Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 29: Der Letzte macht das Licht aus ------------------------------------------ Rea Garvey fühlte sich mehr als schuldig. Die vergangenen Tage über war er hin- und hergerissen gewesen zwischen dem dringenden Bedürfnis, auf jeden Fall das Richtige zu tun, und der Angst vor dem, was passieren würde, wenn er sich nicht an die Regeln hielt. Er hatte sich wirklich bemüht, hatte durchgesetzt, dass man sie nicht allzu schlecht behandelte – die beiden Männer, die er, notgedrungen, an Fiacail Fhola verraten hatte. Und nun … »Ihr verdammte Hunde!«, knurrte er. »Ihr habt euch nicht an die Regeln gehalten!« »Du vergisst, wir machen die Regeln, a chara«, antwortete der massive Vampir namens Conall Cernach, der ihn ohne Mühe am Kragen seiner Jacke gepackt hielt. »In der Hinsicht haben wir genau das gemacht, was wir besprochen hatten, nach ea? Aber richtig: Du hast deinen Teil erfüllt, jetzt erfüllen wir auch unseren. Céard faoi sin? Sorg dafür, dass Fírinne das Land verlassen. Bis zum Morgengrauen will Paul keine irischen Geheimdienst-Vampire mehr in Deutschland riechen, keinen einzigen verdammten Fangzahn. Dafür wird deine Tochter schon bei dir zu Hause sein, wenn du nach getaner Arbeit dort ankommst. Was meinst du?« In Garveys Brust gab es einen kurzen, schmerzhaften Stich wie von einer Nadel. »A Chonaill … Die Präsidentin ist totally entschlossen, die MIU zu finden und sie beizustehen … wie damals. Das kann ich sie nicht ausreden …« Er hustete, als der Zug um seine Kehle enger wurde. »Hat McAleese denn nicht genug in ihrem eigenen Land zu tun? Etwa den Wahlkampf zu gewinnen?«, gab Conall Cernach übellaunig zurück. »Hhnnnngh … Ihr wisst genau, dass sie diese Wahl nicht gewinnen wird … Michael D. Higgins wird der Rennen machen … Mary hat ihn schon … nnngh … erklärt, was Fírinne betrifft …« Garvey zappelte, versuchte, die eiserne Pranke um seinen Hals ein wenig zu lösen. Es nützte nichts. »Und das soll ich dir glauben? Mit Verlaub, ich habe keine guten Erfahrungen mit der irischen Regierung gemacht, a Réamainn. Vor allem eure Vampirpolitik kotzt mich an, gelinde gesagt. Besonders kotzt sie allerdings Paul an. Ich empfehle der Präsidentin wärmstens, sämtliche irischen Ärsche, die ihr unterstehen, aus der Bundesrepublik ausfliegen zu lassen, ihren eigenen inklusive.« Mit diesen Worten ließ er Garvey endlich los. Der Sänger wich instinktiv vor dem Koloss zurück und rieb sich den Hals. »Ich werde tun, was ich kann«, krächzte er. »Aber erst haltet die Deal ein und gebt mir meine Tochter zurück!« »Natürlich. Und die Präsidentin?« »Cuirfidh mé scéala chuici.« Conall Cernachs raues Lachen folgte Garvey, als er die Elbe entlang floh. Manchmal war es ratsam, die Füße still zu halten, bis alles im Lot war – aber keinesfalls länger. Er würde der MIU helfen und wiedergutmachen, was er seinem alten Bekannten Micha notgedrungen hatte antun müssen. Vorher aber musste er Fío ihr Druckmittel entreißen. Endlich war die Flucht vorüber. Frais’ Schergen waren außer Reichweite, und die drei Männer der MIU, noch immer begleitet von Ríona Rua, konnten ihre Energie aus den Muskeln zurück ins Hirn leiten – um einen Weg zu suchen, das Labyrinth aus Kanälen zu verlassen. Im Moment gab es keine Regieanweisungen über die Sender, daher waren sie auf sich allein gestellt. Ríona indes versuchte, ihnen zu gefallen – weil sie genau wusste, wie wenig sie in ihrem erbärmlichen Zustand gegen die erfahrenen Vampirjäger würde ausrichten können. Nun hatte sie mit ihren feinen Sinnen die Führung übernommen und zielstrebig einen Weg eingeschlagen – einen Weg, der die vier an ein Ziel führte, das wohl vor allem Ríona vor Augen gehabt hatte. Denn sie hatte Hunger. Ingo, Sebastian und Marco wandten höflich den Blick ab, als die rothaarige Vampirin ihre Zähne in den Hals des überraschten Kanalisationsarbeiters rammte. Der Mann wurde augenblicklich schlapp wie ein Lappen und grinste dämlich, während sein Blut in Ríonas Kehle gluckerte. »Bist du sicher, dass wir ihr vertrauen können?