Enthüllungstaktiken von Ur (Coming-Out Probleme und Lösungen) ================================================================================ Kapitel 1: Probleme und Lösungen -------------------------------- »Raus, raus, raus aus den Federn!« Mein angenehmer Dämmerschlaf wird von der harschen Stimme unseres Trainers unterbrochen. Unsanft zerrt mich der Befehlston aus dem Land der Träume und katapultiert mich gnadenlos in die Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit besteht aus einem großen, dunkelblauen Zelt, in dem dicht an dicht zweimal fünf Luftmatratzen mit Schlafsäcken und deren Insassen liegen. Ich unterdrücke nur mühsam ein Stöhnen und rappele mich unmotiviert auf. Um mich her ist das Licht dämmerig und es sieht ganz eindeutig nicht so aus, als wäre die Sonne schon vollständig aufgegangen. Weitere zerzauste Haarschöpfe tauchen ringsum aus der Versenkung auf und ich reibe mir angestrengt die müden Augen, um bloß nicht im Sitzen einzuschlafen. »Seid ihr schon auf den Beinen?«, kommt die donnernde Stimme von Jochen durch die dünne Zeltwand und ich öffne mit einem resignierten Seufzen den Reißverschluss meines Schlafsacks. Sofort beißt kalte Luft in meine halbnackten Beine und ich schaudere leicht, während ich mich aus dem warmen Kokon schäle und zu meiner offenen Reisetasche hinüberkrieche. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Daniel und Jan mehr oder weniger koordiniert in ihre Trainingshosen steigen und wie Björn seinen Kopf unter dem ausgenudelten Kissen vergraben hat, auf dem vor drei Minuten noch sein selig schlafender Kopf gebettet lag. »Sklaventreiber«, höre ich es von links und drehe den Kopf. Janosch steht mit freiem Oberkörper auf der Matratze direkt neben meiner und seine Haut ist eine einzige Fläche von Gänsehaut. Es ist wirklich ziemlich kalt und ich grabe so schnell wie möglich meine Trainingsklamotten hervor. Meine eigene Eile hält mich auch davon ab, mich allzu sehr mit meinen halb entkleideten Mannschaftskameraden zu beschäftigen. Es ist als Achtzehnzehnjähriger nicht unbedingt eine Leichtigkeit seine Hormone unter Kontrolle zu halten. Die anderen kämpfen mehr oder minder mit denselben Problemen, aber ihre Hormone fahren auf Mädchen ab. Meine nicht. Seit etwas über zwei Jahren weiß ich, dass ich auf Jungs stehe. In der neunten Klasse war ich in einen meiner Mitschüler verknallt. Florian heißt er. Mittlerweile finde ich ihn eher uninteressant und ich kann mir auch nicht so recht erklären, was ich an ihm jemals spannend gefunden habe, aber die Wege der frisch entdeckten Sexualität sind wohl einfach unergründlich. Handballer-Trainingslager ist nicht unbedingt förderlich dabei, seine unpassenden Bedürfnisse zu unterdrücken. Dauernd rennt irgendwer halbnackt oder sogar komplett nackt herum. Von den Gemeinschaftsduschen will ich erst gar nicht anfangen. Wenige Minuten später stehen wir vor unserem Zelt und sind nun direkt der kalten Morgenluft im April ausgesetzt. Der blassgraue Himmel weist nur hier und da eine orangene Schliere auf, die den Sonnenaufgang ankündigt. Meine Haare sehen wahrscheinlich aus wie ein explodiertes Kissen, aber da wir nach dem morgendlichen Training sowieso alle duschen gehen, ist es eigentlich auch relativ egal, ob ich ausschaue wie ein gerupftes Huhn. Björn sieht aus, als würde er gleich schnarchend nach hinten umfallen. Ich glaube, er ist der schlimmste Langschläfer von uns allen. Jochen