Vater im Stich gelassen und von ihren Entführern nach wochenlanger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben. Sie überlebte aber den Kopfschuss und kehrte nach Jahren mit einer vollkommen neuen Identität zurück, um Rache an ihren Peinigern zu nehmen. Lange hatte Kazan im Dunkeln getappt, bis er von dem Serienmörder Beyond Birthday auf die richtige Spur gebracht wurde und diesen Fall trotz mehrerer Komplikationen und Zwischenfällen lösen konnte. Da Angeline kein Mord nachgewiesen werden konnte, da sich höchstens Indizien fanden, wurde sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Sie verbrachte aber dafür eine lange Zeit in einer Psychiatrie in Japan und lebte jetzt glücklich zusammen mit ihrer Mutter Rachel und deren zweiten Mann. Seitdem hatte Kazan sich das Ziel gefasst, Verbrechen zu bekämpfen, um Opfern wie Angeline zu helfen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er wollte keine so großen Ziele greifen, wie etwa die Welt zu verbessern. Er wusste, dass so etwas kein einzelner Mensch schaffte, selbst Kira hatte das nicht geschafft (wobei er auch die völlig falsche Vorgehensweise hatte). Gerechtigkeit für die Opfer, das war sein Ziel und seit sein Regal im Haus nicht nur Familienfotos, sondern auch ein Foto von Angeline und ihrer neuen Familie zierte, hatte er auch eine völlig andere Einstellung zu seinem Job. Er sah die Toten nicht mehr nur als nunmehr leblose Körper, die zum Teil übel zugerichtet waren sondern als Menschen, die ein Leben besessen hatten und nicht mehr die Chance hatten, es weiterzuleben. Er begegnete ihnen schon mit bemerkenswerten Respekt und ermahnte jeden seiner Kollegen und anderen Beamten, das Gleiche zu tun. Sie gehorchten auch, denn er hatte nicht umsonst den Titel „Ironfist“ Kazan. In seiner Abteilung war er für seine Strenge bekannt und führte die Ermittlungen mit eiserner Faust durch. Schlampereien wurden nicht geduldet und er konnte wirklich furchteinflößend sein, wenn er wollte. Während die Spurensicherung Tatortfotos machte, bedankte sich der Special Agent für die Informationen, machte sich Notizen und ging wieder zurück. Sein Drang nach einer Zigarette nahm zu und da es nicht mehr viel zu tun gab, entfernte er sich schließlich und als er weit genug weg war, zündete er sich eine an. Insgesamt zehn Amokläufe mit fast 90 Toten. Keiner der Mörder stand sich in irgendeiner Weise nahe, sie kannten sich noch nicht einmal, oder hatten etwas gemeinsam. Nun, die einzige Gemeinsamkeit war, dass sie ein normales Leben führten, aber das reichte leider nicht. Nach zwei Zigaretten, ging er zurück zur FBI Zentrale. Da sein Wagen wegen einer Panne in der Werkstatt repariert wurde und der Verkehr ein absoluter Alptraum war, machte er sich zu Fuß auf den Weg und nahm sich einen Coffee to go mit. Währenddessen ließ er sich noch mal alles durch den Kopf gehen. Die Merkmale aller Fälle waren folgende: Die Täter waren allesamt unauffällige anständige Menschen, die nicht ins Profil eines Amokläufers passten. Sie töteten immer an öffentlichen Plätzen und damit eine große Anzahl von Menschen, suchten dann einen hohen Aussichtspunkt aus, der am nächsten erreichbar war und brachten sich um. Dabei war aber zu vermerken, dass sie sich niemals hinuntergestürzt hatten, was Selbstmörder normalerweise taten. Aber wozu? Warum suchten sie extra so einen hohen Punkt? Eine Idee kam ihm und er verständigte Morgan, der mit Sekten einiges zu tun gehabt hatte und letztens auch eine dieser durchgedrehten Sternschnuppensekten hochgehen ließ, die Selbstmord begehen wollten. Auch mit Satanisten und Voodoo-Freaks hatte er schon so einige Erfahrungen gemacht und damit schon so einen gewissen Ruf als Spezialist für solche Fälle weg. Alistor Morgan klang ein wenig müde und wenig begeistert über den Anruf seines Kollegen. „Hey Kazan, was gibt’s? Hast du wieder Recherchearbeit?“ „Gut dass du fragst, Morgan. Sag mal, kannst du vielleicht mal herausfinden ob es eine Sekte oder andere Vereinigung gibt, in der es eine große Rolle spielt, dass die Person auf einem hohen Punkt steht? Vielleicht bedeutet es ja, dass sie damit dem Himmel nahe sein oder so. Such mir einfach raus was du findest.“ „Dafür schuldest du mir aber was, mein Lieber! Ich hab hier selbst einen Haufen Arbeit.“ „Ich lad dich auf einen Drink ein.“ Damit verabschiedete sich Kazan und legte auf. Morgan war wirklich die beste Adresse, was Recherche in okkulten Sachen betraf, denn so etwas zählte sogar zu seinen Hobbys. Scherzhaft nannte man ihn sogar den Hexenmeister. An einer Bushaltestelle blieb der 41-jährige schließlich stehen und trank seinen Kaffee. Er schmeckte fade und eigentlich gehörte seiner Meinung nach noch eine ordentliche Portion Zucker rein. Trotzdem trank er ihn und als der Bus hielt, betrachtete er sich selbst in der Scheibe der verschlossenen Tür. Zwar war er erst 41 Jahre alt, fühlte sich aber bereits wie 60. Sein Haar hatte schon graue Strähnen und das dunkle braun war völlig blass geworden. Außerdem ging sein Haarwuchs auch langsam zurück. Seine gute Figur hatte er schon längst eingebüßt und die Bartstoppeln verliehen ihm einen ungepflegten Eindruck. Wenn er daran dachte, dass seine beiden Söhne fast erwachsen waren, bald selbst eine Polizeikarriere begannen… irgendwie schien sein Leben wie Sand durch die Finger zu rinnen und er wurde sich mit einem Male bewusst, dass sein halbes Leben fast vorbei war. Was für ein beschissenes Gefühl. Bevor er jedoch in die Zentrale ging, machte er einen Abstecher zum Buchladen um die Ecke. Er wollte etwas Bestimmtes suchen und wurde schnell im Regal für Neuheiten fündig. Ein Buch mit schwarzem Einband, auf dem ein zerbrochener Porzellanengel abgebildet war. „Broken Angel“ lautete der Titel und war geschrieben von einer gewissen „Alice Heatherfield“. Kazan wusste, wer dieses Buch geschrieben hatte und kannte seinen Inhalt. Es war Angelines Buch, das sie während ihrer Zeit in der Psychiatrie geschrieben hatte. Schonungslos hatte sie alles beschrieben, was ihr alles passiert war und wie sie Rache genommen hatte. Schon zum Erscheinungstermin hin war das Buch in heftige Kritik geraten, weil es Selbstjustiz befürworten würde, fand aber aufgrund seiner Ehrlichkeit auch viele positive Rückmeldung. Im Moment stand es auf der Bestsellerliste und galt als umstrittenstes Buch des Jahres. Er kaufte sich das Exemplar und verließ den Laden wieder mit schwerfälligen schlurfenden Schritten. Vom Auftreten her wirkte er wie jemand, der gerade erst aufgestanden war und die Nacht durchgezecht hatte. Außerdem sah er wirklich aus, als wäre er Ende 50. Er bog um die Ecke und prallte mit einem Japaner zusammen, der zu Boden fiel. „Oh Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen.“ Kazan half dem Mann hoch, der nicht älter als 30 Jahre alt sein konnte und ein sehr freundliches Gesicht hatte. Er hatte brünettes Haar, welches sein linkes Auge verdeckte. Unpassend zu dieser Natürlichkeit trug er einen Anzug, der ihm etwas sehr steifes verlieh und nicht zu seiner unbeschwerten Art passen wollte. „Schon gut, wir waren wohl beide in Gedanken.“ Er sprach fließend Englisch und verbeugte sich kurz, wie zur Begrüßung. Neben ihm stand ein anderer Japaner mit ordentlich gekämmtem schwarzen Haar und einer Brille auf der Nase. Das perfekt ordentliche und steife Erscheinungsbild erinnerte an einen Staatsanwalt. Eine kühle Aura schien von ihm auszugehen. Auch er verbeugte sich. Die beiden erschienen ihm etwas merkwürdig. Dann aber gingen sie ihrer Wege und Kazan vergaß die beiden Asiaten schnell wieder. Stattdessen dachte er an heute Abend. Janice und er hatten einen Platz in einem sehr vornehmen Restaurant reserviert um den Jahrestag ihrer ersten Begegnung zu feiern. Seine beiden Söhne Curtis und Ryan zogen mit ein paar Freunden um die Häuser und würden lange wegbleiben. Normalerweise würde er so etwas nicht erlauben, da seine beiden Söhne noch keine 18 Jahre alt waren, aber er kannte einen ihrer Kumpels sehr gut. Malcolm Jacoby war drei Jahre älter und studierte Technik. Er war ein Hacker der Regierung, welcher Viren und Trojaner oder Spyware entwickelte, um sich in die Computer von Verdächtigen hineinzuhacken oder Schutzprogramme für den Markt zu entwickeln. Ein sehr talentierter Junge und Kazan war zufrieden, dass seine beiden Söhne auf dem rechten Weg waren und einen guten Umgang pflegten. Während Ryan nach wie vor Polizist werden wollte, hatte Curtis sich Malcolm zum Vorbild genommen und wollte ebenfalls etwas mit Computern machen. Er konnte wirklich stolz auf seine Familie sein. In der Zentrale angekommen, wartete bereits Sadie James, seine Vorgesetzte auf ihn. Sie hatte hellblondes, schon fast schneeweißes Haar und war eine wahre Schönheit, aber sie konnte auch eine richtige Schlange sein wenn sie wollte. „Kazan, sofort in mein Büro!“ befahl sie und machte auf dem Absatz kehrt. Sie hatte die perfekte Figur, von der jede andere Frau nur träumen konnte. Lange Beine und funkelnde Augen, wirklich ein Hingucker und das wusste auch Sadie. Sie wurde von einigen Kollegen gerne „Sadie Sadist“ genannt, weil sie nicht nur das Selbstbewusstsein einer dominanten Frau besaß, sondern auch hart austeilte, wenn sie angemacht wurde. Man sollte sich niemals von ihrer Erscheinung täuschen lassen. Brav ging Kazan in Sadies Büro und blieb stehen. Die Frau, die ungefähr 38 Jahre alt war, ordnete ein paar Akten und wandte sich ihm schließlich zu. Sie beugte sich ein wenig vor und faltete die Hände. „Kazan, Sie sind schon seit einem Monat an dem Fall dran und bis jetzt liegen immer noch keine verwertbaren Ergebnisse vor.“ „Wollen Sie mich von dem Fall abziehen?“ „Das kann schnell passieren, wenn Sie nicht irgendwann aus Ihrem verdammten Dornröschenschlaf aufwachen und endlich neue Ergebnisse bringen. Die da oben machen mir immer mehr Druck.“ „Hat man Ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt?“ „Verdammt ja“, rief Sadie und schlug die Handflächen auf den Tisch. Sie war richtig stinksauer und hatte mit Sicherheit noch keinen Kaffee gehabt. Ohne mindestens vier Tassen Kaffee war sie der Teufel in Person und eine tickende Zeitbombe. „Ich rate Ihnen also, endlich mal voranzukommen, oder Sie werden in Zukunft nur noch die Junkies aus den Ghettos aufsammeln. Haben wir uns verstanden?“ Kazan gab nur ein knappes „Ja“ von sich, steckte die Hände in die Taschen und ging in sein Büro. So ein Scheißdreck aber auch. Kaum hatte er das Büro verlassen, wartete auch schon Deborah Collins auf ihn. „Hat sie dich wieder zusammengestaucht?“ „Naja, im Gegensatz zu sonst hatte sie richtig gute Laune. Ich glaube aber, dass sie noch keinen Koffein intus hat und deshalb so stinkig drauf ist. So ist sie eben. Und? Was hat die Zeugenbefragung ergeben?“ Doch Deborah schüttelte den Kopf und setzte eine enttäuschte Miene auf. „Man könnte echt meinen, dass Kira dahinterstecken könnte, aber… das hatten wir ja schon.“ Ja, die Kiratheorie war sehr verlockend gewesen, aber Kazan war sich hundertprozentig sicher, dass es nicht so war. Warum sollte Kira plötzlich die Leute durch Amokläufe über den Jordan gehen lassen? Außerdem tötete er nur Verbrecher und diese Leute waren unschuldig. Nein, dahinter steckte etwas anderes. Deborah verabschiedete sich, da sie gleich zu einem Einsatz gehen musste und Kazan trottete derweil in sein Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Sein Computer war eingeschaltet und ein Chatfenster war geöffnet. Seltsam, warum war er angeschaltet? Irgendwie kam ihm das ziemlich suspekt vor und als er gerade das Chatfenster schließen wollte, wurde er angeschrieben und zwar von einem gewissen „Gemini666“. Die Nachricht beunruhigte ihn: „Guten Abend, Special Agent Kazan. Öffnen Sie bitte die rechte Schublade des Schreibtisches, an dem Sie gerade sitzen.“ Nur zögerlich und mit großer Vorsicht öffnete er die Schublade und fand ein Handy. Kaum hatte er es in der Hand, klingelte es auch schon. So langsam kam er sich vor wie in einem Matrixfilm. Er drückte den grünen Hörer und hörte auch schon die Computerverzerrte Stimme. „Hallo, FBI Special Agent Kazan. Wie ich höre, bearbeiten Sie zurzeit die mysteriösen Amokläufe, nicht wahr?“ „Wer zum Teufel sind Sie?“ „Lassen Sie mich bitte ausreden. Viele Leute glauben, dass Kira zurückgekehrt ist und das alles sein Werk ist. Ich denke wir teilen die gleiche Meinung, dass er nichts mit dem hier zu tun hat und deswegen möchte ich Sie in diesem Fall unterstützen. Zunächst mal möchte ich mich Ihnen vorstellen: Ich bin L.“ Kazan wäre beinahe das Handy aus der Hand gefallen, als er das hörte. L persönlich war am Apparat? Das konnte doch unmöglich sein. Seit Kira von der Bildfläche verschwunden war, hatte L nicht mehr mit der Polizei zusammengearbeitet. Warum also ausgerechnet jetzt? Doch diese Frage verwarf Kazan, denn entscheidender war, ob es wirklich L war. „Haben Sie das Handy in mein Büro geschmuggelt?“ „In meiner Position ist es wichtig, unerkannt zu bleiben. Aber nun zu Ihnen: Ihre Art, wie Sie den Engelmordfall vor drei Jahren gelöst haben, hat mein Interesse geweckt und deshalb habe ich beschlossen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Was wissen Sie alles über die Amoklaufserie?“ Kazan lief es eiskalt den Rücken hinunter, wenn er diese computerverzerrte Stimme hörte. Wenn das Handy genau in dem Moment anfängt zu klingeln, wo er es aus der Schublade herausholte und in dem Moment die Nachricht schickte, wo er das Büro betrat, musste er ihn sehen können. Hatte er Kameras hier versteckt? Systematisch begann der Special Agent alles abzusuchen während er telefonierte. Wo zum Teufel hatte der Kerl die Kameras versteckt? „Machen Sie sich keine Mühe, ich habe keine Kamera versteckt. Erzählen Sie schon, zu welchen Schlussfolgerungen sind Sie gekommen?“ „Die Täter sind allesamt unauffällige Leute mit einem normalen Durchschnittleben. Keine Missbrauchsfälle, kein Mobbing, Traumata oder Verbindungen zu Terrororganisationen und radikalen Parteien. Sie suchen sich stets öffentliche Plätze aus, um möglichst viele Menschen zu töten. Auffällig ist, dass diese Plätze immer solche sind, wo die Fluchtmöglichkeiten begrenzt sind. In jedem Falle stellt der Tatort ein Gebäude dar. Anschließend begehen sie auf dem Dach Selbstmord und ich vermute, dass das ein wichtiges Indiz sein konnte. Das ist nicht die übliche Vorgehensweise von Amokläufern, da steckt eine bestimmte Bedeutung dahinter.“ „Und die wäre?“ „Das weiß ich noch nicht aber ich untersuche zurzeit, ob es in Amerika Sekten gibt, bei denen es eine besondere Bedeutung hat, auf einem hohen Punkt zu stehen.“ Kazan wirkte nicht gerade überzeugend, das wusste er selbst und er fragte sich, was L wohl von der Sache hielt. Die Antwort ließ ein wenig auf sich warten, dann antwortete die Stimme „Sehr gut. Sie haben eine interessante Spur und genauso wie ich teilen Sie den Verdacht, dass es keine gewöhnlichen Amokläufe sind, mit denen wir es zu tun haben. Nun frage ich Sie direkt: Wären Sie an einer Zusammenarbeit interessiert?“ Kazan überlegte nicht lange und sagte sofort Ja. Mit L zusammenzuarbeiten bedeutete, zu den wenigen Polizisten zu hören, zu denen er Vertrauen hatte und es war eine große Ehre. Naomi Misora hatte vor drei Jahren mit L zusammengearbeitet, um den BB-Mörder zu fassen und das hatte ihr Ansehen in der Zentrale gebracht. Kazan wäre ein Idiot, wenn er dieses Angebot ablehnen würde. „Dann sind wir uns einig. Als Erstes setze ich voraus, dass sie mit niemandem über diese Zusammenarbeit reden werden. Weder mit Ihren Kollegen, Vorgesetzten oder Ihrer Familie. Sie werden sich an meine Anweisungen halten und nur in Notfällen Kontakt zu mir aufnehmen. Haben Sie das verstanden?“ Wieder antwortete Kazan mit Ja und setzte sich hin. Die computerverzerrte Stimme fuhr fort. „Morgen um 14:30 Uhr werden Sie in der Bar „Lovely Evening“ am dritten Tisch links eine bestimmte Person treffen. Diese wird stellvertretend für mich vor Ort ermitteln und als mein Sprachrohr fungieren. Trotzdem können Sie mich mit diesem Handy erreichen, falls Fragen und Zweifel aufbleiben sollten. Die Zeiten, zu denen Sie mich anrufen können, werde ich Ihnen über eine Nachricht zukommen lassen.“ Damit war das Gespräch beendet und schwer atmend lehnte sich Kazan zurück. Das war wirklich viel für einen Tag. Erst der verbrannte Kindergarten, dann die Tirade von Sadie Sadist und jetzt der Anruf von L…. Was für ein Tag, dachte er und fuhr sich durch sein grau werdendes Haar. Wenn das jeden Tag so weiterging, dann würde er noch in Frührente gehen müssen. „Ich bin langsam zu alt für diesen Zirkus.“ Er ging nach Hause, um mit Janice den Jahrestag ihrer ersten Begegnung zu feiern. Der Abend sah ein Essen in einem edlen Restaurant vor und danach einen Besuch im Theater. Kapitel 2: Begegnung -------------------- Kazan hatte ungewöhnlich lange geschlafen und fühlte sich wie gerädert. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen, die er mit einer Extraportion Aspirin abzutöten versuchte und saß am Küchentisch und hatte ziemlich brummige Laune. Diese besserte sich auch nicht, nachdem die Tabletten wirkten und zumindest das erste Problem gelöst war. Das Einzige, was er an diesem Tag noch machen wollte war, diese Kontaktperson zu treffen, die L’s Sprachrohr sein sollte. Aber wen könnte er meinen? Etwa Watari, der der einzige Mensch war, der mit L im ständigen Kontakt stand? Eher unwahrscheinlich, es musste ein anderer sein. Jemand, dem L vertraute. Kazan öffnete eines der Fenster und lehnte sich nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Janice erlaubte es ihm sonst nicht, da sonst die Möbel und alles andere nach Nikotin stinken würden. Dabei ging er an sein Regal vorbei, auf dem Fotos seiner beiden Kollegen Raye Penber und Naomi Misora zu sehen waren. Sie beide waren tot… im Kampf gegen Kira gefallen und nun war Kazan alleine. Dieses miese Arschloch, dieser größenwahnsinnige Scheißkerl hatte seine besten Freunde auf dem Gewissen und war einfach verschwunden. Für Kazan stand fest, dass er tot war, auch wenn viele es bezweifelten. Hätte er nicht die Regierung gegen sich gehabt und hätte er in L’s Team dabei sein können, er hätte diesen Mistkerl ins finsterste Loch gesperrt und dort verrotten lassen. In Gedanken versunken blies er eine bläuliche Nikotinwolke aus und starrte auf den grauverhangenen Himmel. Was für eine trostlose Welt das doch war. Unten auf der Straße herrschte ein Heidenlärm und als er auf die Uhr sah, die gerade 13:10 Uhr anzeigte, beschloss er, sich schon mal auf den Weg zu machen. Ihn plagten immer noch Zweifel und er wurde den Gedanken nicht los, dass da jemand ein Spiel mit ihm trieb. Aber wie sollte er beweisen, dass es nicht L war, der ihn kontaktiert hatte? Immerhin hatte nie jemand ihn zu Gesicht bekommen. Seine geheimnisvolle Art sprach jedenfalls dafür und er hatte alles sehr gut durchdacht. Es musste einfach L sein. Als er zu einer Bushaltestelle kam, wo gerade ein Bus losfuhr, eilte ein Mädchen von ungefähr 23 Jahren an ihm vorbei. Sie hatte wild frisiertes kurzes schwarzes Haar mit bunten Extensions drin. Sie trug ein Top, auf dem ein Totenkopf abgebildet war, der mit Ketten versehen war. Auf der linken Schulter war eine Spinnennetztätowierung zu sehen… Kazan blieb stehen und drehte sich um. „Angeline?“ Nun blieb die Punkerin stehen und sah ihn ausdruckslos an. Sie war es tatsächlich: Angeline Heaven. Ihr rechtes Auge war grün, ihr rechtes blau, das Merkmal ihrer Familie. Als sie sah, wen sie vor sich hatte, schien ein wenig Leben in sie zurückzukehren und ihre Augen wurden groß vor Erstaunen. „Agent Kazan, das ist ja ein seltsamer Zufall. Wie geht es Ihnen denn?“ „Gut, was machst du hier? Ich dachte du lebst jetzt in Japan.“ „Ich mach derzeit eine kleine Weltreise und das hier war meine nächste Station.“ „Und was ist mit Beyond Birthday?“ „Der ist mit von der Partie. Er hockt aber lieber im Hotel rum und futtert Marmelade. Sie kennen ihn ja mit seiner Art... Haben Sie auch schon von der Amoklaufserie gehört?“ Angeline hatte sich seit der letzten Begegnung kaum verändert. Sie trug lediglich nur noch schwarz und hatte zusätzlich zu ihren Piercings an der Unterlippe und an der Braue auch noch eines am Nasenflügel. Am Hals hatte sie sich ein altenglisches „B“ tätowieren lassen, was auch neu war. Kazan trat ein wenig unruhig auf der Stelle, dann erzählte er ihr, dass er im Moment den Fall bearbeite und betonte, dass er keine genauen Informationen geben durfte. Doch Angeline sah ihm an, dass da noch etwas war. „Falls Sie Hilfe in dem Fall brauchen, werde ich Beyond schon überzeugen, Sie dabei zu unterstützen. Als kleines Dankeschön, dass Sie sich so für uns eingesetzt haben. Ich hätte ins Gefängnis kommen können, aber durch Ihre Hilfe lief es auf eine Geldstrafe hinaus und die sechs Monate in der Psychiatrie haben mir sehr geholfen.“ Kazan dankte ihr für das Angebot und da er sich langsam aber sicher mal beeilen musste, verabschiedeten sie sich voneinander. Was für seltsame Zufälle doch geschahen, dachte er und war froh, dass es Angeline gut ging. Obwohl er sie während des Falls kaum zu Gesicht bekommen hatte und sie ihn zusammen mit Beyond Birthday hinterrücks überfallen und entführt hatte, so war sie doch wie eine Art Tochter geworden. Er hatte großes Mitgefühl und konnte vor drei Jahren den Gedanken nicht ertragen, dass sie ins Gefängnis kam. Deswegen verschwieg er vor Gericht die Entführung und so blieb es allein bei Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Drohung. Auch Angeline und Beyond Birthday hatte er ermahnt, bloß die Sache mit der Entführung zu verschweigen und er redete auch mit dem Staatsanwalt. So blieb Angeline eine Haftstrafe erspart. Obwohl sie neun Menschen auf brutale Art und Weise ermordet hatte, hatte er kein schlechtes Gewissen. Dem Mädchen war in der Vergangenheit unsagbar schlimme Dinge angetan worden und nun war es endlich an der Zeit, dass ihr Gerechtigkeit widerfuhr. Die neun Morde konnten ihr nicht nachgewiesen werden, da es keine Beweise gab und die Indizien lückenhaft waren. Er kam viel zu früh im „Lovely Evening“ an und nutzte die Gelegenheit, um seinen Notizblock herauszuholen und die Gemeinsamkeiten der Täter aufzuschreiben. In Stichpunkten schrieb er auf „Normales Leben ohne Vorstrafen, keine auffälligen Aktivitäten oder Zugehörigkeit zu Terrorgruppen. Täter schlagen in öffentlichen Gebäuden zu, töten dutzende Menschen, steigen aufs Dach und begehen Selbstmord indem sie sich in die Luft sprengen.“ Warum? Warum sprengten sie sich ausgerechnet auf einem Dach in die Luft? Normalerweise kannte man es von Selbstmordattentätern, dass sie Menschen töteten, indem sie sich in die Luft jagten. Aber was für einen Sinn ergab es, dass sie sich extra auf ein Dach begaben und sich dort in die Luft sprengten? „Special Agent Kazan?