Ab heute Mary von siiben ================================================================================ Kapitel 1: Ab heute Mary ------------------------ Jane hockte auf einer Bank am Bahnsteig 6, die Fäuste auf dem Gesicht. Der nächste Zug würde erst in einigen Stunden ankommen. Den ersten Mord hatte sie sehr gut geplant und dementsprechend ausgeführt, der zweite Affekt und vermutlich auch der Grund dafür, dass man bereits beide Leichen gefunden hatte. Nur wenn sie sehr großes Glück hatte, würde sie noch rechtzeitig aus der Stadt kommen. Was sie danach tun würde, war ihr ein Rätsel. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit würde man sie sehr bald finden und festnehmen, aber das war es ihr wert gewesen. Das Messer steckte in der Innenseite ihrer Jacke. Griffbereit. Der durchdringende Bass ihrer Kopfhörer blies ihr die Sinne frei und sie war kurz davor einzuschlafen. Sie bekam gar nicht mit, dass in nur zwei Meter Entfernung ein junger Mann stand und sie aufmerksam beobachtete. Gerade, als das Mädchen eingedöst war, riss sie ein Stupsen an der Schulter aus dem Beinaheschlaf. Sofort umfasste sie mit einer Hand den Griff des Messers und hob verschreckt den Kopf. Ein lächelnder junger Mann schaute sie an. „Ist es nicht ein bisschen spät hier allein. Als Mädchen?“, hörte sie ihn, nachdem die Kopfhörer aus den Ohren waren. „Ich warte auf den Zug“, sagte sie mit rauer Stimme. Er zog eine Augenbraue hoch: „Auf welchen?“, fragte er misstrauisch. „Den nächsten.“ Sie legte ihr Gesicht wieder auf die Knie und beendete damit die Konversation, die Hand immer noch unauffällig am Messer. Die Kleidung unter ihrem Mantel war voller Blut ihrer zwei Opfer. Bevor sie die Kopfhörer wieder einstecken konnte, sprach der Mann weiter. „Der nächste Zug fährt Richtung Charleston. Willst du dahin?“ Sie hob wieder müde den Kopf. „Ja.“ „Bist du von zuhause ausgerissen?“, fragte er direkt. Jane musterte ihn genauer. Er war groß, schlank aber muskulös, hatte blonde Haare und trug weite, lässige Kleidung. „Und wenn.“ Sollte dieser Typ jetzt die Polizei rufen, würde auch er dran glauben müssen. Er seufzte und setzte sich neben sie. „Mich würd nur interessieren, warum.“ Er sah vollkommen unachtsam in die Luft und wartete auf eine Antwort. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und grinste plötzlich: „Weil ich gerade zwei Morde begangen hab und mit dem nächsten Zug vor der Polizei fliehen muss.“ Sie wollte die Reaktion des Mannes nicht verpassen und ihn vielleicht sogar durch diese Aussage verscheuchen, doch er brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. „Wie ne Mörderin siehst du gar nicht aus!“, rief er immer noch lachend. Sie sah ihn immer noch unverwandt an: „Das dachten sich die beiden Typen auch.“ Er schüttelte amüsiert den Kopf: „Und unter deinem Mantel trägst du noch die blutverschmierten Sachen und die Pistole, nicht wahr.“ Janes Mund verzog sich zu einem Grienen, doch ihre Augen konnten nicht die grenzenlose Kälte verbergen. „Keine Pistole. Ein Messer.“ Er lachte lauter. „Und wen hast du um die Ecke gebracht?“ Sie fasste den Entschluss, ihm die ach so witzige Wahrheit zu erzählen. Und ihn zu töten. „Meinen großen Bruder und einen, der mich nach ‚Kleingeld’ gefragt hat.“ Er stutzte immer noch amüsiert. „Hatten die Morde einen Grund?“ „Der erste schon, der zweite war ein Versehen…“, erwiderte sie eiskalt und wartet auf seine Reaktion. Er lachte immer noch. „Und warum musste dein Bruder dran glauben?“ “Weil er ein Arsch war.“ Seine stahlblauen Augen wandten sich zu ihr. „Du bist witzig. Wie heißt du?“ „Jane.“ “Mein Name ist Max.“ Er stand auf. „Nun, nachdem du mir deine Geschichte erzählt hast, werd ich dir meine erzählen.“ Jane sah zu ihm auf und dachte ob seiner Größe darüber nach, wie sie ihn ohne große Kraftanstrengung erledigen konnte. Max sprach nicht weiter und so sagte sie: „Und?“ Er grinste frech. „Ich bin Auftragskiller. Allerdings lasse ich meine Opfer nicht einfach liegen. Ich beseitige sie immer.“ Er lachte auf. „Und weiß du, was ich gerade gemacht hab?“ Sie hob fast interessiert eine Augenbraue. „Ja?“ „Ich hab für ne Freundin zwei Leichen entfernt, damit man nicht sofort auf sie aufmerksam wird. Einen Junkie und einen Mann Mitte 20 mit braunen Haaren.“ Sie musste lächeln. Die Beschreibung passte auf ihren Bruder. „Für ne Freundin?“ Er grinste sie nahezu freundlich an und verbesserte: „Für ne zukünftige Freundin.“ Dann drehte er sich um. Sie sprang auf, zog das noch immer blutverkrustete Messer aus der Tasche und holte aus. Natürlich tat es ihr leid. Sie wollte diesen Max nicht töten. In den paar Minuten, die sie bislang mit ihm verbracht hatte, genoss sie bereits seine Gesellschaft. Aber sie hatte zwei Morde begangen. Und der dritte würde jetzt folgen. In dem Moment, in dem die Klinge auf den jungen Mann zu schnellte, wirbelte der blitzschnell herum, krallte ihre Hand und verdreht den Arm. Sie schrie erschrocken auf, als ihr das Küchenmesser aus den Fingern glitt. Max drückte ihren Oberkörper auf die Bank und riss ihr mit einem Ruck den Mantel vom Körper. Zum Vorschein kamen ein blutdurchtränktes Shirt und eine farblich passende Hose. „Hm…“, murmelte er nachdenklich. „Ist das der Dank dafür deine Drecksarbeit erledigt zu haben, Jane Doankett?“ Sie zog scharf die Luft ein, als sie des Schmerzes gewahr wurde, denn der verdrehte Arm begann bereits taub zu werden. „Oh, Verzeihung.“ Wider Erwarten ließ er sie tatsächlich los und hob sie auf die Bank. Erst jetzt bemerkte Jane, dass ihr ganzer Körper bibberte. Zwei und einen Beinahemord zu begehen, war psychisch belastender, als angenommen. Sie suchte noch nach einer Waffe oder dergleichen, doch Max lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Versuchs gar nicht erst.“ Er stand dicht vor ihr, sodass sie nicht mal aufstehen konnte und beugte sich langsam zu ihr runter. Sie wich irritiert zurück. Mit seiner Reaktionsfähigkeit hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass er das ganze Blut an ihr einfach so hinnehmen würde. Hatte er ihr etwa alles geglaubt? Und was bedeutete dann das, was er über sich gesagt hatte. Max griff nach ihrem Kinn und drehte ihr Gesicht und seiner Hand, während er sie betrachtete. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Hmm...“, gab er stirnrunzelnd von sich, ließ wieder von ihr ab, hob den Mantel auf und reichte ihn ihr. Verwirrt starrte sie ihn an. „Wenn hier jetzt wer vorbeikommt und dich sieht...“ Jane riss ihm den Mantel aus der Hand und zog ihn wieder über. „Was...“, setzte sie an, doch der Mann packte sie unter den Achseln und trug sie Richtung Bahnhofsausgang. Sie war viel zu fertig, um angemessen reagieren zu können. Sie konnte nur denken, dass er ziemlich stark war, schließlich brachte er es fertig sich mit ihr im Arm noch nach dem Messer zu bücken, dass sie fallen gelassen hatte. Kein Wunder, dass die junge Frau damit nicht gerechnet hatte, denn der Mann war hager und von Muskeln war nichts zu sehen, bei der weiten Kleidung. Ohne nennenswerten Widerstand zu leisten, ließ sich Jane aus dem düsteren Bahnhof hinaus auf den Parkplatz zu einem schwarzen, glänzenden PKW tragen und schließlich hineinsetzen. „Schnall dich lieber an, Jane“, sagte Max ruhig und stieg auf der Fahrerseite ein. Sie tat wie geheißen und flüsterte mit rauer Stimme: „Wo bringst du mich hin.“ Der Blonde startete den Wagen und beantwortete die Aussage während er auf die Straße fuhr: „Zu mir. Du musst dich umziehen. Ich hab vorsorglich ein paar Sachen aus deiner Wohnung mitgenommen.“ Sie wandte sich zu ihm, wobei ihre müden Augen kaum offen bleiben wollten. „Wieso?“ Er lächelte leicht: „Du hast das Ganze nicht grade gut geplant. Glaubst du, die Polizei hätte dich nicht gekriegt?“ Sie legte ihre Wange ans Fenster und genoss die Kälte, die sich langsam durch ihren Kopf fraß. „Das war mir ziemlich egal“, murmelte sie leise. „Ja, das hab ich gemerkt.“ Er zog eine Augenbraue hoch und sah sie kurz an. „Schlaf ruhig ein bisschen. Ich weck dich, wenn wir da sind.