Anders von Alaiya (Shibumi X Megumi) ================================================================================ Teil III - Kälte ---------------- Es war nur kurz nach acht, als Megumi am nächsten Tag das Hotel in der Nähe von Golden Gai verließ. Sie hatte die Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergraben und die Schultern hochgezogen, während sie es verfluchte, dass sie am Abend zuvor ihren Regenschirm offenbar in einer der beiden Bars vergessen hatte, da erneut ein leichter, aber eisig kalter Nieselregen vom Himmel fiel. Letzten Endes beschloss sie jedoch, dass dies erstaunlich gut zu ihrer Stimmung passte, und marschierte weiter durch den Regen. Da es Montag war und mitten in der morgendlichen Rushhour war es in der U-Bahn-Station, wie auch in der Bahn selbst unglaublich voll und es herrschte Hektik. Und auch wenn Megumi erst gegen Mittag Schicht hatte, so hatte auch sie es eilig nach Hause zu kommen. Sie hatte Kopfschmerzen und ihr allgemeiner Gemütszustand konnte nur mit einem absoluten Gegenteil von „glücklich und zufrieden“ beschrieben werden. Ein Teil von ihr wollte sich die Haare raufen, ein anderer hätte am liebsten geschrien, während ein dritter sich einfach in eine Ecke setzen und heulen wollte. Sie tat natürlich nichts davon und versuchte stattdessen einen möglichst beherrschten Gesichtsausdruck zu behalten. Selbst, als sie in ihrer Wohnung ankam, blieb sie ruhig; so ruhig, dass es sie selbst überraschte. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte diese ordentlich vor die Treppe, die in ihre Wohnung hinein führte, bevor sie zur Garderobe ging und ihren Mantel aufhing. Dann blieb sie stehen. Kurz überlegte Megumi, was sie machen sollte, und verfluchte es, dass sie noch würde mindestens zwei Stunden absitzen müssen, ehe ihre Schicht anfing. Schließlich schlurfte sie ins Badezimmer und kramte ihre Packung Aspirin aus dem Schrank über dem Waschbecken, ehe sie eine der Tabletten mit einem Becher Wasser herunterspülte, in der Hoffnung, dass es ihre Kopfschmerzen möglichst bald linderte. Sie schloss die Augen für einen Moment und stützte sich auf dem Waschbecken ab. So verharrte sie kurz, atmete einige Male tief ein und aus. Dann zog sie sich aus, ließ ihre Kleidung achtlos am Boden liegen, und stellte die Dusche an. Erst unter dem warmen Wasser entspannte sich ihr Körper und sie merkte, wie sie langsam etwas zur Ruhe kam. Noch immer kämpfte sie mit dem Drang zu weinen, schluckte immer wieder Tränen herunter. Sie wollte nicht weinen. Sie wollte sich selbst Stärke beweisen. Trotzdem merkte sie, wie einzelne Tränen brennend ihre Augen verließen und sofort vom Wasser der Dusche fortgespült wurden. Sie verfluchte sich selbst und verstand noch immer beim besten Willen nicht, was mit ihr am Abend vorher los gewesen war. Sie war nicht sie selbst gewesen, war es auch jetzt noch immer nicht. Dabei hatte sie doch gewusst, dass es dumm war. Zu gern hätte sie sich selbst eingeredet, dass das Bier dran schuld war, dass sie am Abend noch getrunken hatte. Doch alles, was sie ehrlich sagen konnte war, dass es sie leichtsinnig gemacht hatte. Dennoch hatte sie gewusst was sie tat oder war sich ihrer Handlungen zumindest durchaus bewusst gewesen. Sie hatte wirklich zu viel Zeit ihres Lebens in Bars verbracht, genug zumindest, dass sie im Gegensatz zu Reika noch nicht von zwei Glas Bier betrunken war. Reika... Für einen Moment überlegte sie ihre Freundin anzurufen. Auch wenn Reika nicht zuhause war, hatte sie zumindest ihr Handy dabei. Aber... Was sollte sie ihr sagen? Megumi verwarf den Gedanken wieder. Nein, Reika konnte ihr nicht helfen. Zumal sie ihrer besten Freundin nicht den Urlaub verderben wollte. Letzten Endes war sie es ja selbst in Schuld. Noch immer etwas zittrig begann sie schließlich sich einzuseifen und gründlich zu waschen. Dabei war sie bedacht nicht zu hektisch zu sein. Sie wollte versuchen, die Zeit, bis sie zur Arbeit gehen konnte vernünftig herum zu bekommen, hatte Angst davor, herum zu sitzen und nichts zu tun. Sie tat sich schon so schwer genug nicht zu grübeln. Schwer seufzend stellte sie schließlich das Wasser ab. Sie zog sich ihren Bademantel an und ging in Küche, wo sie sich zwang zumindest einen Becher Joghurt zu essen, auch wenn sie keinen Appetit hatte. Danach begann sie, weiterhin betont ruhig, sich anzuziehen, und sich aufwändiger als sonst für die Arbeit zurecht zu machen. Und obwohl sie eigentlich bemüht war, alles so