marschiert putzmunter vor uns auf und ab und macht den einschüchternden Eindruck eines Militärhauptmannes, der jeden Moment zum Drill ansetzten und uns damit in die völlige körperliche Erschöpfung treiben wird. Sehr wahrscheinlich wird genau das passieren. Wir hätten gestern nicht so spät ins Bett gehen sollen, aber es war der erste Abend und keiner wollte so recht glauben, dass Jochen uns tatsächlich noch vor Sonnenaufgang aus den Federn schmeißt. »Die anderen Mannschaften sind schon seit einer halben Stunde wach! Guckt also nicht so, als wärt ihr besonders arm dran«, ermahnt Jochen uns und verschränkt seine Hände auf dem Rücken. Ein leicht manisches und hochmotiviertes Glimmen hat sich in seine braungrünen Augen geschlichen und er bleibt in der Mitte der Reihe vor uns stehen und wippt beschwingt auf den Fußballen auf und ab. »Heute Nachmittag ist das erste Trainingsspiel gegen Veltenhof! Bis dahin wird ordentlich geackert. Nach der ersten Runde könnt ihr was frühstücken gehen. Um zwölf gibt’s Mittagessen…« Meine Konzentration schweift etwas ab, während Jochen sich in weitschweifigen Beschreibungen der gegnerischen Taktiken verliert. Der Ehrgeiz, den viele Sportler an den Tag legen, ist mir nie wirklich verständlich gewesen. Ich spiele unheimlich gern Handball, aber es kratzt mich kein bisschen, wenn wir nicht gewinnen. Der Sport macht mir Spaß, aber der Wettkampf zwischen den Mannschaften interessiert mich nicht. Nach einer Viertelstunde Feindbesprechung scheucht Jochen uns zum Aufwärmen ums Trainingsgelände. Ich bin nicht sicher, inwieweit uns Training draußen nützt, wenn wir normalerweise nur in Hallen spielen, aber ich mache Jochen besser nicht darauf aufmerksam und laufe einfach. Eine Stunde lang. Extrem-Aufwärmen sozusagen. »Geht das vielleicht noch ein bisschen zackiger?«, brüllt er quer über den Rasen. Ich stöhne unterdrückt. Neben mir lacht jemand und ich drehe den Kopf, um erneut Janosch neben mir zu sehen. »Komm schon, Nico«, keucht er angestrengt und grinst mich breit von der Seite an. Er ist genau wie ich vollkommen verschwitzt und seine braunen Locken kleben ihm in der Stirn. Alles in allem scheint ihm das frühe Aufstehen und das Rundenlaufen in aller Herrgottsfrühe relativ wenig auszumachen. »Du bist schrecklich gut gelaunt«, klage ich und er lacht atemlos und legt noch etwas an Tempo zu. Ich folge ihm hartnäckig. »Irgendwer muss ja gute Stimmung machen«, kommt die abgehackte Antwort. Meine Beine fühlen sich bei dem hohen Tempo an, als würden sie gleich einknicken. Ein Brennen in meiner Lunge begleitet mich nun schon seit einiger Zeit. »Wettrennen bis zu Jochen?«, frage ich in einem wahnwitzigen Anfall von Übermut und Janosch lacht schon wieder keuchend, nickt dann einmal und im nächsten Moment sprinten wir beide an Daniel und Aaron vorbei und in Richtung unseres Trainers. Janosch und ich hatten bisher vor allem ein einschneidendes Erlebnis miteinander und das war unser erstes Treffen in dieser Handballgruppe. Janosch spielt schon zwei Jahre länger als ich und als ich das erste Mal mit ihm trainiert habe, hab ich ihm mit einem ungewollt gezielt geworfenen Ball die Nase blutig geschlagen. Dafür hab ich mich ungefähr hundert Mal entschuldigt, Janosch meinte allerdings nur lachend, dass meine Wurfgenauigkeit und der Pfeffer in meinem Wurf sehr beeindruckend gewesen seien. Wir haben uns von Anfang an ziemlich gut verstanden, aber wir haben