«, wandte Flex sich zum wiederholten Male raunend an Ingo Hampf. »Wann hab ich was von Vertrauen gesagt?«, murrte dieser zurück. »Das Ding war hungrig – in so ’nem Zustand versprechen die Biester einem doch alles. Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, ich bin allerdings nicht sicher.« »Hätte ja ooch ma wat jut jehen können«, sagte Van Lange missmutig. »Dumm ist, dass Boris uns offenbar nicht orten kann … Die Wände schirmen wohl das Signal ab.« Flex deutete vage auf die Steinwände, die sie umgaben. Nach langer Zeit des Umherirrens war der Tunnel als Ausläufer des Vampirverstecks in einen unterirdischen Kanal übergegangen, der wiederum in die Kanalisation gemündet hatte. Hier unten war es alles andere als gemütlich, aber immerhin ungefährlich. Ríona Rua – offensichtlich eine Bekannte von Fritz während seiner Gefangenschaft – hatte, ausgehungert wie sie war, ihre Hilfe angeboten und ihnen den Weg gezeigt. Als Beweis dafür, dass man ihr vertrauen konnte, hatte sie keinen der Männer anzufallen versucht. Der zweite Vampir, der außerdem bei Frais’ Einsatz des Schreis einfach davon geweht worden war, hatte sich sofort aus dem Staub gemacht, mehr auf allen Vieren denn aufrecht, als hätte er eingesehen, dass keine Beute zu machen war. Er würde schon wissen, wo er sich etwas zu essen beschaffen konnte. Während die drei menschlichen MIU-Mitarbeiter beiseite starrten und den unirdischen Wellenbewegungen zusahen, welche von der Laterne des Kanalisationsarbeiters an die röhrenförmigen Steinwände gespiegelt wurden, beendete die Vampirin ihre Mahlzeit und sah dann schüchtern zu den Männern auf. »Eure Vampire spielen nicht mit der wehrlosen Beute, wenn sie fertig sind, oder …?«, erkundigte sie sich vorsichtig. »Nein«, antwortete Ingo betont. »Wenn unsere Vampire fremde Menschen beißen müssen, dann bleiben sie danach bei der Beu– … bei dem Opfer und schützen es, solange das Gift wirkt. Danach lassen sie es gehen. Sie spielen nicht damit. Sie sind freundlich zu der Beu– … zu dem Opfer und behandeln es respektvoll. Klar?« Ríona wirkte enttäuscht. »Ceart go leor«, murmelte sie einsichtig und schob den gebissenen Mann so zurecht, wie sie es wohl für bequem hielt, um sich dann gelangweilt neben ihn zu setzen. Eine unangenehme Stille schloss sich an. Rundherum plätscherte und tropfte es. Kleine pelzige Gestalten huschten über Rohre und feuchten Stein. »Ríona«, begann Marco schließlich, »wohin verlegt ihr gerade euer Versteck?« Die Vampirin erwiderte seinen Blick ratlos. »Ich weiß es nicht. Die letzten Tage, in denen sie damit angefangen haben, war ich schon eingesperrt für mein Versagen. Es gab schon länger den Plan, wieder umzuziehen, aber Paul wusste noch nicht wohin …« »Weißt du wenigstens, wo Michael und Eric sind?«, bohrte Ingo. »Oder wo Frais Fritz hinschleppen wird?« »Sie sind ganz bestimmt nicht mehr dort, wo sie waren, als ich es noch wusste. Ich weiß, dass er an Éiric mit dem amhrán experimentieren will –« »Mit dem was, verdammt?« »Mit dem Lied!«, beeilte sich Ríona. »Ní maith liom é, es ist so düster und böse. Er wird daran arbeiten … so lange, bis es bei allen Menschen wirkt.« »Und wieso gerade Eric?