“ Sie hatte keine Ahnung, was der Mann jetzt mit ihr vorhatte. Natürlich hatte sie Angst aber vielleicht lag es an ihrem momentanen Zustand, aber Max, falls er denn tatsächlich so hieße, wirkte auf sie unheimlich beruhigend. Sie fühlte sich fast schon sicher hier in seiner Nähe. Abgesehen davon fielen ihr von alleine die Augen zu, da sie tagelang nicht geschlafen hatte. Sie erwachte, wenn man ihren Zustand als wach bezeichnen konnte, als Max sie in eine Badewanne setzte. Schlaftrunken griff sie fast blind vor Müdigkeit nach dem Rand und wollte wieder aufstehen, doch er drückte sie nieder. „Ganz ruhig“, flüsterte er. Sie verharrte zitternd. Sie fror, denn das Blut war noch feucht und sie hatte lange in der kalten Frühlingsnacht in einem offenen Bahnhof gesessen. Er nahm ihr den Mantel ab und zog ihr vorsichtig das klebrige T-Shirt über den Kopf. „Ich tu dir nichts, also hab keine Angst“, redete er auf sie ein, als sie wieder Anstalten machte, sich zu wehren. Und sie tat wieder wie geheißen. Er entkleidete sie bis auf die Unterwäsche und wusch ihr mit angenehm warmem Wasser das Blut von der Haut und den Haaren. Sie hatte sehr oft auf ihren Bruder eingestochen, sodass selbst die verkrustet und dunkelbraun waren. Sie döste immer wieder ein, während er sich um sie kümmerte. Als er fertig war, hob er sie heraus, setzte sie auf einen Hocker an der Wand und trocknete sie ab. Zuletzt stülpte er ihr noch einen weiten Pullover über und trug sie zu einem Bett. Sie bekam das nur lückenweise mit und entschlummerte sofort wieder, sobald die sich in der Horizontalen befand. „Jane, wach auf“, drang Max tiefe, sanfte Stimme an ihr Ohr und sie öffnete die Augen, um direkt in sein sonnenbraunes, lächelndes Gesicht zu sehen. „Hier.“ Der blonde Mann reichte ihr einen Teller mit warmem Essen. Spiegeleier und Toastbrot. Ein Glas Milch stellte er auf die kleine Kommode neben dem Bett. Während sie sich aufrichtete und den Teller mit Besteck entgegennahm, sah sie sich um. Es war ein kleiner Raum mit einem Fenster, einem Bett und einer Couch. Die Küche befand sich ebenfalls in dem Zimmer, eine Tür, vermutlich zum Badezimmer, gegenüber dem Bett. Das braunhaarige, dürre Mädchen betrachtete unschlüssig das Essen in ihrer Hand. Er setzte sich lachend neben sie auf das Bett, auch mit einem Teller in der Hand. „Was denn. Denkst du, ich vergifte dich?“ Sie blickte zu ihm. Er aß schon, kaum dass er saß. Da diese Annahme in Anbetracht der Situation tatsächlich lächerlich war, tat sie es ihm gleich. „Trink was, du bist dehydriert.“ Er beobachtete sie, während sie nach dem Glas griff, es an den Mund führte und die Milch mit einem Zug austrank. Lächelnd stand er auf und holte die Milchpackung, um das Glas aufzufüllen. Seinen leeren Teller hatte er in der Küche gelassen. Er wartete, bis sie fertig und satt war, neben ihr auf dem Bett und ließ ihr Zeit sich noch einmal umzusehen. Sie hatte das Bedürfnis sich zu bedanken, aber solange sie nicht wusste, was der große Mann eigentlich vorhatte, würde sie das vorerst nicht tun. Sie sah ihn an. „Wo sind wir“, fragte sie noch immer mit rauer Stimme. Sie erinnerte sich dunkel an das Ende des letzten Tages. Er hatte sie gewaschen, was einem normalen Mädchen in ihrem Alter furchtbar unangenehm und peinlich gewesen wäre, doch sie empfand das als zwar intime aber vertrauensvolle Geste. Er hatte ihr nichts getan. Im Gegenteil hatte er sich um sie gekümmert. Gestern noch war ihr alles egal gewesen, doch heute, jetzt, war sie unsagbar froh in diesem warmen Bett zu sitzen, neben Max. Der stand auf und zog die Vorhänge des Fensters auf, um den Blick auf viele Häuser aus der Vogelperspektive freizugeben. „Am Rand der Stadt“, er wandte sich zu ihr und legte den Kopf schief. „Geht’s dir besser?“ Jetzt erst fiel ihr auf, dass schon allein seine Anwesenheit Trost oder Sicherheit und auch Zuneigung in ihr auslöste. Seit dem Moment, in dem er sie auf dem kalten Bahnhof an gestupst hatte. Jane nickte. Er stand wieder auf. „Gut. Wir müssen jetzt die Stadt verlassen. Dazu müssen wir dein Aussehen verändern.“ Sie hielten einen Moment Blickkontakt. Sie wusste, dass das zwingend notwendig war, denn ihre Abwesenheit und die ihres Bruders mussten irgendwann auffallen, wenn das nicht schon geschehen war. Sicher konnte sie demnach nicht einfach als Jane Doankett durch die Gegend spazieren. So stand sie auf und sah wieder zu ihm hoch. Er legte sanft eine Hand auf ihren Rücken und führte sie wieder ins Bad. Dort stand schon eine Packung mit Blondierung bereit. Eine Schere und Handtücher lagen daneben. Er ließ sie sich wieder auf den Hocker niederlassen und legte ihr das Handtuch über die Schultern, um ihr die Haare zu schneiden. Sie schloss die Augen, denn sie wollte gar nicht wissen, wie kurz sie dann werden würden, und lauschte dem Geräusch der Schere. Bis jetzt hatte sie ihr hellbraunes Haar einfach wild wachsen lassen, wodurch es ihr bis zur Hüfte reichte. Es fühlte sich an, als würde es nun schulterlang sein, nachdem er fertig war. Ohne sich zu regen, ließ sie ihn die cremeartige Blondierung auftragen, ignorierte das Ziehen auf ihrer Kopfhaut. Der Gestank rief Kopfschmerzen hervor, weswegen Max das Fenster öffnete. Er trug hier nicht mehr die weite, lässige Kleidung, sondern eine lange, schwarze Hose und ein schwarzes, enges Hemd. Jetzt konnte man erahnen, dass dich unter dem Stoff Muskeln befanden, die ihn befähigten eine fast ausgewachsene Frau tragen zu können. Während das Bleichmittel einwirkte und sie einfach sitzen blieb, brachte er ein paar Kleidungsstücke ins Badezimmer. Sie erkannte die Sachen. Sie hatte sie sehr selten bis nie getragen, aber es waren definitiv ihre. Also war er tatsächlich in ihrer Wohnung gewesen. Nach einer Stunde, in der er in dem Zimmer, in dem sie geschlafen hatte, alle Gegenstände abwischte, vermutlich um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, beugte sie sich über sie Badewanne und ließ ihn ihr Haar auswaschen und danach abtrocknen. Sie hatte das Handtuch noch auf dem Kopf, als er vor ihr in die Hocke ging. „Wir können das Auto nicht mitnehmen, also werden wir den Zug nehmen müssen. Zieh die Sachen an und ruf mich dann, ja?“ Sie sah ihm eine Weile in die Augen, denn sie wusste noch nicht, wie sie auf die Massen an Menschen in dem vollen Hauptbahnhof von Summerville (Southcarolina) reagieren würde. Als könnte er durch ihre Augen in ihre Gedanken sehen, nahm er ihr Gesicht in seine Hände und legte seine Stirn an ihre. „Ganz ruhig. Du kriegst das hin. Ich bin immer bei dir.“ Sie schloss die Augen und nickte. „Okay.“ Er stand wieder auf und verließ das Bad, damit sie sich umziehen konnte. Sie betrachtete sich im Spiegel. Man konnte bei den feuchten, zerzausten Haaren keine Frisur erkennen, aber sie schien nun einen Ponni zu haben. Sie legte den Kopf schräg. Die Person, die sie im Spiegel ansah, erinnerte schon jetzt nicht mehr an sie. Man könnte meinen, diese Erkenntnis würde mit einem ernüchternden Gefühl der Leere und des Unwohlseins einhergehen, doch viel mehr war es so, dass sie freier zu atmen schien. Sie drehte sich zur Tür und rief nach Max, wie er angewiesen hatte und nach ein paar Sekunden ging die Tür auf. Auch er hatte sich umgezogen und die schwarze Kleidung gegen eine hellblaue Jeans und ein weißes Hemd eingetauscht. Wieder konnte man nicht erkennen, welche Kraft er eigentlich hatte. Er stellte sich hinter sie und drehte ihren Kopf zum Spiegel, um ihr die Haare bürsten und föhnen zu können und erneut schloss sie die Augen, genoss das Gefühl der Bürste und die warme Luft, die ihr entgegen blies. Als sie keine Feuchtigkeit mehr auf ihrer Kopfhaut spürte, ging er um sie herum und begann Make-Up aufzutragen. Ganz offenbar hatte er gut recherchiert, denn sie trug sonst niemals Make-Up oder Klamotten wie diese. Als sie die Augen öffnete und er den Blick in den Spiegel freigab, war jegliche Ähnlichkeit mit Jane Doankett verschwunden. Sie legte den Kopf schräg. Sie fühlte sich viel älter und attraktiver als jemals vorher. „Hier.“ Max hielt ihr ein eingeschweißtes Stück Papier hin. „Deine vorläufige Existenz.“ Sie musterte den täuschend echten Ausweis. Die Frau von 25 Jahren auf dem Foto sah ihrem Spiegelbild zum Verwechseln ähnlich. Vermutlich hatte er ein altes Foto aus ihrer Wohnung mitgenommen und am Computer verändert, sodass es der Frau im Spiegel entsprach. „Mary Grennwood“, las sie leise den Namen des Spiegelbilds. Er lächelte und schob ihr eine leicht getönte Brille auf die Nase. „Kannst du dir die Daten auf dem Ausweis merken, Schwesterchen?