“ Der FBI Agent schrak hoch und sah auf. Vor ihn stand ein junger Mann mit schwarzem Haar, ebenso schwarzen Augen und noch schwärzeren Klamotten. Er wirkte alles andere als vertrauenswürdig und freundlich. Mit einem eiskalten Blick setzte er sich ihm gegenüber und bestellte einen Orangentee. „Also Sie sind die Kontaktperson, von der L gesprochen hat?“ „Ganz recht, mein Name ist Anthony Deadman. Sie können ruhig Anthony zu mir sagen. Reden wir nicht um den heißen Brei herum, sondern kommen wir direkt zur Sache. Was haben Sie bis jetzt an Indizien zusammenklauben können?“ Nur mit einem großen Widerwillen, den er sich selbst nicht erklären konnte, begann Kazan zu berichten. Viel war es nicht aber es schien dem suspekt wirkenden jungen Mann zu genügen. Irgendwie war es schwierig festzustellen, was er wohl dachte und wie sein Charakter war. Ihm hätte man wirklich alles zugetraut, nur nicht, dass er die Welt retten wollte. Als Anthony seinen Orangentee entgegennahm, beugte er sich ein wenig vor und sah Kazan eindringlich an. „Haben Sie sich vielleicht schon überlegt, warum sich die Täter in die Luft sprengen?“ „Das schon, aber bis jetzt habe ich noch keine wirkliche Erklärung dafür.“ Anthony nickte und schüttete ein wenig Zucker hinein, rührte den Tee um und trank ihn schließlich. Schließlich begann er „Es ist schon auffällig, dass sich die Opfer so eine Methode ausgesucht haben. Normalerweise würden sie sich mit der gleichen Waffe umbringen, mit der sie ihre Opfer getötet haben. Hier aber wählen sie einen eher umständlichen Weg weil sich ein Sprengstoff nicht einfach herbeizaubern lässt. Warum, glauben Sie, wird allgemein Sprengstoff verwendet?“ Tja, soweit Kazan wusste wurde so etwas verwendet, um Gestein aus dem Tagebau zu gewinnen, um Häuser abzureißen, für den Krieg und für den Terrorismus. Aber er wurde nicht ganz schlau daraus, was das alles für eine Verbindung hatte. Er rief sich das Gefahrensymbol aus dem Chemieunterricht hervor und dachte angestrengt nach. Sein Gegenüber beobachtete ihn mit eiskaltem Blick und einem unheimlichen Lächeln. „Zermartern Sie sich nicht das Hirn, die Antwort ist doch so simpel. Sie müssen lernen, auch mal in einfachen Maßstäben zu denken. Wenn Sie ein Kind wären und sie sehen wie ein Haus gesprengt wird, was würde Sprengstoff für Sie bedeuten?“ Da fiel es Kazan wie Schuppen von den Augen: Zerstörung. Eine Sprengung bedeutete, dass etwas zerstört wurde. „Aber… wenn es bedeutet, dass die Täter ihren Körper zerstören wollen, dann bliebe zu klären warum.“ „Tja“, murmelte der Kontaktmann zustimmend und sah zum Fenster hinaus. „Da gibt es unzählige Möglichkeiten, viel zu viele. Wenn diese Leute aus religiösen Gründen diesen Weg gewählt haben, könnte es bedeuten, dass sie ihren Körper zerstören wollten, damit ihre Seele auf die andere Seite gehen kann. Es gibt auch noch den terroristischen Aspekt, oder dass sie etwas Bestimmtes demonstrieren oder ausdrücken wollen. Die Liste der Möglichkeiten ist lang.“ Kazan beschloss, das alles mal aus der Sicht eines Polizisten zu sehen. Was machte man normalerweise, wenn man einen Tatort hatte und sowohl Täter als auch Opfer tot waren? Also als erstes wurde alles abgesperrt, Fotos gemacht und Spuren gesichert und anschließend würden die Zeugen befragt werden. Tja und als letztes stand dann eben halt eine Autopsie an. Eine Autopsie? „Was ist, wenn die Täter sich in die Luft gesprengt haben, um einer Autopsie zu entgehen?“ „Wie meinen Sie das?“ „Wenn sie sich selbst gesprengt haben, weil ihr Körper etwas bei der Autopsie verraten kann…“ „Aber wozu? Was könnte sie verraten?“ Kazan wusste darauf keine Antwort und fühlte sich wie in einer beschissenen Sackgasse. Wenn er eine Theorie hatte, kamen Fragen auf, auf die er keine vernünftige Erklärung hatte und trat weiterhin auf der Stelle. Er musste warten, bis sein Kollege neue Informationen hatte, ob es eine Sekte gäbe, die in dieses Schema passte oder nicht. Außerdem beschäftigte ihn eine sehr interessante Frage: Warum überhaupt Amokläufe? Es war ja unbestritten, dass es in der heutigen Gesellschaft einige Probleme gab und es eine gehäufte Anzahl von Morden und Selbstmorden gab… auch Amokläufe. Aber eine so große Zahl innerhalb von so geringen Zeitabständen, da konnte etwas nicht stimmen. „Ich habe da eine Frage“, murmelte Anthony schließlich und bestellte bei der Bedienung einen zweiten Tee. „Mich würde ja mal interessieren, warum Sie in dem Engelmordfall verhindern wollten, dass Angeline Heaven in den Knast kommt. Auch während der Gerichtsverhandlung haben Sie sich nicht verhalten, wie ein Polizist oder FBI es normalerweise gemacht hätte.“ „Ich habe mich nur an die Fakten gehalten“, versuchte Kazan abzublocken. „Die Morde konnten zwar ansatzweise mit ihr in Verbindung gebracht werden, aber es gab keine stichhaltigen Beweise. Und was die Sache mit Joshua Silver, ihrem Vater betrifft, so habe ich meine Aussage gemacht und sie wurde dafür verurteilt.“ Doch der Kerl ließ nicht locker und offenbar schien einen Verdacht zu haben. Kazan war er unheimlich und was ihm nicht entging, war ein seltsamer Geruch, der an Desinfektionsmittel erinnerte. Außerdem beschlich ihn der Verdacht, dass mit Anthony Deadman etwas nicht ganz stimmte. Dieser lächelte kühl und verschränkte die Arme. „Aber die Tatsache, dass Sie niedergeschlagen und entführt worden sind, haben Sie verschwiegen und Sie haben Ihre Kollegen als auch Beyond Birthday und Angeline Heaven zu einer Falschaussage überredet.“ Dem FBI Agent überkam ein Schauer und seine Magengrube zog sich zusammen. Woher wusste er das? Hatte L davon erfahren? So ein Mist. Wenn jemand davon erfuhr, dann konnte er locker seinen Job verlieren und eine Anzeige bekommen. Er sah Anthony missmutig an, der dies jedoch ignorierte. „Keine Sorge, jeder von uns hat so seine Geheimnisse und Dreck am Stecken. Es war ein edler Zug von Ihnen und das war auch der Grund, warum L sich für Sie entschieden hat. Nur wenige haben diese Ehre, mit ihm zu arbeiten, auch wenn er sich nicht persönlich zeigt.“ „Und woher kennen Sie L?“ Diese Frage kam für Anthony wohl ein wenig unerwartet und er brauchte einen Moment, um zu antworten. „Nähere Details darf ich aus Sicherheitsgründen nicht nennen, aber ich kenne L schon von klein auf und habe ihn persönlich schon mal getroffen. Hin und wieder helfe ich ihm bei schwierigen Fällen und diene ihm als eine Art Avatar wie in einem Computerspiel.“ Kazan nickte und zündete sich eine Zigarette an. Zum Glück war das hier ein Raucherlokal und es war sowieso keiner da, der sich beschweren konnte. Nachdem die Besprechung vorbei war, verließ Kazan das „Lovely Evening“ und ging ein wenig durch die Einkaufspassage. An einem Bekleidungsgeschäft blieb er stehen, ging rein und kaufte sich eine neue Krawatte und ein dazu passendes Hemd. Den heutigen freien Tag wollte er nicht untätig herumsitzen, sondern wenn möglich das erledigen, was er zu erledigen hatte. Also ging er schließlich zum Drogeriemarkt und holte nötige Hygieneartikel und das Lieblingsparfum von Janice als kleines Geschenk. Essen ging er in einer Bäckerei, wo er ein Sandwich und einen Coffee to go kaufte. Er war irgendwie unruhig und konnte nicht einfach nur herumsitzen. Außerdem quälte ihn immer noch die Frage, was es mit den Amokläufen auf sich hatte. Wenn er analytisch an die Sache heranging, so teilte sich ein Amoklauf in folgende Phasen auf: Die erste ist das Vorstadium, in dem der Betroffene sich immer mehr zurückzieht und seine Umgebung als Bedrohung wahrnimmt. Er verfällt in einen Zustand der sozialen wie psychischen Desintegration. Das nächste Stadium ist die Tat. Der Betroffene erleidet einen Wutanfall, der in höchste Gewaltbereitschaft ohne ersichtliches Motiv übergeht. Freund wird nicht mehr von Feind unterschieden und er ist weder ansprechbar, noch reagiert er auf irgendwelche Reize. Sein Blick ist meistens starr und die Impulskontrolle geht verloren, weswegen der Täter nicht mehr sinnvoll ansprechbar ist. Deswegen war es in den meisten Fällen so gut wie unmöglich, mit einem Amokläufer zu verhandeln. Die letzte Phase ist der Abschluss. Meistens befindet sich der Täter in einem Zustand der Amnesie und Erschöpfung. Danach zeigen sie ein selbstzerstörerisches Verhalten, was sogar zum Selbstmord führen kann. Ungefähr 30% der Amokläufer nehmen sich selbst das Leben und 16% werden getötet. Auch hier war es höchstwahrscheinlich, dass auch dahinter eine Absicht war. Wenn also die Täter in einen solchen Zustand verfallen waren, musste es eine Vorgeschichte haben. Aber die gab es nicht! Sie waren anständige Menschen mit einem stinknormalen Leben. Genauso normal wie sein Leben. In der Schule wurden sie nicht gequält und gehänselt, die Familie war unauffällig und Geld- oder Jobprobleme gab es nicht. Der Auslöser fehlte also. Der Grund für den Amoklauf! Als Polizist war man stets darauf bedacht, ein Motiv zu finden. Das Motiv war das Wichtigste in einem Fall, so konnte schnell die Beziehung zwischen Täter und Opfer ermittelt und erster auch gefunden werden. Aber hier gab es nichts, es war ein einziges Phänomen. Kapitel 3: Amok --------------- Kazans Weg führte schließlich zum Einkaufszentrum, wo er an einem Automaten Geld abholen wollte. Außerdem gab es ein Elektronikgeschäft und er brauchte einen neuen Akku für sein Handy. Vor dem Eingang drückte er seine Zigarette aus und blies die Nikotinwolke aus. Da drin herrschte ein geschäftiges Treiben und der Lautstärkepegel war dementsprechend groß. In dem Einkaufszentrum gab es einen Elektronikladen, mehrere Kleidungsgeschäfte, Cafes und Blumenläden. Um für ein wenig mehr Atmosphäre zu sorgen, gab es neben hübschen Bänken tatsächlich Bäume und Palmen hier und auch Blumen. Außerdem gab es kleine Springbrunnen und der muffige Geruch des Wassers schlug Kazan in die Nase. Doch egal wie viele Springbrunnen und Bäume standen und welche Kaufhausmusik gerade gespielt wurde, es war hektisch hier drin. Bevor er ins Elektronikgeschäft ging, stattete er dem Geldautomaten einen Besuch ab und hob etwas ab. Etwas weiter weg sah er eine Mutter, die gerade dabei war, ihr schreiendes Kind hinter sich her zu schleifen. An ihr vorbei taumelte eine Frau, die ihrer Kleidung nach zu urteilen in einem der Geschäfte angestellt war. Ihr schien irgendetwas zu fehlen und so ging er statt zum Automaten zu ihr, um nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht war ja irgendetwas passiert. „Hey, geht es Ihnen gut? Soll ich einen Arzt rufen?“ „Kopfschmerzen…“, murmelte die Frau und hatte ganz glasige Augen und wankte ein wenig. „Kopfschmerzen…“ Sie wollte weitergehen, aber Kazan stellte sich ihr in den Weg. Die junge Frau stieß ihn aber beiseite und ging weiter, wobei sie immer wieder das Gleiche murmelte. Seltsame Person, dachte Kazan und sah ihr nach. Sie ging zum Elektronikgeschäft und er folgte ihr, da er sowieso nach einem neuen Akku für sein Handy fragen wollte. Die Frau, auf deren Namensschild „Tabitha Truman“ stand, verschwand hinter einer Tür, der wahrscheinlich ein Lagerraum war. Kazan versuchte sie zu vergessen und ging in die Abteilung für Handyzubehör. An einem Regal blieb er stehen und bemerkte nicht, wie sich ihm jemand von hinten näherte. „Die Welt ist doch kleiner als gedacht.“ Der FBI Special Agent drehte sich um und sah in zwei rot glühende Augen, die zu einem bekannten Gesicht gehörten. Die Hände in den Hosentaschen, ein weißer Pullover, zottelige schwarze Haare und ziemlich durchgelaufene Schuhe, aber keine Socken: Beyond Birthday. Wirklich ein seltsamer Zufall, dachte Kazan und begrüßte ihn erst einmal, dann sah er sich um. „Ist es nicht etwas gefährlich, sich hier in aller Öffentlichkeit zu zeigen?“ „Die Leute neigen schnell dazu, mich aus dem Gedächtnis zu streichen. Außerdem hab ich seitdem niemanden mehr umgebracht und ich bin ein freier Mann.“ Kazan erinnerte sich. In der Psychiatrie, in der sich Beyond Birthday selbst eingewiesen hatte, wurde er gegen seinen Willen einer Elektrokrampftherapie unterzogen und hatte geklagt. Aufgrund von Menschenrechtsverletzungen wurde ihm Schmerzensgeld zugesprochen und er durfte die Psychiatrie als freier Mann verlassen. Zwar hatte es mehrmals Proteste seitens der Bevölkerung gegeben, aber Beyond war zusammen mit Angeline Heaven nach Japan gezogen und seitdem hatte man von den beiden nichts mehr gehört. Ihn jetzt plötzlich in einem Einkaufszentrum zu sehen, damit hatte der FBI Agent am wenigsten gerechnet. „Was machen Sie hier?“ „Ich brauch ein Handy, mein altes ist… nicht mehr brauchbar.“ Er zeigte es und hatte dabei ganz schön untertrieben. Es war nicht bloß brauchbar, es war völliger Schrott. „Irgendjemand hat versucht, mich mit dem Auto über den Haufen zu fahren. Meine Tasche hat es erwischt und dabei sind mein Laptop und mein Handy zu Bruch gegangen.“ „Wer wollte Sie denn überfahren?“ „Ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben. Hab zum Glück nur ein paar Schrammen, aber seltsam war das schon. Nicht mal ein Nummernschild hatte das Auto.“ In seiner gebeugten Haltung holte der Serienmörder ein etwas altmodisches Gerät hervor mit der Begründung, dass Smartphones gefährlich wären, weil diese dazu benutzt würden, um Kundenspionage zu betreiben. „Apps bedeuten gleichzeitig, dass man rund um die Uhr beobachtet wird. Damit wissen die, in welche Geschäfte man geht und so weiter. Außerdem habe ich keine Lust, so leicht von der NSA abgehört zu werden.“ Gut zu wissen, dachte der FBI Agent und fand den richtigen Akku für sein Handy. Auf dem Weg zur Kasse bemerkten die beiden jedoch, dass etwas nicht stimmte. Anscheinend waren die Ausgänge versperrt und die Leute konnten nicht nach draußen. An den Kassen kam es zu heftigem Gedränge. Beyond Birthday schien ebenfalls zu spüren, dass da etwas faul war. „Was ist denn da los?“ Das Sicherheitspersonal war bemüht, die Kundschaft zu beruhigen und sprachen von einer technischen Panne, die schnell behoben würde. Kazan trat vor und holte seine Dienstmarke hervor. „FBI! Was geht hier vor sich?“ „Das wüssten wir auch gerne“, antwortete der afroamerikanische Sicherheitsmann, der gerade versuchte, zwei aggressive Teenager davon abzuhalten, die Türen einzutreten. „Mit einem Male gingen die Türen zu. Es kann sich nur um einen technischen Fehler handeln, der gleich behoben werden wird.“ „Es ist also gerade eben erst passiert? Hat niemand etwas bemerkt?“ „Hier herrscht Dauerbetrieb und da können wir nicht auf alles und jeden Acht geben.“ Während Beyond sich im Hintergrund hielt, versuchte Kazan zu helfen und die Lage zu entschärfen. Etwas weiter hinten links sah er wieder diese Frau, die er am Geldautomaten gesehen hatte und der er gefolgt war. Sie kam langsam auf die Menge zu und hielt etwas in der Hand. Kazan, dessen Augen nicht mehr so gut waren wie früher, konnte nicht genau erkennen was es war und er war auch zu abgelenkt, als zwei Jungs im Alter von 19 Jahren anfingen sich zu prügeln und zu randalieren. Überall schrieen die Leute wütend durcheinander und so hörte er den lauten Knall nicht. Dafür aber sah er Blut aufspritzen. Der Kopf eines Vaters explodierte förmlich und das Blut schoss in einer furchtbaren Fontäne heraus. Sein Kind schrie auf, wurde ebenfalls von einem tödlichen Geschoss durchbohrt und fiel zu Boden. Nun brach Panik aus. Die Menschen rannten wild umher, stießen sich um und trampelten aufeinander rum. Nun endlich sah Kazan, dass die Frau ein Gewehr in der Hand hielt und wild herumschoss. Die Menschen starben in dem Kugelhagel, wurden schwer verletzt und schrieen. Sie suchten verzweifelt nach einem Fluchtweg, doch Kazan wurde mit einem Schlag bewusst, dass sie hier in der Falle saßen. Beyond reagierte als Einziger geistesgegenwärtig genug und zerrte den FBI Agent weg und ging mit ihm in Deckung. „Verdammt, das versaut mir echt den Tag“, knurrte der Serienmörder missmutig. „Haben Sie wenigstens eine Waffe dabei?“ „Ich bin nicht im Dienst!“ „Scheiße und ich hab auch nichts dabei. Also gut, so wie es aussieht ist das hier noch ein Amoklauftäter und in dem Falle können wir nicht viel tun. Ihn direkt vor den Lauf zu rennen oder zu versuchen, ihn zu entwaffnen ist glatter Selbstmord. Was schlagen Sie vor?“ „Wir müssen versuchen die Leute in Sicherheit zu bringen. Entweder wir bringen sie in den Lagerraum, oder…“ „Viel einfacher“, entgegnete Beyond und stand auf, womit er seine Deckung aufgab. Er ging zur Kasse und betätigte die Sprechanlage und rief „Alle Leute sofort in Deckung gehen oder sie werden alle in die Luft gesprengt werden, das ist kein Scherz! Wenn sich auch nur einer von Ihnen rührt, der ist tot!“ Ist der Kerl denn endgültig von allen guten Geistern verlassen? Warum erzählte der so einen Scheiß? „Wenn Sie nicht Folge leisten, dann wird eine Bombe gezündet. Das ist die letzte Warnung. Halten Sie die Klappe, legen Sie sich hin und rühren Sie nicht einen Muskel, oder es wird Tote geben!!!" So dumm diese Aktion auch zu sein schien, es zeigte seine Wirkung. Die Leute suchten fluchtartig ein Versteck hinter Regalen, Kartons und größeren Haushaltsgeräten. Nun verstand Kazan den Sinn dahinter. Beyond Birthday gab sich als vermeintlicher Komplizen aus weil er wusste, dass die Leute nicht auf beruhigende Worte von Polizisten reagieren würden. Die Angst vor dem Tod war viel zu groß dafür und diese Angst machte er sich zunutze, um sie zur Kooperation zu bewegen. Wirklich ein cleverer Zug, wenn auch nicht ganz risikofrei und es führte nicht immer zum Erfolg. Tabitha Truman ging weiterhin durch die Gänge und schoss um sich. Sie feuerte blind herum und schien noch nicht einmal ein wirkliches Ziel zu fixieren. „Wenn einer von Ihnen auch nur in Betracht ziehen sollte sich zu rühren, dann wird das Kaufhaus gesprengt!“ drohte Beyond und ging sofort in Deckung, als die Amokläuferin das Gewehr auf ihn richtete und schoss. Es dauerte nicht lange, da machte es „Klick“ und das Magazin war leer. Tabitha drückte noch ein paar Male den Abzug und als sie registriert hatte, dass die Munition verbraucht war, ließ sie das Gewehr einfach fallen und verschwand in Richtung Lagerraum. Kazan eilte hinterher und wies Beyond an, die Polizei zu rufen und sich um die Verletzten zu kümmern. Durch den Lagerraum gelangte man zu einer Treppe, die aufs Dach führte. Tabitha Truman ging sie hoch und murmelte dabei irgendetwas. Ihre Schritte waren unbeholfen und sie wurde immer schneller. „Stehen bleiben“ rief Kazan, doch sie hörte nicht zu und ging einfach weiter. Er wusste, was sie vorhatte: Sich selbst in die Luft zu sprengen und das musste er verhindern. Er begann zu rennen und hatte die Flüchtige bald eingeholt. Nur mit Mühe gelang es ihm, ihr den Schalter aus der Hand zu reißen, der sich als ein gewöhnliches Handy entpuppte. Doch dann schienen in der Frau ungeahnte Kräfte zu wachsen. Mit einer unmenschlichen Kraft trat sie ihn die Stufen hinunter und setzte ihren Weg fort. Der FBI Agent konnte sich am Geländer festhalten und schnell wieder aufrappeln. Er eilte ihr hinterher und gelangte schließlich aufs Dach. Tabitha war derweil dabei, den höchsten Punkt zu besteigen wo sie stehen blieb und erwartungsvoll in den Himmel starrte. Kazan, der sich bei dem Sturz eine Verletzung am Fuß zugezogen hatte, konnte sich nur mit Mühe voranquälen und rief laut „Tabitha!“ Ein letztes Mal sah sie zu ihm hinab, holte einen zweiten Zünder heraus und drückte den Knopf. Alles ging in einer riesigen Feuerwolke auf und Tabitha Truman verschwand in einer gewaltigen Explosion. Durch den ohrenbetäubenden Lärm brauchte Kazan eine Weile bis er wieder etwas hören konnte. Polizei und Krankenwagen waren schnell vor Ort und konnten eine Massenpanik im Einkaufszentrum verhindern. Insgesamt gab es neun Tote und sechzehn Verletzte. Viele standen unter Schock und mussten betreut werden. Beyond Birthday wurde festgenommen weil er unter Verdacht stand, Komplize zu sein aber Kazan konnte die Sache schnell klären und er wurde freigelassen. Nachdem beide ihre Aussagen gemacht hatten, verließen sie die Zentrale und der 41-jährige sah schon aus einiger Entfernung Anthony kommen. Beyond folgte seinem Blick und fragte ihn „Wer ist das denn?“ „L hat ihn geschickt. Wir werden dafür sorgen, dass diese verdammten Amokläufe ein Ende haben.“ „Aha“, murmelte der Serienmörder ungläubig und wandte sich zum Gehen, blieb aber noch kurz stehen und packte Kazan am Arm. „Passen Sie gut auf, wem Sie vertrauen, Agent Kazan. Der Kerl gefällt mir überhaupt nicht.“ Damit ging er uns verschwand um die nächste Straßenecke. Anthony grüßte Kazan mit einem ausdruckslosen wie kühlen Gesichtsausdruck und blieb dicht vor ihm stehen. „Wie es scheint gab es… einen weiteren Amoklauf.“ „Ja, eine Mitarbeiterin des Elektronikgeschäfts hat mit einem Maschinengewehr um sich geschossen und sich auf dem Dach in die Luft gesprengt.“ Anthony bot ihm an, irgendwo hinzugehen wo es ruhig war und so gingen sie zu einem chinesischen Imbiss. Obwohl Kazan die Ereignisse schwer im Magen lagen, hatte er Hunger und mit leerem Magen ließ sich schwer nachdenken. Immer wieder musste er sich an Tabitha erinnern, wie seltsam sie sich verhalten hatte. Was ihm auffiel war, dass sie sich nicht so verhalten hatte wie ein normaler Amokläufer, zumindest nicht so wie er es sich vorstellte. Sie war nicht aggressiv gewesen und wirkte auch nicht emotional aufgewühlt, sondern eher apathisch… wie in Trance. Es war, als hätte sie unter einer Art Hypnose gestanden. „Kopfschmerzen…“ „Was haben Sie?“ „Entschuldigen Sie, ich hatte nur laut gedacht. Ich hatte die Amokläuferin kurz vor dem Blutbad gesehen gehabt. Sie hatte immer wieder „Kopfschmerzen“ gesagt und hat sich wie jemand in Trance verhalten. Ich glaube, sie war nicht bei klarem Verstand.“ Anthonys Interesse schien geweckt und nachdem er sich einen Orangentee und ein scharfes Curry bestellt hatte, begann er mit dem Messer herumzuspielen. „Wenn wir davon ausgehen, dass sich die Täter alle in solch einem Zustand befunden haben, bliebe nur noch zu klären, was die Ursache ist. Kopfschmerzen können durch verschiedene Faktoren entstehen: Flüssigkeitsmangel, schlechte Luft, Wetterwechsel, Schlafmangel, Stress…“ Kazan schrieb sich weitere Stichpunkte auf die Liste, die als interessant galten. Aber vorerst sollte er zu keinen neuen Erkenntnissen gelangen. Stattdessen besprach er mit Anthony mehrere Theorien und schließlich fiel ihm etwas auf, was er vorher noch nicht gesehen hatte, und dem er auch keine besondere Bedeutung beimaß. Etwas kleines in Anthonys linkem Ohr, das ganz stark nach einem Hörgerät aussah. Nach einer kleinen Stärkung lud Anthony Kazan in sein Haus ein. Es war ungewöhnlich groß für eine einzige Person und ziemlich luxuriös ausgestattet. Angefangen von einem riesigen LCD-Fernseher über einen Außenpool, einem Kamin im Wohnzimmer bis hin zu beleuchteten Aquarien mit exotischen Fischen. In einem Raum war eine riesige Sammlung mit Messern. Angefangen von antiken Dingern, Nachbildungen aus der Steinzeit bis hin zu Operationswerkzeugen. Kazan stutzte, als er diese ungewöhnliche Sammlung sah, die Anthonys ganzer Stolz war. „Sie haben wirklich sehr… seltsame Hobbys.