« Ingo fixierte sie weiterhin argwöhnisch. »Níl a fhios agam! Du musst mir glauben! Ich verstehe nichts von na rudaí seo, ich habe damit nichts a dhéanamh!« Ingo schien endlich zu kapieren, dass die Vampirin nur noch mehr Gälisch sprach, je aufgeregter sie wurde, und hörte auf, sie anzustarren. Ihr Blick dagegen haftete weiterhin am Pflock an seiner Seite. Sie hatte gesehen, wie präzise er damit umging. »Na schön, na schön«, presste er mühsam hervor. »Und was ist mit Michael?« »Mícheál wird inzwischen tot sein«, gab sie sofort zu, »das war jedenfalls der Plan. Er wollte nicht reden, auch unter Krämpfen nicht. Tá sé marbh anois, tá mé cinnte.« »Oh, Scheiße«, stöhnte Basti. Er kniff die Augen zusammen und rieb sich die Stirn, wobei er kummervoll sagte: »Aushungern, dit haick befürchtet … Armer Micha …« »Immer langsam«, verwies Ingo ihn prompt. »Wenn Eff Eff umgezogen sind, haben sie ihn und Eric wahrscheinlich mitgenommen. Noch ist nicht aller Tage Abend. He, Vampirin – was könnte Fritz für Frais interessant machen?« »Das gleiche wie Mícheál … dass er ein Vampir ist, den Lámh Dé nicht als einen erkennt.« Die Männer tauschten einen verblüfften Blick. Niemand wies Ríona darauf hin, dass Fritz gar kein Vampir war; die Tatsache, dass Frais etwas so Banales so begierig in Erfahrung zu bringen versuchte, erfüllte die drei mit Erstaunen. »Interessant«, kommentierte Marco. »Da haben unsere Vampire euch wohl was voraus.« Während sie in der klammen Kälte beieinander standen, begann der Kanalisationsarbeiter sich langsam wieder zu regen. Er blinzelte dümmlich und rappelte sich dann hoch, wobei er Ríona, die neben ihm saß, anstarrte wie eine alte Liebhaberin. »Naaaa, das war ja was schön mit uns!«, nuschelte er und grinste. »Gan amhras«, antwortete sie wohlwollend und stand auf, da er keine Hilfe mehr zu brauchen schien. »Warten Sie mal«, hielt Ingo den Mann sofort auf, »wir müssen zum Uniklinikum. Wie kommen wir dahin?« Die Frage hätte er besser nicht stellen sollen. Es folgte eine hitzige Debatte darüber, was ›Laienpersonen‹ überhaupt in den Kanälen zu suchen hätten. Eine Erklärung, wie und wo man das unterirdische Labyrinth verlassen konnte, folgte erst nach einem fast halbstündigen Vortrag. Teile des Gangsystems seien gesperrt wegen erneuter Rohrbrüche, das sei ja eine Pfuscherei, eine Blamage sei das ja, und dann kämen auch noch Leute in die Gänge, die da gar nichts zu suchen hätten, wie man das denn erlauben könne, wer das denn rechtfertigen wolle und wie? Die Nerven der vier waren schlussendlich überstrapaziert, und nach dem Abschied ergriffen sie schier die Flucht. »Wenigstens hat der Biss ihm nicht geschadet«, kommentierte Flex, als sie endlich ihrer Wege gingen. »Hätte er mal sollen«, murrte Ingo. Ríona folgte ihnen leichtfüßig, bis sie den Aufgang zur Straße erreicht hatten; dann sagte sie: »Go raibh maith agaibh, ihr Menschen. Ich werde sehen, ob ich Fial noch helfen kann. Schließlich habt ihr mich verschont, und ich habe ihn verschleppt … Ich schulde euch und ihm noch was, ceapaim.« »Okay. Wir kommen wieder, sobald wir können«, versicherte Flex und vermied es, sie auf die Locksänger hinzuweisen, die bald zur MIU stoßen und das Blatt ohnehin wenden würden. »Sieh zu, dass du nicht getötet wirst.« »Ar ndóigh! Slán go fóill!«, rief sie, machte einen Knicks und huschte dann so schnell zurück in den schummrigen Tunnel, dass man ihren Schatten kaum verschwinden sah. »Vielleicht sollten wir Alea fragen, ob noch mehr Vampire unter dem Klinikpersonal sind«, schlug Falk den anderen vor. »Ich meine, wir müssten erst jeden abschnüffeln, aber er dürfte es auch aus einiger Entfernung feststellen können.