“. Sie blickte überrascht zu ihm auf und dann an ihm vorbei wieder in den Spiegel. Tatsächlich war eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen, was vermutlich an der Haarfarbe, dem Alter und der ähnlichen Kleidung lag. Während er sie aus dem Badezimmer herausführte, beschrieb er kurz die Situation von ihm und ihrem Spiegelbild Mary Grennwood: „Wir sind nur auf der Durchreise von Kendall, Florida nach New York, um uns da durchzuschlagen. Daher das Gepäck.“ Er deutete auf zwei Reisetaschen, die auf den Dielen der Küche standen. Sie war sich sicher, dass die vorher noch nicht da gewesen waren. Max reichte ihr eine beige Handtasche, die zu ihrem Outfit, bestehend aus einer kurzen hellblauen Hose, einer schwarzen Leggins, einem dunkelbraunen Pullover, einer schwarzen Mütze und der Brille, passte. „Wenn du die Daten auf dem Ausweis gelernt hast, tu ihn in das Portmonee.“ Sie ging die Angaben noch einmal geistig durch und verstaute ihn dann wie angewiesen. Dann reichte ihr der Mann einen langen braunen Mantel, der nicht aus ihrem Kleiderschrank kam. Sie zog ihn über und nahm ohne Aufforderung einen der Reisekoffer und Marys Handtasche und wartete auf weitere Anweisungen. Er säuberte noch das Badezimmer, nahm die andere Tasche in die eine, Mary in die andere Hand und ging zur Tür. Bevor er sie öffnete sah er sie noch mal an: „Alles klar?“ Nach kurzem Zögern nickte sie und er machte die Tür auf. In dem hohen Gebäude lief ihnen niemand über den Weg, sodass er bis zur Eingangstür ihre Hand hielt. Bevor sie an die frische Luft traten, ließ er sie mit einem kurzen Blick los, da Geschwister in dem Alter normalerweise nicht Hand in Hand durch die Gegend liefen. „Wenn irgendetwas ist, mach mich drauf aufmerksam“ sagte er ruhig. „Mach ich.“ Es war ein weiter Weg bis zum Hauptbahnhof, doch sie empfand ihn als angenehm. Die frische Luft wehte ihr durch die neuen Haare und löste in ihr eine Art Euphorie aus, weswegen sie die Menschen in ihrer Umgebung ertragen konnte. Es musste Mittag sein, denn die Sonne stand hoch und warf lange Schatten auf die breiten Straßen. Je näher die beiden dem Bahnhof kamen, desto mehr Menschen tummelten sich um sie herum, doch dank Max geriet sie nicht in Panik. Er ging immer leicht vor ihr und verbarg so einen direkten Blick auf sie. Er hielt ihr die Seitentür der Bahnhofshalle auf und sie gingen hinein. Mary sah sich um. Normalerweise verbrachten ihre Klassenkameraden der nahen Schule ihre Mittagspause hier. Sie stockte kaum merklich, als sie Janes Freunde an ihrem üblichen Platz wahrnahm. Der große Mann legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie weiter. Sie wendete den Kopf zu den jungen Gestalten um, die nun viel jünger und ferner als jemals sonst auf sie wirkten. Auch hatte sie mit einem Mädchen kurz Blickkontakt, doch das schien es gar nicht wirklich mit zu bekommen. Als die Entfernung und die Menschen die Gruppe verschwinden ließ, wurde sie wieder ruhiger. Es tat ihr nicht leid Janes Leben hier zurückzulassen, aber es fühlte sich bitter an. Der junge Mann neben ihr drückte kurz ihre Hand, was sie durchatmen ließ. Sie hatte das Bedürfnis sich zu entschuldigen, denn das war nicht gerade unauffällig gewesen, doch er machte nicht den Eindruck, als fände er das schlimm. Er kaufte am Automaten zwei Fahrkarten mit Richmond, Virginia als Reiseziel. „Dort werden wir einen Tag bleiben“, er reichte ihr eine, die sie im Portmonee verstaute. Sie betraten den betreffenden Bahnsteig und stiegen gleich in den bereits wartenden Zug, der in Abteile und abgetrennte Räume aufgeteilt war, um sich in ein leeres zu setzten. Schon vorsorglich, denn Summerville war eine Pendlerstadt und sie würden nicht allein hier bleiben werden, nahm er neben ihr und nicht gegenüber Platz. Während sie hinaus starrte, sagte er: „Erzähl mir, was du von dir weißt.“ Sie überlegte kurz: „Ich heiße Mary Grennwood, bin am 23.06.1986 in Kendall, Florida geboren. Amerikanische Nationalität. Bis jetzt wohnte ich Peachstreet 13. Ich bin 5,5 Fuß groß, Augenfarbe ist braungrün.“ Er lächelte. „Du hast ein gutes Gedächtnis, Mary.“ Sie schüttelte leicht den Kopf: „Ich muss mir doch sonst nichts mehr merken.“, berichtigte sie ihn, während sie immer noch aus dem Fenster sah. „Kennst du diese Schüler in der Halle?“, fragte er ohne ihr irgendwie das Gefühl zu geben, etwas falsch gemacht zu haben. Wieder schüttelte sie den Kopf: „Wir sind auf der Durchreise.“ Er streichelte ihr über den Rücken. „Das machst du sehr gut, aber schlaf ruhig noch ein bisschen.“ Sie fühlte sich tatsächlich wieder sehr ausgelaugt und merkte erst jetzt, dass ihr Körper unglaublich angespannt war und konzentrierte sich diese zu lösen. Als der Zug anfuhr, betrat eine ältere Frau den kleinen Raum und fragte schnaufend vor Erschöpfung: „Ist hier noch frei?“ Mary blieb still und sah unentwegt nach draußen. „Sicher“, lächelte Max die alte Dame an und verstaute ihre Reisekoffer auf den Fächern über den Sitzen gegenüber, auf die sich die Frau dankbar niederließ. „Vielen Dank. Der übrige Zug ist voll“, atmete sie erleichtert auf. In dem Moment, in dem der Zug durch die Straßen Janes Heimatstadt raste, lächelte Mary die Anwesende freundlich an und wandte sich an ihren Bruder. „Ich werde noch ein bisschen schlafen.“ Er wirkte für einen kurzen Moment vollkommen überrascht, lächelte dann aber brüderlich: „Ich weck dich, wenn wir umsteigen müssen.“ Sie nickte und lehnte sich gegen das Fenster um zu dösen. „Die junge Frau sieht wirklich ausgesprochen müde aus“, bemerkte die Oma leise, um die blonde, junge Frau nicht zu stören. Max drehte sich zu ihr. „Sie schläft schlecht in einer ungewohnten Umgebung“, antwortete er sorgenvoll. „Sie sind auf der Durchreise?“ Er nickte freundlich: „Ja, auf dem Weg nach New York. Seit unserer Abreise hat sie kaum ein Auge zugemacht.“ Die Frau schien sich gern mit Marys Bruder zu unterhalten. „Ach New York. Da haben sie aber noch einen weiten Weg vor sich.“ „Ja, aber ein Flug wäre zu teuer gewesen“, erzählte er, als wäre es wahr. „Sie beide sind Geschwister?“, fragte die Frau und war sich offensichtlich nicht sicher, ob sie sich solch eine Frage erlauben konnte, aber der junge Mann nickte lächelnd. Max und die Dame unterhielten sich noch weiter, doch mehr bekam Mary nicht mit, da sie dann völlig in den Schlaf entsegelte. Mit rasendem Herzen schreckte sie auf und starrte auf ihre Hände. Sie konnte nicht genau sagen, was sie geträumt hatte, aber es hatte irgendetwas mit Blut zu tun... Max beugte sich zu ihr. „Alles klar?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. Sie nickte und merkte, dass sie außer Atem war und sah sich um. Die alte Frau war glücklicherweise nicht mehr da. Er streichelte ihr über den Rücken. „Sie ist umgestiegen.“ Marys Bruder griff in seine Tasche und reichte ihr eine Wasserflasche. Erst jetzt fühlte sie, wie durstig sie war und nahm sie. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte sie, bevor sie die Flasche ansetzte und trank. „Knapp vier Stunden.“ Er beobachtete sie dabei und nahm sie wieder entgegen, als die junge Frau fertig war. Mary strich sich über die heiße Stirn, rutschte auf ihrem Sitz zurecht und gähnte unterdrückt. Er stützte sich auf die Knie und legte den Kopf schräg. „Hast du Hunger?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“ „Okay, spätestens in Richmond musst du aber was essen“, wies er mit konstantem Blick auf seine Schwester an. „Ja.“ Es ertönte die Durchsage, die die nächste Haltestelle ankündigte. „Da müssen wir raus“, sagte Max und packte die beiden Reisetaschen für sie und wartete, bis sie aufgestanden war, um mit ihr das Abteil und nach dem Stillstand des Zuges diesen zu verlassen. Ihre Beine trugen sie nur wacklig und nun wirkten die Menschen im Umkreis sehr viel bedrohlicher als jemals vorher. Sie folgte Max so gut es ging, doch es waren so viele Leute, dass sie weiter zurückfiel, als ihr lieb war. Mit einem Anflug von Panik beschleunigte sie den Schritt und umfasste fest seinen Arm. Er blieb kurz stehen und wandte sich zu ihr um. Sie war viel zu abgelenkt von der beängstigenden Umgebung, um mit ihm Blickkontakt halten zu können. Er zog seinen Arm und damit sie sanft näher, reichte ihr eine Tasche, die sie zittrig entgegennahm und umfasste ihr Handgelenk. „Sorry“, sagte er beruhigend und drückte ihre Hand kurz und sanft, sodass sie zu ihm aufsah. „Ich bin da.