“ „Ich hege eine große Leidenschaft für Messer, immerhin sind es die ältesten Waffen der Menschheit seit sie gelernt haben, mit Schneidewerkzeug umzugehen. Wir gebrauchen sie überall. Sei es beim Campen, beim Brotschmieren oder wenn es darum geht, Operationen durchzuführen. Obwohl es die ältesten Waffen der Welt sind, sind sie noch ein wichtiger Bestandteil.“ Trotzdem hatte Kazan wenig Verständnis für diese seltsamen Interessen. Nicht auszudenken, wenn seine Söhne plötzlich damit anfingen, aus Spaß Waffen zu sammeln. Das wäre für ihn ein Grund, ernsthaft an seinen Erziehungsmethoden zu zweifeln. In seinem Zimmer sah es sogar noch schlimmer aus. An den Wänden hingen eingerahmte anatomische Zeichnungen. Von Herzen, Gehirnen oder Augäpfeln. Sogar ein Anatomiemodell stand hier. „Sagen Sie bloß, das gehört auch zu Ihren Hobbys.“ „Nein nicht ganz. Ich habe Kunst studiert und finde den menschlichen Körper sehr faszinierend. Warum nur die einfache Hülle malen, wenn das Innenleben doch der wahre Lebensapparat ist? Viele Menschen glauben, dass ich Medizin studiere wegen meiner Skalpellsammlung und den anatomischen Bildern und so weiter…. Tja, ich gebe zu, dass es ganz schön verwirrend ist. Die Medizin ist interessant, aber diese ganze Fachsimpelei ist mir zu blöd.“ Auch hier konnte Kazan einen seltsamen Geruch wahrnehmen. Er konnte nicht genau definieren was es war, es war nicht der Geruch, den man wahrnahm, wenn hier nicht gelüftet wurde. Nein, es war irgendetwas anderes…. „Möchten Sie etwas zu trinken?“ Kazan wurde aus seinen Gedanken gerissen und fragte "Wie bitte?" „Möchten Sie einen Tee? Ich habe Chai, türkische Tees und Früchtetees, Kräutertee.“ Der Kerl war wohl einer von diesen Typen, die auf einen Gesundheitstrip waren oder so. Jedenfalls war ihm schon vorher aufgefallen, was für ein Teefreak dieser Kerl war. Kazan entschied sich für einen Chai, der mit heißer Milch und weißer Schokolade zubereitet wurde. Anthony nahm wieder Orangentee. Während dieser die Getränke zubereitete, sah sich Kazan ein wenig in der Küche um. Eine verdammt teure Einrichtung und wirklich überall war Tee. Sogar im Kühlschrank war Eistee. Für ihn stand fest: Der Typ hatte nicht mehr alle Teetassen im Schrank. Wie konnte man nur so viel Tee trinken? Es gab hier nicht mal eine Kaffeemaschine! „Haben Sie auch irgendetwas anderes außer Tee hier?“ „Ähm… irgendwie nicht so. Ich habe mit der Zeit sämtliche Sorten angesammelt aus aller Welt. Für die Beruhigung, den Kreislauf, Verdauung, für alles Mögliche. Ich hab hier sogar einen Tee für die Potenzsteigerung. Wenn Sie Interesse haben an einem Gesundheitstee, haben Sie schon mal eine Adresse.“ Anthony lächelte ihn freundlich an, aber in Kazans Augen war das nur aufgesetzt. Für ihn schien es so, als besäße dieser Mensch überhaupt keine Gefühle, sondern imitierte sie nur. Selbst als der Tee serviert wurde, der übrigens wunderbar duftete, hing immer noch dieser seltsame Geruch im Haus, der alles wie einen unsichtbaren Schleier zu überdecken schien. Kapitel 4: Beklemmung --------------------- Kazan blieb nicht lange bei Anthony, weil dieser kaum spürbare Geruchsschleier ein leicht klaustrophobisches Gefühl bei ihm auslöste. Er war froh, endlich wieder zuhause zu sein. Er verschwieg nicht, dass er selbst beim jüngsten Amoklauf dabei war. Zwar machte sich Janice große Sorgen und reagierte geschockt, aber er war nicht der Mensch, der Geheimnisse hatte. Bei der Hochzeit hatte er geschworen, niemals Geheimnisse vor ihr zu haben und wenn er welche hatte dann nur, wenn es ihm befohlen wurde und die Sicherheit anderer auf dem Spiel stand. Dazu gehörten verdeckte Ermittlungen, oder eben diese Sache mit L. „Hältst du es wirklich für eine gute Idee, weiter an diesem Fall zu arbeiten?“ „Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber hier stehen unzählige Menschenleben auf dem Spiel. Wir können diese Sache nicht länger als ein einfaches Phänomen einstufen, da steckt etwas anderes dahinter. Das weiß ich genau.“ Doch Janice hatte da so ihre Zweifel und zog es vor, lieber still zu sein und darauf zu vertrauen, dass ihr Mann das Richtige tat. Immerhin hatte er vor drei Jahren den Engelmordfall gelöst und sich dabei in Gefahr begeben. Trotzdem blieb die Angst um ihn. Sie versuchten das Thema zu wechseln und redeten von erfreulicheren Dingen. Zumindest so lange bis es an der Tür klopfte und Curtis seinen Vater rief. „Da stehen so zwei Leute, die dich sprechen wollen.“ Wer das wohl sein mochte, fragte sich Kazan und ging zur Haustür. Dort stand niemand anderes als Beyond Birthday und der schien alles andere als gut gelaunt zu sein. Angeline war auch dabei. „Was gibt es?“ fragte Kazan und war erstaunt, die beiden hier vor seiner Haustür zu sehen. Als er Janice hörte, die fragte, wer da sei, versuchte er sie davon abzuhalten, herzukommen. „Können wir hereinkommen?“ fragte Beyond, der sich mit seinem krummen Rücken zu fast zwergenhafter Größe verkleinert hatte. „Das wäre keine gute Idee. Janice ist eine Bekannte Ihres Opfers Backyard Bottomslash.“ „Ich hab es dir gleich gesagt“, meinte Angeline schließlich und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst jetzt fiel Kazan auf, wie gut durchtrainiert ihr Körper eigentlich war. Die Arme sahen so aus, als würde ein Faustschlag ins Gesicht jemandem Nase und Kiefer brechen können. Sie gingen auf die Straße zum Hinterhof und blieben dort stehen. Wenn Janice erfuhr, dass zwei Serienmörder vor ihrer Wohnung gestanden hätten, wäre sie in Panik geraten und wahrscheinlich noch in Ohnmacht gefallen. „Was gibt es und warum kommt ihr beiden hierher?“ „Es geht um diesen Kerl, der von L geschickt wurde“, erklärte Angeline und sah den FBI Agent sehr ernst an. „Wie heißt er?“ „Anthony Deadman, wieso? Stimmt etwas nicht?“ Nun begann der Serienmörder auf seiner Daumenkuppe zu nagen und murmelte irgendetwas, das Kazan nicht ganz verstand und deshalb nachfragte. Er wusste, dass Beyond Birthday ein besonderes Augenlicht besaß, das ihn befähigte, Namen und Lebenszeit von jedem zu erkennen, dessen Gesicht er sehen konnte. Eine mehr als erstaunliche Fähigkeit, die aber auch große Nachteile im Leben mit anderen Menschen brachte. Beyond Birthday war nicht fähig, sich emotional an andere zu binden, da er jeden Tag vor Augen hatte, wie lange sie noch zu leben hatten und war dadurch allein. Und seiner Psyche hatte es auch nicht sonderlich gut getan, von Geburt an mit dem Tod konfrontiert zu werden. „Sein Name ist nicht Anthony Deadman, sondern Lumis Curse und ich glaube kaum, dass er von L geschickt wurde.“ „Und warum?“ „Ganz einfach: L schickt nicht einfach so jemanden, der für ihn das Hampelmännchen spielt. L hat nur Watari und wenn er mit jemand Außenstehenden zusammenarbeiten will, dann kontaktiert er einen und schickt ihn in die Weltgeschichte rum, so wie Naomi Misora.“ Schön und gut aber was sprach dagegen, wenn L seine Taktik jetzt änderte, wenn sie sich als effektiv erwies? Andererseits hatte Kazan da auch so seine Zweifel über Anthonys Aufrichtigkeit. Vielleicht war es besser, wieder mit Beyond Birthday zusammen zu arbeiten. „Wie ich schon mal erwähnt hatte, wurde ich als Kind zu L’s Nachfolger ausgebildet und hab schließlich die Kurve gekratzt, nachdem sich ein Waisenkind das Leben genommen hat. Ich kenne L nicht persönlich, aber ich weiß, dass er so etwas niemals tut. Die Frage ist, ob Anthony wirklich die Wahrheit bezüglich L gesagt hat, oder ob er Ihnen etwas vorspielt.“ „Und wieso sollte er das tun?“ Beyond Birthday grinste und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Weil manche eben verrückt sind. Sie sehen das als eine Art Spiel an und suchen den Nervenkitzel, mehr nicht. Agent Kazan, Sie haben wirklich ein eigenartiges Talent dafür, verrückte Individuen anzuziehen.“ Zur Strafe für diesen Kommentar fing er sich von Angeline einen Faustschlag in den Oberarm ein und entschuldigte sich dafür. Kazan musste schmunzeln angesichts dieser seltsamen Lage. „Selbst wenn Anthony oder Lumis einen falschen Namen benutzt, ist es nichts wirklich Besonderes. Sie sollten das am Besten wissen, immerhin benutzten Sie diverse Namen, um die Polizei zu verarschen.“ „Schuldig im Sinne der Anklage“, murmelte der Serienmörder und kratzte sich mit missmutiger Miene am Hinterkopf. „Jedenfalls werde ich mich umhorchen, ob der Typ vertrauenswürdig ist oder nicht. Sie können weiterhin mit ihm zusammenarbeiten, aber achten Sie auf alles Verdächtige, irgendetwas Verräterisches. Der Kerl gefällt mir überhaupt nicht, er hat irgendetwas Unheimliches an sich.“ Sagt gerade der Richtige, dachte Kazan, sagte aber nichts und bedankte sich für den freundlich gemeinten Ratschlag. Beyond drückte ihm zum Abschied einen Zettel in die Hand, wo eine Nummer drauf stand. „Sie werden das schon hinkriegen. Wir wünschen Ihnen noch viel Glück.“ Nun hatte Kazan genug für heute und legte sich anschließend ins Bett und wollte einfach nur schlafen. Aber etwas ließ ihn nicht los, nämlich Tabitha Truman. Ihr seltsames Verhalten ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatte die ganze Zeit nur das Wort „Kopfschmerzen“ gemurmelt und hatte etwas schon beinahe Zombieartiges an sich gehabt. Konnte es vielleicht sein, dass es eine Art äußere Einwirkung war, die sie zum Amokläufer gemacht hat? Gleich morgen sollte er eine neue Befragung durchführen um herauszufinden, ob die anderen Amokläufer sich ebenfalls so seltsam verhalten hatten. Die Nacht erschien Kazan ewig und er konnte kaum schlafen. Deswegen war er froh, dass Morgan ihn anrief wegen der Sektengeschichte. „Also Kazan, du hast dich da echt in was verrannt. Ich habe zwar nachgeforscht, aber nichts Hilfreiches gefunden. Zwar gibt es diverse Sternschnuppensekten auf Selbstmordtrip, aber leider passt der Amoklauf nicht rein.“ Eine Pleite auf ganzer Linie, aber Kazan hatte da schon einen neuen Plan. Er befragte die Angehörigen und Zeugen der Amokläufer und fragte dabei ganz speziell nach einem seltsamen Verhalten. Als erstes befragte er einen Kollegen des Lehrers, der in der Schule ein Massaker veranstaltet hatte. Dieser wollte zwar nicht über diese furchtbare Sache sprechen, aber Kazan machte mehr Druck. Wenn er wollte, dann konnte er die Leute schon einschüchtern und sie überreden, endlich mit der Sprache rauszurücken. Der Referendar Joey Becker war zudem schon wegen Drogenbesitzes aufgefallen und machte es dem Special Agent somit leicht, ihn zum Singen zu bringen. „Nun sagen Sie schon: Hat Elroy Dorios sich anders verhalten als sonst, oder über Kopfschmerzen geklagt?“ Der Referendar, der ziemlich blass um die Nase war und zudem ziemlich schwitzte, sah ihn unsicher an. „Jetzt wo Sie es sagen: Mr. Dorios hat kurz vor Beginn der dritten Schulstunde irgendetwas vor sich hingemurmelt und wirkte vollkommen geistesabwesend. Tatsächlich sagte er „Kopfschmerzen“ und ist dann einfach gegangen. Ich hab mich auf den Balkon zurückgezogen um zu rauchen, da hörte ich die ganzen Schüsse und… und…“ Der Referendar vergrub das Gesicht in den Handflächen und begann zu wimmern wie ein kleines Kind. Kazan nickte nur und dachte nach. Auch die weiteren Zeugen- und Angehörigenbefragungen ergaben das gleiche Bild: Die Amokläufer klagten über Kopfschmerzen bevor sie zu den Waffen griffen. Aber wie konnten Kopfschmerzen so etwas auslösen? Die Befragungen dauerten den halben Tag und danach ging Kazan erst einmal zum Chinesen, um sich zu stärken. Dort saß bereits Anthony, der in die Speisekarte vertieft war. Ein Zufall, dass er hier war? Wohl eher nicht. Kazan setzte sich zu ihm und bestellte eine Glasnudelsuppe. „Also Kazan, haben Sie Erfolg gehabt?“ „Die Amokläufer hatten Kopfschmerzen und zwar jeder Einzelne von ihnen. Sie sagen nichts anderes mehr bis sie Selbstmord begehen und ich glaube, dass nicht eine Sekte oder eine religiöse Vereinigung dahintersteckt, sondern etwas anderes.“ „Sie meinen also, dass eine Art psychische Störung, oder eine Krankheit verantwortlich ist? Nun, das kann eine Ursache sein und diesen Verdacht hatte ich bereits gehabt und einen Termin mit einem fachkundigen Arzt ausgemacht. Dr. Crimson ist zufällig der behandelnde Arzt der Amokläufer und vielleicht hat er Antworten für uns.“ Warum nur war ihm das Detail entgangen? Alle hatten den gleichen Arzt? Das war ja mal ganz interessant. Wenn sie alle beim gleichen Arzt waren, konnte es vielleicht sein, dass dort die Ursache für die Veränderung dieser Menschen zu finden war? „Wann ist der Termin?“ „Gleich, die Praxis ist nicht weit von hier. Wie sieht’s aus? Sollen wir ihm einen Besuch abstatten?“ Zum ersten Mal zeigte Anthony eine Gefühlsregung und Kazan fühlte sich unwohl in seiner Haut. In seinen Augen war es schwer zu glauben, dass dieser Kerl überhaupt ein Mensch war. Er war mehr wie der Schatten eines Menschen: Voller Dunkelheit, lautlos und etwas, das man nicht abschütteln konnte. Als Anthony sein Essen bekam, krabbelte eine Maus an ihm vorbei. Kazan schenkte dem keine Beachtung, doch sein Gegenüber zog ein Skalpell hervor und rammte es in den Körper der Maus. Das Tier stieß einen Todesschrei aus, dann verendete es. Ohne mit der Wimper zu zucken entfernte der Kontaktmann den Leichnam von der Klinge und wischte das Blut ab, dann wandte er sich der Kellnerin zu, die das mit Entsetzen betrachtet hatte. „Könnte das hier jemand aufwischen?“ Kazan bekam eine Gänsehaut und sein Magen zog sich zusammen. Warum hatte Anthony ein Skalpell bei sich? War das nicht bloß nur eine harmlose Leidenschaft mit den Messern? Scheinbar völlig desinteressiert wischte Anthony mit einem nach Desinfektionsmittel stinkenden Taschentuch das Blut von der Klinge und steckte sein Skalpell wieder ein. „Nichts hasse ich mehr als Ungeziefer, das sich derart schnell verbreitet. Einfach widerlich.“ Etwas Seltsames funkelte in seinem linkem Auge auf und es war nicht das gleiche wie bei Beyond Birthday. Es war viel dunkler und bedrohlicher. Als er aber bemerkte, dass Kazan ihn etwas entgeistert anstarrte, setzte er ein böses Lächeln auf. „Oh Entschuldigung. Ich hoffe ich habe Ihnen nicht noch den Appetit verdorben.“ „Was sollte das gerade?“ „Schädlingsbekämpfung“, antwortete der Schwarzbekleidete und begann sein Essen zu sich zu nehmen. Wie immer hatte er Tee bestellt. „Wollen Sie sich nicht auch einen Orangentee bestellen? Er ist gut für Atemwege, Herz und Nieren.“ Entweder hatte der Typ eine sehr schwere Kindheit gehabt, oder er war selbst gestört. Hatte er denn nur mit Verrückten zu tun? Fehlte nur noch, dass dieser Arzt genauso bescheuert drauf war. Jedenfalls hatte Kazan jetzt wenig Appetit und nach dem Essen führte Anthony ihn zur Praxis von Dr. Andrew Crimson. Sie war tatsächlich nicht weit, nur drei Straßen weiter. Eine hagere Sprechstundenhilfe mit einer silbernen Libellenbrosche sah sie durch eine Halbmondbrille an. „Was kann ich für Sie tun?“ „Wir haben einen Termin mit Dr. Crimson.“ „Warten Sie kurz.“ Die Frau, die schon kurz vor der Rente stand, nahm den Hörer von einem internen Telefon ab und gab Bescheid. „Sie können ins Behandlungszimmer gehen. Dr. Crimson erwartet Sie bereits.“ Die Praxis war sehr übersichtlich, weswegen sie auf Anhieb das Behandlungszimmer fanden. Dr. Andrew Crimson war ein recht junger Arzt von ungefähr dreißig Jahren. Seine Augen waren genauso dunkel wie die von Anthony, aber er hatte dafür graues Haar, das schon fast schneeweiß war. Er lächelte verhalten und wies sie, sich zu setzen. Er saß einem schweren Mahagonitisch und hatte mehrere Akten aufeinander gestapelt. Sein Lächeln wirkte genauso aufgesetzt wie Anthonys. „Also Sie sind vom FBI? Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Es geht um die Amokläufer. Sie waren allesamt Ihre Patienten und ich möchte Sie fragen, ob es irgendwelche Auffälligkeiten gab.“ Dr. Crimson, der eine sehr aalglatte Persönlichkeit zu haben schien wie diese gottverdammten Bürokraten im Parlament, faltete die Hände und seufzte. „Sie wissen doch wie das ist. Wir haben eine ärztliche Schweigepflicht, selbst nach dem Tod der Patienten.“ So ein Mist, daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Diese ärztliche Schweigepflicht war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen und bis der ganze Kram beim Gerichtshof durch war, konnte es noch zig weitere Amokläufer geben. Dann aber machte Dr. Crimson ihm ein Angebot. „Wenn Sie mich allerdings anders fragen, dann kann ich Ihnen gerne Auskunft geben.“ Auf das Angebot ging Kazan gerne ein und stellte seine erste Frage. „Können Kopfschmerzen zu einer Geistesverwirrung führen, durch die man Menschen töten kann?“ „Nein, völlig ausgeschlossen“, sagte der Arzt und beugte sich vor wobei er Kazan tief in die Augen sah. „Aber es kann diverse Ursachen haben: Wetterwechsel, Migräne, Blutungen…“ „Was für Blutungen zum Beispiel?“ „Eine Subarachnoidalblutung zum Beispiel, welche in 10% verantwortlich für Schlaganfälle verantwortlich ist. Sie tritt im zentralen Nervensystem auf und die so genannte Warnblutung kann plötzlich sehr starke Kopfschmerzen auslösen. Meist wird sie nicht richtig erkannt und falsch behandelt.“ „Und wenn sie vermutet wird?“ „Dann wird der Patient ans Krankenhaus überwiesen, wo eine Computertomographie angefertigt wird. Die Blutung entsteht zu 80% durch Risse von Aneurysmata, einfach ausgedrückt: Arterienerweiterungen reißen. Dabei wird in verschiedenen Graden unterschieden.“ Kazan machte sich Notizen und kaute dabei hin und wieder auf seinem Stift herum. Eine ziemlich schlechte Angewohnheit, aber er war auf der richtigen Spur, das wusste er. Der Arzt gab ihm indirekt Auskunft über die Erkrankungen der Opfer indem er alles verallgemeinerte. Das half ihm ungemein weiter! „Und wie kann so etwas passieren?“ „Nun, in Industrienationen geschieht so etwas bei 10 von 100.000 Personen, was zum Beispiel in Deutschland 10.000 Patienten ausmacht. Aneurysmata sind zum Teil angeboren. Die Blutungen entstehen durch kurzzeitige Blutdruckerhöhung. Das kann beim Geschlechtsverkehr, beim Stuhlgang oder körperlicher Belastung geschehen.“ Der Arzt holte ein Kopfmodell heraus und zeigte, wo solche Blutungen auftreten konnten, aber Kazan konnte nicht viel damit anfangen, weil er nie Medizin studiert hatte und nicht viel davon verstand. Aber die Tatsache, dass so etwas häufig eintrat, war beunruhigend. Nun wollte er sich mehr über die Grade der Gehirnblutung erfahren und welche geistige Verwirrung und ähnliches auslösen konnte. „Ab dem zweiten Grad können bereits Hirnnervenstörungen auftreten. Grad drei beinhaltet Somnolenz und neurologische Ausfälle. Es kommt zu Bewusstseinstrübungen, Verwirrtheit, abnormer Schläfrigkeit und Erinnerungslücken. Somnolenz ist das leichteste Stadium einer hypnotischen Trance. Die nächste Stufe Sopor bedeutet schwere neurologische Ausfälle, vegetative Störungen und der Patient befindet sich in einem schlafähnlichen Zustand. Reflexe sind zwar erhalten, aber die Muskeln sind stark entspannt. Die fünfte Stufe bedeutet Koma.“ Soso, dann konnte eine Blutung also neurologische Störung und Verwirrung sowie Bewusstseinstrübung auslösen. Das erklärte einiges, aber noch lange nicht alles. Die Frage war: Wie sahen die Behandlungsmethoden aus? Auch hier stand Dr. Crimson Rede und Antwort: „Als Erstes gilt es, eine Rezidivblutung zu verhindern, also eine dauerhaft auftretende Blutung. Als häufigste Behandlungsmethoden gibt es das Clipping und das Coiling, welche beide 3 bis 10 Tage nach der Blutung durchgeführt werden. Das Clipping sieht vor, mit einer Klemme das Aneurysma zu verschließen, um Nachblutungen zu vermeiden. Ein neurologischer Eingriff! Beim Coiling wird eine kleine Platinspirale in den Aneurysmasack eingeführt, die durch Gerinnungsvorgänge zu einer Verödung des Aneurysmas führt.“ Nun gut, mal angenommen die Ursache war eine Blutung im zentralen Nervensystem, dann war die Wahrscheinlichkeit immer noch zu gering, dass alle zu Amokläufern wurden. Zu diesem Puzzle fehlte ein wichtiges Teil. Schließlich schaltete sich Anthony ein. „Wenn die Patienten alle wirklich dieselbe Diagnose hatten, wie kommt es, dass sie die gleichen Verhaltensweisen zeigen?“ „Tja, das kann ich mir auch nicht erklären. Ich bin lediglich Allgemeinmediziner und für solche Fragen müssten Sie einen Neurologen zurate ziehen. Ich kann Sie gerne an einen Kollegen im Krankenhaus weiterleiten.“ Kazan nahm das Angebot dankend an und während der Arzt telefonierte, sah Kazan ihn sich genauer an. Was ihm auffiel war die kleine silberne Libellenbrosche am Ärztekittel. Dieselbe Brosche wie bei der Sprechstundenhilfe. Ob das Zufall war? Als das Telefonat beendet war, wandte sich der Arzt dem FBI Agent zu. „Sie haben Glück, Dr. Collins hat gleich für Sie Zeit und Sie können direkt zu ihm. Er arbeitet im Elly-Chant-Hospital in der neurochirurgischen Abteilung. Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen.“ Kazan hatte es im Gespür, dass er auf dem besten Weg war und schöpfte neue Energien daraus. Direkt nach dem Gespräch mit Dr. Crimson machten sich die beiden auf den Weg zum Krankenhaus. Kazan war wie hypnotisiert von dieser Theorie und er war felsenfest davon überzeugt, dass im Krankenhaus das Geheimnis um die Amokläufer zu finden war. Kapitel 5: Parasit ------------------ Im Krankenhaus herrschte Hochbetrieb und ein ziemliches Chaos. Erst nach einem ewigen hin und her konnten sie zu dem Neurochirurgen, der sich von seiner Art nicht viel von Anthony und Dr. Crimson unterschied. Allerdings war er nicht so aalglatt wie ein Parlamentsbürokrat, es war eher eine verborgene Dunkelheit. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, ordentlich frisiert und er trug eine Brille. Auch er war recht jung und schien sein Handwerk mehr als gut zu verstehen. Wie jeder im Krankenhaus trug er einen Ärztekittel und ließ die ganze Zeit einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern umherspielen. Er war sehr geschickt mit den Händen. Auch an seinem Kittel trug er eine Libellenbrosche. Die gleiche wie bei der Sprechstundenhilfe und Dr. Crimson. Immer noch ein Zufall? Wer weiß, aber das war jetzt nebensächlich. Jetzt galt es erst einmal, die Amokläufe zu bearbeiten und Dr. Collins war der nächste Anhaltspunkt. „Wir würden gerne wissen, ob diese Personen hier operiert werden sollten und welche bereits durchgeführt wurden.