« Lasterbalk schüttelte den Kopf. »Jetzt sofort? Vergiss es. Bock hat ihm ’ne Leck-Mich-Pille gegeben, damit er von dem üblen Trip runterkommt. Jetzt gafft er nur noch blöd die Wand an.« »Oh … Schlummifix in Tablettenform?« »Scheint jedenfalls härter zu sein als das, was er uns gegeben hat. Schmittchen und Silvio sind ja bei ihm.« Klaus-Peter Schievenhöfel nahm seine dicke Brille ab und begann, sie an seinem Sweatshirt zu putzen. »Jungs, was ist denn jetzt eigentlich mit dem Lockstück?« »Das hat Elsi«, antwortete Falk. »Schandmaul haben sich noch nicht gemeldet – naja, ist ja auch bald mitten in der Nacht –, und er brütet jetzt schon ’ne Ewigkeit über dem Stück. Wenigstens wissen wir jetzt, was ein Taragot ist: Es scheint ein transsylvanisches Holzblasinstrument zu sein, das ein bisschen klingt wie eine … Trompete. Wobei es natürlich ein Holzblasinstrument ist, also ist der Klang etwas tiefer, nicht metallisch.« Der dicke Mann sah ihn fragend an. »Und wer von euch kann das spielen?« »Jeder oder keiner, das werden wir dann schon rauskriegen. Wir wollten Schandmaul fragen, denn die können ja bekanntlich alles spielen – wenn ihr mir diese kleine veranschaulichende Übertreibung erlaubt –, aber leider hören wir ja nichts von ihnen.« Alle seufzten kollektiv. »Dafür wird Polly morgen früh hier sein«, sagte Lasterbalk schließlich, um die Stimmung aufzuhellen. Es gelang nicht ganz. »Nur er? Wieso nicht der Rest?«, fragte Schievenhöfel prompt in besorgtem Ton. »Der kommt nach. Keine Panik, das ist wohl nur ein … logistisches Problem.« »Als hätten wir davon nicht schon genug«, sagte Falk verdrossen. »Wieso hockt Asp eigentlich immer noch bei Chefchen rum?« Lasterbalk lachte freudlos. »Weil der gute Herr Spreng nach wie vor glaubt, wir könnten das Ganze friedlich lösen. Der hat gut Reden, er ist ja auch von uns Vampiren der einzige, den Chefchen wenigstens annähernd sympathisch findet – wahrscheinlich auch nur wegen seiner besonderen Freundschaft mit Eric.« Falk konnte nur den Kopf schütteln. Er war sich seit seinem Arbeitsantritt bei der MIU nicht mehr so nutzlos vorgekommen. Es ging aber nicht nur ihm so, wie er wusste; im Moment liefen alle herum wie Falschgeld, niemand wusste, wie sich effektiv zur Rettung der Lage beitragen ließ. Frustrierende Tatenlosigkeit hatte sich im gesamten Stützpunkt breitgemacht und keinen verschont. Es half nicht viel, sich zu sagen, dass sich im Morgengrauen wahrscheinlich einiges ändern würde. In Fritz’ Schädel dröhnte und kreiselte es, als sie die nächste Ecke hinter sich brachten. Der unterirdische Komplex war wie leergefegt – zum Glück, denn nicht genug damit, dass er und Micha nur quälend langsam voran kamen, nein, sie hatten sich auch noch hoffnungslos in den zahlreichen, ineinander mündenden Gängen verirrt. Nun bremsten sie das zielstrebige Vorwärtsdrängen langsam ab und sahen sich um. Der Korridor sah aus wie die anderen, mit weißen, hier und da dreckverkrusteten Kacheln aus vergangenen Jahrzehnten und maroden Türen, mit keinerlei schmückende Details. Einige Leuchtstoffröhren an der Decke spendeten ein dünnes, kaltes Licht. Stolpernd kam Fritz zum Stehen, taumelte mit dem Rücken gegen die kühle Wand und ließ sich an ihr hinunter gleiten. »Micha, wir … müssen Pause machen.« Im Grunde brauchte er dem Vampir das nicht zu sagen. Micha hatte sich von der Aushungerung nur marginal erholt. Fritz hatte gehofft, dass ein Magen voller Blut den Sänger sofort revitalisieren würde, doch dem war offenbar nicht so. Trotzdem, und das war nicht zu übersehen, versuchte Micha nach Kräften, sie aus dem Versteck heraus zu schleusen. Nun jedoch setzte er sich neben Fritz und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »’Tschuldigung«, sagte er, »ich weiß, es ist nicht für jeden ’ne schöne Erfahrung.