“ Der junge Mann lächelte, was sie augenblicklich wieder sicher fühlen ließ und seine Schwester nickte leicht verschämt, über die Tatsache, dass ihr diese Menschen so einen Schrecken einjagen konnten. Er führte sie an der Hand zum nächsten Bahnsteig, der etwas leerer war, sodass er sie auf eine Bank Platz nehmen lassen konnte. Zum zweiten Mal reichte er ihr die Wasserflasche. Als der Zug einfuhr, steckte er die Flasche wieder ein und führte sie hinein. Diesmal fanden sie keine Sitze, weswegen die beiden und ihre Taschen in der Nähe des Eingangs stehen blieben. „Fährt dieser Zug durch?“, fragte Mary, während sie sich an die Wand drückte, um vorbeilaufenden Fahrgästen genügend Freiraum zu geben. Er nickte. Die Blonde sank, als keine Menschen mehr durch das Abteil schlenderten an der Wand zu Boden, um sich zu setzten. Max grinste sie an. Der Schaffner betrat den Raum, worauf Mary in ihrer Handtasche zu wühlen begann. Ihr war vorher gar nicht aufgefallen, was sich noch alles darin befand. Diverse Schminkutensilien, zumindest vermutete sie das, denn damit hatte sie sich noch nie ausgekannt, ihr Portmonee, aus dem sie den Fahrschein zog und daneben lagen zwei nahezu identische Schlüssel, auf denen die Nummern 132 und 83 gedruckt waren. Sie sah fragend zu ihm auf. Nachdem der Schaffner die beiden kontrolliert hatte, murmelte er ohne sie anzusehen eine Antwort: „Du hast dir die wertvollsten Sachen von Zuhause direkt in ein Fach auf dem New Yorker Bahnhof schicken lassen.“ Sie nickte. „Stimmt ja.“ Jetzt sah er mit einem Lächeln zu ihr runter: „Warte hier kurz. Ich bin gleich wieder da.“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, entschied sich dann aber anders und starrte auf den Boden. Der Blonde ging vor ihr in die Hocke. „Ich bin gleich wieder da, keine Sorge“, beruhigte er sie und nach einem Blickkontakt richtete er sich wieder auf und ging in den hinteren Teil des Zuges. Die junge Frau sah sich im Abteil um. Aus ihrer sitzenden Position zählte sie 14 Fahrgäste, ein paar unterhielten sich miteinander, andere beschäftigten sich entweder damit aus dem Fenster zu sehen oder lasen Bücher beziehungsweise Zeitungen. Sie starrte wieder auf den Boden. „Hey“, ertönte es plötzlich über ihr, was sie erschrocken ihren Blick nach oben richten ließ. Es war ein junger Mann, leger gekleidet, dunkelbraune Haare, braune Augen. Eben noch mit rasendem Herzen, doch nun mit einem wie freigeblasenen Kopf, erwiderte Mary sein Lachen. „Hallo.“ Er beugte sich leicht runter. „War das dein Freund?“, fragte er und blickte in die Richtung, in die Max verschwunden war. Sie schüttelte kichernd den Kopf: „Nein. Mein Bruder.“ Der Mann wirkte erleichtert. „Dann ist gut.“ Sie legte den Kopf schief, da sie sich nicht sicher war, was er von ihr wollte. Mit Jane hätte kein Mann so geredet und Jane nicht mit einem Mann, doch Mary schien ihm zu gefallen, also redete er weiter. „Ihr seid auf dem Weg nach New York, hab ich richtig gehört?“ Er hatte also die ganze Zeit um die Ecke gestanden. „Ja“, lächelte sie ruhig. „Ich auch! Steigt ihr auch Richmond um?“, fragte er interessiert und ließ sich neben ihr nieder. Da sie nur freundlich nickte, redete er weiter: „Ich hab in New York ein Jobangebot bekommen. Und was“ „Ja? Und was machst du?“, unterbrach sie ihn plötzlich interessiert. Sie konnte es nicht riskieren, dass er nach ihrem Vorhaben fragte, denn das hatte Max ihr nicht gesagt. Sie könnte Fehler machen. Sie hatte keinen Plan, was er dort wollte. Und warum sie dabei war! Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich ähm...“ Der Mann machte eine kurze Pause. „Ich war bis jetzt Angestellter einer kleinen Bank. Und da wurde mir ein besser bezahlter Posten angeboten“, beendete er seinen Satz. Sie kicherte neckend. „Du siehst gar nicht aus, wie ein Banker.“ Er musste auch lachen. „Dann is ja gut!“ Endlich betrat Max wieder das Abteil und sie sah ihm entgegen. „Oh, hallo“, grüßte er den Mann neben seiner Schwester und legte den Kopf schief. Der braunhaarige Mann lächelte unsicher den großen Bruder an und sagte zu beiden Geschwistern: „Ich bin Tony.“ „Max“, Marys Bruder reichte ihm die Hand und deutete danach auf sie: „Mary.“ Sie lächelte ihn an und wandte sich an den Blonden: „Er fährt auch bis Richmond.“ „Wirklich? Bleibst du da?“ „Nein, ich fahr direkt weiter nach New York“, unterhielten sich die beiden und die junge Frau war erleichtert, dass ihr Begleiter wieder da war. „Oh! Da wollen wir auch hin, aber wir bleiben einen Tag in Richmond.“ Tony blickte wieder zu Mary. „Schade.“ Ihre Wangen färbten sich leicht rosa und sie lachte ihn an. „Und was wollt ihr da?“, fragte er die Blondine, doch Max antwortete. „Wir ziehen um. Kendall war uns zu klein.“ Der Neue zog die Augenbrauen hoch. „Kendall Florida? Da habt ihr ja schon ein ganzes Stück Weg hinter euch gelassen!“ Mary seufzte schwer, was seine Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte. Max lachte leicht: „Sie schläft nicht gut in ungewohnter Umgebung.“ Tony runzelte die Stirn. „Du siehst wirklich ganz schön müde aus“, bemerkte er vorsichtig, um sie nicht zu beleidigen. „Na, danke!“, rief sie grinsend aus. Ihr Bruder grinste auch. Der fremde Mann machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich wollte nur sagen, dass du vielleicht noch etwas schlafen solltest!“ Max und er sahen sich kurz an, dann wandte sich der Blonde an seine Schwester. „Du solltest wirklich versuchen noch ein bisschen zu schlafen.“ Es war, als würde sich ihr die Situation erst jetzt völlig erschließen und sie sah sich kurz um. „Da ist ein Platz frei. Ich setz mich lieber dahin, das ist bequemer.“ Damit stand sie auf und ging ans andere Ende des kleinen Zugraumes, wo sie nichts von dem Gespräch der beiden Männer mitbekam und mit dem Rücken zu ihnen saß. Max hatte gewollt, dass sie nicht dabei war, während sie sich unterhielten, aber auf einen tiefen Schlaf konnte sie sich nicht verlassen. Also hatte sich vorsichtshalber das Weite gesucht, auch wenn sie sich ohne Max in unmittelbarer Nähe sehr unwohl fühlte und nun erst recht nicht einschlafen konnte, aber lieber so tat. Ihr gegenüber und neben ihr saßen drei Menschen in Janes Alter, die sich nicht durch ihre Anwesenheit stören ließen und angeregt weiter über ihren Ausflug nach Richmond redeten. Nicht, dass es sie interessieren würde, aber es lenkte sie von der Überlegung ab, jeden Moment nach hinten zu sehen, ob Max noch da war. Der Gedanke versetzte ihren Körper in einen Alarmzustand und ihren Geist in Panik. Sie wusste immer noch nicht, was er vorhatte und sie würde ihn auch nicht fragen, da sie fürchtete nicht mit der Antwort fertig zu werden. Aber sie hatte beschlossen zu tun, was er sagte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, wusste nun aber alles über Richmond und seine Sehenswürdigkeiten, was sie allerdings nur minder interessierte, schließlich war sie nicht zum Sightseeing hier. Dachte sie zumindest. Es ertönte die Durchsage, dass die Endhaltestelle des Zuges bald erreicht sein würde, doch sie regte sich nicht. Sie würde warten, bis Max sein Okay geben würde, doch sie wurde unverhofft von ihrem Sitznachbarn an gestupst. Sie war überrascht, wie schwer es ihr fiel die Augen zu öffnen. Übermüdet sah sie den Jungen neben ihr an. „Die...die Endhaltestelle...“, stammelte er mit hochrotem Gesicht. Sie legte den Kopf schief, lächelte dann aber und bedankte sich streckend. Ein anderer Junge lachte auf: „Guck dir Mike an! Der is knallrot!“ Der namens Mike drehte sich noch roter zu ihm. „Halt die Klappe!“ Jane wäre so etwas nicht passiert, aber Mary schien gut anzukommen. Oder sie hatte etwas im Gesicht. Max kam an den Sitz. „Kommst du?