“ Kazan reichte die Liste der Amokläufer, die sich der Chirurg nur halbherzig ansah und beinahe achtlos beiseite warf. „Sie standen tatsächlich auf meiner Liste und sie sollten allesamt operiert werden. Ich hatte mit ihnen Besprechungstermine für die Operation durchgeführt, um sie über Folgen und Risiken aufzuklären. Da haben sie sich relativ normal verhalten. Sie hatten lediglich die typischen Symptome einer Subarachnoidalblutung, aber so verändert haben sie sich wohl kurz vor dem Amoklauf. Auch ich habe da so meine Theorien entwickelt, sie aber größtenteils wieder verworfen. Dazu stimmen die Verhaltensweisen viel zu sehr überein.“ Genau die gleichen Bedenken wie Kazan sie hatte. Anthony nickte bedächtig und dachte diesen Gedanken weiter. „Dann müssen wir also etwas suchen, was exakt den gleichen Verlauf zufolge hat. Das Problem ist, dass sowohl Krankheiten und Psychosen zwar verallgemeinert ähnlich sind, sich aber je nach Person unterscheiden.“ Ja genau, das war das größte Hindernis in diesem Bild. Es musste eine Krankheit oder irgendetwas anderes geben, was exakt den gleichen Verlauf voraussetzte und es nicht die minimalsten Abweichungen gab. „Gibt es irgendetwas, das in dieses Schema passen könnte?“ „Das ist eine gute Frage. Das Gehirn ist anfällig und es können manchmal die simpelsten Dinge sein, die Unvorstellbares auslösen können. Ich hatte einen kleinen Jungen als Patienten der glaubte Geister zu sehen. Zunächst wollte ich ihn in psychiatrische Behandlung geben, da habe ich ihn untersucht und feststellen können, dass er ein siamnesischer Zwilling war. Der Zwilling hat sich nicht weitergebildet und blieb in seinem Kopf und durch den Gehirndruck hatte er Halluzinationen. Scheinbare Wut- und Tobsuchtsanfälle sowie auffälliges Verhalten können durch Krämpfe im Gehirn ausgelöst werden.“ Anthony nickte und grinste. „Wenn es also nichts ist, was vom eigenen Körper aus verursacht wird, muss es eine Fremdeinwirkung sein.“ Kazan wurde übel als er das hörte. Fremdeinwirkung? Sollte das etwa heißen, dass irgendetwas von Außerhalb dafür verantwortlich war, dass diese Menschen zu Mördern wurden? Aber… wo hatte er das schon mal gehört? Anthony sah Kazan aus dem Augenwinkel an und half ihm auf die Sprünge. „Gab es nicht so einen billigen drittklassigen Film über Pflanzen, oder so?“ Aber ja doch, das war der Film „The Happening.“ In diesem hatten unzählige Menschen plötzlich ein seltsames Verhalten an den Tag gelegt und Selbstmord begangen. Es stellte sich heraus, dass die Bäume ihre Saat im Winde verwehen ließen und die Sporen sich in den Gehirnen der Menschen einnisteten und sie fernsteuerten. Nein, unmöglich… So etwas gab es auf keinen Fall. Das war doch bloßer Hollywoodmüll und nicht das wahre Leben. Kazan taumelte einen Schritt zurück und alles drehte sich um ihn. Ein wenig benommen konnte er schon wieder diesen seltsamen Geruch wahrnehmen, den er schon zuvor in Anthonys Haus gerochen hatte. Auch hier umgab er ihn wie einen erdrückenden unsichtbaren Schleier, der Klaustrophobie auslöste. Wie konnte das sein? Warum war er auch hier? Dr. Collins drehte sich mit seinem Drehstuhl herum und holte ein Buch aus einem Regal heraus. „Ich glaube, wir haben unsere Antwort: Parasiten.“ „Wie bitte? Parasiten?“ Der Neurochirurg schlug eine Seite auf, in der ein Eintrag stand. „Zum Beispiel Toxoplasmose! Ein weit verbreiteter Parasit, dessen Hauptwirt Katzen sind. Um an seinen Lieblingswirt zu gelangen, nistet sich dieser Parasit bei Mäusen ein, deren natürliche Feinde Katzen sind. Sie verlieren ihre Angst und der Evolutionsbiologe Jaroslav Flegr hat erkannt, dass sogar bei Menschen die Risikobereitschaft drastisch zugenommen hat. Bei Männern steigt bei einer Infizierung der Testosteronspiegel deutlich an und die Gefahr eines Autounfalls war danach zweieinhalb Mal so hoch.“ „Und welcher Parasit könnte sein Opfer noch stärker beeinflussen?“ Wortlos ging Dr. Collins zu einem Schrank und holte eine Art Reagenzglas heraus, das er fest verschlossen und mit einer Codierung versehen hatte. Darin lag eine Ameise und aus ihr war etwas herausgewachsen. Er reichte es Anthony und Kazan, die sich das genauer ansahen. Wenn Kazans Augen ihn nicht täuschten, dann sah das nach einem fadenartigen Gewächs aus. „Das ist ein Ophiocordyceps unilateralis. Ein parasitärer Pilz, der noch relativ unbekannt und deswegen noch nicht gänzlich erforscht ist. Man findet ihnhauptsächlich im Regenwald und seine Lieblingsbeute ist die Rossameise. Er haftet sich an das Exoskelett der Ameise und anschließend dringt eine Hyphe ins Gehirn des Tieres ein und übernimmt sozusagen die Steuerung. In Brasilien konnte der Insektenforscher David Hughes beobachten, wie infizierte Ameisen sich vom Baum herabließen und sich an die Unterseite eines Blattes festbissen. Dann starben sie dort. Zu 98% handelte jede infizierte Ameise exakt auf die gleiche Weise und suchten sich ihr Ziel nach bestimmten Kriterien aus: Pflanzenteile in 25cm Höhe bei 95% Luftfeuchtigkeit und 25 bis 30 Grad Celsius. Es gibt aber auch die Variante, dass die infizierte Ameise in die Höhe klettert und dort stirbt. Aus ihrem toten Körper bricht der Pilz schließlich hervor und verteilt dort seine Sporen.“ Das war es, dachte Kazan und spürte auf der einen Seite Zufriedenheit, weil er endlich vorankam, aber auf der anderen Seite fühlte er auch tiefes Entsetzen. Wie konnte nur so ein kleiner Parasit solch einen katastrophalen Schaden anrichten? Und nicht auszudenken, wenn er sich so rasant verbreiten würde. Das hätte ein furchtbares Massaker zu Folge. Doch er konnte sich schnell wieder sammeln und versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. „Also sucht dieser Pilz sich einen menschlichen Wirt und zwingt ihn, einen gut besuchten Ort aufzusuchen und dort ein Massaker anzurichten. Dann steigen sie auf ein hohes Gebäude, um sich selbst in die Luft zu jagen. Aber warum? Warum zwingt der Pilz seinen Wirt dazu, sich selbst zu zerstören? Das macht doch keinen Sinn. Normalerweise ist es doch das Ziel des Parasiten, sich zu verbreiten. Warum also handelt dieser anders?" „Gehen wir mal davon aus, es handelt sich um eine Art Mutation. Dann bliebe zu klären warum er sich selbst zerstört.“ „Tja, das ist eine gute Frage“, bestätigte Anthony und nickte. „Ein natürlicher Parasit ist sozusagen „programmiert“ darauf, sich weiter zu verbreiten.“ Dem FBI Special Agent entging nicht, dass sein Partner ihn erwartungsvoll ansah und schwieg. Allmählich bekam er den Eindruck, dass dieser schwarz gekleidete Typ längst über all das hier Bescheid wusste und ihm mit scheinbar zufällig gewählten Worten auf die Sprünge half. Was genau spielte dieser Kerl eigentlich für ein Spiel? Das musste er unbedingt herausfinden, koste es was es wolle. Aber solange er nicht genau wusste, wer Anthony überhaupt war, musste er dieses Spiel mitspielen. Er ahnte schon, dass er auf Beyond Birthdays Angebot noch mal zurückkommen würde. „Das bedeutet also, es war nicht die Natur, die den Parasiten diese neuen Eigenschaften gegeben hat, sondern der Mensch?“ Ein bedrücktes Schweigen trat ein. Jeder hätte mit so viel gerechnet, aber dass ein Parasit so etwas anrichten konnte, das wäre niemandem im Traum eingefallen. Aber das würde alles, wirklich alles erklären. Die Infizierten verhielten sich bis kurz vor dem Anschlag normal, weil der Parasit noch nicht ihr Nervensystem übernommen hatte. Als er das tat, klagten die Betroffenen über Kopfschmerzen und wurden schon fast zu Zombies, möchte man sagen. Der Verlauf ähnelte dem eines infizierten Insekts: Sie suchten sich einen Ort aus, von dem sich aus die Parasitären Sporen gut verbreiten konnten, nämlich das Dach. Der Wind war dort stärker als am Boden und die Reichweite war entscheidend größer. Hier entschied der Pilz noch rein vegetativ. Aber dann wurde er durch eine Umprogrammierung gezwungen, sich selbst mitsamt dem Infizierten zu zerstören. Etwa um Beweise zu vernichten? Aber wozu hatte er überhaupt diesen Pilz verändert? Man konnte doch nicht wissen, ob er überhaupt bei einem Menschen funktionierte geschweige denn, welche Veränderungen eintraten. Wenn ein Mensch hinter der Mutation steckte und theoretisch diesen Parasiten neu programmieren konnte, um jemanden eine gewisse Zeit fernzusteuern, warum ließ er so viele Menschen sterben und dann noch auf so eine Weise? Ganz einfach: weil er niemals auffliegen würde. Wer käme schon auf den Gedanken, dass ein Amokläufer von einem Hirnparasiten ferngesteuert wurde und keinen eigenen Willen mehr besaß? Niemand außer Kazan. Solange sich die vermeintlichen Amokläufer allesamt selbst in die Luft sprengten, konnte verhindert werden, dass man dem unbekannten Strippenzieher auf die Schliche kam. Man würde alles mögliche vermuten, aber einen Parasiten niemals! Jetzt da Kazan jetzt die Wahrheit der Amokläufer wusste, galt es nun, dem Spuk ein Ende zu machen. „Gibt es Heilmethoden gegen diesen Parasiten?“ „Nein“, antwortete Dr. Collins mit gespieltem Bedauern. „Leider ist es sowieso sehr schwierig, Impfungen gegen solche Parasiten zu entwickeln und in diesem Falle erst recht. Der Pilz ist noch nicht vollständig erforscht und…“ „Dann werden Sie jetzt mehr als vorher Grund dazu haben, ein Heilmittel in der Giftküche zusammenzupanschen. Hier stehen hunderte wenn nicht tausende Menschenleben auf dem Spiel.“ Doch es kam keine Reaktion von dem Chirurgen und das regte den FBI Agent auf. Diese verdammte desinteressierte Art war unerträglich für ihn und er fragte sich, ob es diesem Menschen völlig egal war. Dann aber beruhigte er sich wieder. Wahrscheinlich waren Ärzte und Chirurgen im Krankenhaus aufgrund so vieler Krankheiten und Todesfälle derart abgestumpft, das sie eine gewisse emotionale Gleichgültigkeit entwickelt hatten, um selbst nicht als psychisches Wrack zu enden. Dann aber meinte Dr. Collins schließlich „Ich werde sehen, was ich tun kann. Zunächst einmal müssen wir mehr über die genauen Vorgänge und Substanzen des Pilzes in Erfahrung bringen und das kann eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Ich werde mich mit Kollegen der Biologie- und Evolutionsforschung in Verbindung setzen und dafür sorgen, dass sich baldmöglich eine Therapiemöglichkeit findet. Was aber wichtig ist: Wer Kontakt mit einem Infizierten hat oder in Reichweite der Sporen ist, muss sich gründlich waschen. Er kann allein schon über Hautkontakt in den Körper eindringen, durch Mund, Nase, Ohren und sogar durch Augen. Da sich aber die Wirte selbst zerstören, bleibt ein Infektionsrisiko noch relativ gering, trotzdem kann es aber passieren, dass Sporen freigesetzt werden. Tragen Sie deshalb besser einen Schutzanzug, einen Mundschutz und eine Schutzbrille, um sich vor einer Infektion zu schützen! Diese Maßnahmen dürften die Infektionsgefahr maßgeblich senken!“ Kazan bedankte sich für die Informationen und ging. Das war wirklich viel für heute, aber jetzt hatte er einen riesigen Sprung nach vorne gemacht. Jetzt hatte er endlich das, was er gesucht hatte. All diese Amokläufer hatten sich mit Sporen des Ophiocordyceps unilateralis infiziert und wurden quasi ferngesteuert. Und er hatte eine dunkle Ahnung, wo sie sich angesteckt haben konnten. In der Nähe der Tatorte waren sie niemals gewesen, aber dafür hatten sie alle denselben Ort aufgesucht und sich dort wahrscheinlich infiziert: Entweder die Praxis von Dr. Crimson, oder hier im Krankenhaus. Kazan rief Sadie an und bat sie, die Seuchenschutzbehörde zu informieren. „Spannen Sie mich nicht auf die Folter, was haben Sie herausgefunden?“ „Ich habe noch keine festen Beweise, aber der Verdacht liegt nahe, dass es sich hier um einen hochinfektiösen Parasiten handelt, der das zentrale Nervensystem befällt und somit die Kontrolle über seinen Wirt übernehmen kann.“ „Haben Sie zu viele Science Fiction Filme gesehen?“ Kazan erklärte mit Engelsgeduld, was die beiden Mediziner ihm berichtet hatten und ging dabei besonders auf die auffälligen Verhaltensweisen ein. Sadie hörte aufmerksam zu und versprach schließlich, alles sofort in die Wege zu leiten. „Und was haben Sie als nächstes vor?“ „Den Verantwortlichen zu finden. Wenn es sich tatsächlich um eine mutierte Form handelt, die aus irgendeinem Labor stammt, dann müssen wir herausfinden, wo die Wespen ihr Nest haben.“ „Dann trödeln Sie nicht herum, sondern setzen Sie ihren faulen Hintern in Bewegung!“ Nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatten, versprach Anthony sämtliche Adressen herauszusuchen, wo an Parasiten geforscht wurde, während sich Kazan in der Zwischenzeit noch mal in der Praxis von Dr. Crimson umsehen wollte. Somit trennten sich vorläufig ihre Wege und der FBI Agent zündete sich erst einmal eine Zigarette an. Jetzt galt es, die nächsten Schritte genau durchzuplanen. Für ihn standen folgende Sachen fest: 1. Dieser Pilz war nicht bloß ein Parasit, sondern eine Art neue Kriegswaffe, 2. Die beiden Ärzte, oder zumindest Dr. Collins steckte da bis zum Hals mit drin und 3. war mit Anthony auch irgendetwas im Busch. Er hatte nicht all die Jahre Mörder, Sexualstraftäter, Drogendealer und andere Sorten Kriminelle dingfest gemacht, nur um sich jetzt hinters Licht führen zu lassen. Ihm war nämlich entscheidend aufgefallen, dass etwas an Anthony sich verändert hatte und das war nicht die Sache mit der Maus. Nein, das war etwas ganz anderes: Er trug nämlich kein Hörgerät im linken Ohr. Normalerweise trug ein Mensch doch stets und ständig so etwas, wenn er schlecht hören konnte, da gab es keine Ausnahmen und wenn ein Hörgerät in Reparatur war, dann bekam man ein Ersatzgerät zur Verfügung gestellt. Es war kein Zufall, dass Anthony heute sein Hörgerät nicht trug, da steckte viel mehr dahinter und länger ließ er sich nicht verarschen. Ihn direkt darauf ansprechen, das wollte er lieber vermeiden. Das würde nur zufolge haben, dass sein dubioser Partner diesen Fehler ausbessern würde und dann hatte er keinen Beweis mehr, dass der Kerl etwas zu verbergen hatte. Egal was es mit diesem Verschwinden des Hörgeräts auf sich hatte, er kam schon noch dahinter. Und was noch auffiel war dieses unheimliche Leuchten im Auge, was Kazan zwar nicht gesehen, aber dafür gespürt hatte. Es war nicht mehr im linken sondern im rechten Auge. Warum, warum war das so? Als erstes wollte Kazan einen Besuch bei Dr. Crimson machen und fuhr mit dem nächsten Taxi hin. Er gab dem Fahrer ein kleines Trinkgeld, stieg aus und wurde direkt von einem Wolkenbruch überrascht. Es goss wie aus Kübeln und binnen weniger Minuten war er nass bis auf die Knochen. Da er nicht einmal einen Regenschirm dabei hatte, stellte er sich unter das Dach einer Boutique und beobachtete, wie die Menschen alle vor dem Unwetter flüchteten. Wie ein riesiger Ameisenhaufen, dachte er und musste wieder an das Gespräch mit Dr. Collins denken. Ein insektentötender Parasitenpilz wird zu einem Parasiten, der Menschen zwingt, andere Menschen zu töten. War das etwa ein Hinweis auf den Verantwortlichen? Jemand, der in anderen Menschen nichts Weiteres als Ungeziefer sah? Wieder hatte er Anthony vor Augen, wie er die Maus mit dem Skalpell tötete. Wie waren seine Worte noch gleich? „Nichts hasse ich mehr als Ungeziefer, das sich so schnell verbreitet. Einfach widerlich.“ Gab es einen Menschen, der auch so über seinesgleichen dachte? Oder waren es nur wieder irgendwelche sinnlosen Kriegswaffen, nur um noch mehr Leid über diese Welt zu schicken? Kazan war schon immer der Meinung gewesen, dass Kriege völlig egoistisch und selbstsüchtig waren. Egal mit welch edlen Motiven man versuchte, durch solch ein Mittel irgendetwas zu bewegen, letztendlich starben dabei immer Unschuldige. Die Amerikaner waren in seinen Augen nur ein streitlustiges Völkchen, das ständig seine Kriegsstärke beweisen musste, genauso wie all die anderen Länder. Was für eine verkehrte Welt. Alles musste immer durch Angst und Gewalt gelöst werden. Warum konnte es nicht eine friedlichere Welt geben? Der Regen wollte nicht aufhören und da der 41-jährige keine Lust hatte hier Wurzeln zu schlagen, kaufte er sich einen Regenschirm und machte sich auf den Weg zu Dr. Crimsons Praxis. Als er an eine Kreuzung ankam und auf die andere Straßenseite gehen wollte, da rasten zwei Feuerwehrwagen und ein Krankenwagen mit lauten Sirenen vorbei. Sie fuhren in die Richtung der Praxis. Ein böser Verdacht stieg in ihm hoch und er begann zu rennen. Konnte es etwa sein, dass… Es war, als wäre die Hölle ausgebrochen. Die Fenster explodierten und eine Feuersäule schoss auf die Straße. Während die Feuerwehrleute versuchten, ins Haus zu kommen und Überlebende zu suchen, begann man mit den Löschvorgängen. Das konnte doch nicht sein… das war doch nur ein schlechter Witz. Die Leichen konnten nur mit Mühe geborgen werden und leider waren sie bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Mit Zahnabdrücken hätte man sie ja vielleicht noch identifizieren können, aber die herunterstürzenden Trümmer hatten ihnen die Schädel zermalmt. Alles, was man nur noch fand, waren Überreste. Kazan stand kurz vor einem Wutausbruch, dass man ihm in die Parade gefahren war. Der Brand war kein Zufall gewesen, jemand wollte Spuren beseitigen und dazu mussten Zeugen aus dem Weg geräumt werden. Anscheinend war er jemandem auf den Pelz gerückt, der das überhaupt nicht leiden konnte und langsam nervös wurde. Aus diesem Grund hatte er die Praxis niedergebrannt. „Weiß man schon was die Ursache war?“ „Wahrscheinlich eine Gasexplosion“, vermutete der Feuerwehrmeister Roy Duncan und wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. „Selbst wenn alles niedergebrannt ist, kann man noch Spuren von Benzin oder anderen brennbaren Flüssigkeiten erkennen, aber hier war es offensichtlich Gas. Mit einem Male hat es wie Zunder gebrannt und zwei Passanten kamen mit Brandverletzungen ins Krankenhaus.“ „Wie viele Opfer?“ „Bis jetzt nur zwei, aber wir suchen noch weiter.“ Zwei Opfer: Die Sprechstundenhilfe und Dr. Crimson. Sie beide hatten diese seltsame Libellenbrosche getragen und waren gestorben. Man hat sie so getötet, dass man sie nicht identifizieren konnte. Gab es da vielleicht einen bestimmten Grund dahinter? Man hätte sie auch einfach erschießen können, aber der Täter wollte mit allen Mitteln verhindern, dass es die Sprechstundenhilfe und der Arzt waren… oder es nicht waren? Nein, das war nun völlig aus der Luft gegriffen. Oder… vielleicht doch nicht? Um seine Theorie beweisen zu können, musste Kazan Beweise bringen und sich nicht immer nur auf Vermutungen stützen. Somit kam er keinen Schritt weiter. Aber fest stand, dass jemand unbedingt eine Identifizierung verhindern wollte, wenn er die beiden tötete. Dann musste er auch hinter Dr. Collins her sein! Kazan reagierte sofort und rief beim FBI an um den Arzt in den Zeugenschutz zu holen, da ernsthaft das Leben des Mannes in Gefahr bestand und er ein wichtiger Zeuge war. Sadie klang am Telefon jedoch auf einmal ganz anders und hatte nicht mehr diesen strengen und militärischen Ton drauf wie sonst auch immer. „Kazan, kommen Sie sofort in mein Büro!“ Kapitel 6: Vertuschung? ----------------------- Kazans Kleidung stank nach Rauch, aber er nahm diesen Geruch nicht wahr, da er ja selbst Raucher war und seine Nase schon seit Ewigkeiten dagegen abgestumpft war. Dafür aber waren seine Hände wie auch sein Gesicht leicht geschwärzt, sodass er sich erst einmal beides wusch, bevor er ins Büro seiner Vorgesetzten ging. Sadie schien auf einmal ganz ruhig zu sein und sie machte auch keine Anstalten zu schimpfen. Irgendetwas lag ihr wohl ziemlich schwer im Magen und sie wirkte beunruhigt. Was zum Teufel war nur passiert, während er weg war? „Setzen Sie sich“ forderte sie ihn mit einer Handbewegung auf und Kazan gehorchte. Wenn sie schon so anfing, dann hatte sie keine guten Nachrichten für ihn. „Kazan, ich habe vorhin den Seuchenschutz kontaktiert und kurz darauf einen Anruf von oben bekommen. Wir werden vom Fall abgezogen.“ „Was?“ platzte es aus ihm heraus und er schlug die Faust auf den Tisch. „Wer hat das angeordnet? Wollen etwa diese Schwachköpfe vom CIA…“ „Sie verstehen das nicht“, entgegnete Sadie James und sah ihn mahnend an, der ihn zur Ruhe zwingen sollte. Es verfehlte seine Wirkung bei Kazan nicht und er bemühte sich, die Fassung zu wahren. „Die Anweisungen kommen von ganz weit oben.“ „Sie meinen doch nicht etwa vom Adler?“ Mit Adler war umgangssprachlich der amerikanische Präsident gemeint. Meist benutzten die Leute vom Secret Service diesen Ausdruck oder persönlichen Leibwächter. Die Bezeichnung kam eben daher, dass der Adler das Wahrzeichen Amerikas war. Sadie hatte für zwei Jahre beim Secret Service gearbeitet und nutzte diese Umgangssprache nach wie vor. Und ihre Kollegen oder direkten Untergebenen hatten sich auch angewöhnt, so zu sprechen. Dass jetzt ausgerechnet der Präsident angeordnet hatte, dass dieser Fall nicht mehr Sache des FBIs war, das musste Kazan erst einmal verdauen. Jetzt verstand er auch, warum Sadie so merkwürdig drauf war. „Mit welcher Begründung?“ „Das hat er nicht gesagt. Jedenfalls ist es uns strengstens untersagt worden, weiterhin in diesem Fall zu ermitteln. Ein Verstoß hat eine sofortige Entlassung und eine Anzeige wegen Befehlsmissachtung zur Folge. Ich rate Ihnen also dringend, sich daran zu halten, sonst sind Sie Ihre Dienstmarke schneller los als Sie gucken können. Sie werden einem neuen Fall zugewiesen und das war es dann auch.“ „Aber das ist doch verrückt“, entgegnete Kazan und spürte wieder die Wut in ihm hochkochen. „Erst stirbt ein wichtiger Zeuge und kaum will ich den anderen unter Zeugenschutz stellen, werde ich einfach abgezogen? Da stimmt doch etwas nicht, da ist eine riesige Verschwörung am Laufen. Die wollen uns mundtot machen.“ „Das ist mir auch klar", unterbrach seine Vorgesetzte und faltete die Hände. Auch ihr war anzusehen, dass ihr die Sache nicht wirklich geheuer war und dass sich dort irgendwo der Wurm versteckte. „Ich habe auch so meine Zweifel, aber ich habe mich an die Befehle zu halten. Und mir wurde mit aller Deutlichkeit gesagt: Wenn wir weiterhin an den Fall arbeiten, werden Köpfe rollen. Das bedeutet für Sie, dass Sie im glücklichsten Falle lediglich suspendiert werden.“ Auch wenn man es Sadie nicht ansah, kochte sie genauso vor Wut wie Kazan darüber, dass die ganze Sache einfach unter einen Mantel des Schweigens fiel. Sie war nicht der Typ Mensch, der sich irgendetwas einfach so gefallen ließ, aber ihr waren genauso wie Kazan die Hände gebunden. „Ich bin mir ganz sicher“, sagte Kazan nun etwas ruhiger „dass unsere Regierung irgendwie Mist gebaut hat. Sicher gehörte dieser Mutantenparasit zu einem streng geheimen Militärprojekt.