« Fritz wusste, dass er den Biss meinte. »Wenn du nicht darüber schweigen müsstest … könntest du jetzt deiner Frau erzählen, wie erotisch ein Vampirbiss ist … nämlich null.« Danke auch, dachte Fritz. Schwindelig lehnte er den Kopf an die kalten Fliesen und schloss die Augen. Er fühlte sich wie nach einer Achterbahnfahrt, alles in ihm drehte sich noch immer, obwohl er sich gar nicht bewegte. Ohnehin hatte sich sein Blickfeld auf ein kleines, flimmerndes Zentrum verringert – der kreislaufbedingte Tunnelblick, wie er aus Erfahrung wusste. »Es kann sein«, sagte Micha schließlich, »dass du … wenn du das nächste Mal schläfst … komische Träume hast. Weißt du, ich … hab dir mehr Gift mitgegeben als nötig. Damit du es dir bloß nicht anders überlegst … und mich abschüttelst, ich hätte ja gar nichts dagegen machen können. Ich hatte Angst, echt … Todesangst. Wenn ich dich nicht gebissen hätte, wäre ich verreckt. Du hast mir das Leben gerettet.« Als Fritz darauf nicht antwortete, fügte er nachdenklich hinzu: »Ich hab überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass du’s machen würdest. Bin davon ausgegangen, dass du mir in deiner Angst nur beim Krepieren zuguckst. Ich muss sagen, Fritz: Du hast doch Eier.« Fritz gab nur ein unwilliges Geräusch von sich. Seine Eier, das wusste er, würden ihnen wahrscheinlich nicht hier heraushelfen. Die Nachwirkungen des Giftes und der Blutverlust machten es ihm ausgesprochen schwer, auch nur geradeaus zu denken. »Aber ich muss dich was fragen«, fuhr Micha behutsam fort. »Woher wusstest du das mit dem Teilen?« Fritz öffnete matt ein Auge. »Alex.« »Ah ja? Hmmm. Hätte ich mir denken müssen. Er findet das total faszinierend. Hat ein Lied darüber geschrieben, Werben … Irgendwas über ein vampirisches Paar, das damit sein Sexleben aufpeppt. So verschmolzen mit den Gedanken eines anderen … fandest du das nicht ganz schön … naja, unheimlich?« »Doch … aber allemal besser als Blutfessel. Das war schlimm, Micha.« Und damit übertrieb er nicht. Dass der eigene Körper einem nicht gehorchte, das war Stoff für einen Horrorfilm. Micha machte eine verlegene Pause. Dann hakte er vorsichtig nach: »Was hat Buschfeldt gesagt, als er das mit der Blutfessel erfahren hat?« »Ach, das … weiß er gar nicht.« »Wie, du hast nicht gepetzt?« »Ich hab es Alex gesagt.« »Und Lex hat gesagt, du sollst es nicht erzählen?« »Er hat gar nichts gesagt. Es war meine Entscheidung.« »Hmmm«, sagte Micha gedankenverloren. »Sieh an … Der Fisch weiß es auch, aber eine Petze ist er nicht, also … wird es wohl keiner rauskriegen.« Er zögerte, um dann schlussendlich zu bekennen: »Tut mir Leid, Fritz. Dass ich das gemacht hab. Im Ernst. Mir ist nichts Schlaueres eingefallen. Wenn ich gestresst bin, bin ich nicht so kreativ, weißt du. Aber es war ’ne miese Wichserei, und –« »Jaja. Lass uns einfach nicht mehr drüber reden«, lenkte Fritz ab. Er wollte am liebsten gar nicht reden. Nie wieder. »Pass auf, ich versprech dir, dass ich uns hier raushole«, versicherte Micha ihm mit einer Entschlossenheit, die Fritz plötzlich doch wieder so etwas wie Hoffnung gab. »Irgendwie!« Nach einer ganzen Weile mäßig erholsamer Untätigkeit brachen sie noch immer kraftlos wieder auf. Micha behauptete, die Elbe zu riechen – ein halbwegs guter Indikator zur Feststellung ihrer momentanen Position – und schlug einen Weg ohne verkleidete Wände, dafür mit erdverklebten Leitkegeln ein, die den Weg säumten. »Wenigstens sind keine Bestien in der Nähe. Die kann man auf zwei Kilometer Entfernung riechen, wenn man sensibel dafür ist.