noch nie außerhalb des Trainings was allein gemeinsam gemacht. Meistens ist dann mindestens die halbe Mannschaft dabei. Nach dem Frühstück gehen wir duschen, auch wenn das nur teilweise sinnvoll ist, da wir zur Verdauung eine gnädige Stunde Pause bekommen, bevor Jochen uns mit Zirkeltraining quält. Immerhin ist es dann schon komplett hell geworden und nicht mehr ganz so eisig wie direkt nach dem Aufstehen. Wie sich herausstellt, ist Veltenhof uns haushoch überlegen. Wie bereits erwähnt ist mir das völlig gleichgültig, aber die anderen Jungs sind ausgesprochen schlecht gelaunt nach dem ersten Trainingsspiel und von Jochen fange ich besser gar nicht an. Ich werfe Gott sei Dank niemandem eine blutige Nase und werte das als besonderen persönlichen Erfolg. Den anderen sage ich das lieber nicht, sonst denken sie vermutlich noch, dass ich mich über sie lustig mache. »Wetten, dass er uns heute Abend noch mal ‘ne Stunde rennen lässt?«, ächzt Janosch, als wir im Zelt auf unseren Matratzen hocken. Ich stelle mir vor, wie wir nach der einen Woche Trainingslager alle völlig verschrumpelt aussehen, weil wir dauernd duschen gehen. »Besser rennen als noch ‘n Trainingsspiel gegen Veltenhof«, antwortet Aaron und murmelnd stimmt ihm der Rest der Truppe zu. Ich strecke mich auf meiner Luftmatratze aus und seufze zufrieden. Jetzt ein Nickerchen wäre schön, allerdings kann ich dann sicherlich heute Abend nicht schlafen. »Wir wollten uns mal den Ort ansehen gehen«, sagt Björn zu Janosch und mir. »Wollt ihr mitkommen?« Ich schüttele mit ungläubiger Miene den Kopf. »Nicht mehr bewegen als nötig«, gebe ich zurück und Janosch gluckst heiter neben mir. »Ich leiste Nico Gesellschaft«, meint er und die anderen rappeln sich auf und verlassen einer nach dem anderen das Zelt. »Die wollen bestimmt nur sehen, ob’s hübsche Mädchen im Dorf gibt«, nuschele ich müde und schließe die Augen. Einige Sekunden lang schweigt Janosch. Ich frage mich, ob er die Sache mit den Mädchen nicht bedacht hat und sich jetzt ärgert, dass er nicht mitgegangen ist. »Wenn du die Augen so zu hast, siehst du aus wie Schneewittchen.« Ich öffne blinzelnd und ziemlich verwirrt die Augen und erwidere Janoschs prüfenden Blick. Seine braunen Augen mustern eingehend mein Gesicht und ich spüre, wie mir ein wenig Hitze in die Wangen steigt. »Eigentlich auch, wenn du die Augen auf hast«, fügt er hinzu. Ich schlucke und denke an den Spitznamen, den ich in der Schule habe. Da nennen sie mich wegen meiner blassen Haut und stechend grauen Augen öfter mal Dracula. Nicht, dass ich persönlich was gegen Dracula oder Bram Stoker hätte, aber meine Begeisterung für Vampire hält sich wirklich in Grenzen. Schneewittchen klingt… nett. Auch wenn natürlich viele meiner Klassenkameraden ganz laut ›schwul‹ rufen würden, wenn sie es gehört hätten. Auch das kratzt mich nicht. Stimmt schließlich. Und schwul als negatives Adjektiv zu benutzen und anzunehmen fällt aus naheliegenden Gründen für mich weg. »Das ist zur Abwechslung mal ein ziemlich netter Spitzname«, sage ich verlegen und Janosch sieht verwundert aus. »Wieso? Wie nennen sie dich denn sonst?«, will er wissen. »Dracula«, gestehe ich. Er runzelt die Stirn und schüttelt schnaubend den Kopf. »Na ja. Ich find Schneewittchen passt besser. Aber auch wenn’s netter klingt, weiß ich nicht, inwieweit es wirklich nett ist. Schneewittchen war ja echt nicht die hellste«, gibt er zu bedenken. Ich muss lachen. »Aber du hast mich ja nicht so genannt, weil du findest, dass ich nicht der hellste bin, oder?