“ „Das klingt mehr als wahrscheinlich“, murmelte Sadie kopfnickend. „Aber wir werden es niemals erfahren. Sie haben die nächsten drei Tage frei, um zur Ruhe zu kommen. Dann haben Sie wieder einen freien Kopf. Den Bericht brauchen Sie übrigens auch nicht mehr zu schreiben. Und damit das klar ist: das war ein Befehl und kein Vorschlag!“ Geladen verließ Kazan Sadies Büro und schmiss in seinem eigenen den Schreibtisch um. „So eine Scheiße“, brüllte er und brauchte eine ganze Weile, um sich abzureagieren. Das war nicht gerecht. Das war einfach nicht fair. Warum nur machte man ihm jetzt einen Strich durch die Rechnung? Ausgerechnet jetzt, wo er so nahe war. Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Anzeige hin oder her, scheiß auf die Suspension. Er hatte seine Ehre und bis jetzt hatte er noch jeden Fall zu Ende gebracht. Das würde ihm auch dieses Mal nicht passieren. Fest stand, dass er weitermachen würde. Er hatte auch schon eine Idee, wie er das anstellen würde und dazu brauchte er Hilfe. Nachdem er wieder aufgeräumt hatte, verließ er die Zentrale und ging zu einer Telefonzelle, ein Handy war ihm nicht sicher genug. Jetzt galt es einen alten Bekannten anzurufen, der ihm einen Gefallen tun konnte. Aus seiner Jacke holte er den Zettel mit der Nummer heraus, die Beyond Birthday ihm gegeben hatte. Es dauerte eine Weile, da hörte er statt seiner Stimme die von Angeline. „Ja hallo?“ „Angeline, hier ist Special Agent Kazan. Ist Beyond Birthday da?“ „Der ist gerade äh… beschäftigt. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ „Es geht um den Fall: Er wurde auf Eis gelegt und wer weiter daran arbeitet, wird gefeuert und erhält eine Anzeige. Da ist eine Riesensache am Laufen.“ „Aha, und wir sollen Ihnen helfen nicht wahr?“ Angeline konnte man wirklich nichts vormachen. Sie war sehr intelligent und ließ sich nicht für dumm verkaufen. Wenn er an die Angeline Heaven vor drei Jahren zurückdachte... Da hatte sie sich noch Amy Hollow genannt und versucht, vor ihrer Vergangenheit zu fliehen. Sie war verbittert, rachsüchtig und ihr eigenes Leben bedeutete ihr nichts. Jetzt aber hatte sie ihre Vergangenheit und auch ihr eigenes Ich akzeptiert und war viel selbstbewusster als vor drei Jahren. Das Einzige, was ihr schwer auf dem Magen lag war, dass sie ihren Vater nicht töten konnte, der sie damals im Stich gelassen hatte. Doch als sie hörte, dass er von einem Insassen so zusammengeschlagen wurde, dass er an seinen Verletzungen gestorben war, war das eine große Genugtuung für sie. „Also, was genau sollen wir tun?“ „Können wir uns am besten irgendwo treffen? Irgendwo, wo wir ungestört sind?“ „Gut, kommen Sie in die Agony Street, da wo ich vor drei Jahren gewohnt habe. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte.“ Was für ein komischer Zufall. Genau in diesem Haus, wo Angeline unter dem Namen Amy Hollow gelebt hatte, war er in die Falle gelockt und niedergeschlagen worden. Angeline hatte Hilfeschreie auf einem Tonband aufgenommen und es abspielen lassen. Kazan war dadurch dermaßen abgelenkt gewesen, dass es für Angeline und Beyond ein leichtes gewesen war, ihn zu überwältigen und im Anschluss zu entführen. Doch das hatten sie nicht getan, weil sie ihn erpressen oder töten wollten, sondern einzig und allein um zu verhindern, dass Angeline an der Durchführung ihres letzten Mordes gehindert wurde. Die 18-jährige war mit einem Motorrad in die Firma ihres Vaters reingerast und hatte sich schwere Verletzungen dabei zugezogen. Kazan gelang es mit der Hilfe von Naomi Misora und Raye Penber, sich zu befreien und Angeline aufzuhalten. Das Haus sah fast genauso aus wie vorher auch, nur die Fassade war weiß gestrichen und es sah weniger heruntergekommen aus. Wie Angeline es gesagt hatte, lag der Schlüssel tatsächlich unter der Fußmatte. Zwar war ihm nicht ganz wohl dabei, einfach so in ein fremdes Haus zu gehen, aber Angeline und Beyond vertrauten ihm. Kaum war er drin, hörte er von etwas weiter hinten „Sie können ruhig in die Küche gehen, Kaffee steht auf dem Tisch!“ Ein klein wenig neugierig sah sich der FBI Special Agent um und fand alles recht sauber und ordentlich vor. Nun gut, im Wohnzimmer hingen überall Poster von Punk Bands und Gewichte lagen auf dem Boden. Das war aber auch schon alles, was ihn störte. In der Küche setzte sich Kazan an einem Glastisch und schüttete sich etwas Kaffee ein. Angeline kam herein. Sie hatte sich die Strähnen rot gefärbt und trug ein schwarzes Shirt auf dem ein Mann in japanischer Kleidung abgebildet war, der an einem Strick von einem Baum herunterbaumelte und darüber stand etwas in Japanisch geschrieben. Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte. „Schön Sie wieder zu sehen, Kazan. Also, was kann ich für Sie tun?“ „Wie ich schon am Telefon gesagt habe, bin ich vom Fall abgezogen worden und vermutlich will die Regierung irgendetwas vertuschen und ich bin sicher, dass Anthony gar nicht von L geschickt wurde, sondern da irgendwie mit drinhängt. Wahrscheinlich sollte er mich nur ausspionieren, oder er gehört selbst zu jenen, die verantwortlich für all das hier sind.“ Angeline nickte bedächtig. „Beyond hatte in der Richtung bereits so etwas erwähnt. Also gut, wie genau können wir Ihnen helfen?“ „Ich werde mich mit ihm treffen, um über den Fall zu reden. Währenddessen muss sein Haus durchsucht werden. Als ich nämlich da war, habe ich einen seltsamen Geruch wahrgenommen, der mir verdächtig schien. Er hing im ganzen Haus. Es roch irgendwie wie bei einem Metzger, der sein Fleisch nicht gekühlt hat und es verdirbt. So in der Art.“ Angeline sah ihn stirnrunzelnd an und schien nicht wirklich zu verstehen, was daran verdächtig sein sollte, aber sie vertraute darauf, dass sein Verdacht berechtigt war. Immerhin hatte er es geschafft, den Engelmordfall zu lösen, an dem jeder andere Polizist verzweifelt wäre. Sie trank einen Schluck Kaffee, dann verließ sie für kurze Zeit die Küche und kam mit einem Laptop zurück. Sie schaltete ihn ein und ihre grazilen Finger flogen über die Tasten. „Beyond hat bereits angefangen, über Ihren seltsamen Anthony zu recherchieren. Aber unter seinem Decknamen, sowie unter Geburtsnamen ist er nirgends registriert.“ Ja, das war wirklich ein wenig seltsam, aber auch nicht verwunderlich. Dem großen Meisterdetektiven L war es sicher auch nicht schwer gewesen, seine Identität komplett im Geheimen zu lassen und sämtliche Geburtsurkunden, Fotos und andere Dinge verschwinden zu lassen. Man musste nur die richtigen Kontakte haben, um so etwas bewerkstelligen zu können. Auch von Beyond Birthday gab es nichts außer Fotos von seiner Inhaftierung. „Vielleicht kann wirklich eine Hausdurchsuchung helfen. Außerdem wäre vielleicht das hier zu klären…“ Aus ihrer Hosentasche holte Angeline eine kleine silberne Schmetterlingsbrosche hervor. Die, die Kazan in der Praxis bei Dr. Crimson und bei Dr. Collins gesehen hatte. „Wo hast du die her?“ „Ich hab sie gefunden“, antwortete die 21-jährige und legte die Brosche auf den Tisch. „Und ich könnte schwören, dass ich sie vor Jahren schon mal gesehen habe. Mein Vater, Joshua Silver, hat exakt die gleiche getragen und alle in seiner Firma auch. Als ich noch sehr jung war, bin ich ihm in seine Firma gefolgt und da ist mir das aufgefallen. Diese hier habe ich bei meinem Crash vor drei Jahren gefunden, als ich versucht habe, diesen Bastard umzubringen. Zunächst habe ich nur ein wenig Voodoo-Zauber damit getrieben, aber dann ist mir das hier aufgefallen…“ Angeline holte eine kleine Nadel her und begann die Brosche zu öffnen. Anscheinend war sie mit einer hauchdünnen aber stabilen Platte verschlossen, um ihr Innenleben zu verbergen. Es sah verdächtig nach einer Art Computerchip aus. Kazan beugte sich weiter vor. „Was ist das?“ „Da sind wir uns noch nicht sicher, aber Beyond hat Kontakt zu einem Computerexperten aufgenommen, der auch zu L’s Kontaktpersonen zählt. Vielleicht kann der herausfinden, was es mit diesem Gerät auf sich hat. Bis vor kurzem hab ich dem noch keine Beachtung geschenkt, aber als ich mal gesehen habe, dass Anthony auch so eine trug…“ „Was?“ Nun wurde es komplizierter für Kazan. Was hatte es mit dieser falschen Brosche auf sich und warum hatte Anthony so eine getragen? Immer wenn er mit ihm unterwegs war, hatte dieser nie eine getragen. Ob das Absicht oder Zufall war? Interessant wäre auch die Frage, ob er dieses Hörgerät überhaupt drin hatte. Als er Angeline diese Frage stellte, musste sie überlegen. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ich hab ihn ja nur zwei Male gesehen und da hatte er es nicht getragen. Warum fragen Sie?“ „Weil er bei unserer ersten Begegnung eines trug, danach aber nicht mehr und das erschien mir verdächtig. Bei einer Durchsuchung wäre es interessant, wenn sich irgendwo etwas finden würde, was darauf hindeuten könnte, dass er eines besitzt. Wer ein Hörgerät trägt, braucht spezielle Behälter und Reinigungsutensilien.“ „Kein Problem. Wenn Sie uns den Kerl solange vom Leib halten, dürfte es ein leichtes sein, bei ihm einzubrechen. Ich würde auch zu gerne wissen, was mein werter Herr Vater für Geschäfte gemacht hat und ob diese Leute auch mit den Amokläufen und seiner Ermordung zu tun haben. Alles sieht auf dem ersten Blick nach Zufall aus, aber da scheint wohl ganz tief der Wurm drin zu sein.“ Eine drückende Stille trat ein und nur das Geräusch der Tastatur, die Angeline gerade benutzte, war zu hören. Dann schließlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte und drehte den Bildschirm zu Kazan, damit er etwas sehen konnte. Es war ein Schwarzweißfoto und zeigte einen kahl rasierten Jungen, der einen Patientenkittel trug. Ein Auge war rot, das andere pechschwarz. „Das hier habe ich aus der Datenbank des Geheimdienstes gefunden.“ Nun, es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Anthony, aber es war schwer festzustellen, ob es wirklich derselbe war. „Beyond hat zweifelsohne festgestellt, dass es Anthony Deadman ist, der in Wahrheit Lumis Curse heißt. Zu dem Foto gab es einen Zahlencode, den wir leider nicht knacken konnten aber fest steht, dass er nicht für L, sondern für die Regierung arbeitet. Das hat er nur behauptet, um Sie unbemerkt bespitzeln zu können.“ „Aber warum hat er zugelassen, dass ich so weit komme? Nein, ich glaube nicht dass er direkt für die Regierung arbeitet, sondern für jemand anderes. Wahrscheinlich für die Leute, die diese Libellenbrosche tragen. Ich weiß zwar nicht, was sie vorhaben, aber ganz sicher haben sie mit dem Fall zu tun. Der Arzt und die Sprechstundenhilfe, die bei dem Brand ums Leben gekommen sind, haben die gleiche Brosche getragen, genauso wie der Neurochirurg im Krankenhaus. Hat dein Vater irgendwann mal etwas erwähnt, was es mit dieser Libelle auf sich hat?“ „Nee, was denn auch?“ entgegnete Angeline ein wenig giftig, als sie an früher denken musste. „Joshua hat mich gehasst und nie ein Wort mit mir gesprochen. Dafür habe ich aber mal zufällig ein Telefonat mitbekommen, als ich mit einem der Dienstmädchen Verstecken gespielt habe. Darin erwähnte er irgendetwas von einem Projekt, das sich bereits in der Endphase befindet. Das war es auch schon.“ Tja, da Joshua Silver ein sehr wichtiger Geschäftsmann war, konnte das alles Mögliche bedeuten. Das einzig Hilfreiche, was sie jetzt noch tun konnten, war ein Einbruch in Anthonys Haus. Es dauerte nicht lange, da kam Beyond zurück. Er sah Kazan eine Zeit lang schweigend an, dann grüßte er ihn kurz und verschwand für ein paar Minuten. „Der scheint ja beste Laune zu haben.“ „So ist er immer“, murmelte Angeline und schmunzelte. „aber vorher war er viel verschlossener und unverschämter. Er macht wirklich Fortschritte. Wenn ich ihn noch länger bearbeite, wird er noch ein richtiges Herzchen.“ Als der Serienmörder schließlich in die Küche kam, erzählten sie ihm alles Besprochene, während er sich ein Glas Marmelade aus dem Kühlschrank holte und sich in seiner typischen Pose auf einen Stuhl setzte. Er hatte keinen Löffel, sondern aß die Erdbeermarmelade einfach mit den Fingern. Wie ein kleines Kind, dachte Kazan kopfschüttelnd und musste sich an die erste Begegnung mit ihm erinnern. Als sie fertig mit dem Bericht waren, leckte sich Beyond die Finger ab und nickte bedächtig. „Gut, wir werden am besten heute Abend den Einbruch begehen. Sie Kazan sorgen bitte dafür, dass er unter keinen Umständen zurückkommt. Ich hab keine Lust, eine Sauerei zu veranstalten und dafür wieder ins Gefängnis zu kommen. Wenn er uns erwischt, dann garantiere ich für nichts mehr.“ Das waren ganz deutliche Worte und Kazan wusste, dass Beyond es ernst meinte, todernst! Kapitel 7: Horror ----------------- Lautlos wie zwei Schatten schlichen Beyond Birthday und Angeline Heaven durch die Straßen und hatten sich perfekt vorbereitet. Ihre Kleidung war schwarz, sie hatten Nachtsichtgeräte dabei und zur Sicherheit Atemschutzmasken, falls es dort Pilzsporen gab. Auch ihre Haut hatten sie ausreichend geschützt, indem sie luftdichte Kleidung trugen. Sie liefen geduckt und arbeiteten sich langsam vor. Waffen hatten sie selbstverständlich auch dabei. Angeline hatte eine Art massiven Eisenstab, Schlagringe und eine Glock 17. Beyond dagegen war mit einem Messer mit 25cm Klinge und einer Beretta zufrieden. Außerdem hatte er entsprechendes Werkzeug mitgenommen, um die Tür aufzubrechen. Vor einem großen Haus, gebaut im modernen Stil, blieben sie stehen. „Das ist es. Hier wohnt er. Gut, du knackst das Schloss und ich pass auf, dass uns keiner sieht.“ Beyond stieg die drei Stufen hoch und begann mit seiner Arbeit, während Angeline Schmiere stand. Er brauchte nicht lange und kaum war die Tür offen, schlichen sie hinein und schlossen sie wieder. Die Lichter im Haus ließen sie aus und Taschenlampen brauchten sie nicht. Die grünlichen Kontraste der Nachtsichtgeräte reichten vollkommen aus. Um keine Spuren zu hinterlassen, zogen sie sich Latexhandschuhe an und banden sich die Haare zusammen. Alles lief so organisiert wie bei einem Militäreinsatz ab. Sie gingen gemeinsam die Räume durch und stellten alles wieder zurück, wo es vorher stand. Angeline schwitzte in ihrer Kleidung und der seltsame Geruch in dem Haus machte sie etwas benommen. Doch sie biss die Zähne zusammen und arbeitete sich systematisch vor. Zuerst ging es in die Küche, wo sie auf einen riesigen Vorrat an Teesorten stießen. „Au backe, der Kerl ist ja noch verrückter nach Tee, als du nach Marmelade und du hast sie in den Kühlschränken deiner Opfer gelagert!“ Zusammen schoben sie den Kühlschrank weg, fanden dahinter aber nur Staub und auch ein Abklopfen der Wände und Böden brachte nicht viel. Der nächste Raum war das Badezimmer und als erstes öffneten sie das Schränkchen neben dem Spiegel. „Seltsam“, murmelte die 21-jährige und wandte sich an Beyond. „Da drin ist nichts, was man für das Tragen eines Hörgeräts braucht. Aber Kazan hat gesagt, er hätte eines getragen. Und guck mal hier.“ Sie holte ein kleines Döschen mit mehreren Tabletten heraus, die mit einem Code versehen waren. „Weißt du was das für Dinger sind?“ „So etwas wie Tranquilizer. Allerdings nicht zur Angstbewältigung wie mir scheint. Das sind starke Beruhigungsmittel und bewirken eine verringerte Aggression und Gewaltbereitschaft. Egal was der Kerl hat, ohne die Tabletten muss er ja ein richtiger Psycho sein, oder er ist ein Junkie. Nimm eine raus, kratz ein wenig davon ab und gib es in das Tütchen.“ Im Badezimmer fanden sie sonst nichts Ungewöhnliches und so gingen sie in Anthonys Zimmer, wo seine ganzen Zeichnungen hingen. Beyond blieb vor einem Bild stehen und war sichtlich beeindruckt. Es zeigte den Querschnitt eines menschlichen Kopfes. „Wunderschön“, murmelte er. „Diese Details. Alles ist so fein ausgearbeitet, dass man es nicht besser hätte zeichnen können. Dieser Kerl ist ein wahrer Künstler.“ „Du kannst ihn später noch bewundern. Hilf mir mal lieber.“ Sie begannen nun, den Schreibtisch zu untersuchen und Dokumente durchzublättern aber auch hier fand sich nichts Hilfreiches. Dann aber fiel aus einem Stapel eine CD-Hülle heraus und fiel zu Boden. Darin befand sich eine Minidisk, auf der „P. Gemini“ geschrieben stand. Diese nahmen sie sicherheitshalber mit. Ansonsten fanden sie in der Wohnung nichts Interessantes mehr. Schließlich machten sie sich auf den Weg in den Keller und merkten sofort, dass von dort der Geruch kam. „Zieh besser deine Maske auf, da unten sind sicher keine verdorbenen Lebensmittel.“ Angeline ließ sich das nicht zwei Mal sagen und ging direkt hinter Beyond. Vorsichtig stiegen sie die Stufen hinab und mit jedem Schritt schien der Geruch intensiver zu werden. Den beiden drehte sich der Magen um und sie rochen jetzt, dass es unter anderem Blut war. Sie kannten den Geruch, es klebte doch sozusagen noch an ihren Händen, als sie zu Mördern wurden. Allerdings schien der Geruch älter zu sein und hatte sich mit einem anderen vermischt. Er schien wirklich alles zu durchdringen. Haut, Sehnen, Knochen, ja sogar die Seele und er drang selbst in ihr Unterbewusstsein ein. Selbst die geheimsten aller Gedanken wurden von ihm befallen und so dauerte es keine Sekunde, bis der Geruch sie infiziert hatte wie eine Krankheit, die man nicht abschütteln konnte. Es verfolgte einen wie ein Schatten. „Was zum Teufel ist da unten nur? Das riecht ja wie…“ „Wie der Tod.“ Angeline überkam eine Gänsehaut und obwohl ihr tierisch heiß in den Klamotten war, spürte sie eine innerliche Kälte. Sie öffneten die Tür und fanden lediglich einen Lagerraum vor, in dem allerlei Gerümpel stand. Doch sie fanden schnell eine Bodenluke, durch die es noch tiefer hinab ging. Der Gestank war nun überwältigend und obwohl sie die Nachtsichtgeräte trugen, tränten ihre Augen. „Meine Fresse, ist das widerlich.“ Angeline begann zu husten und hätte am liebsten die Luft angehalten. Auch Beyond erging es nicht anders. „Wir sind ganz nah. Wir machen nur schnell Fotos und hauen ab.“ Doch es kostete sie enorme Überwindung, noch weiterzugehen. Immer tiefer ging es hinab, bis sie vor einer dicken Tür aus Stahl standen. Sie war nicht verschlossen. Vorsichtig legte Angeline eine Hand auf den Griff und atmete tief durch um sich auf das, was sie sehen würde, vorzubereiten. Langsam öffnete sie die Tür und der Schwall des Verderbens strömte heraus. Eine Neonröhre flackerte, was ihnen es unmöglich machte, mit den Nachtsichtgeräten zu sehen, weshalb sie sie abnehmen mussten. Das, was sie sahen, war schlimmer als ihre furchtbarsten Alpträumen. Der Raum war ein riesiges Schlachthaus für Menschen. Zerstückelte Leichen waren an Fleischerhaken aufgespießt, abgetrennte Gliedmaßen und Köpfe waren zu Haufen gestapelt worden und manchen hatte man die Haut abgezogen. In einer Badewanne lagen Organe, die man herausgeschnitten hatte und die anscheinend nicht mehr benötigt wurden. Sie hatten sich zum Teil dunkel verfärbt und stanken furchtbar nach verwesendem Fleisch. Auf einem Tisch lag ein Kopf, dem die Augen aus den Höhlen gerissen und die Zunge entfernt waren. Das Haar fehlte vollständig und die Haut war ebenfalls abgezogen. Anscheinend wollte jemand nur den blanken Schädelknochen haben. Selbst für Beyond Birthday, der einem 13-jährigen Mädchen die Augen ausgedrückt hatte, war das ziemlich krass. In einer Ecke lagen mehrere Menschen, aus deren Köpfen und Körpern seltsame fadenartige Dinger wuchsen. Das war dieser Parasit, von dem Kazan gesprochen hatte. „Anscheinend ist das hier so etwas wie eine menschliche Mülldeponie. Und das sind hier wohl die fehlgeschlagenen Versuchsreihen.“ „Dann ist Anthony also verantwortlich für all das hier?“ „Nein, das glaube ich nicht. Er ist zwar echt krank im Hirn, aber um so viele Menschen mit einem Parasiten umzubringen, braucht es mehr. Nein, ich denke er beschränkt sich allein darauf, Menschen mit einem Skalpell abzuschlachten und hier die fehlgeschlagenen Experimente zu deponieren.“ Der Serienmörder ging zu den aufgespießten Leichen hin und begutachtete die aufgeschlitzten Bäuche, aus denen die Organe entfernt worden waren. Auch wenn sie von außen übel zugerichtet waren, als hätte sie jemand durch den Reißwolf geschickt, war hier ein Profi am Werk gewesen. Ein Teil der Organe war fein säuberlich herausgetrennt worden während andere wie Gebärmutter oder Darm herausgerissen waren. Interessant war, dass man niemals dieselben Organe so fachmännisch entfernt hatte. Bei einem waren es Leber und Herz, beim anderen Niere und Magen… So, als wolle jemand einen Menschen basteln und diese Körper nur als Ersatzteillager verwendete. Aber warum hatte er nicht einfach aus einem einzigen Körper die Organe entnommen? Naja, das wäre ja nur der halbe Spaß gewesen, nur einen umzubringen. Anthony schien jedenfalls ein leidenschaftlicher Chirurg zu sein und die Zeichnungen waren sozusagen Trophäen seiner Opfer. Dieser Kerl schien zwei Seiten zu besitzen: Eine destruktive und eine konstruktive. Die destruktive Seite war wahnsinnig, brutal und sadistisch, während die konstruktive vollkommen distanziert, kühl und scheinbar emotionslos war. Wirklich faszinierend und so wie es aussah, waren beide so unterschiedlich und dabei vollkommen ausgewogen wie eine Waage. Ein sehr interessanter Mensch, das musste Beyond zugeben. Er ging nun zu einem Toten hin, dessen Genitalien abgeschnitten und die Lunge entfernt worden waren. Wie ein riesiges Maul war der Brustkorb geöffnet und die Rippen gingen wie Zähne auseinander. Eine lange Weile sah er ihn an, dann wandte er sich an Angeline. „Hey sieh mal, ist das nicht dein alter Herr?“ „Unmöglich, der ist doch…“ Aber ein Irrtum war völlig ausgeschlossen. Sie erkannte ihn eindeutig wieder, seine verhasste Fresse würde sie niemals vergessen, auch wenn sein Gesicht völlig zerfetzt war. Die Zunge hatte man ihm herausgerissen und ihm zusätzlich ein blutiges Lächeln in die Wangen geschnitten. Seine Schädeldecke war geöffnet und das Gehirn entfernt worden. Angeline wich einen Schritt zurück. „Aber das ist doch nicht möglich. Man hat mir gesagt, er sei im Gefängnis von einem Insassen verprügelt worden und ist im Krankenhaus verstorben.“ „Anscheinend hat er noch lange genug gelebt, um bei lebendigem Leibe gefoltert zu werden. So wie ich das Ganze sehe, stecken einige Leute aus dem Krankenhaus auch dahinter, oder zumindest sind sie in irgendeiner anderen Weise in dieser Sache verwickelt." Beyond ging nun zu einem der Parasitenopfer und begann, den Körper unter die Lupe zu nehmen. Angeline hingegen stand wie zur Salzsäule erstarrt da und war ganz kalkweiß im Gesicht. „Was hat eine Hirnblutung eigentlich mit all dem hier zu tun?