« Fritz an seiner Seite wurde hellhörig. »Also riechen Bestien wirklich anders als menschenfreundliche Vampire!« »Nicht, wenn man nicht lernt, darauf zu achten. Es muss aber noch mehr Unterschiede geben als den Geruch. Überleg mal, als wir mit Sonnenscheinchen rumgerannt sind … Als wir in dem blutversifften Zimmer waren, wusste er sofort, dass da vorher Bestien waren, obwohl die längst weg waren. Mich und die anderen erkennt er aber nicht als Vampire, auch dann nicht, wenn seine Bandleute ihn anfassen oder umarmen. Komisch. Der Kleine ist wie ein Bestiendetektor: Schlägt nur Alarm, wenn die Bösen in der Nähe sind. Die Netten bemerkt er nicht, auch wenn sie regelmäßig beißen. Das macht aber eigentlich auch nichts, denn nach so ’nen Vampiren suchen wir ja meistens nicht.« »Aber das ist es, was Paul Frais wissen will … wie man sich als Bestie vor Alea tarnt.« »Tja, die Antwort ist: gar nicht.« »Warum hast du ihm das nicht einfach gesagt, als er dich gefoltert hat? Das hätte dir viel erspart, und genutzt hätte ihm die Erkenntnis nichts.« »Weil ihn das nicht zufrieden gestellt hätte. Weißt du, der Paul Frais ist ein Vampir der ganz alten Liga. Der kennt den Unterschied zwischen Bestie und kultiviertem Vampir gar nicht … Oder ich sag mal, der will gar nicht raffen, dass Vampire sich anders verhalten können als Bestien.« Fritz dachte darüber nach. »Viele Vampire sind also böse, weil sie es nicht besser wissen.« »Nicht besser wissen wollen. Denk dran, ich bin auch alt, aber ich bin keine Bestie«, erinnerte ihn Micha nachdrücklich. »Ich bin auch nie eine gewesen. Ich meine, klar … Ich beiße … manchmal … aber Bestien machen zum Spaß noch schlimmere Sachen mit den Opfern.« »Zum Beispiel?« »Das willst du nicht wissen. Die halten Menschen einfach nicht für gleichgestellt, sondern eher für … Vieh. Sind ein bisschen wie Nazis, die Bestien.« »In den ganzen Vampirfilmen«, begann Fritz, »also, das sagt jedenfalls Christine …« »Ach, Vampirfilme sind für’n Arsch, wenn’s um den Informationsgehalt geht«, würgte ihn Micha prompt ab. »Total verkitscht, und immer beißen die Vampire ihre Frauen – total abartig! Wer bitte macht denn so was? Mit Leuten, die man mag oder sogar liebt? Die Beißhemmung hat ’nen Grund! Mann, Mann, Mann, ich könnte mich da immer wieder drüber aufregen.« »Lass mich raten, Micha … Es gibt sowieso keine Schauspieler, die das authentisch rüberbringen.« »Kommt drauf an. Der beste Vampirdarsteller ist meiner Meinung nach Klaus Kinski … obwohl er kein Vampir war. Das spricht für sein Talent.« »Jetzt sag nicht, du hast alle Vampirfilme gesehen …« »Nee, wer tut sich denn das an? Aber ich hab selber mal in einem mitgespielt. War so eine Independent-Produktion, ist leider nie ganz fertig geworden.« »Und was hast du da gespielt? Einen Vampir?« »Nee, Vampire spielen in Vampirfilmen immer Menschen – weißt du das nicht?«, spottete Micha. Fritz kam sich dumm vor. Trotz der Entkräftung war Micha also schon wieder in der Lage, sich über ihn lustig zu machen. »Okay, also ja.« »Ja. Ich mag es eigentlich, mich als Vampir zeigen zu können. Hast du ja gesehen. Ich würde mir wünschen, dass wir eines Tages als Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert sind und mit diesem Scheiß-Schattendasein aufhören können.« »Das wird nie passieren, Micha. Sicher nie.« Kurz blieb Fritz stehen, um sich im schummrigen Halbdunkel umzusehen. Eine Lampe über seinem Kopf flackerte und zischte. Als sein Blick wieder auf Micha fiel, war dieser ihm bereits eine größere Distanz voraus. Gerade drehte er sich um und rief leise: »Komm mal her! Ich glaub, ich hab was gefunden!