« Janosch schüttelt erneut den Kopf. Sein Grinsen ist unheimlich ansteckend. »Nee. Nur weil du ausschaust wie ‘ne schlafende Prinzessin«, erwidert er schmunzelnd. Mein Magen schlingert ein bisschen aufgeregt an seinem angestammten Platz herum. Das ist eine absolut blöde Idee von ihm, weil Janosch nämlich sehr eindeutig nur auf Frauen steht. Was ich so mitbekomme, macht ziemlich deutlich, dass er eine Menge Frauen hatte, um sich dessen auch ganz sicher zu sein. »Sagst du das auch zu den Mädchen, die du abschleppst?«, will ich amüsiert wissen und Janosch prustet lauthals lachend los und schüttelt seinen Lockenkopf. »Nee. Meistens ergibt sich da was, ohne dass ich blöde Sprüche klopfen muss.« Er klingt wie der letzte Aufreißer, aber trotzdem irgendwie nett dabei. »Wie baggerst du denn die Mädchen deiner Wahl an?«, erkundigt er sich und wirft sich jetzt neben mir auf seine eigene Luftmatratze, dreht sich auf den Bauch und dreht den Kopf so, dass er mich ansehen kann. Ich erwidere seinen Blick und kriege einen Moment lang Panik, dass er angeekelt das Gesicht verzieht und mich danach nicht mehr ansehen mag. Aber dann denke ich mir, dass ich wirklich keine Lust habe, diese Sache geheim zu halten. Es gehört nun mal zu mir dazu und wenn Janosch damit ein Problem hat, dann brauch ich mir um ihn auch keine Gedanken zu machen. »Ich baggere überhaupt keine Mädchen an«, entgegne ich probehalber und frage mich, ob das wohl eindeutig genug war. Scheinbar nicht, denn Janosch gluckst und fährt fort. »Ja, die kommen wohl alle zu dir geflattert, wie?« Ich schüttele den Kopf und muss gegen meinen Willen grinsen. Die Vorstellung, dass Mädchen mir jemals nachlaufen würden, ist ziemlich lächerlich. Die meisten Mädchen in meinem Alter fliegen auf die ›bösen‹ Jungs und da gehör ich ganz eindeutig nicht dazu. »Ich steh nicht auf Mädchen«, sage ich schlicht und Janosch ist der erste außerhalb meines Freundeskreises und meiner Familie, dem ich das sage. Für gewöhnlich stellt man sich so ja auch nicht vor. »Hey, ich bin Nico und ich bin schwul.« Der Rest der Handballtruppe weiß es auch nicht. Aber wie fängt man mit sowas auch an? »Also Jungs, jetzt, wo ihr alle euer Bier habt und wir gegen Mascherode gewonnen haben, wollt ich euch noch eben sagen, dass ich auf Männer stehe.« Hört sich selbst in meinem Kopf lächerlich an. Janoschs Gesichtsausdruck ist einen Moment lang einfach nur unheimlich erstaunt. Dann grinst er wieder. »Achso«, ist sein Kommentar zu meinem Outing. Soviel also zu der Panik davor, von Leuten komisch angesehen zu werden. »Dann ist es kein Wunder, dass du keine Mädchen anbaggerst.« Ich kichere leise und schließe wieder die Augen. Plötzlich fühle ich mich leicht wie ein Heliumluftballon. Janosch ist ganz offensichtlich ein großartiger Kerl. »Hast du ‘nen Freund?«, will er als nächstes wissen und ich schüttele mit immer noch geschlossenen Augen den Kopf. Aus dieser Frage entsteht eine ganze Unterhaltung darüber, wann ich meine Vorlieben bemerkt hab, wie’s mir damit anfangs ging und wie meine Familie und Freunde reagiert haben. Es ist das erste Mal, dass ich mit Janosch allein bin und wir die Gelegenheit haben, uns länger miteinander zu unterhalten. Nicht nur in der Umkleide, wenn man zufällig zu zweit vor den anderen da ist und oberflächlichen Smalltalk über die Schule und