“ Sie sah auf und war tief erleichtert. Er griff vorsorglich wieder nach ihrem Handgelenk und führte sie aus dem Zug. Tony trug die beiden Reisetaschen. Als sie den Bahnhof verlassen hatten, übergab er die Marys Bruder. „War schön dich kennenzulernen, Mary“, verabschiedete er sich von ihr. Sie lächelte ihn freundlich an und folgte dann dem jungen Mann, der sachte an ihr zog. Tony winkte ihnen noch einmal nach. Sie hatte das starke Bedürfnis, den Blonden nach seinem Gespräch zu fragen, ließ es aber. Er schien genau zu wissen, wo sie hingingen und ließ, als sich die Straßen von Menschen leerten wieder los. Nach einer ganzen Weile blieben sie an einem hohen Gebäude, das ein wenig an das in Summerville erinnerte, stehen und er zog einen Schlüssel hervor, mit welchem er diese und die Tür im sechsten Stock aufschloss. Er wartete bis Mary die Wohnung betreten hatte und folgte ihr dann. Sie war größer als die in Summerville. Wohnzimmer, Bad, Küche, Schlafzimmer und Abstellraum. Max stellte die Taschen in die Küche und dort den Herd an. Mary blieb unschlüssig im Flur stehen. Nach kurzer Zeit reckte er den Kopf durch die Tür. „Komm!“, forderte er sie lächelnd auf. Sie betrat die Küche und er reichte ihr bereits einen Apfel mit der Aussage: „Gleich kriegst du was warmes.“ „Danke“, murmelte sie, biss hinein und setzte sich an den kleinen Küchentisch. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie sich gewahr wurde, dass sie sich das erste Mal bedankt hatte. Er ließ eine Pfanne auf dem heißen Herd stehen und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, während er ihr beim Essen zusah. „Das hast du gut gemacht.“ Sie schluckte den Bissen runter und blickte ihn fragend an. „Wie du dich mit Tony unterhalten hast“, fuhr er fort. „Niemand hätte gemerkt, dass du zwei Menschen getötet hast und nun vor der Polizei fliehst.“ Sie fühlte kurz in sich hinein und merkte, dass sich in ihr nichts regte, wenn er über Janes Bruder und den anderen sprach. „Mary.“ Sie wandte sich wieder ihm zu. „Wenn dir dieser Mann noch einmal über den Weg läuft, sorg dafür, dass du unter Leuten bist.“ Er stand auf und ging zur Pfanne. „Egal wer sich im Umkreis befindet. Auch wenn’s Polizisten sind und du dich als einzigen Ausweg verhaften lassen musst.“ Er klang viel ernster als sonst. Der blonde Mann drehte sich um und sah ihr direkt in die Augen: „Machst du das.“ Das hätte eine Frage sein sollen, aber er schien keine Einwände zu akzeptieren und da er ganz sicher seine Gründe für diese Anweisung hatte, nickte sie. „Gut.“ Sie glaubte einen Hauch Erleichterung herauszuhören. Er stellte einen Teller vor ihr auf den Tisch und nahm die Überreste ihres Apfels, um ihn in den Mülleimer neben der Spüle zu werfen. Dann setzte er sich wieder. „Ups. Besteck...“ Er stand wieder auf und reichte es ihr. Dann stand er noch einmal auf und holte ihr ein Glas Milch. „Wieso immer Milch?“, fragte sie und achtete darauf, dass in ihren Worten keine negative Wertung mitschwang. Er lachte: „Du bist unterernährt und in Milch sind viele Nährstoffe und Vitamine.“ „Ach so“, murmelte sie und trank sie aus. Die junge Frau begann zu essen, unterbrach sich aber bald. „Wann isst du was?“ Sie hatte ihn erst einmal etwas zu sich nehmen sehen. Er sah auf die Uhr über der Küchentür und antwortete: „In 15,5 Stunden.“ Während sie weiter aß, schaute sie ihn mit fragendem Blick an. Er schmunzelte ob ihrer offensichtlichen Sorge. „Ich esse einmal am Tag 12 Uhr.“ „Wieso?“, brachte sie nach einem Bissen heraus. Er verzog leicht den Mund. Scheinbar war er sich nicht sicher, ob sie sowas wissen sollte, entschied sich aber dafür es ihr zu sagen. „Nach ner gewissen Zeit gewöhnt sich der Körper an das Hungergefühl und das verzögert sich so um mehrere Stunden bis Tage. Das kann praktisch sein.“ Sie reagierte kaum bis gar nicht darauf. Sie hatte sich so etwas schon gedacht, schließlich hatte sie doch eine leichte Ahnung, wie seine Berufstätigkeit aussah. Sie wollte auch gern fragen, was er während seiner Abwesenheit im Zug getan hatte und worüber er sich mit diesem Tony unterhalten hatte, aber sie hatte das Gefühl, ihm damit zu nahe zu treten oder gar wütend zu machen. Also schaufelte sie stumm die Nahrung in sich hinein. „Wie fühlst du dich?“, fragte er, als sie fertig war und den leeren Teller mit Besteck in die Spüle stellte, um sie abzuwaschen. Das musste er ja nicht auch noch für sie machen. „Gut.“ Er stellte den Wasserhahn wieder aus, bevor sie anfangen konnte. „Dann komm mit ins Wohnzimmer“, wies er freundlich an. Sie lief ihm nach und sah zu, wie er die kleine Couch und den Tisch davon an die Wand schob, sodass in der Mitte des Raumes eine freie Fläche entstanden war. Dann winkte er sie näher. „Du musst lernen dich im Ernstfall zu verteidigen.“ Er nahm ihr vorsichtig Mütze, Brille und Mantel ab. „Im Ernstfall?“, fragte sie ruhig und ließ ihn machen. Max legte die Sachen auf das Sofa. „Sagen wir, ich will dich umbringen.“ Unglaublich schnell war er hinter ihr und ehe sie reagieren konnte, verdrehte er ihr die Arme und legte den Rücken eines Messers, das ihr zuvor nicht aufgefallen war, an ihren Hals. Ihr Atem stockte vor Schreck. Bevor sie gedanklich dazu in der Lage war Angst zu bekommen, ließ er sie wieder los und trat einen Schritt zurück. „Du konntest nicht reagieren, weil du nicht damit gerechnet hast.“ Das Messer war wieder in der Gürtelschnalle verschwunden. Unsichtbar für einen ahnungslosen Beobachter. „Ab jetzt musst immer damit rechnen, dass dich jemand angreift. Egal wie unwahrscheinlich.“ Sie strich sich über den Hals um das Gefühl des kalten Klingenrückens auf der Haut los zu werden. „Auch bei dir?“, fragte sie ohne ihn anzusehen. Er legte beschwichtigend beide Hände auf ihre Schultern. „Nein, aber vor Menschen wie...“ Er sagte nicht Tonys Namen, vermutlich weil er nicht wirklich so hieß. Sie sah zu ihm hoch. „Mir kannst du vertrauen“, erklärte er noch einmal nachdrücklich. Sie nickte, denn obwohl sie für besagtes Vertrauen keine Basis finden konnte, hatte sie das starke Bedürfnis es einfach zu tun. „Das war zu schwer, ich weiß, aber“ „Aber ich muss lernen mich im Ernstfall zu verteidigen“, beendete sie seinen Satz. Max lächelte sie an. „Wir fangen von vorn an.“ Er krempelte sich die Ärmel hoch und streckte ihr beide Arme entgegen, die Handflächen zu ihr. „Drück so stark du kannst gegen meine Hände“, wies er ruhig an. Sie runzelte die Stirn und stemmte ihre Arme gegen ihn. Da er sie nicht berichtigte, drückte sie mit aller Kraft zu, sodass sie fast das Gleichgewicht verlor. Nach ein paar Minuten, in denen sie kontinuierlich an Energie abnahm, beendete er ihren Aufwand. „Okay.“ Er schien zu überlegen, wie er seine Aussage möglichst vorsichtig formulieren konnte. „Du... musst trainieren.“ Marys Gesicht verzog sich unwillkürlich zu einem Grinsen. Zuerst wirkte ihr Bruder irritiert, lachte sie dann aber an. „Zu vorsichtig?“ Sie musste schmunzeln: „Brauchst du nicht.“ Der blonde Mann, legte sanft eine Hand auf ihren Kopf, ging mit den Worten: „Warte kurz.“ in die Küche und brachte eine der beiden Reisetaschen mit ins Wohnzimmer. Dann reichte er ihr aus dieser ein paar Gewichte, die man sich um Hand- und Fußgelenke schnallte Sie war erleichtert, denn allzu schwer waren sie nicht. Er beobachtete sie dabei, wie sie sich die Gewichte mit einer Hand um das linke Gelenk schnürte oder es versuchte und nahm es ihr dann ab. „Geht’s so?“, er blickte sie von unten an, wo er sie an den Füßen befestigt hatte. Sie lächelte, was er erwiderte. Scheinbar erleichterte ihn ihre neue Art und Weise mit der Situation umzugehen. Max richtete sich wieder auf und fuhr sich durch die Haare. „Setz dich jetzt lieber hin.“ Sie runzelte die Stirn und tat wie geheißen. „Du hast gestern zwei Menschen erstochen...“, fing er an, wobei er ganz genau auf ihre Reaktion achtete. Sie wartete ruhig ab. „Dabei hast du ohne Plan auf den ersten Mann eingestochen. Denn zweiten konntest du mit einem einzigen Stich umbringen. War das Zufall?“ Sie überlegte kurz, um zu antworten: „Ich wollte auch ihn mit einem töten, aber...“ Sie betrachtete ihre Hände und erinnerte sich unwillkürlich an das tropfende Blut. Er setzte sich neben sie auf das Sofa und legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern. „Ich wollte beide mit einem Stoß ins Herz umbringen“, beendete sie ihre Überlegung. „Also weißt du, wo man zusticht.