« Langsam, aber sicher fielen El Silbador die Augen zu. Er lag bäuchlings auf seinem Bett, und das war sicherlich keine gute Position, um mitten in der Nacht scharf über etwas nachzudenken. Vor seinen müden Augen verschwammen die Noten auf dem gelblichen Papier ineinander, und immer wieder musste er den Mantel des Schlafes, der über ihn kroch, heftig beiseite schütteln – mit stets abnehmendem Erfolg. Was bedeutete bloß diese blöde Fußnote? Hinter dem Wort ›Taragot‹ prangte ein kleines Sternchen, zu dem ein winziger, kaum lesbarer Text am unteren Rand der Seite gehörte. Er war in lateinischen Buchstaben geschrieben, allerdings in einer Elsi unbekannten Fremdsprache. Unter oder über einigen Lettern befanden sich kleine Häkchen. El Silbador hatte versucht, die Sprache irgendeinem Typ zuzuordnen, den er kannte; hier und da fühlte er sich ein klein wenig ans Romanische erinnert, doch die Diakritika – so hießen doch die Zeichen, die über oder unter Buchstaben standen? – ließen die Sprache zugleich irgendwie slawisch aussehen, zumindest in seinem Laienverständnis. Woher, hatten Coppelius gesagt, stammte das Lockstück? Transsylvanien? Dann musste es Rumänisch sein. Das Taragot war zwar ein ursprünglich ungarisches Instrument, doch Ungarisch sah ja doch wieder ganz anders aus. Oder? Vielleicht war es auch gänzlich unnötig, der Marginalglosse allzu viel Bedeutung beizumessen, doch um die Wirksamkeit des Musikstückes voll auszuschöpfen, durfte kein Hinweis ignoriert werden. Und schließlich gehörte die Randbemerkung ausgerechnet an den Namen des Instruments … El Silbador zuckte zusammen, als ein Geräusch ihn aus seinem eingelullten Anstarren des Textes erweckte. Die Tür hatte sich geöffnet, und leise kam Alea herein. Sofort war Elsi hellwach. Alea legte den Finger an die Lippen, schloss die Tür hinter sich und schlich zu ihm. »Heyho … Ich hab gesehen, dass in deinem Zimmer noch Licht brennt«, sagte er leise, in Rücksicht auf die nebenan Schlafenden. »Boris ist auch noch wach, aber den wollte ich nicht nerven … Er sagt, du sollst ruhig schlafen gehen.« Elsi blinzelte ihn an. »Geht’s dir wieder gut?«, erkundigte er sich skeptisch. Eigentlich sah Alea putzmunter aus, aber man wusste ja nie. Der Sänger zuckte die Schultern. »Naja … Ja … Ich hab halt vier Tage gepennt und hab eigentlich das Gefühl, ich hätte nur kurz die Augen zugemacht. Kann mich nicht erinnern, was eigentlich los war … Ich weiß nur noch, dass ich mit den anderen aus dem Vampirversteck abgehauen bin. Dann ist Ende. Bock meinte, jemand hätte mich umgehauen, um mich wieder ins Versteck zu schleppen. Vielleicht hab ich gerade versucht, einen Vampir zu töten, und den Angriff deshalb nicht kommen sehen. Tja … alles denkbar.« Er ließ die Schultern fallen und blieb sichtbar unbehaglich mitten im niedrigen Raum stehen. »Und … naja, ich hab hier ja gar kein Zimmer, aber in Bocks Loch wollte ich auch nicht bleiben …« Elsi nickte zur anderen Zimmerwand. »Da steht ja noch ein Bett, bleib doch hier.« »Hm, ja, mach ich wohl.« Alea trottete zum Bettrand, betastete ihn kurz und ließ sich dann seufzend darauf nieder. Das Gestell quietschte leise unter seinem Gewicht. »Nicht so der schönste Unterschlupf, den wir je hatten …« »Notlösung«, antwortete El Silbador. »Wie immer.« »Haha … Ja.« Alea versuchte zu grinsen, scheiterte aber kläglich daran. »Ach Mann, ich … ich werd das Gefühl nicht los …« Er unterbrach sich, schaute beiseite und befeuchtete sich die Lippen, ehe er noch leiser fortfuhr: »Ich weiß, das klingt total bescheuert, aber … ich hab das Gefühl, ein Vampir hat … mein … Blut getrunken.« Elsi hörte sich schlucken. »Weißt du, es ist nur so ein Gefühl. Aber ich hab keine Bisswunde … nicht am Hals, und auch nirgends sonst. Das muss bedeuten …« »Da war kein Vampir an dir dran!