“ „Das liegt doch wohl auf der Hand: Diese Story ist der Vorwand, mit dem die Opfer ins Krankenhaus geschickt wurden. Dort wurden sie mit dem Parasiten infiziert und das bedeutet, dass der Arzt und der Neurochirurg gemeinsame Sache machen. Ins Krankenhaus kann man nur gehen, wenn man die Überweisung seines Hausarztes hat.“ „Und warum ist der Arzt dann gestorben?“ „Tja“, murmelte Beyond und betastete einen Kopf, der geöffnet worden war, sodass man das Innenleben sehen konnte. Zwar hatte er nur ein einfaches Medizinstudium absolviert, aber er wusste, wie so eine Gehirnblutung aussah und hier lag keine vor. Die Opfer hatten aus verschiedenen Gründen Kopfschmerzen gehabt, Dr. Crimson hatte sie dem Neurochirurg überwiesen mit der Behauptung, es handle sich um eine Subarachnoidalblutung, damit dieser sie infizieren konnte. Aber die Frage war, warum dieser Umstand betrieben wurde. Warum wurden sie nicht direkt in der Arztpraxis infiziert? Vielleicht, weil es sonst zu schnell aufgeflogen wäre? Dann war es nur wahrscheinlich, dass nicht der echte Dr. Crimson in seiner Praxis verbrannt war, sondern jemand anderes. Er wollte seinen Tod vortäuschen, um untertauchen zu können und der Chirurg war der Nächste. Die Frage allerdings war, welche Rolle Anthony Deadman dabei spielte. Wie passte dieses Puzzleteil ins Bild? Beyond hatte erst mal genug gesehen und wandte sich an seine Begleiterin. „Mach ein paar Fotos, dann hauen wir ab.“ Sie nickte und holte ihre Kamera heraus, mit der sie Blitzlichtaufnahmen machte. Sie schoss um die 40 Fotos, dann steckte sie das Gerät wieder ein und machte sich mit Beyond auf den Rückweg. Sie beide wollten so schnell wie möglich von dieser Todesfalle weg und verschlossen alles wieder. Die blutigen Handschuhe zog Beyond sich aus und zog sich neue an. Nachdem sie die Luke wieder versteckt hatten und die Kellertreppe hochgingen, sahen sie, dass das Licht angeschaltet war. Ein eiskalter Schreck durchfuhr sie beide. Anthony war wieder hier? Hatte Kazan etwa Mist gebaut, oder befand sich jemand anderes hier im Haus? Sie mussten so schnell wie möglich weg… Leise und geduckt schlichen sie durch den Flur und wollten zur Haustür, da hörten sie ein Klicken und drehten sich um. Anthony Deadman stand hinter ihnen und zielte mit einer Walther P99 auf sie. „Sieht so aus, als hätte ich Ungeziefer im Haus.“ Angeline reagierte geistesgegenwärtig und zielte ebenfalls mit ihrer Glock auf ihn. Doch Anthony schien sich nicht sonderlich beeindrucken zu lassen. Stattdessen lächelte er eiskalt und schnippte mit den Fingern. Fünf vermummte Gestalten in Militäruniform kreisten sie ein und sahen aus, als wollten sie sie totprügeln. „Ihr dürft mit ihnen machen was ihr wollt. Tobt euch ein wenig an den beiden aus.“ Ein muskulöser Kerl packte Angeline von hinten, während einer sie von vorne angriff und ihr die Hose runterziehen wollte. Rasende Wut stieg in ihr hoch und sie wehrte sich nach Leibeskräften. Dann schließlich trat sie ihm unter die Gürtellinie und als er sich zusammenkrümmte, setzte es einen weiteren Tritt direkt unter dem Kinn und schließlich konnte die 21-jährige den anderen mit einem Überwurf abschütteln. Sie zog ihren Eisenstab und schlug auf ihre Köpfe ein. Beyond stach wie ein Verrückter auf einen der Bewaffneten ein und schlitzte dem anderen die Kehle auf. Der erste Schuss fiel und streifte Beyonds Wange. Sie ergriffen sofort die Flucht durchs Wohnzimmer, welches viel näher war. Mit ihrer Glock zerschoss Angeline die Scheiben und so ging ihre Flucht direkt durch den Garten, der zweite und dritte Schuss gingen direkt an ihnen vorbei, der vierte bohrte sich in Beyonds Rücken. Er drohte zu fallen, doch Angeline war zur Stelle und half ihm weiter. Wieder ein Schuss und dieses Mal traf es ihr Bein. Sie schrie auf, aber sie lief trotzdem weiter. Sie eilten weiter, bis sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten, dann brach Angeline erschöpft an einer Straßenlaterne zusammen. „Wir… wir müssen einen Krankenwagen holen.“ „Nein, das geht nicht“, entgegnete Beyond, der ebenfalls mit furchtbaren Schmerzen zu kämpfen hatte und dem kalter Schweiß von der Stirn lief. „Die werden uns ebenfalls infizieren, wenn wir erst mal dort sind. Schaffst du es bis nach Hause?“ „Ich werde es versuchen“, keuchte die Punkerin und stand auf. Beyond zog seine Jacke aus und den Pullover darüber. Vom Pullover riss er den Ärmel ab und wickelte ihn um Angelines verletztes Bein um die Blutung zu stoppen. „Wir müssen es bis zum Taxi schaffen… komm schon…“ Kazan erreichte ein Anruf gegen Mitternacht und sofort machte er sich auf dem Weg. Irgendetwas schien schiefgelaufen zu sein und er war besorgt. Der Schlüssel war wie immer unter der Fußmatte und als er das Haus betreten hatte, wurde er bestätigt. Im Bett lag Angeline, vollkommen blass mit farblosen Lippen und unter Schmerzmittel stehend. Ihr Bein war verarztet und man hatte ihr eine Infusion gegeben. Beyond Birthday saß im Wohnzimmer und ließ sich von einer Frau eine Schussverletzung zunähen. „Was ist passiert?“ „Anthony hat uns mit ein paar Söldnern angegriffen und uns bei der Flucht angeschossen. Verdammt noch mal Kazan, ich sagte doch ganz klar und deutlich, Sie sollen ihn uns vom Leib halten. Sie haben uns in ernsthafte Gefahr gebracht, ist Ihnen das nicht klar, verdammt?“ Beyond war furchtbar wütend, das sah man ihm sofort an, aber Kazan schien nicht zu verstehen, was er da sagen wollte. „Was reden Sie da? Ich war bis 22:30 Uhr mit ihm in einem Cafe und habe über den Fall gesprochen. Dabei hat er nicht ein Mal das Cafe verlassen. Sie müssen ihn verwechselt haben.“ Stumm sah der Serienmörder ihn an und schien an seinem Gesicht prüfen zu wollen, ob Kazan auch wirklich die Wahrheit sagte. Dann aber nickte er ernst und murmelte „So ist das also.“ „Was meinen Sie damit? Was bedeutet das?“ „Kazan, denken Sie doch mal nach: Wie kann sich eine Person zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten befinden? Ganz einfach: Anthony ist nicht eine einzige Person, er hat einen Zwilling, einen eineiigen Zwilling. Das erklärt alles, auch warum er plötzlich sein Hörgerät nicht mehr getragen hat. Nur einer der Zwillinge hat es getragen und sie haben immer wieder die Rollen getauscht. Sie hatten es die ganze Zeit mit zwei Anthonys zu tun gehabt.“ Kapitel 8: Konfrontation ------------------------ Als die Ärztin gegangen war, holte Beyond seinen neuen Laptop und legte die Minidisk ein, die er gefunden hatte. Kazan brauchte jedoch eine ganze Weile um das zu verdauen. Er hatte schon geahnt gehabt, dass Anthony ihm etwas vorspielte, aber dass direkt zwei dieses Spiel spielten, damit hätte er nicht gerechnet. Zwillinge… dass er nicht selbst darauf gekommen war. Es war die simpelste Antwort auf alle Umgereimtheiten und trotzdem war er nicht darauf gekommen. Jetzt erinnerte er sich auch an den Chatnamen, mit dem der falsche L ihn kontaktiert hatte. „Gemini666“, das war das lateinische Wort für „Zwilling“. Beyond ging noch weiter mit seiner Theorie. „Nehmen wir mal an, diese beiden Anthonys gehören zu den Leuten mit den Libellenbroschen. Dann stellt sich die Frage, was sie genau beabsichtigen mit diesem Spiel. Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass sie das als eine Art amüsanten Zeitvertreib ansehen. So wie dieses Cluedo-Spiel, oder so. Jedenfalls haben sie immer wieder die Rollen getauscht und ich denke, ich kann die beiden voneinander ungefähr so unterscheiden: Einer der beiden ist der vollkommen aggressive und wahnsinnige Part, der für die Sauerei im Keller verantwortlich ist und der andere der Beobachter, der kühle Kopf. Der Anthony mit dem Hörgerät war auch derjenige, der uns überrascht hat, während der andere, der mit dem Skalpell die Maus aufgespießt hat, sein Zwilling ist. Damit dieser nicht die Kontrolle verliert, nimmt er spezielle Tranquilizer. Ich nehme solche auch, allerdings sind sie nicht so stark. Das hilft, meine Aggressionen zu senken.“ Beyond stieß einen leisen Fluch aus, als anscheinend ein Passwort gefragt wurde. „Scheiße, ein 16-stelliges Passwort soll ich eingeben. Da kann man nichts machen, ich muss O anrufen.“ „Wer ist O?“ „Er gehört zum Kreis der 26, dem auch L sowie ich angehören. Jeder hat so seinen Buchstaben. Aktuell sind wir aber nur 24, weil zwei gestorben sind. O ist der beste Hacker der Welt und hat ein Programm entwickelt, mit dem man problemlos jede Firewall und jedes Passwort nicht nur umgehen, sondern auch umschreiben kann! Der so genannte Hackschlüssel.“ Von diesem Programm hatte Kazan bereits gehört, aber niemals damit gerechnet, dass es wirklich existierte. Jede erdenkliche Regierung war hinter dem Hackschlüssel her und mit diesem Programm konnte man nicht nur das Internet, sondern jeden Rechner der Welt kontrollieren und auch jedes Handy, das Internetempfang hatte. Überwachungskameras, Datenbanken und vieles mehr war dann keine Sekunde mehr sicher. Ein unheimlicher Gedanke, dass eine einzige Person über solch eine Macht verfügte. „O leitet eine Gruppe, die auf Internetkriminalität spezialisiert ist und benutzt den Hackschlüssel um Betrüger, Besitzer von Kinderpornographien und anderen Schweinereien auffliegen zu lassen. Nur in großen Ausnahmefällen benutzt er den Hackschlüssel anderweitig. Ich werde mich mit ihm in Kontakt setzen und ihn bitten, das Passwort für uns zu knacken.“ Beyond stand auf um sich ein Glas Marmelade zu holen, doch der Schmerz war anscheinend noch sehr stark und er verzerrte das Gesicht. „Bleiben Sie sitzen, ich gehe schon.“ Kazan machte sich Vorwürfe, dass Angeline und Beyond Birthday angeschossen wurden. Hätte er diese Zwillingsmöglichkeit bedacht, oder zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen, dann hätte es nicht so kommen müssen. Dass beide überlebt haben, war reines Glück und es hätte viel schlimmer kommen können. Aus dem Kühlschrank holte der FBI Agent ein Glas Marmelade, ging zurück und reichte es dem sichtlich angeschlagenen Serienmörder. Dieser bedankte sich kurz und dieses Mal nahm er einen Löffel, da er ja auf der Tastatur schreiben musste. „Wird O uns helfen?“ „Das hoffe ich doch“, antwortete Beyond und begann auf seinem Löffel herumzukauen. „Sonst gucken wir dumm aus der Wäsche.“ Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander bis sich der Bildschirm veränderte. Er wurde vollkommen weiß und ein schwarzes altenglisches „O“ erschien. Eine elektronisch verzerrte Stimme meldete sich. „Hallo B, altes Haus! Es ist lange, her dass du mich kontaktiert hast. Sag schon, was kann ich für dich tun?“ „Ich helfe jemandem, die mysteriösen Amokläufe von Los Angeles aufzuklären und bin im Besitz einer CD, die mit einem Passwort geschützt wurde. Ich fürchte, dass der Inhalt verloren geht, wenn ich es falsch eingebe und deswegen brauche ich deine Hilfe.“ „Kein Problem! Hast du sie im Laufwerk?“ „Ja.“ „Gib mir fünf Minuten und ich hab das Sicherheitsprogramm umgeschrieben. Sieh zu, dass du derweil die Finger von der Tastatur lässt.“ Kazan stellte den Laptop auf ein Tischchen ab und sah, wie mehrere Programme und Fenster geöffnet und wieder geschlossen wurden. Schließlich färbte sich der Bildschirm blau und in rasender Geschwindigkeit wurden unzählige Codes eingegeben. Fasziniert sah er, wie der Computer ferngesteuert wurde. Dieser Kerl war wirklich ein unglaublicher Hacker. Nach fast fünf Minuten meldete sich die Computerstimme erneut und verkündete, dass Beyond jetzt das Programm öffnen und irgendwelche Zahlen oder Buchstaben eingeben konnte. Der Einfachheit wegen gab er einfach 16 Bs ein und tatsächlich wurde das Programm geöffnet. Der Bildschirm färbte sich weiß und eine schwarze Libelle erschien, dann die Schrift. „Dragonfly - Gemini Project.“ Es tauchten mehrere Dateien auf, die Beyond anklickte und die eine Reihe von Forschungsberichten zeigten. Angefangen von Laboraufnahmen, bis hin zur Auflistung von Diagnosen. Ein Foto zeigte die beiden Zwillinge auf und nun sah auch Kazan den markanten Unterschied der beiden: Die Augenfarbe. Bei einem war das linke schwarz, das rechte glühend rot und beim anderen komplett spiegelverkehrt. Insgesamt sah der eine aus wie das Spiegelbild des anderen. „Lumis und Cypher Curse. Sehen Sie da…“ Beyond zeigte auf eine Stelle an der Schulter, welches wohl eine Tätowierung war. „Gemini 01“ stand bei Lumis und „Gemini 02“ bei Cypher. Es wurde Kazan ein wenig mulmig zumute und Beyond las vor was da alles stand. Insgesamt nicht viel, nur dass Lumis einen angeborenen Hörschaden auf dem linken Ohr hatte und auf ein Hörgerät angewiesen war. Angefangen von Blut- und Cholesterinwerten war alles aufgelistet, was ein Arzt bräuchte. Sogar der Intelligenzquotient, der bei sage und schreibe 145 lag. „Nicht schlecht, der reicht ja beinahe an Bill Gates heran. Intelligent sind die beiden jedenfalls. Mal sehen was haben wir da noch…“ Beyond fand eine Videodatei und öffnete ein neues Fenster. Es zeigte, wie die beiden Zwillinge in einer Zelle eingesperrt waren und nichts Weiteres hatten als ein Skalpell. Schließlich kam eine Frau im Kittel vorbei und in dem Moment schossen die beiden hervor und zerrten sie ans Gitter heran. Während die Frau schrie und versuchte sich zu befreien, hatte der eine sie gepackt und der andere holte einen Schlüssel aus ihrer Tasche, mit dem er die Tür aufschloss. Anstatt zu fliehen, zerrten sie die Frau in die Zelle und schlachteten sie regelrecht ab. Einer stach ihr mit seiner Waffe die Augen aus und zerschnitt ihr das Gesicht während der andere die Kleidung zerriss und den Bauch aufschlitzte und ausweidete. Wie Aasgeier oder Raubtiere rissen sie Organe heraus und schnitten tiefe Wunden ins Fleisch, dann flüchteten sie aus der Zelle. Beyond und Kazan hatten genug gesehen und schalteten den Laptop aus. „Scheiße“, murmelte der Serienmörder und starrte auf den schwarzen Bildschirm. Man sah ihm zwar nicht an, was er in diesem Moment dachte, aber Kazan spürte, dass er Angst hatte. Nicht etwa vor den Zwillingen, sondern vor den Leuten, die diese beiden Monster erschaffen hatten. „Dragonfly also…“ „Was wissen Sie darüber?“ Doch Beyond antwortete nicht, sondern kaute auf seinem Daumennagel herum. Irgendetwas beunruhigte ihn so dermaßen, dass er fast die Fassung verlor. Dann aber sammelte er sich und versuchte in knappen Worten zu erklären. „Dragonfly ist eine Organisation, die hauptsächlich an neuen Kriegswaffen forscht und Länder wie diese hier beliefern, aber auch den Terrorismus unterstützen. Angefangen von Atomwaffen bis hin zu hochentwickelten Parasiten, wie zum Beispiel unseren Amok-Parasiten. Die Organisation wurde vor langer Zeit gegründet und aus sicherer Quelle weiß ich, dass sie seit fast 600 Jahren existiert und nur ein Ziel hat: Diese Welt hier zu säubern.“ „Säubern? Meinen Sie etwa die wollen uns auslöschen?“ „Ja und deswegen unterstützen sie auch Kriege. Offiziell lehnt die Regierung jeglichen Handel ab, aber das sind sowieso nur Scheinheilige.“ Nun fügte sich das letzte Puzzleteilchen ein und alles war nun sonnenklar für Kazan, erschreckend klar. Das war also das große Geheimnis hinter all dem. Dragonfly hat Tests an dem Parasiten durchgeführt und als das FBI dem auf die Schliche kam, erpresste Dragonfly die Regierung damit, dass der Handel an die Presse käme und es einen Riesenskandal zu Folge hätte, wenn die Untersuchung nicht gestoppt würde. Oder die Regierung hatte eigenmächtig gehandelt als sie hörten, dass Dragonfly damit zu tun hätte. Lumis und Cypher, die wohl das Projekt geleitet haben, kamen auf die Idee, ein kleines Spielchen zu spielen und schlüpften gemeinsam in die Rolle von Anthony Deadman, L’s Kontaktmann. Sie wollten wohl prüfen, wie es um Kazans Kombinationsgabe stand und suchten wohl einen amüsanten Zeitvertreib neben ihren zahllosen Morden. Dr. Crimson und der Neurochirurg Dr. Collins hingen da wohl auch mit drin, wenn nicht einer von beiden der untergetauchte Zwilling war. Es war sogar höchst wahrscheinlich, dass einer von den Brüdern in die Rolle der Ärzte oder einen von ihnen geschlüpft war. Kazan machte sich auch ernsthafte Sorgen um seine Familie. Was wenn Lumis und Cypher ihnen etwas angetan hatten? „Ich muss nach Hause zu meiner Familie.“ „Dann komme ich mit. Angeline kann kaum laufen und braucht Ruhe und Sie werden sicher Hilfe brauchen.“ Kazan und der angeschlagene Beyond Birthday nahmen das nächste Taxi und fuhren bis kurz vor Straßenbeginn. Beyond sah nicht so aus, als wäre er imstande, es mit einem der Zwillinge aufzunehmen, aber er war fest entschlossen, ihnen ordentlich einzuheizen. „Kazan, Sie müssen mir einen Gefallen tun und sich unbedingt daran halten, koste es was es wolle. Ansonsten werde ich Ihnen persönlich den Hals umdrehen!“ „Worum geht es?“ „Wenn es dazu kommen sollte, dass ich als Geisel genommen werde oder als Schutzschild herhalten muss, dann scheißen Sie darauf und knallen den Kerl ab. Wenn Sie es nicht tun, sterben wir beide und einer von uns muss es schaffen, Dragonfly in die Schranken zu weisen.“ Beyond drückte Kazan Angelines Glock in die Hand und ging gebeugt neben ihm. Der FBI Agent fragte sich, was ihm wohl in diesem Moment durch den Kopf ging und sah den Serienmörder fragend an. Er hatte ein ausdrucksloses Gesicht und gab nichts von sich preis, wie ein Phantom. Während sie gingen, wandte sich Beyond Kazan zu und sah ihn mit seinen unmenschlichen Augen an. „Haben Sie schon mal etwas von dem Puppenmacher aus Bukarest gehört?“ „Sie meinen die Mordserie, in der die Opfer wie versteinert waren und ihre Augen durch Glasmurmeln ersetzt worden waren? Das ist noch gar nicht so lange her.“ „Angeline und ich waren dort gewesen und es ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass es sich hier ebenfalls um Leute von Dragonfly handelt. Auf der ganzen Welt sind ihre Mitglieder aktiv und sie haben ihre Leute überall. In der Politik wie auch beim Militär.“ Sie waren nur noch drei Häuser entfernt und Kazan versuchte ruhig zu bleiben, was ihm aber nur mit Mühe gelang. Der Gedanke daran, dass diese Zwillinge seine Familie bedrohten, war für ihn unerträglich aber jetzt kopflos zu handeln, würde alles viel schlimmer machen. Beyond blieb stehen. „Gehen Sie alleine weiter. Ich gebe Ihnen Rückendeckung.“ Kazan nickte und seine Hand schloss sich fester um die Glock. Er atmete tief durch und ging zu seiner Wohnung, in der Licht brannte. Bitte lass Janice und die Söhne wohlauf sein, betete der FBI er und stieg die Treppe hoch, bis er vor der Wohnungstür stand. Er lauschte eine Weile, hörte aber keine Stimmen… weder von Janice, noch von Curtis und Ryan. Langsam öffnete er die Tür und ging ins Wohnzimmer. Auf dem kleinen Glastischchen stand eine Tasse Kaffee, die noch warm war. Der Fernseher lief noch und auf dem Sofa lag ein aufgeschlagenes Buch, das Janice gerade las. Als Kazan das Zimmer von Curtis betrat, wurde er genauso enttäuscht. Er war nicht da und wie immer herrschte hier die totale Unordnung. In Ryans Zimmer, wo saubere Ordnung war, befand sich auch niemand. Zuletzt ging er in die Küche, wo er einen der Zwillinge am Tisch sitzen sah. Ein eisiger Schreck überkam ihn und ihm war, als würde er in einen tiefen Abgrund fallen und sein Magen verkrampfte sich. Der Eindringling lächelte ihm freundlich zu und machte sich gerade Tee. „Schön Sie zu sehen Kazan, möchten Sie auch einen Orangentee?“ „Lass den Scheiß und sag mir lieber, ob du Lumis oder Cypher bist.“ „Oh?“ Der Betrüger sah ihn erstaunt an und seine Brauen hoben sich dabei. „Dann wissen Sie ja mehr als ich gedacht hatte. Nicht schlecht, das muss ich Ihnen lassen. Ich bin Lumis und Sie haben mich zu Anfang kennen gelernt.“ „Sie waren auch der Arzt nicht wahr? Welcher von beiden waren Sie?“ Lumis bot ihm an sich zu setzen, aber Kazan stand lieber und war bereit jeden Moment zu schießen, wenn der Kerl irgendeine Dummheit wagte. Aber Lumis tat so, als wäre alles ganz normal. „Nun, ich schlüpfte in die Rolle von Dr. Collins dem Neurochirurgen. Dr. Crimson war einer unserer Untergebenen und hat seine Rolle gut gespielt. Um natürlich unerkannt zu bleiben, mussten wir seinen Tod vortäuschen.“ „Wo ist meine Familie?“ Kazan hätte diesem Kerl am liebsten eine Kugel zwischen die Augen gejagt, doch eine Provokation konnte das Leben von Janice und seinen Söhnen ernsthaft in Gefahr bringen. Ruhe war jetzt geboten! Wer weiß, was Lumis und Cypher vorhatten. „Ihre Familie ist im Moment nicht hier.“ Lumis’ Ton hatte etwas Unheilvolles an sich und endlich zeigte er sein wahres Gesicht. „Und Sie tun gut daran, keinen Unsinn anzustellen, wenn sie wohlbehalten zurückkommen sollen.“ Nun erhob sich der Eindringling und trank den letzten Schluck Tee bevor er näher an Kazan herantrat. „Wenn Sie Fragen haben, sollten Sie sie besser jetzt stellen. Nachher werden nämlich keine mehr beantwortet.“ Diese Chance, alles hinauszuzögern, wollte Kazan nutzen und er überlegte haarscharf, welche er alle stellen konnte um einen besseren Blick über die Lage zu bekommen. Er musste Zeit schinden um sich einen Plan zu überlegen, diesem Dreckskerl das Handwerk zu legen. „Was genau haben Sie mit dieser Aktion bezweckt?“ „Gut, dass Sie das Fragen, Kazan. Wissen Sie, Dragonfly sucht immer wieder hochqualifizierte Leute. Auf Sie haben wir auch ein Auge geworfen, aber wir mussten natürlich erst einmal überprüfen, ob Sie auch die nötigen Voraussetzungen erfüllen. Cypher und ich waren so etwas wie Prüfer und wir mussten Ihnen nicht so viel nachhelfen, wie wir zunächst befürchtet hatten. Sie sind intelligent und besitzen wirklich Einfallsreichtum sowie einen guten Spürsinn. Nicht viele Menschen erhalten die Ehre, bei unserer Organisation tätig sein zu dürfen.“ „Warum sollte ich mich Ihnen anschließen, einer Organisation, die nur den Krieg will?“ „So denken Sie über uns?“ fragte Lumis mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme. „Kazan, Sie haben nur die Oberfläche angekratzt, mehr aber auch nicht. Unsere Organisation beschäftigt sich nicht allein mit Kriegswaffen und anderen Zerstörungsmaschinerien. Wir arbeiten am Fortschritt. Wir haben schon die ersten vollständig künstlichen Menschen erschaffen, Klonen ist bereits ein alter Hut und wir arbeiten bereits mit Gerätschaften, die uns den Zutritt zu Parallelwelten ermöglichen sollen. Es ist uns sogar schon gelungen, einen Menschen derart genetisch zu verändern, dass er sich ständig regeneriert und weder sterben noch altern kann. Und aus den Körperteilen verschiedener Personen konnten wir einen lebenden Menschen erschaffen. Das, mein lieber Kazan, ist wahrer Fortschritt. Wir können das Undenkbare erreichen.“ Lumis zeigte zum ersten Mal richtige Emotionen und erschien dem FBI Agent wie ein Bergprediger, der seinen Jüngern das heilige Land versprach. „Erinnern Sie sich vielleicht noch an das Death Note, mit dem Kira all diese Morde begangen hat? Dieses unscheinbare Notizbuch, welches den Shinigami gehört?