“ Sie sah auf, nicht ganz sicher, wie seine Wertung sein würde. „Das ist gut.“ Wenn sie bisher noch ihre Annahmen in Bezug auf seinen Job als Scherz abtun konnte, musste sie sich nun ganz sicher sein. Und seltsamerweise beruhigte sie das. Langsam drückte er sie mit dem Rücken auf die Couch, zog seinen Gürtel aus der Hose und fädelte ihn in ihre. „Für den Ernstfall?“, fragte sie und ließ ihn machen. Er schwieg und wich das erste Mal ihrem Blick aus. Als er fertig war, richtete sich Mary wieder auf und kam mit ihrem Gesicht so nahe, was ihn dazu zwang Blickkontakt aufzunehmen. „Ich soll jemanden“ Er ließ nicht zu, dass sie es aussprach und legte eine Hand auf ihren Mund. „Nein.“ Er schloss die Augen. „Aber es kann dazu kommen.“ Jetzt bohrte sich sein Blick durch ihre Augen, wodurch sie nur schwer verhindern konnte wegzusehen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihn alles fragen zu können, was sie wollte. Nun, da er schon so offen redete. Wer weiß, wann sich solch eine Situation wieder ergab. „Was hast du im Zug gemacht?“ Ihr Herz pochte schnell. Es war nicht mehr so, dass sie vor der Antwort Angst hatte, sondern, dass er ausweichen würde. Sie wollte unbedingt, dass er ihr ebenso vertraute wie sie ihm. Er seufzte leise und lehnte sich zurück. „Du weißt mittlerweile, worin mein Job besteht?“, fing er wieder vorsichtig an. Sie kicherte unwillkürlich, was seinen Blick wieder irritiert auf sie richten ließ. „Du hast es mir doch selbst gesagt.“ Er grinste. „Das hast du mir geglaubt?“ „Du hast mir meine Geschichte doch auch abgekauft.“ Max lachte laut auf: „Ja, ich habs ja auch gesehen.“ Erschrocken starrte sie ihn an: „Du hast gesehen, wie ich?“ Unwillkürlich unterbrach sie sich. Er nickte. Es war ihr unangenehm. Ganz offensichtlich war er ein Profi auf diesem Gebiet und sie hatte wie von Sinnen auf Janes Bruder eingestochen, sodass der gesamte Raum und sie voller Blut gewesen war. „B-beide?“, fragte sie um sicher zu gehen. Er musste sich zu ihr beugen, um ihr weggedrehtes Gesicht wieder in Augenschein nehmen zu können und streichelte ihr über den Rücken. „ Ich hab nur gesehen, wie du aus dem Haus gekommen bist.“ Erleichtert atmete sie aus. Max beobachtete jede Regung ihres hellen Gesichtes und setzte sich wieder aufrecht hin, als sie sich wieder ihm zuwandte. „Erzählst du mir, was du im Zug gemacht hast?“, fragte diesmal sie vorsichtig. Ihr Bruder hatte ganz klar versucht vom Thema abzulenken, also war sie sich fast sicher, dass er nichts Eindeutiges preisgeben würde. Der junge Mann fasste sich über das Gesicht und stieß die Luft aus. „Schon gut“, lächelte sie ihn an. Es war ihr wichtiger ihn nicht in die Bredouille zu bringen, als seine Vorgehensweise in Erfahrung zu bringen. Er öffnete wieder seine stahlblauen Augen und richtete den Blick auf sie. „Es ist noch zu früh dafür. Später, okay?“ Ihr Lächeln blieb konstant. Eine Weile saßen sie noch so da, dann stand er auf. „Ich geh jetzt duschen.“ Bevor er im Bad verschwinden konnte, rief sie ihm alarmiert hinterher: „Und was soll ich machen?!“ Er drehte sich schmunzelnd um. „Was du willst.“ Damit schloss er die Tür. Zwei Sekunden später ging sie wieder auf und der Blonde streckte den Kopf heraus. „Nur... Geh jetzt nicht mehr raus.“ Wenig später konnte sie das Geräusch rauschenden Wassers hören. Mary lehnte sich zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Gewichte ob ihrer Bewegungslosigkeit dermaßen an ihr ziehen würden. Ächzend stand sie auf und schlurfte zur Küche, um sich dort einen Apfel aus einer Obstschale zu nehmen. Hatte er das ganze Zeug in den kleinen Reisetaschen transportiert? Sie stellte sich ans Fenster und öffnete es. Sofort drang die klirrende Nachtluft in den Raum. Die blonde Frau stützte ihre Ellenbogen auf den Simms und legte genießerisch den Kopf zurück. In Summerville war die Nacht ganz anders. Zumindest empfand sie es so. Es war ihr, als seien nur Sekunden vergangen, als Max ein Handtuch über ihre Schultern legte und während sie sich zu ihm umwandte, sagte er: „Du kannst jetzt auch duschen.“ Er trug jetzt ein ärmelloses, dunkelblaues Shirt und Boxershorts, die Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab, vom Trocknen mit einem Handtuch wahrscheinlich. Sie stieß sich vom Fenstersimms ab und wollte an ihm vorbeilaufen, als er sich vor sie stellte und ihr die Gewichte von den Gelenken nahm. Nun fühlten sie sich unglaublich leicht an. Fast als könnte sie fliegen. Die warme Dusche tat ihr gut. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie steif ihre Glieder geworden waren. Auf dem Waschbecken lagen eine neue Zahnbürste und der weite Pullover, den sie in der vorigen Nacht getragen hatte. Max hatte sich um alles gekümmert. Mary musste sich das Gesicht dreimal waschen, da das Make-Up einfach nicht vor der Haut gehen wollte. Sie betrat das Wohnzimmer mit noch feuchten Haaren und sah sich um. Max war nicht in diesem Raum und auch nicht in der Küche. Als sie den Kopf ins Schlafzimmer steckte, entdeckte sie ihn dabei, wie er das breite Bett bezog und ließ den Blick irritiert von ihm zur Couch schweifen. „Soll ich auf dem Sofa schlafen?“, fragte sie und wühlte in den ungewohnt kurzen Haaren. Er richtete sich wieder auf und lächelte freundlich. „Nein, das Bett ist groß genug.“ Er winkte sie heran. Das Fenster stand weit offen, sodass sie sich beeilte mit den nackten Beinen unter die warme Decke zu kommen. Offenbar hatte es geregnet, denn unverkennbar frische Luft erfüllte den kleinen Raum. Nachdem sie sich hingelegt hatte, zog er ihr die Decke bis zum Hals und legte sich dann erst neben sie. Das einzige Licht, das noch in der Wohnung brannte, befand sich auf der kleinen Kommode gleich vor dem Bett. Max beugte sich herüber, um es auszuschalten, verharrte dann aber in der Bewegung. „Alles in Ordnung?“, fragte er noch einmal. Sie wandte das Gesicht zu ihm. Er schaute sie über die Schulter an und wartete auf eine Reaktion. Auf ihr Lächeln hin, knipste er den Schalter um und vollkommende Dunkelheit erfasste das Zimmer. Sie spürte noch, wie sich die Matratze ob seines Gewichts regte und lauschte auf seinen ruhigen Atem, bis sie einschlief. Der nächste Morgen begann für sie wie gewohnt mit Max angenehm tiefer Stimme. „Mary“, sagte er mit einer Lautstärke, die sie überhören konnte, wenn sie noch im Tiefschlaf wäre, doch sie öffnete verschlafen die Augen und richtete sich auf. Tatsächlich hatte sie einen Muskelkater, wo die Gewichte doch eigentlich nicht der Rede wert gewesen wären und auch nicht gerade lange an ihr gehangen hatten. „Morgen“, murmelte sie mit rauer Stimme. Der junge Mann nahm sanft ihre Hände und befestigte zu ihrem Verdruss besagte Gewichte wieder daran. Auch die Füße wurden schwerer. Als er ihren Blick sah, lachte er auf: „Tut mir ja leid.“ Dann reichte er ihr immer noch grinsend einen Teller. Er hatte seiner Schwester schon wieder Essen gemacht. „Danke.“ Sie nahm ihn entgegen und schaute zu ihm hoch. „Wenn du willst, mache ich mir das selbst.“ Sie überlegte kurz. „Oder soll ich das so wie du machen?“ Max runzelte missbilligend die Stirn. „Nein.“ Dann setzte er sich wie den Morgen davor neben sie. Sie wartete noch darauf, dass er ihre erste Frage beantwortete, doch da das nicht der Fall war, begann sie zu essen. „Milch...“, murmelte er kurz darauf und stand wieder auf. „Ich kann die auch selber“, rief sie ihm hinterher, aber er reagierte gar nicht. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie so umsorgte und sie traute sich auch nicht sich daran zu gewöhnen. Er kam mit einem Glas und der Packung Milch wieder herein und stellte beides auf den Nachtschrank neben ihr. „Ich muss in einer Stunde nicht lange weg“, setzte er sie in Kenntnis, während er sie dabei beobachtete, wie sie das warme Frühstück in ihren Magen beförderte. Die Blondine nickte wohl wissend, dass eine Frage deplatziert wäre. Als sie fertig war und schwer durch den Raum schlurfte, um ins Bad zu gehen, kam er hinterher und nahm ihr Teller, Besteck, Glas und leere Milchpackung ab. Eigentlich hatte sie noch vorhabt, diese in die Küche zu bringen und abzuwaschen beziehungsweise wegzuwerfen. „Ich hab dir neue Sachen ins Badezimmer gelegt. Kurz überlegte sie, ob sie nicht darauf bestehen sollte, sich selbst um das Geschirr zu kümmern, doch er war schon in der Küche verschwunden. Langsam trottete sie in das kleine mit Fliesen ausgelegte Zimmer. Auf einem tiefen Schrank lag neue Kleidung für sie. Pullover, Hose, Stümpfe, sogar Unterwäsche und alles passte wie angegossen. Bei einem Blick in den Spiegel schrak sie zusammen. Ihre Haare waren vollkommen durcheinander und standen wild ab. Auch die Bürste konnte sie nicht bändigen. Sie gab es auf und band sie mit einem ebenfalls bereitliegenden Zopfhalter zusammen. Etwas verschämt, denn sie wusste nicht wirklich, wie man Make-Up benutzte oder sich eine anständige Frisur machte, kam sie zurück ins Wohnzimmer, wo ihr großer Bruder auf der Couch saß und mit der Fernbedienung von Sender zu Sender im Fernseher zappte. Unschlüssig nahm sie neben ihm Platz, was seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. „Willst du heute rausgehen, während ich nicht da bin?“, fragte er und schaltete das Gerät auf tonlos. Sie brauchte nicht lange zu überlegen um den Kopf zu schütteln. „Gut.“ Er schien erleichtert über ihre Entscheidung. Ein paar Mal noch wechselte er das Programm und ließ die Fernbedienung dann sinken. „Oh...“, machte er, um sie zum Fernseher sehen zu lassen. Auf dem Bildschirm war das Foto eines Mädchens im Alter von circa 16 Jahren zu sehen. Sie hatte hüftlanges, hellbraunes Haar, braungrüne Augen und blasse Haut. Daneben erschien das Bild eines jungen Mannes mit den gleichen Augen und braunen, kurzen Haaren. In Mary stieg bei seinem Anblick noch immer Galle auf. Max blickte seine Schwester aufmerksam an. „Kannst du den Ton anstellen?“, fragte diese nur. Sie wollte wissen, ob Jane nur gesucht oder schon verdächtig war. Die Nachrichtensprecherin wurde mitten im Satz hörbar: „Geschwister aus Summerville verschwunden. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen Raubüberfall handelte, denn es waren Einbruchsspuren an der Wohnungstür auffindbar. Nun das Wetter.“ Der Blonde schaltete den Fernseher aus und drehte sich nach Marys Frage: „Einbruchsspuren?“ voll zu ihr. „Ich hielt es für besser, es so aussehen zu lassen.“ Sie nickte und versank fast vollständig in dem weichen Sofakissen, als sie sich zurücklehnte. Er sah ihr schmunzelnd hinterher. „Hast noch Hunger oder Durst?“, fragte er noch einmal, bevor er aufstand und Richtung Küchentür schlenderte. „Nein, danke!“, rief sie hinterher. Er kam mit der Obstschale zurück. „Du solltest trotzdem noch was Gesundes zu dir nehmen.“ Er hielt sie ihr hin und nur schwerfällig nahm sie sie entgegen. Die Gewichte und der Muskelkater zerrten an ihr, aber wegen so etwas beschwerte sie sich nicht. „Gehst du jetzt?“ Sie betrachtete ihren großen Bruder. Er trug dunkle, enge Kleidung, worin er sich vermutlich gut bewegen konnte. Der blonde Mann zog noch eine schwarze Jacke über und bejahte die Antwort, doch kurz nachdem er die Tür öffnete um die Wohnung zu verlassen, verharrte er und blickte auf sie zurück. „Trägst du den Gürtel, den ich dir gestern Abend gegeben habe?“ Er klang ernst, fast besorgt. Sie richtete sich umständlich auf und schlurfte ins Badezimmer. Als sie den Gürtel in die Hose eingefädelt hatte, was in Anbetracht der unvorteilhaften Gewichte schwerer denn angenommen war, richtete sie einen kurzen Blick in den Spiegel und zuckte für eine Sekunde zusammen, da sie nicht damit gerechnet hatte, dass er hinter ihr stehen würde. Der große Mann legte eine Hand auf ihre Schulter, die andere auf den von der Schwerkraft krummen Rücken und korrigierte so ihre Haltung. „Wenn was sein sollte, kannst du mich damit erreichen“, sagte er und gab ihr ein bisher scheinbar unbenutztes Handy. „Meine Nummer steht drin.“ Die blonde Frau lächelte ihn an und bedankte sich mit gerader Haltung. Er tätschelte ihr kurz den Kopf und ging zur Tür hinaus. „Und iss noch was!“, hörte sie ihn noch einmal rufen. Nun allein setzte sie sich wieder auf das Sofa und griff nach einer Mandarine. Mit dem Essen konnte sie sich prima von dem Gedanken ablenken ohne ihn in einer fremden Stadt zu sein. Irgendwann war sie fast übersatt und leider gab es sonst nichts zu tun. Mary lief ein paar Mal unschlüssig in der Wohnung umher. Den Fernseher wollte sie nicht anstellen, obwohl er sicher nichts dagegen haben würde, aber sie hatte gerade nicht die Muße etwas von der Welt zu erfahren oder sich einer Soap hinzugeben. Das alles erschien ihr seltsam bedeutungslos und beiläufig. Die Uhr in der Küche teilte ihr mit, dass es erst zehn Uhr morgens war und ihr Bruder hatte nicht gesagt, wann er wieder da sein würde. Sie überlegte, ob sie sich wieder an ihren Haaren versuchen sollte, oder sich mit der Schminke im Bad auseinandersetzten sollte, ließ aber von dem Gedanken ab, da die Gewichte jegliche Feinmotorik verhinderten und die wollte sie lieber nicht abnehmen. Für eine kurze Zeit streckte sie die Arme aus, um dem Muskelaufbau etwas nachzuhelfen, konnte dem aber nicht lange nachgehen, da ihre Gliedmaßen schon jetzt müde waren und schnell nachgaben. Also endete sie wieder auf dem weichen Sofa und döste. Gerade als sie drohte vollständig vor Langeweile einzuschlafen, klingelte das Mobiltelefon, das ihr Max gegeben hatte und sie sprang leicht desorientiert auf, nur um zu merken, dass es sich in der Hosentasche befand. Zittrig nahm sie den Anruf an, nicht ganz sicher, denn es wurde eine unbekannte Nummer angezeigt, doch als sie es ans Ohr legte, ertönte zu ihrer Erleichterung die Stimme ihres Bruders. „Mary, alles in Ordnung?“ „Ja“, antwortete sie schnell und bevor sie fragen konnte, redete er weiter. „Ich bin gleich wieder da, kannst du das Wohnzimmer in der Zeit wieder freiräumen? Und in der Tasche im Schlafzimmer liegt eine weiße... Decke... Leg die auf den Boden und einen Küchenstuhl stellst du darauf, ja?“ Sie runzelte irritiert die Stirn. „Äh, ja!“ Er legte auf und sie rannte durch den Wohnung um den Anweisungen Folge zu leisten. Kaum, dass sie fertig war und die Stube mit schiefem Kopf betrachtete, öffnete sich die Wohnungstür. Die kleine Frau erwartete Max zu sehen und erschrak, als sie sich des Mannes gewahr wurde, der blutend und offenbar nicht bei Bewusstsein über seiner Schulter hing. „Danke, Mary“, murmelte ihr Bruder und ging ganz normal an ihr vorbei. Er hievte den Bewusstlosen auf den Küchenstuhl und band ihn mit einem Seil fest. Sie starrte auf die nicht gerade dünne Blutspur, die der Fremde auf dem Flurboden hinterlassen hatte und konnte den Blick nicht abwenden. „Mary“, sagte Max, wohl um sie davon loszureißen, aber sie brauchte ein paar Sekunden dafür. Was sie sah, versetzte sie nicht minder in Aufregung. Der Blonde stand zwar vor dem blutenden Mann, aber man konnte den lädierten Körper dennoch sehen. Wenn auch spät, aber nun erfasste sie die Situation und mit einem plötzlichen Schub von Energie und nicht unbedingt unbegründeter Panik wirbelte sie herum und rannte aus der Wohnung. Auch im Treppenhaus war Blut zu sehen, wenn auch nicht viel, aber genug um ein platschendes Geräusch zu erzeugen, als sie hineintrat. Mit einer Mischung aus Übelkeit und Entsetzen starrte sie auf ihre ehemals weiße, nun rote, Socke und rutschte aus. Ehe sie auf dem Boden aufkam, legten sich muskulöse Arme um ihre Taille, doch in Anbetracht des Umstandes, dass durch ihrem Körper eher pures Adrenalin denn Blut raste, wehrte sie sich nach Kräften und schlug und trat nach dem Mann, der sie an sie drückte. „Mary“, versuchte er zu ihr durchzudringen. „Mary, beruhige dich!“ Sie zappelte noch immer wie ein frisch gefangener Fisch in seinen Händen, sodass er seine Umarmung verstärkte, was ihr die Luft aus den Lungen drückte. „Mary, ganz ruhig“, flüsterte er besänftigend. Nach kurzer Zeit fehlte ihr der Sauerstoff um weiter auf ihn einzuprügeln und sie schnappte, immer noch panisch, nach Luft, wodurch er seinen Griff etwas lockerte. Nun hatte sie keine Kraft sich auf mehr als das Atmen zu konzentrieren. Der kräftige Mörder ging in die Hocke, was sie in eine sitzende Lage versetzte, und nahm ihr Gesicht eine Hand. Nie war deutlicher, wie groß er doch war. Mit der anderen Hand hielt er ihre beiden Hände fest und legte ein Bein so über ihre, dass es ihr unmöglich war wieder auszutreten. Desorientiert sirrte ihr Blick durch das leere, heruntergekommene Treppenhaus. „Mary. Hör mir zu“, redete er auf sie ein, wartete dann aber ab, bis sich ihr Atem einer rhythmischen Regelmäßigkeit erfreute, die darauf hindeutete, dass sie sich zwar immer noch in heller Aufregung befand, die Versorgung ihres vor Anstrengung und Panik bibbernden Körpers allerdings gewährleistet war. „Hörst du mich?