das Training führt. Sondern so eine richtige Unterhaltung über wichtige Dinge. Ich frage Janosch, ob er eine Freundin hat, hat er aber nicht. Er sagt, er kann sich nicht so richtig binden, aber vielleicht kommt das ja noch, wenn er mal richtig verliebt ist. War er wohl bisher noch nie. Aber gut, ich ja auch nicht. Meine Schwärmerei für Florian war ja auch eher flüchtig und nicht wirklich ernsthaft. Als ich Janosch von Florian berichte, hat er eine ähnliche Geschichte über ein Mädchen namens Isabell beizusteuern, die ihn allerdings auch hauptsächlich wegen ihres Aussehens und ihrer Gelenkigkeit begeistert hat. Als die Jungs zurückkommen, sind wir gerade dabei aufzuzählen, worauf wir beim bevorzugten Geschlecht stehen. »Wer hat hier was von ‘ner sportlichen Figur erzählt?«, will Daniel wissen und die Meute drängt sich zu uns ins Zelt und verteilt sich auf die Matratzen. »Ich hab Nico grad gesagt, dass ich sportliche Mädchen scharf finde«, erklärt Janosch unumwunden. Die anderen quittieren das mit einem amüsierten Lachen und teilweise auch mit zustimmendem Nicken. »Wieso musst du das extra betonen? Fliegt Nico eher auf kurvige Mädchen?«, will Björn grinsend wissen. Ich schlucke und stelle fest, dass mir das gerade doch beinahe ein wenig zu schnell geht. Alle sehen mich amüsiert und abwartend an. Janosch mustert mich und ich sehe in seinem Gesicht, dass er sich nicht sicher ist, ob er was sagen darf, oder nicht. »Wir wissen doch alle, dass du am allermeisten auf kurvige Mädchen fliegst, Alter«, sagt Janosch laut und ich atme erleichtert auf. »Darf ich dich mal an Sophie von vor zwei Monaten erinnern?« Die Unterhaltung dreht sich die nächsten zehn Minuten um große Brüste und Hüftspeck zum Anpacken beim Sex, wozu ich nicht wirklich viel beitragen kann und deswegen schweigend dabei sitze und Janosch beobachte. Es ist nett von ihm, dass er die Aufmerksamkeit der anderen von mir abgelenkt hat. Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass mir das ziemlich unangenehm war. Als Jochen uns zum abendlichen Laufen nach draußen zitiert, buffe ich Janosch auf dem Weg zu unserem Trainer kurz mit der Schulter an. »Danke«, sage ich leise. Er grinst mir strahlend zu und zwinkert. »Kein Problem, Schneewittchen.« * Innerhalb der nächsten drei Tage haben wir die Gelegenheit, uns an Jochens frühmorgendliche Weckrufe und das unmöglich anstrengende Vormittagsprogramm zu gewöhnen. Jeden Nachmittag gibt es ein oder zwei Trainingsspiele gegen eine der gegnerischen Mannschaften, die sich mit uns den Platz teilen. Beim Mittagessen geht es oft ziemlich heiß her, weil über die Tische hinweg lautstarke Siegesankündigungen getätigt werden und einmal gibt es beinahe eine Schlägerei zwischen Heidberg und Volkmarode. Mir ist dieses ganze hahnenkämpferische Gehabe eher peinlich und ich nehme nicht daran teil. Janosch scheint zwar an den Spielausgängen regen Anteil zu nehmen, aber er scheint auch nicht wirklich das Gefühl zu haben, sich mit Mitgliedern der gegnerischen Mannschaften prügeln zu müssen. Seit ich Janosch von meinem offenen Geheimnis erzählt habe, scheint zwischen uns eine Art schweigendes Verständnis zu herrschen. Es ist wie ein ungesagtes Übereinkommen darüber, dass wir jetzt innerhalb der Mannschaft ein lockeres Zweierteam bilden. Wir laufen morgens unsere Runden miteinander, bilden beim Zirkeltraining eine Zweiergruppe, sitzen beim Essen nebeneinander oder einander gegenüber