“ „Sagen Sie jetzt bloß, Dragonfly hat diese Notizbücher erschaffen…“ Lumis brach in ein schallendes Gelächter aus, als hätte er den besten Witz aller Zeiten gehört. Er kriegte sich kaum ein und lachte mehrere Minuten so, bis er sich endlich beruhigt hatte und sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln wegwischte, wobei er seine farbige Kontaktlinse herausnahm, die sein rotes Auge verbarg. „Nein Kazan, wir haben mit den Notizbüchern nichts zu tun. Aber dafür hat derjenige, der sozusagen der Patron unserer Organisation ist und für den wir das alles tun, die Shinigami geschaffen. Unglaublich nicht wahr? Die Shinigami sind unser größter Stolz bis jetzt, aber leider sind diese mittlerweile faul geworden, sodass wir uns um alles kümmern müssen. Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen? Da lässt sich doch viel besser reden.“ Kazan gab keine Widerworte und folgte Lumis schweigend. Sie setzten sich auf das schwarze Ledersofa und Lumis schaltete den Fernseher aus. „Kazan, Sie denken sicher, dass wir eine Art Terrororganisation sind und wir nur an Kriegssachen interessiert sind, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir haben nicht vor, einen Krieg zu verursachen, wir sind lediglich am Frieden interessiert. Aber das Paradoxon lautet eben, dass man sich für den Krieg rüsten muss, um den Frieden zu wahren.“ „Aber warum das ganze Theater? Das sieht mir mehr als deutlich nach Kriegstreiberei aus. Was genau will Dragonfly erreichen?“ „Die Vernichtung des Menschen durch den Menschen.“ Kapitel 9: Hilfe ---------------- „Was?“ fragte Kazan fassungslos und spürte einen dicken Kloß in seinem Hals. Zerstörung des Menschen durch den Menschen… was zum Teufel wollte Lumis damit sagen? Und wie sollte das dem Frieden dienen? Der FBI Agent verstand nicht, was das zu bedeuten hatte und er begann innerlich zu zittern. Lumis hingegen blieb kühl und distanziert und lächelte. „Sie haben mich schon richtig verstanden, Kazan. Verstehen Sie denn nicht? Wir bekämpfen die Zerstörung dieser Welt, indem wir den Parasiten namens Homo Sapiens ausrotten.“ „Menschen sind keine Parasiten.“ „Ach wirklich?“ fragte sein Gegenüber herausfordernd „Das sehe ich aber ganz anders. Sehen Sie, ein Parasit nistet sich in einem Wirt ein, vermehrt sich in ihm und zerstört ihn somit. Er ist äußerst schwierig zu bekämpfen und immun gegen einfache Heilmethoden. Man kann schon sagen, dass er sehr intelligent ist. Der Parasit unterscheidet sich von normalen Krankheiten genauso wie der Mensch vom Tier. Er passt sich nicht an, sondern passt seine Umgebung an seine Bedürfnisse und Vorstellungen an und zerstört nach und nach den Wirt Erde. Er vermehrt sich und verschlimmert den Zustand. Wir, die Organisation Dragonfly, sind die Ärzte dieser Welt. Wir benutzen den Parasiten, weil nur er in der Lage ist, seinesgleichen auszulöschen. Indem wir die Menschheit vernichten, können wir die Ordnung wiederherstellen.“ Schön und gut, aber da blieb noch ein großer Widerspruch offen, den die Organisation wohl nicht bedacht hatte: Wenn doch die Organisation aus Menschen bestand, was sollte dann aus ihnen werden? Wer würde sie töten? Genauso die Frage war da bei Kira gewesen: Wer würde ihn als Verbrecher richten, wenn er andere richtete? Von diesem Barbier-Paradox hatte er schon mal gehört und als er Lumis diese Frage stellte, schien er erfreut zu sein. „Sie haben unsere Erwartungen wirklich nicht enttäuscht, mein Lieber. Wirklich gut beobachtet. Nun, die meisten aus unserer Organisation sind schon lange keine Menschen mehr. Ich nicht und mein Bruder auch nicht. Wir waren noch nie wirkliche Menschen gewesen. In unseren Adern fließt falsches Blut. Unsere DNA ist vollständig künstlich hergestellt worden, ebenso wie unsere Zellen und alles andere von uns. Alles an einem Menschen ist streng genommen chemisch und deswegen ist es auch nicht unmöglich, einen Homunculus zu erschaffen. Das ist das Gemini Project. Es gab auch das Hartmann Projekt, bei welchem einem Menschen das Auge einer uralten Gottheit eingesetzt wurde und er in der Lage war, Illusionen zu erzeugen und einen Menschen in den Wahnsinn oder sogar in den Selbstmord zu treiben. Leider war er psychisch instabil und wurde schließlich umgebracht. Project Dragon enthielt eine Droge, durch welche die Menschen zu Kampfmaschinen werden. Das Bender Project schuf einen kleinen taubgeborenen Jungen, der die Gedanken von anderen ausspionieren und sogar eigene übermitteln kann. Faszinierend, nicht wahr? Und es gibt so vieles mehr. Wenn Sie ein Teil dieses Ganzen werden wollen, stehen Ihnen unglaubliche Möglichkeiten zur Verfügung. Wir haben überall unsere Leute auf der Welt und egal was Sie wollen, es wird Ihnen ermöglicht. Geldprobleme haben Sie keine und Ihre Söhne können an den besten Universitäten der Welt studieren.“ Das war wirklich ein verlockendes Angebot für Kazan, das ließ sich nicht bestreiten. Aber er musste an Angeline denken. Ihr Vater war ein verabscheuungswürdiges Monster und Mitglied der Organisation gewesen. Allein wenn er an sie dachte, wie sie blutüberströmt vor ihm gestanden hatte, sich weinend Kazan in die Arme geworfen hatte und beinahe in seinen Armen gestorben wäre, wurde er an das Leid der Opfer erinnert. „Ich kann es nicht tun.“ „Warum denn nicht? Was hält Sie davon ab? Ihr Gewissen? Nun, Gewissen und Feigheit sind in Wahrheit ein und dasselbe. Gewissen ist der eingetragene Name der Firma, sonst nichts.“ Ein wortwörtliches Zitat aus Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“. „Und Moral ist auch nur ein Wort, hinter dem sich die Menschen verstecken und behaupten, sie hätten so etwas wie Anstand, Würde oder sonst irgendetwas. Letztendlich, mein lieber Kazan, belügen Sie sich selbst. Es ist ein verdammter Kreislauf, ein Teufelskreis den wir unterbrechen müssen. Uns treiben weder Moral, Emotionen oder selbstsüchtige Gedanken an. Wir wollen keine Weltherrschaft, oder materielle Dinge oder die Erlösung. Das Einzige, was wir wollen ist die Rettung dieser Welt.“ Es war keine Lüge in seinen Augen zu sehen, Lumis sagte die Wahrheit. Aber trotzdem erschien dieses ganze Vorhaben so unmenschlich und grausam. Wenn sie wirklich alle Menschen töten wollten, dann würde auch Angeline sterben, Beyond und so viele andere, die das nicht verdient hatten. Sie würden Angeline töten, die ihr ganzes Leben nur ein Opfer war und sich verzweifelt gegen diese Grausamkeit in der Welt gewehrt hatte und dadurch zur Mörderin wurde. Beyond Birthday wurde nach dem Tod seiner Familie alles genommen, selbst seine Identität, bis er gar nichts mehr besaß. Er hatte das niemals gewollt und war in diese Welt hineingedrängt worden. Er konnte niemals sein Leben so leben, wie er es sich vorstellte und litt mit dieser Gabe, die Lebenszeit von Menschen sehen zu können und mit der Angst vor den Tod seiner Mitmenschen zu leben. Für solche Menschen hatte Kazan immer gekämpft. „Nein, ich kann das nicht tun. Ich will jenen helfen, denen niemals Gerechtigkeit zuteil wurde und die selbst nur Opfer sind. Was ihr da macht ist grausam, weiter nichts. Ihr tötet Unschuldige!“ „Niemand ist unschuldig auf dieser Welt. Allein schon als Mensch geboren zu werden ist ein Verbrechen, genauso wie die Existenz eines tödlichen Bakteriums ein Verbrechen in euren Augen ist. Was euch in Gefahr bringt, löscht ihr aus. Was dieser Welt Gefahr bringt, werden wir eliminieren. Ihr Menschen gehört nicht in diesen Kreislauf hinein. Kazan, Sie enttäuschen mich, dass Sie so denken.“ Nun war die Zeit des Redens vorbei und Kazan wollte schießen, doch Lumis drehte ihm die Waffe aus der Hand und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der FBI Agent kam schnell wieder auf die Beine und ein heftiger Kampf brach zwischen beiden Parteien aus. Kazan wollte kämpfen, für seine Familie und für jene, die es verdient hatten, zu leben. Schließlich jedoch gelang es seinem Gegner, ihn niederzuringen und die Glock an sich zu nehmen, mit der er schließlich auf ihn zielte. Ein pechschwarzes Rinnsal floss aus Lumis' Nase, die wohl Blut sein sollte. „Was für eine Verschwendung“, murmelte er und entsicherte die Waffe. „Schade, Sie wären wirklich ein wertvolles Mitglied für unsere Organisation geworden.“ Der Schuss hallte laut durch die ganze Wohnung wieder und Kazan schloss in Gedanken mit seinem Leben ab. Das war es, dachte er und schloss die Augen. Jetzt war es zu spät. Er hatte noch so viel vor in seinem Leben, aber andererseits hatte er wenigstens nichts zu bereuen. Allerdings fand er es schade, dass er nicht mehr miterleben konnte, wie seine Söhne ins Berufsleben einstiegen, irgendwann mal heirateten und Enkelkinder durch die Wohnung huschten. Das war wirklich schade. Er bereitete sich auf seinen Tod vor, da fiel ein schweres Gewicht auf seine Brust und presste ihm die Luft aus der Lunge. Er schnappte nach Luft, riss die Augen weit auf und sah, dass Lumis auf ihn gefallen war. In seinem Kopf klaffte ein großes Loch. Schnell drückte er den Leichnam von seinem Körper runter und sah auf. Beyond stand in der Türschwelle mit seiner Pistole in der Hand. „Verdammt noch mal, Sie muten Ihrem Schutzengel auch viel zu viel zu.“ Der Serienmörder half ihm hoch und nahm die Glock aus Lumis’ Hand. Dann feuerte er noch mal einen Schuss in sein Herz ab und schien erst dann zufrieden zu sein. „Man kann ja nie wissen“, murmelte er und wies Kazan an, eine wasserdichte Plane zu holen und Reinigungsmittel. Leider fand sich keine Plane, sondern nur ein kaputtes Planschbecken zum Aufblasen, welches in einer Ecke vor sich hinmoderte, aber für Beyonds Ansprüche reichte das alle Male. Sie legten den Leichnam darauf und rollten ihn darin ein wie in einen Teppich. Da Beyond nicht in der Lage war, schwere Lasten zu heben, beseitigte er die Blutspuren vom Laminat und Kazan schleifte den Toten durch den Hausflur in den Kofferraum seines Wagens, den Janice gestern Abend von der Reparatur abgeholt hatte. Beyond hatte ihm aufgetragen, den Toten zum Schrottplatz zu bringen und dort zu verstecken. Das musste so sein, denn sonst wäre Kazans Leben genauso in Gefahr wie das seiner Familie. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei, einen Mord zu vertuschen, das war ja die Verhaltensweise eines Verbrechers und er war keiner. Er wusste im Moment selber nicht, warum er das tat aber er vertraute Beyond. Mi dieser Organisation war sicherlich nicht zu spaßen, wenn sie solch größenwahnsinnige Pläne verfolgte und einen Genozid einleiten wollte. Und wenn die erfuhren, dass einer von ihnen umgebracht worden war, könnte es äußerst gefährlich werden! Der Schrottplatz war im Moment verlassen und diese Chance nutzte Kazan, um das Tor zu passieren. Auf einem riesigen Berg an Altmetall standen ausgeschlachtete Autos oder welche von der Sorte, die einem Crash zum Opfer gefallen waren. Im Kofferraum eines alten Mitsubishis wurde er den Toten schnell los und wollte sich auf dem Rückweg machen, da stand ein Japaner im Anzug vor ihm. Kazan erkannte den Asiaten wieder. Mit diesem war er doch zu Anfang dieser verrückten Geschichte zusammengestoßen. Was suchte er hier? „Meine Güte, Sie haben aber ein paar interessante Leichen im Keller…“ Der Asiate mit dem brünetten Haar, welches sein linkes Auge verdeckte, verschränkte die Arme und lächelte freundlich. Trotz seines Anzuges, der normalerweise Ernst und Steifheit erscheinen ließ, wirkte er wie ein alter gutmütiger Freund. Sein Lächeln war so warmherzig, dass es selbst ein weinendes Kind auf der Stelle beruhigt hätte und auch sonst strahlte er eine unglaubliche Ruhe und Leichtherzigkeit, wenn nicht sogar ein wenig Sorglosigkeit aus. Trotzdem hatte er etwas sehr Autoritäres an sich. Auch wirkte er ein wenig verträumt und schien in einer ganz anderen Welt zu leben als dieser hier. Er trat näher und Kazan rührte sich nicht von der Stelle. Er wusste nicht, was er in so einem Falle jetzt tun sollte, da er dabei ertappt wurde, wie er eine Leiche versteckte. Wahrscheinlich aus einer Kurzschlussreaktion heraus zog er seine Glock und richtete sie auf den Asiaten. Dieser ließ sich aber davon nicht beeindrucken. „Wer sind Sie? Arbeiten Sie etwa für Dragonfly?“ „Oh nein mein Lieber und ich bin auch nicht hier, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen. Ich sah Sie nur, wie Sie den toten Lumis Curse versteckten und dachte mir, Sie könnten Hilfe gebrauchen.“ Misstrauisch sah er den Kerl mit dem herzlichen Lächeln an und machte sich bereit, jederzeit zu schießen, sollte dieser irgendwelche Faxen machen. Knapp einem Meter vor ihm blieb der Asiate stehen und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Sie sind sich vielleicht noch nicht ganz im Klaren darüber, in was für eine scheußliche Sache Sie da eigentlich hineingeraten sind. Dragonfly lässt niemandem am Leben, der zu viel weiß. Man wird Sie, Ihre Familie, Ihre Kollegen und Ihre Freunde töten und Ihre Identität auslöschen. Sie werden das letzte bisschen von Ihnen vernichten, selbst Erinnerungen an Sie. Alle in Ihrem Umfeld schweben in höchster Lebensgefahr und Sie selbst werden alleine nicht in der Lage sein, das zu verhindern.“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ Der Typ wollte irgendetwas Bestimmtes von Kazan und er traute dem Braten nicht. Diese warmherzige Freundlichkeit war nur eine Seite von diesem Kerl, das erkannte er sofort. Er besaß noch eine zweite Seite, die man nicht unterschätzen durfte. Eine geheimnisvolle Aura umgab ihn. „Wollen wir nicht an einem angenehmeren Ort weiterplaudern? Hier laufen Sie noch Gefahr aufzufliegen und das wäre in Ihrer Situation äußerst fatal. Gehen wir in Ihre Wohnung zurück, da sind wir ungestört.“ Kazan rührte sich jedoch nicht, sondern hielt weiterhin die Waffe auf ihn gerichtet. „Warum sollte ich Ihnen trauen?“ „Weil ich Ihnen helfen kann, Special Agent Steven Kazan. Dragonfly wird Sie jagen und ich kann dafür sorgen, dass Sie und Ihre Familie ihren Frieden haben. Ihnen steht es natürlich frei zu entscheiden ob Sie mich jetzt hier erschießen oder mir zuhören. Ich möchte nicht, dass Sie von Dragonfly ausgelöscht werden, so einfach ist die Sache.“ Kazan beschloss erst einmal, sich anzuhören was der Asiate sagte und ging mit ihm zusammen wieder zurück, wo Beyond bereits die Blutspuren und alle möglichen Fingerabdrücke beseitigt hatte. Wenn schon, dann ging er mehr als gründlich vor. Als er den Asiaten sah, stand ihm der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Kazan, was hat der Kerl hier verloren?“ „Er will uns helfen, mit Dragonfly fertig zu werden. Ich will mir erst einmal anhören was er sagt. Stimmt etwas nicht?“ „Irgendetwas stimmt mit seiner Lebenszeit nicht und er… er hat nicht einmal einen richtigen Namen.“ „Es gibt nun mal Dinge“, erklärte der Asiate und nahm auf dem Sofa Platz „die man nicht wirklich verstehen muss. Es gibt sie einfach und da bilde auch ich keine Ausnahme. Sie können mich ruhig Seimei Nokami nennen, so nennen mich viele in meiner alten Heimat. Also, ich beobachte Sie schon, seitdem Sie den Engelmordfall bearbeitet haben. Ich kenne Sie als einen pflichtbewussten, aber auch sehr moralischen Menschen, der sich für die Gerechtigkeit einsetzt. Auch wenn diese mit den Gesetzen in Konflikt gerät, was leider zu oft vorkommt. Sie setzen sich für die Opfer ein, treten den Toten mit beachtlichem Respekt gegenüber und Sie haben vorbildliche Ideale.“ Dass er beobachtet worden war, ging Kazan gewaltig gegen den Strich und am liebsten hätte er diesem Seimei oder wie auch immer der heißen mochte die Fresse poliert. Irgendwie kam er sich von allen Seiten nur beobachtet vor, wie eine Figur in einem Spiel, das er nicht spielen wollte. Der Asiate lächelte. „Jedenfalls sind Sie ein guter Mensch und das ist Grund genug für mich, Ihnen zur Hand zu gehen. Normalerweise verhalte ich mich neutral und mische mich nicht in die Angelegenheit anderer ein, weil so etwas nur Ärger mit sich bringt. Aber hier muss ich eine Ausnahme machen.“ „Und was versprechen Sie sich davon und was genau haben Sie mit uns vor?“ fragte Beyond misstrauisch und nahm ebenfalls seine Pistole auch wenn er sah, dass der Japaner unbewaffnet war. Diesem schien das vollkommen gleichgültig zu sein, wie viele Waffen auf ihn gerichtet waren. Er war die Ruhe selbst. „Sagen wir mal so: es ist ein Familienstreit, der eskaliert ist und zu diesem Dilemma geführt hat, in das so viele Menschen hineingezogen wurden. Der Gründer von Dragonfly ist ein Verwandter von mir und wir hatten ernsthafte Meinungsverschiedenheiten. Er glaubte, dass es nur Frieden und eine Zukunft für diese Welt geben würde, wenn die Menschheit ausgelöscht wird. Ich hingegen war der Ansicht, dass die Menschen zwar viele Fehler hatten, aber es welche unter ihnen gab, die so ein Schicksal nicht verdient hätten. Es kam also, dass sich zwei Gruppierungen bildeten, die seitdem einen Streit um das Schicksal dieser Welt ausfechten. Auf der einen Seite Dragonfly, die die Menschheit vernichten will, weil sie eine ernsthafte Bedrohung darstellen und auf der anderen Seite wir, die das Leben beschützen und das Schicksal nicht derartig beeinflussen wollen. Bedauerlicherweise wurden Sie da mit hineingezogen und ich möchte nicht, dass Sie das ausbaden müssen, was wir verzapft haben. Ich will Sie beide nicht für meine Seite gewinnen, ganz und gar nicht. Ich respektiere die Meinungsfreiheit und bin mit jeder Ihrer Entscheidungen einverstanden, aber ich kann nicht zulassen, dass man Sie und Ihre Familie in Gefahr bringt. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen, Kazan. Sie sind ein ehrlicher Mensch und deswegen werde ich Ihnen helfen, Ihre Familie zu retten und Dragonfly daran zu hindern, Ihnen etwas anzutun. Natürlich können Sie meine Hilfe auch ablehnen. Es ist ein völlig neutrales Angebot ohne irgendwelche Hintergedanken, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Persönlich etwas davon versprechen tu ich mir eigentlich nichts. Ich sehe es lediglich als meine Pflicht an, Dragonfly in die Schranken zu weisen.“ Das klang einleuchtend, aber trotzdem war Beyond misstrauisch und fragte nach. „Wer genau sind Sie?“ Hier aber warf Seimei ihnen einen geheimnisvollen und schwer zu deutenden Blick zu und erklärte „Das würden Sie mir sowieso nicht glauben, also belassen wir es einfach dabei, dass ich nur jemand bin, der helfen will.“ Dieser Kerl hatte etwas zu verbergen, aber es war nicht so wie bei Lumis und Cypher. Er wollte niemanden arglistig täuschen, sondern nur anonym bleiben, weil es ihm sonst zum Verhängnis werden könnte. Also gab sich Kazan damit zufrieden und akzeptierte Seimeis Angebot. Dieser schien froh darüber zu sein und nickte. „Gut, dann gebe ich Ihnen die Adresse, wo sich Ihre Familie zurzeit befindet. Ich werde mich mit Dragonfly in Kontakt setzen und dafür sorgen, dass Sie nicht mehr belästigt werden.“ „Wie wollen Sie das bewerkstelligen?“ fragte Beyond, der inzwischen genauso wie Kazan die Waffe wieder eingesteckt hatte, da von dem Japaner offensichtlich keinerlei Gefahr ausging. Dieser sah den Serienmörder mit seinem grasgrünen Auge an und sagte lediglich „Ich habe da so meine Mittel.“ Er erhob sich und verbeugte sich zur Verabschiedung. Er drückte Kazan aber noch einen Zettel in die Hand. „Sie sollten Ihren Partner mitnehmen. Er könnte Ihnen noch das Leben retten.“ Als der Mann ging, hatte Kazan das Gefühl, als hätte er eine Art Erscheinung gehabt. Dieser Seimei wirkte so unscheinbar harmlos und gleichzeitig so autoritär und mächtig wie ein Staatsmann. Nein, nicht wie ein Staatsmann… Er wirkte wie eine Art höheres Wesen und im ersten Augenblick hatte er gespürt, dass der Kerl nicht von dieser Welt, und doch gleichzeitig alles davon war. Man konnte schon fast von einer Art göttlichen Präsenz reden. Wer immer das auch war, diese zufällige Begegnung zu Anfang der Geschichte war kein Zufall gewesen. Es war ein geplantes Treffen und wozu das gut war, wusste Kazan nicht. Aber das war jetzt egal, er wollte die Sache zum Abschluss bringen und seine Familie vor diesem Irren retten, koste es was es wolle. Kapitel 10: Cypher ------------------ Es war kalt geworden in der Wohnung und Kazan hatte alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Er trug eine kugelsichere Weste und hatte neben seiner Glock auch noch eine Gasgranate und eine extra starke Taschenlampe dabei, um seinen Gegner zu blenden und ihn somit angreifbar zu machen. Beyond ging es weniger gut und er war ein wenig blass. Anscheinend kämpfte er mit dem Schmerz seiner Schussverletzung und seine Augen waren glasig. Aus einem kleinen Köfferchen holte er eine kleine Spritze und gab sich selbst eine Injektion. Er machte das wirklich professionell als hätte er das nicht zum ersten Mal gemacht. Hatte er nicht irgendwann mal erwähnt, dass er ein Medizinstudium absolviert hatte? Angeline war wieder aufgewacht und wäre gerne mitgekommen, aber die Beinverletzung war zu schwerwiegend. Sie wäre keine große Hilfe gewesen und so übernahm sie die Aufgabe, sofort das FBI zu informieren, wenn es zu Schwierigkeiten kam. Mehr konnte sie nicht tun und sie sah sehr besorgt aus. Als Beyond gerade dabei war, sich eine Schutzweste anzuziehen, nahm sie Kazan beiseite und hielt ihn am Arm fest. Irgendetwas schien ihr sehr auf der Seele zu lasten. „Kazan, bitte versprechen Sie mir, dass Sie auf Beyond aufpassen. Er mutet sich in der letzten Zeit viel zu viel zu und wenn nicht irgendjemand für ihn da ist, dann wird es ihn noch umbringen.“ Sie hatte Tränen in den Augen und schien wirklich Angst um Beyond zu haben. Wahrscheinlich war sie auch der einzige Mensch, der sich um ihn sorgte. „Beyond ist ganz alleine und gibt keinen Wert auf sein eigenes Leben. Er wäre schon hunderttausend Mal gestorben wenn ihn nicht irgendein Wunder gerettet hätte. Sein ganzes Leben war er allein und er braucht jetzt jemanden, der ihm zeigt, dass er jetzt jemandem an seiner Seite hat. Bitte, passen Sie auf ihn auf.“ Kazan gab Angeline das Versprechen und strich ihr über den Kopf. Sie war zwar 21 Jahre alt aber sie war auch eine Art Tochter für ihn und er fühlte sich ein Stück weit für sie verantwortlich. Er war es gewesen, der der Welt gezeigt hatte, was dem vergessenen Mädchen von damals angetan wurde und der verhindert hatte, dass es wieder in der Dunkelheit verschwand. Tröstend nahm er sie in den Arm und Angeline weinte wie vor drei Jahren. „Keine Sorge, ich werde nicht zulassen, dass einer von euch sterben muss.“ „Danke, Kazan. Sie tun so viel für uns… wie kann ich das nur wieder gutmachen?“ „Töte niemals wieder einen Menschen, nie wieder. Ich möchte, dass du deinen Weg in ein normales Leben findest. Mehr nicht.