«, behauptete El Silbador stürmisch, ehe er sich daran hindern konnte. »Das würden unsere … Leute nie zulassen!« Hoppla, das war fast eine Information zu viel gewesen. Alea schien diese Bemerkung jedoch so zu verstehen, dass das gesamte Team, das sich in Dresden befand, damit gemeint war. Verdammt, wieso wusste Alea bloß, dass von ihm getrunken worden war? Hatte er durch die Betäubung hindurch irgendwas mitbekommen? So was kam vor! Bewusstlose Leute konnten immer noch hören und erinnerten sich zuweilen an das, was um sie herum besprochen wurde! Elsi schlug das Herz bis zum Hals. Was sollte er ihm noch sagen, um ihn von diesem Gedanken abzubringen? Aber Alea schüttelte schon selbst den Kopf. »Neee, ich weiß … Es ist auch nicht hier passiert, sondern … Also, als ich bei Fiacail Fhola Gefangener war, wurde mir Blut abgenommen – von Paul Frais persönlich! Mann, ich dachte, ich kipp um. Der hat mir ’ne Scheißangst gemacht! Ich hätte ihn umgelegt, wenn diese Schlaumeier nicht permanent mein Qi blockiert hätten, sobald ein Vampir im Zimmer war. Echt mal, er muss es getrunken haben. Er denkt, dass er unsterblich davon wird … Und jetzt – jetzt habe ich ständig das Gefühl, mit einer Bestie … was geteilt zu haben.« Sein Blick fing den von Elsi; Gott, Alea sah richtig verzweifelt aus, wie er so darüber sprach. »Ich – ich habe mit einem Vampir sozusagen Lebensenergie geteilt … und wenn ich darüber nachdenke … gefällt mir das nicht. Überhaupt nicht. Ich weiß nicht, irgendwie ist der Gedanke so … beängstigend!« Unangenehm berührt schürzte Elsi die Lippen. Wie schon so oft, wenn es daran ging, Alea zu belügen, plagte ihn das schlechte Gewissen. Es war einfach nicht richtig. »Ach, weißt du … Es werden immer mal Leute von Vampiren gebissen, das hat eigentlich keine Folgen«, wich er aus und hoffte, Alea würde nicht auf die Idee kommen, ihn nach dem Schal zu fragen, den er um den Hals trug. Waren die Eisentabletten wenigstens außer Sichtweite? Mann, man musste immer so aufpassen, wenn Alea in der Nähe war … »Ich weiß, das ist wieder so ’ne spirituelle Kiste …«, setzte Alea erneut an und schien sich nicht wohl zu fühlen. »Ich, äh, versteh schon«, versicherte El Silbador im Bemühen, möglichst souverän aufzutreten, um dem eingeschüchterten Sänger so etwas wie Sicherheit zu vermitteln. Ja, genau, gerade ich, das Nesthäkchen, das gerade mal zwei frische Bisse hinter sich hat, die eigentlich als einer zählen und nicht mal von ’ner Bestie sind … Genau. »Komm, wir gehen pennen, ja? Morgen können wir mit den anderen drüber reden, wenn alle wieder wach sind. Dann kommt Oliver, und wir nehmen den Schlachtplan in Angriff.« Wobei die Hälfte des Teams noch draußen rumirrt … sehr überzeugend. Alea wirkte nicht gerade beruhigt. »Gut«, lenkte er dennoch ein, »ich bin zwar nicht gerade müde, aber naja, ich hab ja auch vier Tage nichts anderes gemacht als Schlafen. Du siehst aus, als hättest du’s nötig. Bleib liegen, ich mach das Licht aus.« Dankbar legte Elsi das Lockstück beiseite und rollte sich unter der Bettdecke zusammen. Er wusste, dass Alea noch lange wach liegen und in die völlig lichtlose Finsternis starren würde, doch dagegen konnte er jetzt nichts tun. Im Gegensatz zu dem Sänger war er hundemüde. Aleas zögerliches Statement »Ich weiß nicht, ob ich je wieder einen Vampir töten kann …« erreichte das Bewusstsein des Jüngeren schon nicht mehr im Detail. Träumend entglitt er in erholsame Dunkelheit und hörte nur das leise Rascheln, als auch Alea unter seine Decke kroch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)