und wärmen uns gemeinsam vor den Trainingsspielen auf. Ich finde Janoschs Gegenwart angenehm. Auch wenn ich nichts gegen die anderen Jungs in meiner Mannschaft habe und gut mit ihnen auskomme, kann ich mit Janosch doch eindeutig am meisten anfangen. Er ist nicht ganz so albern, reißt nicht so viele flache Witze und spricht nicht so furchtbar abwertend über Mädchen oder lästert über Mitglieder der gegnerischen Mannschaften. Manchmal verdrehen wir in schweigendem Einverständnis die Augen und bisher ist Janosch immer mit mir hier im Camp geblieben, wenn die anderen Jungs ins Dorf gezogen sind, um dort wer-weiß-was anzustellen. Am vierten Tag verkündet Jochen, dass wir am nächsten Morgen länger schlafen können, weil wir die letzten Tage gute Leistungen erbracht und bis auf das erste Trainingsspiel alle folgenden gewonnen haben. Das ist Musik in meinen Ohren – zumindest solange, bis mir klar wird, dass die anderen Jungs diese Gelegenheit nutzen wollen, um sich abends die Kante zu geben. Mir gefällt die Idee nicht besonders gut, aber ich beschließe stumm für mich, dass ich ja nicht Unmengen an Alkohol trinken muss und dann morgen an unserem Ausschlaftag auch nicht aussehe wie ein Zombie und dann beim Nachmittagsspiel aufs Feld kotze. Da ich der Jüngste im Team bin, haben wir mit der Volljährigkeit keinerlei Probleme und abends um neun schleifen die anderen mich in die wohl einzige Dorfkneipe, die es hier gibt. Wahrscheinlich haben Björn und die Jungs sie schon beim ersten Erkundungsgang durchs Dorf ausfindig gemacht und warten seitdem auf die Gelegenheit, hier ein paar Bier über den Durst zu trinken. Es scheint ganz so, als würde auch die komplette, volljährige Dorfjugend hier herum hängen, denn an rustikalen Holztischen, einer langen, mit Barhockern bestuhlten Theke und einigen runden Stehtischen drängen sich viele junge Leute mit großen Biergläsern. Gelächter und Stimmengewirr begrüßen uns schon draußen auf der Straße und die Lautstärke erhöht sich ungefähr um das Doppelte, als wir erst einmal eingetreten sind und Aaron uns zum letzten, runden Ecktisch hinüber winkt. Ich werde hinter Janosch auf eine mit zerschlissenem Leder bespannte Eckbank geschoben und sehe mich um. Hinter der Theke auf einem treppenartig aufgebauten Regal stehen jede Menge Spirituosen und ein dicklicher Mann mit Halbglatze und einer ziemlich dreckigen Schürze ist ununterbrochen damit beschäftigt, Bier zu zapfen. Da uns hier niemand kennt, werden wir automatisch interessiert beobachtet, als sich Daniel und Jan als letzte auf zwei herangezogene Stühle fallen lassen und sehr zufrieden in die Runde sehen. Einige kichernde Mädchen ziehen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich und ich seufze kaum hörbar. Janosch gluckst neben mir und ich hebe den Blick, um ihn fragend anzusehen. »Das hättest du kommen sehen müssen«, flüstert er ziemlich verschwörerisch und ich kann nicht umhin, als zu schmunzeln. Er hat ja Recht. Und eigentlich kann es mir auch egal sein, ob die Jungs versuchen, sich vor den Mädchen zu Deppen zu machen. Ich muss ja nicht mitziehen. Das einzige, was mich daran etwas unruhig macht, ist die nicht allzu abwegige Frage, wieso ich mich nicht an dem Gebaggere beteilige. Ich könnte natürlich eine Freundin erfinden, aber ich will wegen dieser ganzen Sache nicht lügen. Es ist mir ja auch nicht wirklich peinlich, ich hab nur keine Lust, dass meine Sexualität unter den