“, fragte er um sicher zu gehen, dass sie ihn jetzt wahrnahm. Sie starrte wieder auf das Blut auf dem Fußboden vor ihr, nickte jedoch. Er drehte ihr Gesicht zu seinem, was sie dazu zwang, sich davon loszureißen. Ängstlich sah sie ihn nun an. „Du gehst jetzt sofort in die Küche, stellst den CD-Player auf volle Lautstärke und hältst dir die Ohren zu“, wies er nahezu kalt an. Sie wollte den Kopf zurückziehen und gab ein winselndes Geräusch von sich, als sie merkte, dass das nicht möglich war. „Ist das klar?“, rief er lauter, korrigierte dann aber schnell seine Tonlage und wurde ruhiger. Zärtlich streichelte er ihr über das leichenblasse Gesicht. „Alles in Ordnung. Dir passiert nichts.“ Er hob den ausgelaugten Körper hoch und trug ihn mit schnellen Schritten in die Küche, sodass sie lediglich eine Mikrosekunde den Anblick des gerade aufwachenden Fremden auf dem Stuhl im Wohnzimmer ertragen musste. Max stellte besagten CD-Player an und bevor er die Lautstärke aufdrehte, setzte er sie auf den verbliebenen Stuhl, der am Tisch stand. Als wäre sie taub und bewegungsunfähig, saß sie da. Er nahm ihre Hände und legte sie ihr an die Ohren. Dann erst drehte er auf und ging mit dem Rücken hinaus zur Tür. Über die laute Musik hinweg konnte man das Klacken des Schlosses nicht wahrnehmen. Unfähig sich zu rühren lag sie fast auf dem Tisch. Und dann ertönte ein durch die nicht zu identifizierende Musik hindurch ein Schrei, der die junge Frau dazu bewegte sich mit aller verbliebenen Kraft die Ohren zuzuhalten. Doch das half nicht. Sie taumelte zu dem Gerät, das unermüdlich Töne von sich gab, und sackte daneben auf den eisigen Fliesenboden, die Hände immer noch auf den Ohren gepresst. Und noch immer war sie der Auffassung die Schmerzensschreie des fremden Mannes dumpf wahrzunehmen. Als würde es helfen, kniff sie zusätzlich die Augen zu, sodass die schmerzten. Irgendwann fühlte sie sich vollkommen von der Umwelt ausgeschnitten, sie unsichtbar und nicht hörbar für Menschen war und umgekehrt. Alle ihre Sinne schienen taub zu werden und sie verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Es war als schwebte sie, obwohl sie nur die Augen zu öffnen brauchte, doch der Gedanke daran machte der blonden Frau Angst. Ihr Magen zog sich zusammen und erzeugte eine Übelkeit, wodurch sie nur schwer an sich halten konnte. Sie zuckte heftigst zusammen, als sie eine Berührung auf der Haut spürte, konnte aber nicht die Augen aufmachen. Starke Arme legte sich um die Frau, die wieder anfing schneller zu atmen. „Tut mir leid“, flüsterte Max Stimme aus der Finsternis. Erst jetzt merkte sie, dass es ansonsten vollkommen still war. Keine Musik oder Schreie mehr. Er streichelte ihr sanft über den Rücken. Langsam öffnete sie die Augen und registrierte ihre vor Tränen nassen Wangen. Sie befand sich immer noch auf dem Boden, eingehüllt in seiner Umarmung. Vor psychischer und physischer Erschöpfung bibbernd klammerte sie sich an ihn, als er sie hochhob. Während der große Mann sie ins Schlafzimmer trug, drückte er sanft ihren Kopf an seine Brust, ließ ihr aber den Blick in die Wohnung frei. Das Wohnzimmer war leer. Keine Spur von den Grausamkeiten, die er hier oder in ihrer Vorstellung angerichtet hatte. Auch kein Blut. Und er trug nicht dieselbe Kleidung wie vorhin. Es drang kein Sonnenlicht mehr durch die Fenster im Schlafzimmer. Es musste also viel Zeit vergangen sein, aber sie fühlte kein menschliches Bedürfnis wie Hunger oder Durst. Nur Schwäche. Ohne sie aus der Umarmung zu lösen legte er sie ins Bett und zog die Decke über sie beide. Mary merkte, wie er die Gewichte von ihren Gelenken löste und sie sanft streichelte. Ihr Körper war in einem bedenklichen Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Panik, doch sie konnte nur einen Gedanken fassen, den sie in heiseren Worten zum Ausdruck brachte: „Ich hatte keine Angst, dass du mir was tust.“ Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln und machten sein T-Shirt nass. Max presste sie angenehm fester an sich. „Ich weiß“, flüsterte er zärtlich und streichelte ihr wieder über den kalten Rücken. Dann schwiegen beide, nur ihr hin und wieder lautes Schluchzen erzeugte ein Geräusch. Sie versuchte sich auf seinen ruhigen Atem und den Herzschlag zu konzentrieren, den die durch das Shirt und die Haut hören konnte. Nur seine Handbewegungen bewiesen, dass er wach war. Auch wenn sie nicht merkte, wenn sie einschlief, schreckte sie des Öfteren in dieser Nacht auf, um jedes Mal zu spüren, dass er sie wie zur Begrüßung näher an sich drückte und streichelte. Am Vormittag schlug sie dann endgültig die Lider auf und wieder spürte sie sich in seinen Armen. Er sagte nichts, bis sie den Kopf ein wenig hob. Jetzt war es ihr mehr als peinlich ihn anzusehen. Nicht nur, dass ihr Gesicht vom Heulen garantiert verquollen und rot war. Sie hatte gestern in ganzer Linie überreagiert. Mary war zwar immer noch heiser und vermutlich kaum zu verstehen, aber sie murmelte trotzdem leise: „Tut mir leid!“ Überflüssigerweise liefen ihr auch schon wieder Tränen über die Wangen. „Scht. Alles in Ordnung, Jane.“, flüsterte er nicht ansatzweise wütend. Ob ihrer kaum hörbaren Stimme kicherte sie und hob vollständig den Kopf: „Mary.“ Er lächelte und strich die Tränen von ihren Wangen. „Mary“, murmelte er ihr nach und fuhr ihr langsam durch die blonden Haare. Vorsichtig, als könnte sie zerbrechen, hob er das zierliche Gesicht noch ein Stück an und betrachtete es stirnrunzelnd. „Du musst etwas essen.“ Sie verzog das Gesicht zu einem verschämten Lächeln und entwandt sich aus dem lockeren Griff um aufzustehen. Max war sofort bei ihr, als ihre wackligen Beine nachzugeben drohten und stützte den immer noch schwachen Körper. Der gestrige Tag zeigte seine Folgen. „Bleib hier, ich hole dir was“, sagte er und setzte die junge Frau wieder aufs Bett. Nachdem er den Raum verlassen hatte, strich sie sich mit der Hand über das Gesicht und seufzte leise auf, denn wie erwartet war es vom langen Heulen verquollen und dementsprechen sehr unansehnlich. Möglichst schnell und tonlos kämpfte sie sich zum Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser entgegen, in der Hoffnung die Züge zu beruhigen, was allerdings eine eher mindere Wirkung hatte. Das Spiegelbild gefiel ihr wesentlich weniger als noch vor 24 Stunden. Als sie an sich vorbei sah, bemerkte sie ihren Bruder und seinen tadelnden Blick auf ihr. Ohne Worte warf er sie sich über die Schulter und trug sie zurück aufs Bett um ihr einen Teller mit warmem Frühstück auf den Schoß zu legen. Diesmal hatte er sowohl an Besteck als auch an Milch gedacht. Wie sonst auch nahm er neben ihr Platz und beobachtete sie beim Essen, doch als ihr ein Gedanke kam, unterbrach sie diesen Vorgang und drehte sich zu ihm: „Hast du gestern überhaupt selbst was gegessen?“ Kurz über die Sorge in ihrer rauen Stimme fassziniert, legte er den Kopf schief und lächelte dann brüderlich. „Um mich brauchst du dich wirklich nicht zu sorgen.“ Der Blonde tätschelte ihr zärtlich den Kopf. „Achte lieber darauf, dass du wieder zu Kräften kommst.“ Erneut nahm sie die Gabel in die Hand und erneut ließ sie sie wieder senken. „Wann müssen wir denn weiterfahren?“, fragte sie in Erinnerung an seine Worte von wor zwei Tagen, mit denen er ausgdrückt hatte am heutigen Tag den nächsten Zug zu nehmen. „Wir fahren morgen weiter“, sagte er schlicht. Unschlüssig darüber ob sie sich noch einmal entschuldigen sollte, denn seine Entscheidung beruhte ganz eindeutig auf ihre momentane gesundheitliche Situation, oder nicht, sah sie ihn an. „Iss weiter.“ Max klopfte ihr verständnisvoll auf den Rücken. „Wir haben’s nicht eilig.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)