“ Die Punkerin erwiderte Kazans Umarmung und weinte. Was musste passieren, damit solche Menschen endlich in Frieden leben konnten? Mussten sie wirklich alle ausgelöscht werden, damit die Welt ins Gleichgewicht kam? Gab es denn wirklich keine andere Lösung? Kazan wollte das nicht glauben geschweige denn akzeptieren. Als Beyonds Schritte näher kamen, lösten sie ihre Umarmung und mit einem Taschentuch wischte Angeline sich die Tränen aus dem Gesicht. Stirnrunzelnd fragte er „Hab ich irgendetwas verpasst?“ „Nein, alles in Ordnung. Wir sollten jetzt gehen.“ Kazan hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache und machte sich ernsthaft Sorgen um Janice und seine beiden Söhne. Was war, wenn dieser Mistkerl sie bereits getötet hatte oder sie einer grausamen Folter unterzog? Wenn dem so war, dann könnte er sich das niemals verzeihen. Die Adresse, die er von diesem seltsamen Kerl Seimei Nokami hatte, führte sie beide in ein ziemlich heruntergekommenes Viertel zu einer Straße, die man geräumt hatte, da demnächst alles eingeebnet wurde für ein neues Bürogebäude. Der perfekte Ort für eine letzte Konfrontation. Entweder würde Kazan sterben, oder es würde auf Cypher hinauslaufen. Der Wind wurde stärkrer und das Wetter war staubtrocken und kalt. Der 41-jährige Special Agent zog seinen Mantel fester zu und drehte sich zu seinem Begleiter um, der ein wenig langsam war. Die Verletzung schien wohl schlimmer zu sein als gedacht, doch das Angebot, nach Hause zu gehen, lehnte er ab. „Ich hab meinen Stolz, gewöhnen Sie sich besser daran.“ Sie standen nun vor dem Haus, in dem sich Kazans Familie befinden sollte. Der Plan sah vor, dass der FBI Agent sich um Cypher kümmern würde, während Beyond nach Janice, Curtis und Ryan suchen würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass er von Beyond und Angeline wusste, war ziemlich groß, aber mit einer ganzen Einheit würde Kazan mehr Schaden anrichten, als wenn er so wenige Leute wie möglich mitnehmen würde. Zwar war der Serienkiller angeschlagen, aber wenn er zur Hochform auflief, dann konnte er schon zu einer ernsthaften Bedrohung werden und sich dementsprechend zur Wehr setzen. Kazan blieb im Moment keine Wahl. Er konnte keine offizielle Unterstützung erwarten. Die Regierung hatte den Schwanz eingezogen und kuschte vor Dragonfly und damit waren Sadie die Hände gebunden. Nein, er musste es ohne das FBI schaffen. Auch wenn das, was er jetzt gerade tat, gegen das Gesetz verstieß. Die Fenster des Hauses waren mit Brettern vernagelt und die Tür war aus den Angeln gerissen worden. Es sah schon zu einladend aus und Kazan wählte diesen Eingang, während Beyond sich nach einem anderen umsah. Der FBI Agent achtete auf jedes einzelne Geräusch, auf alles was verdächtig sein könnte. Aber viel gab es nicht. An die nackten Wände waren Handabdrücke und Symbole geschrieben worden, mit eingetrocknetem Blut. Auf dem Boden lagen überall Bretter oder Gipsbrocken und die Fassade erinnerte ihn an das Haus in dem Film „Blair Witch Project“ in dem die letzten beiden Studenten niedergeschlagen wurden und für immer verschwanden. Hier war es aber keine Hexe oder ein Kindermörder. „Kommen Sie doch näher, mein lieber Kazan. Ich habe auf Sie gewartet.“ Die Stimme kam aus Lautsprechern, die an den Wänden installiert worden waren. Wirklich eindrucksvoll, das musste Kazan zugeben. „Es hat uns wirklich eine große Freude bereitet, mit Ihnen dieses Spiel hier zu spielen aber wie alles, was einen Anfang hat, muss es auch irgendwann mal ein Ende haben, finden Sie nicht auch?“ „Wo hast du meine Familie versteckt?“ „Sie sind sicher, noch sicher versteht sich.“ Ein unheimliches Lachen tönte durch die Lautsprecher und hallte in den Wänden wieder, was das Ganze noch schauerlicher machte. „Dass Lumis die Sache vergeigen würde, war mir schon von Anfang an klar gewesen. Er ist doch viel zu vertrauensselig gewesen und Sie haben mir einen großen Gefallen getan, ihn zu beseitigen. Er ist schon der dritte Fehlschlag!“ „Der dritte?“ „Na klar, ich bin der älteste Zwilling. Den ersten habe ich das Licht ausgeblasen, weil er mir auf die Nerven gegangen ist. Der zweite starb bei einem Einsatz und Lumis hatte einfach nicht das richtige Kaliber.“ Cyphers eiskaltes Lachen war unheimlich und Kazan ahnte, dass ihm noch Schlimmes bevorstand. Dieser Typ hier war das Grauen in Person. „Dann hast du die Leichen in den Keller verfrachtet?“ „Irgendwo musste ich diesen menschlichen Abfall verstecken und Lumis hat alles getan, was ich gesagt habe. Ein wirklich braves Brüderchen. Bedauerlicherweise ist es Dragonfly nicht gelungen, den perfekten Zwilling für mich zu erschaffen. Kann sein, dass ich zu hohe Ansprüche habe… Lumis war immerhin der beste Kandidat, aber er war viel zu ruhig…“ Dann gehörten diese Tranquilizer also Cypher. Verdammt, wo war der Kerl nur? Wenn er ihn aus dem Hinterhalt angriff, dann konnte Kazan einpacken. Im Gegensatz zu Lumis würde er ganz sicher nicht nur quatschen wollen, der Kerl wollte Blut sehen! Die einzige Chance, die er hatte war, Cyphers richtige Stimme herauszuhören. Vorsichtig ging er in eines der Zimmer, wurde aber enttäuscht und redete somit weiter. „Warum das alles, Cypher?“ „Die bei Dragonfly wollen das Gemini Projekt einstellen und wenn ich weiterleben will, muss ein Erfolg her. Also habe ich die Idee mit dem Parasiten entwickelt und schlich mich ins Krankenhaus ein, wo ich die Opfern über Hautkontakt mit den Sporen infiziert habe. Die Sporen waren in einer Flüssigkeit enthalten, die mit dem Desinfektionsmittel ausgetauscht wurde. Zu Anfang sollten einfache Testphasen anlaufen, allerdings haben wir ziemlich viele Rückschläge erlitten, indem der Parasit zu früh aus dem Körper ausbrach. Es hat mindestens 80 Versuche erfordert, bis ich den Parasiten so umfunktionieren konnte, dass er den Wirt zwang, sich nach dem vermeintlichen Amoklauf selbst zu zerstören. Solange der Parasit noch nicht ganz ausgereift war, musste es nach normalen Amokläufen aussehen und keiner würde auf dumme Gedanken kommen. Dann aber kamen Sie ins Spiel, Kazan.“ „Und warum habt ihr den Plan geändert?“ Kazan ging auf den schmalen Balkon, da gab plötzlich der Boden nach und hätte er nicht geistesgegenwärtig reagiert und sich an dem rostigen Geländer festgehalten, hätte es böse Folgen gehabt. Mit aller Kraft zog er sich hoch und blieb kurz keuchend liegen. „Machen Sie nicht schlapp, Agent Kazan. Es wird langsam wärmer. Nun, es war die Idee von Lumis und da es für uns sonst nichts Besseres zu tun gab, haben wir uns dieses Spiel ausgedacht. Es war sehr amüsant aber jetzt beginnt es mich zu langweilen.“ Für Cypher war das alles bloß ein Spiel? Wie krank war der bloß im Kopf? Aber er erinnerte sich, dass die beiden die ersten künstlichen Menschen waren und da war auch nicht zu erwarten, dass sie menschlich waren, in vielerlei Hinsicht versteht sich. Und sicherlich existierte Cypher nur um zu töten und um darum hatte man ihn zur Killermaschine herangezüchtet. Was für kranke Leute das doch waren, die so etwas machten. Kazan ging in den Flur raus und schaute zum Fenster raus. Erst runter, dann nach oben und konnte kurz eine Gestalt sehen, die auf ihn herabschaute und sofort wieder verschwand. Schnell eilte der FBI Agent die Treppe hoch und sah am Treppengeländer eine Gestalt, die weiter nach oben eilte. Zwei Stockwerke trennten sie voneinander. „Stehen bleiben“, rief er und versuchte einen Zahn zuzulegen, aber das war nicht mehr so einfach. Treppenlaufen war noch nie sein Ding gewesen und das hier war ein Haus mit ungefähr zwölf Stockwerken. Den Fahrstuhl konnte er vergessen. Ohne Strom ging hier gar nichts. Irgendwann blieb er keuchend stehen und ging langsamer weiter. Dann aber versperrte etwas ihm den Weg und er sah einen blutüberströmten Körper auf dem Boden liegen. Es war die Leiche von der Sprechstundenhilfe, die in der Praxis von Dr. Crimson gearbeitet hatte. Man hatte ihr die Augen ausgestochen, die Lider entfernt und die Kehle durchgeschnitten. Überall hatte sie tiefe Schnittwunden. Etwas weiter von ihr lag ihre Zunge. Etwas weiter oben lag der Arzt und sah noch schlimmer aus. Überall lagen seine Organe verstreut, als wäre etwas in seinem Bauch explodiert. Kazan wurde speiübel und er blieb stehen. „Na? Wie gefällt Ihnen mein kleines Kunstwerk? Ich habe mir auch sehr viel Mühe gegeben. Lumis mag ja zu Stift und Papier gegriffen haben, aber ich bevorzuge da eher richtige Handarbeit.“ Es kostete Kazan viel Überwindung, über die beiden Toten zu klettern und beinahe rutschte er auf einer riesigen Blutpfütze aus. Als er ans Geländer griff um sich besser festhalten zu können, wäre ihm beinahe das Herz stehen geblieben als er sah, dass dort ein großes Stück Menschenhaut hing wie ein Tuch auf der Wäscheleine, damit es besser trocknen konnte. Innerlich betete der FBI Agent zu Gott, dass Janice und seinen beiden Jungs so etwas erspart blieb und ging weiter. Langsam, Schritt für Schritt. „Sie kommen immer näher, mein lieber Kazan. Nur nicht aufgeben, bald haben Sie es geschafft. Kazan begann die einzelnen Wohnungen zu durchsuchen, fand aber nichts. Wo zum Teufel hatte sich Cypher versteckt? Plötzlich klingelte sein Handy und auf dem Display sah er, dass es Beyond war. Eine SMS war eingegangen in welcher stand „Die Sonne scheint gerade.“ Aus Sorge, dass Cypher vielleicht die Handys ausspionieren könnte, hatten sie Codes vereinbart, um sicherzugehen. Sonnenschein bedeutete, dass Beyond Kazans Familie in Sicherheit bringen konnte. Ein Unwetter hieß, dass Cypher Verstärkung angefordert hatte und es Probleme gab. Regen stand für den Fall, dass sie zu spät waren und die Entführten bereits tot waren. Und Sonnenschein stand für Entwarnung. Erleichtert atmete Kazan auf und hätte am liebsten laut losgeschrieen vor Glück. Janice, Curtis und Ryan waren in Sicherheit und sie waren wohlauf! Aber noch war die Gefahr nicht vorüber, denn solange Cypher noch auf freiem Fuß war, war niemand vor ihm sicher. Er musste diesen Mistkerl finden und ihn dingfest machen. Wer weiß, wie viele Menschen sonst noch seinetwegen sterben mussten. Und wenn alle Stricke rissen, würde er ihn umbringen. Hauptsache, dem Kerl wurde endlich das Handwerk gelegt! Gerade wollte er weiter nach oben gehen, da packte ihn jemand von hinten und zerrte ihn zurück. Wenig später explodierte das obere Stockwerk mit einem ohrenbetäubenden Knall und der FBI Agent flüchtete wieder nach unten. Anscheinend hatte Cypher einen weiteren Infizierten hierher geschickt und Kazan war ihm blindlings gefolgt. Das hätte echt ins Auge gehen können, wenn er nicht rechtzeitig gerettet worden wäre. Als er umdrehte sah er Beyond, der in einem Affenzahn hier raufgeeilt war. Er schnappte nach Luft und taumelte nach hinten, als würde er gleich kollabieren. „Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank, einfach so raufzurennen ohne nachzudenken.“ „Woher wussten Sie, dass ich hier oben bin?“ „Dieser Asiate war da und hat gesagt, ich solle mich beeilen hierherzukommen. Dann ist er wieder verschwunden und hat versprochen, sich um Ihre Familie zu kümmern.“ Seltsam, der Kerl schien mehr zu wissen, als er preisgeben wollte. Wusste er etwa, was passieren würde? Irgendwie schien Kazan in etwas hineingeraten zu sein, das über seine normalen Vorstellungskräfte weit hinausging. War er hier bei „Akte X“, oder in irgendeinem Science Fiction Film? „Wo steckst du Cypher?“ rief Kazan und warf wütend einen Betonbrocken die Treppe runter. „Komm raus und kämpfe wie ein Mann!!!“ Doch zur Antwort kam nur ein Lachen, das nochgehässiger und schadenfreudiger war als sonst. „Haben Sie keine Lust auf ein Spielchen? Schade, denn ich spiele sehr gerne Spiele. Das hier ist ein Versteckspiel. Wenn Sie mich finden, haben Sie gewonnen. Wenn ich Sie finde, dann sterben Sie. Ein Spiel auf Leben und Tod, so muss das sein.“ „Was für ein krankes Hirn du doch bist“, knurrte er hinter zusammengepressten Zähnen hervor und ballte seine Hände zu Fäusten. „Du bist ein erbärmlicher Feigling, weiter nichts. Wenn deine Opfer wehrlos sind, ja dann gehst du zur Sache, aber wenn jemand es mit dir aufnehmen will, verpisst du dich nur. Kein Wunder, dass Dragonfly euer Projekt einstellen will. Du bist ein Waschlappen, weiter nichts.“ Kazans Taktik war es, Cypher immer mehr zu provozieren und ihn somit aus der Reserve zu locken. Natürlich war damit das Risiko erheblich größer, dass Cypher durchdrehen würde und damit völlig unberechenbar war. Aber Kazan blieben nicht viele Alternativen, um ihn zu finden. „Sie halten mich also für feige? Pah! Für Sie gibt es anscheinend nur Leben oder Sterben, aber mir geht es viel eher darum, davor noch genug Spaß zu haben. Einfach nur töten ist doch langweilig!“ Beyond deutete auf eine Wohnung, die noch eine Tür hatte und wies Kazan an, diese zu öffnen. Sie war verschlossen. Erst nach mehreren Versuchen konnten sie die Tür eintreten. Ein widerlicher Geruch schlug ihnen entgegen, der sich als der gleiche Gestank entpuppte, der auch im Haus von Lumis herrschte. Dann musste hier also Cypher leben. Vorsichtig schob sich Kazan um die Ecke, die Waffe schussbereit und dicht hinter ihm Beyond. Von irgendwo her hörte er eindeutig eine Stimme, die verdächtig nach Cypher klang. Er sang irgendetwas… „…über deinem kleinen Bettchen Schaukeln Sonne Mond und Sterne Seine Hand die große schwere Quetscht dir deine dir entzwei Und sein Mund der große dunkle Summt ein schönes Lied dabei Kindlein lass dich küssen Kindlein gute Nacht Wirst nun schlafen müssen Hast genug gewacht Schließ zu die goldenen Äuglein Schlaf ein, schlaf ein, schlaf ein Du liebes Kindelein…“ Es klang wie eine Art Schlaflied und klang gleichzeitig so schaurig und auf eine gewissen Art und Weise pervers, dass Kazan sich der Magen umdrehte. So ein Lied passte zu einem Psychopathen wie Cypher. Während sie in die Wohnung schlichen, fiel ihnen auf, dass alles hier tapeziert und hübsch eingerichtet war, Es gab hier sogar Strom. Die Jalousien waren heruntergelassen, sodass kein Tageslicht hereindrang. Die Luft war abgestanden und stickig. Gerade wollte er das erste Zimmer durchsuchen, da gingen alle Lichter aus. Nur die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die kleinen Ritzen der Jalousien drangen, spendeten ein wenig Licht. Es wurde mit einem Male mucksmäuschenstill. Sie beide rührten sich nicht, achteten auf jedes Geräusch, das vielleicht Cyphers Position verraten könnte. Sie wagten es nicht etwas zu sagen, geschweige denn laut zu atmen. Dann aber durchfuhr ein brennender Schmerz Kazans Hand und er ließ die Glock fallen. Beyond reagierte sofort und warf sich auf den Angreifer und konnte ihn zu Boden ringen. „Schalten Sie das Licht ein!“ Hastig eilte Kazan dorthin wo er glaubte, einen Lichtschalter gesehen zu haben und tatsächlich wurde es schnell wieder hell. Seine Hand war mit einem Messer oder Skalpell verletzt worden und die Wunde blutete stark. Beyond und Cypher kämpften erbittert gegeneinander und schenkten sich wirklich nichts. Der Serienmörder trat dem Zwilling unter die Gürtellinie und konnte sich somit befreien. Er versuchte die Glock zu erreichen, da rammte dieser ihm ein Skalpell in den Handrücken und nagelte seine Hand damit am Boden fest. Mit einem weiteren Messer wollte Cypher ihn angreifen, doch Beyond konnte das Skalpell herausziehen und versuchte Cypher die Stirn zu bieten. Dieser hatte jedoch die Glock erreicht, richtete sie auf seinen Angreifer und feuerte einen Schuss ab. In Beyond Birthdays Kopf bohrte sich ein blutiges Loch. Irgendetwas in Kazan schien sich in dem Moment auszuschalten, als er seinen Retter regungslos daliegen sah, mit einer Schussverletzung im Kopf. Er sah nur noch rot und stürzte sich auf Cypher. Trotz des Schmerzes in seiner verletzten Hand schlug er mit Fäusten auf ihn ein und schnappte sich das Skalpell. „Na los doch“, sagte Cypher provozierend. „Tu es doch und töte mich. Damit beweist du, dass du das Zeug dazu hast, ein Menschentöter zu sein.“ „Du bist kein Mensch, du bist ein Monster!“ Kazan drehte ihm die Glock aus der Hand und drückte ihn den Lauf auf die Stirn doch es machte nur Klick. Es war das schlimmste Geräusch für jemanden, der um das nackte Überleben kämpfte und seine einzige Hoffnung auf einer Waffe ruhte. Die Glock hatte sich verklemmt und hatte nun Ladehemmungen. Kazan wusste, wie man das ganz schnell wieder in Ordnung bringen konnte, da er jahrelang den richtigen Waffengebrauch gelernt hatte. Er konnte ein Maschinengewehr blind auseinander und wieder zusammenbauen, doch in Momenten wie diesen hatte man leider nicht die Ruhe dafür. Noch einmal sah er zu Beyond und nahm alle verbliebenen Kraftreserven zusammen. Mit der blockierten Glock schlug er Cypher ins Gesicht und eilte zu Beyond, um dessen Waffe zu nehmen. Doch bevor er zielen konnte, stürzte sich der Zwilling auf ihn und stach mit dem Skalpell auf ihn ein. Nur mit Mühe gelang es Kazan schließlich, drei Schüsse abzufeuern, die dieses Monster endlich zur Strecke brachten. Epilog: Name ------------ Kazan hatte unglaubliches Glück gehabt. Er kam mit tiefen, aber nicht lebensgefährlichen Verletzungen davon und wachte in einem Krankenhausbett auf, da er das Bewusstsein verloren hatte. Erinnerungen an die letzten Momente vor seiner Ohnmacht hatte er nicht und man erzählte ihm, dass ein Japaner den Notarzt verständigt und erste Hilfe geleistet hatte. Dieser war aber kurz nach dem Eintreffen des Krankenwagens und der Polizei verschwunden, ebenso wie der Leichnam von Cypher Curse. Beyond Birthday wurde stundenlang operiert und überlebte den Kopfschuss nur sehr knapp. Dreieinhalb Wochen lag er im Koma und konnte danach eine ganze Zeit nicht mehr richtig laufen, weswegen er im Rollstuhl saß. Die erste Zeit war schwer gewesen, aber er hatte Angeline an seiner Seite, die sich liebevoll um ihn kümmerte. Sie übernahm sozusagen die Pflege und hatte sich auch ziemlich schnell von ihrer eigenen Verletzung erholt. Ihr war die Erleichterung, dass Beyond am Leben war, deutlich anzusehen und auch Kazan war froh darüber. Der Amok-Fall wurde (wie schon von Sadie James angekündigt) einfach zu den Akten gelegt. Warum Kazan in einem verlassenen Haus niedergestochen wurde, hinterfragte sie nicht. Sie schien aber zu ahnen, dass er den Fall inoffiziell zum Abschluss gebracht hatte und das war auch für sie ein Grund, gute Laune zu haben. Wenigstens konnte sie mit der guten Gewissheit in ihren wohl verdienten Urlaub gehen, dass sie trotz Einstellung des Falles nicht mehr von rätselhaften Amokläufen in der Zeitung lesen musste. Kazan hatte ähnliche Pläne. Da er eine Zeit lang krank geschrieben war, buchte er einen Flug nach Deutschland, wo Janice schon immer hin wollte. Es sollte eine Reise durch die größten Städte werden und selbst seine beiden Söhne waren begeistert. Ein paar Tage vor der Abreise kamen schließlich Beyond Birthday und Angeline Heaven zu Besuch. Obwohl Janice so ihre Vorurteile gegenüber Verbrechern (und insbesondere gegenüber Mördern) hatte, empfing sie die beiden recht herzlich. Immerhin hatten beide ihr Leben riskiert, um ihrem Mann zu helfen und Beyond hatte ihm immerhin das Leben gerettet. Dieser saß nach wie vor noch im Rollstuhl, nahm das aber mit Humor. „Wie lange müssen Sie noch im Rollstuhl sitzen?“ „Ich bin schon auf dem besten Weg“ erklärte er stolz und nahm dankend ein Glas Marmelade entgegen. Er konnte bereits seine Beine bewegen, allerdings noch nicht richtig laufen, doch der Arzt hatte ihm versichert, dass er bald wieder richtig laufen könne. Angeline ging in ihrer Rolle als „Pflegerin“ richtig auf und hatte mal wieder an ihrem Styling gewerkelt. Sie hatte nun dunkelrotes Haar, schwarzes Make-up sodass sie etwas Hexenartiges an sich hatte und hatte sich auf dem Rücken Engelsflügel tätowieren lassen. Auch sonst hatte sie einen neuen Haarschnitt und sah aus wie eine Mischung aus Gothic-Hexe und Kickboxerin. „Wir haben echt Glück, wenn man das Gesamtpaket betrachtet“, sagte sie schließlich und kaute auf einem Kaugummi herum. „Wir haben die Dreckskerle, die für die Amokläufe verantwortlich sind, in die Hölle geschickt, wir leben noch und unser unbekannter japanischer Freund hat mit seinem entwickelten Impfstoff eine Seuche verhindert.“ „Aber leider ist damit die Sache noch nicht vom Tisch“, entgegnete Kazan ernst. „Wer weiß, welche Projekte Dragonfly noch am Laufen hat und mit welchen Waffen sie als nächstes zuschlagen werden. Solange die noch da sind, wird es niemals Frieden geben.“ „Es wird niemals Frieden geben“, widersprach nun Beyond und löffelte gierig den letzten Rest aus dem Marmeladenglas und begann auf dem Silberlöffel herumzukauen. „Solange es Frieden gibt, wird es auch Zeiten des Krieges geben, das hat mir dieser Seimei gesagt. Alles folgt einem bestimmten Gleichgewicht, auch wenn wir glauben, dass das Negative das Gute überwiegt. Ein uralter Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung, Leben und Tod.“ Damit hatte er wohl Recht, da musste jeder zustimmen. Ohne das eine konnte es das andere nicht geben. Trotzdem war es kein Grund für Kazan, jetzt einfach aufzuhören. Er glaubte ebenfalls nicht an eine friedliche perfekte Welt, ein so genanntes Utopia. Aber er glaubte daran, dass er Menschen helfen konnte und das genügte schon. „Ich frage mich“, sagte seine Frau schließlich „wer dieser Japaner war. Er ist wie eine Erscheinung gewesen und so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Ohne ihn wären wir vielleicht tot und der Parasit würde sich noch weiter ausbreiten.“ „Tja, das werden wir wohl nie erfahren“, murmelte er etwas nachdenklich. „Aber er hat mir gezeigt, dass es doch so etwas wie einen Gott gibt, der uns für unsere guten Taten belohnt.“ „Was hat der Kerl mit Gott zu tun?“ „Keine Ahnung, aber er wirkt irgendwie auf mich, als wäre er nicht von dieser Welt aber gleichzeitig das Ganze. Klingt verrückt, ich weiß.“ „Ganz und gar nicht“, meinte Beyond schließlich und legte den Löffel beiseite. „Auch ich finde, dass er irgendeine seltsame Aura hat. Obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, beschlich mich irgendwie das Gefühl, als hätte er mich ein Leben lang von Geburt an begleitet. Wie er schon gesagt hat: Manchmal gibt es Dinge, die man nicht verstehen muss. Aber sein Name, der ist interessant.“ Mit einem Filzstift schrieb er den Namen des Japaners auf ein Blatt Papier. In romanischer Schrift und in japanischer. Das Ergebnis war, dass er die Antwort auf die Frage bekam, die ihn wegen Seimeis wahrer Identität beschäftigt hatte. Und als er die Antwort in Händen hielt, musste er lachen. „Was für seltsame Zufälle es doch in dieser Welt gibt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)