Jungs plötzlich volle Aufmerksamkeit geschenkt bekommt und ich womöglich darauf reduziert werde. Ich will den Jungs ja nichts unterstellen, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie nicht alle so offen wie Janosch darauf reagieren würden. Janoschs und meine Schultern sind aneinander gedrückt und ich rieche sein Duschgel. Angestrengt versuche ich mich an die Farbe der Flasche und die Marke darauf zu erinnern, während mein Gehirn sich von dem Geruch zufrieden einnebeln lässt. Ein hölzernes ›Klonk‹ weckt mich aus meinen sinnlosen Grübeleien und ich stelle fest, dass eine dunkelhaarige Kellnerin mir ein großes Bier vor die Nase gestellt hat. Die anderen haben offensichtlich eine Runde bestellt, als ich mich mit Janoschs Duschgel beschäftigt habe. Ich achte eindeutig viel zu sehr darauf, wie sich sein muskulöser Körper neben meinem ganz unbedacht bewegt und wie seine Stimme sich von denen der anderen automatisch in meinem Gehörgang abhebt und in den Vordergrund drängt. Janosch ist in meiner Gegenwart überhaupt nicht… vorsichtig. Andere würden vielleicht aufpassen, dass sie nicht so dicht bei mir sitzen, oder sie würden mir nicht mehr einfach so auf den Rücken klopfen, weil sie Angst hätten, dass es so ausschaut, als würden sie irgendwas anderes von mir wollen, als eine rein platonische Beziehung. Natürlich ist das Humbug. Ich weiß ja auch gar nicht, wie sie reagieren würden. Aber diese Gedanken drängen sich ungewollt in meinen Kopf und bilden dort kleine Widerhaken. Ich nehme ein paar große Schlucke von meinem Bier, um mich mit dem kühlen Prickeln in meiner Speiserühre davon abzulenken, dass Janosch mir zum ersten Mal wirklich und ganz bewusst als unheimlich gut aussehend auffällt. Von der Seite kann ich seine leicht vorstehenden Wangenknochen bewundern. Und seine vollen Lippen. Die braunen Augen unter seinen buschigen Augenbrauen funkeln amüsiert, während er grinsend einer Anekdote folgt, die Daniel aus seiner Konfirmandenzeit zum Besten gibt. Seine Eckzähne stehen ein wenig vor. Wenn ich ihn weiter so anstarre, dann hab ich mich bald ohne ein freiwilliges Wort geoutet und Janosch wird kein Wort mehr mit mir reden. Großartig. »Du hast ja ‘nen ganz schönen Zug drauf«, sagt Janosch lachend, als ich mein Bier mit den nächsten Schlucken noch vor allen anderen leere und mir etwas Schaum von der Oberlippe ablecke. »Wenn die Jungs bald wieder anfangen, über die Vorzüge von Mädchen zu reden, hab ich das auch nötig«, gebe ich murmelnd zurück. Und tatsächlich, keine Viertelstunde später – ich habe das zweite, riesige Bier fast ausgetrunken und mein Magen fühlt sich an wie ein See aus reiner Kohlensäure – lehnt sich Aaron über den Tisch und grinst mir verschwörerisch zu. »Alter, die kleine Blonde in dem grünen Kleid starrt dich die ganze Zeit an«, informiert er mich und ich schlucke. Na toll. Ich werfe einen Blick hinüber zum Tisch, an dem die Traube Mädchen sitzt und tatsächlich. Eine kleine, zierliche Blondine in einem grünen Wollkleid und mit spitzer Nase strahlt mich prompt an, als ich ihren Blick erwidere. Ich bringe ein mattes Lächeln zustande. Wenn ich auf Frauen stehen würde, fände ich sie sicherlich niedlich. »Ähm… cool?«, gebe ich unschlüssig zurück. Soll ich einfach damit rausplatzen? Jetzt wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt. Ich spüre Janoschs tonnenschweren Blick auf mir. »Angriff, Nico! Auf geht’s!«, zischelt Daniel mir zu und zwinkert, als wüsste er genau, dass dies mein allergrößter Traum ist. Das Mädchen drüben am Tisch anzubaggern und sie dann heute Nacht flachzulegen. »Ich will wirklich nicht–«, fange ich abwehrend an, aber Aaron winkt ab und lacht gönnerhaft. »Sei nicht so bescheiden, man. Wir nehmen’s dir nicht übel, wenn du heut Abend der Einzige mit ein bisschen Happy-Time bist!« Ich spüre, wie mein Herz sein Tempo verdoppelt und meine links Hand krallt sich nervös in meiner Jeans. »Ich steh nicht auf Mädchen«, platzt es aus mir raus und der ganze Tisch verstummt schlagartig. Neun Augenpaare sind auf mich gerichtet und mir ist klar, dass mein Gesicht wahrscheinlich dieselbe Farbe angenommen hat wie ein gewöhnlicher Feuerlöscher. Das Rauschen in meinen Ohren dämpft das laute Stimmengewirr ringsum und ich wage es kaum, einem der Jungs direkt in die Augen zu sehen. Janoschs Schulter, die immer noch gegen meine gepresst ist, fühlt sich an wie der letzte, sichere Halt. Ich wünsche mir, dass ich nicht so schnell so viel Bier getrunken hätte, dann wäre mein Magen jetzt vielleicht ein wenig ruhiger. Letztendlich ist es Janosch, der mir wieder einmal aus der Patsche hilft. »Na, Gott sei Dank. Mehr Auswahl für uns. Ehrlich, bei deinem netten Lächeln wären uns doch auch alle anderen Frauen weggelaufen«, sagt er grinsend und bufft mich kumpelhaft von der Seite an. »Also, greif sie dir, Tiger«, fügt er hinzu. »Du geierst doch schon seit ‘ner halben Stunde rüber.« Aaron muss schmunzeln und dreht sich zu dem Tisch der Mädchen um. Ich bin sicher, dass ich neben Janosch auf die Größe eines sechsjährigen Kindes geschrumpft bin und umklammere mein kühles, beinahe leeres Bierglas. »Weiß gar nicht, was du an der Blonden findest«, sagt Daniel und folgt Aarons Blick. »Ich find die Brünette mit dem Haarreif viel schärfer.« Es entbrennt eine Diskussion darüber, welches Mädchen drei Tische weiter am schärfsten ist und ich kann einen Moment lang ausatmen. Janosch nutzt das allgemeine Durcheinander, um mir einen Hand auf den Unterarm zu legen und ihn leicht zu drücken. Ich drehe den Kopf und schaue in sein viel zu gutaussehendes Gesicht. Mein Magen macht mitsamt seinem alkoholischen Inhalt einen schmachtenden Salto rückwärts. »Alles in Butter«, murmelt er. »Mädchen sind immer noch spannender als deine sexuellen Vorlieben.« Ich muss halb erleichtert und halb gequält lachen und hoffe, dass Janosch recht behält. Seine Hand auf meinem nackten Unterarm kribbelt zufrieden. »Danke«, sage ich aufrichtig und er grinst mich breit und etwas verwegen an. Ich könnt reinkriechen in dieses Grinsen und es immerzu ansehen. Weiß der Geier, wann genau es in den letzten Tagen passiert ist, aber ich habe die dumpfe Befürchtung, dass ich mich in Janosch verguckt habe. Bei diesem Gedanken stolpert mein Herz und fängt an, Samba zu tanzen. Es stimmt mir ganz offensichtlich zu. »Kein Ding«, sagt Janosch leichthin und zieht seine Hand zurück. Ich bin sehr bemüht, nicht allzu enttäuscht deswegen zu sein. »Dafür sind Freunde da.« In meinem Inneren bläst sich ein Glücksballon auf, der mich dazu bringt, Janosch strahlend anzulächeln und dann den Rest meines Bieres hinunter zu stürzen. Vielleicht wird der Abend doch nicht so übel. Ich hab gerade das überdeutliche Gefühl, dass ich mit Janoschs neu gewonnener Freundschaft alles schaffen kann, was sonst zu schwierig für mich wäre. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)