langsam wie möglich zu machen, würde sie noch immer mehr als eine halbe Stunde zu früh sein. Erneut schloss sie die Augen und seufzte. Dann packte sie ihre Tasche und machte sich auf den Weg. Wie erwartet war sie mehr als eine halbe Stunde zu früh, als sie beim Tokyo Metropolitan Government Building ankam. Doch darum kümmerte sie sich im Moment nicht. Viel mehr war sie froh, dass es endlich aufgehört hatte zu regnen und sie so trockenen Fußes in den Räumlichkeiten Hypnos' ankam. „Oh, guten Morgen, Onodera-san“, wurde sie recht freudig von Takato begrüßt. „Guten Morgen“, echote auch Guilmon, das offenbar noch etwas schläfrig war. Sie musste sich ein Seufzen verkneifen, da sie ganz vergessen hatte, dass sie mit dem mittlerweile zwanzigjährigen Jungen eingeteilt war. „Guten Morgen“, erwiderte sie. „Du bist früh hier.“ „Dasselbe kann man auch von Ihnen sagen.“ Der Junge grinste. Für einen Moment schwieg sie. „Ja, kann man wohl“, gab sie dann zu und hängte ihren Mantel auf dem etwas veralteten Kleiderständer neben der Eingangstür auf. Dann seufzte sie. „Ich brauche erst einmal einen Kaffee.“ Damit verließ sie die Räume wieder, um den Kaffeeautomaten auf dem Flur aufzusuchen. Gerade als diese das heiße Getränk in einen Pappbecher füllte, hörte sie, wie eine Tür geöffnet wurde. „Guten Morgen, Onodera-san“, erklang eine freundliche Stimme hinter ihr. Automatisch drehte sie sich herum und sah Juri, Takatos Freundin, die trotz des relativ kalten Winters ein helles Kleid trug, auch wenn sie darunter eine weiße Strumpfhose an hatte. „Guten Morgen“, erwiderte sie, etwas verwirrt, das ebenfalls zwanzigjährige Mädchen hier zu sehen. „Was machst du hier?“ Dabei bemerkte sie zu spät, dass dies unfreundlicher herüber kam, als es gemeint war. „Ich dachte, ich leiste Takato ein wenig Gesellschaft.“ Das Mädchen lächelte. Megumi seufzte. Die junge Liebe. „Das ist nett von dir“, murmelte sie halbherzig und nippte nun an ihrem Kaffee, während sie sie aus dem Fenster zur Seite des Flures sah, von dem aus sie direkt auf den Vorplatz und den Central Park sehen konnte. „Sie sehen nicht gut aus“, meinte Juri nach einem kurzen Schweigen vorsichtig. „Danke“, erwiderte die ältere Frau sarkastisch. „Entschuldigen Sie, so habe ich das nicht gemeint.“ Hastig verbeugte Juri sich, was Megumi eine Augenbraue hochziehen ließ. Das Mädchen war eindeutig zu gut erzogen. „Ich meine, Sie sehen bedrückt aus.“ Die Ältere erwiderte nichts, sondern sah weiter aus dem Fenster. Sie hatte eigentlich kein Bedürfnis, mit einer zwanzigjährigen über ihre Probleme zu reden. Der Gedanke ließ sie seufzen. Zwanzig. Als der ganze Wahnsinn anfing, waren die Kinder zehn und sie selbst kaum älter als zwanzig gewesen. Und nicht zum ersten Mal stellte sie fest, dass es ihr schwer viel die ehemaligen „Kinder“ als Erwachsene anzusehen. Sie erschreckte sich immer noch regelmäßig, wenn sie Takato in der Zentrale herumlungern, also eigentlich arbeiten, sah. „Ist etwas passiert?“, fragte Juri weiter und schien dabei ernsthaft besorgt. Megumi zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln. „Nein“, erwiderte sie. „Es ist nichts wichtiges. Nur die unwichtigen Probleme einer alten Frau.“ Das Mädchen sah sie an. „Aber Sie sind doch noch jung.“ „Danke“, erwiderte Megumi und musste insgeheim feststellen, dass es mit das netteste war, was ihr jemand seit Wochen gesagt hatte. Erneut schwieg Juri kurz. „Wollen Sie wirklich nicht darüber reden?“ Dabei wirkte sie ernsthaft besorgt. „Es ist wirklich nichts“, antwortete Megumi. „Ich war nur etwas dumm und hatte außerdem eine lange Nacht. Sonst nichts.“ Sie schwieg kurz, ehe sie nachsetzte: „Aber danke für deine Besorgnis.“ Daraufhin gab die Jüngere nach. „Kein Problem“, erwiderte sie. „Wenn Sie doch noch darüber reden wollen, sprechen sie mich einfach an.“ Damit legte sie kurz ihre Hand auf Megumis Oberarm, ehe sie sich abwandte und in die Räume der Überwachungszentrale zurückkehrte. Die ältere Frau seufzte leise und sah auf ihren Kaffee. Sie wusste wirklich nicht, was am Abend zuvor mit ihr los gewesen war. Nun im Nachhinein fühlte sie sich, wie zuletzt im zarten Alter von einundzwanzig, als sie noch zur Uni ging, und allgemein dazu neigte, Dummheiten zu machen, die sie innerhalb von Stunden bereute. Sie erinnerte sich an die Verbitterung in Shibumis Gesicht, nachdem der Junge mit dem Digimon verschwunden war, erinnerte sich an die Kälte in seinen Augen. Warum hatte sie ihm vorgeschlagen, den Abend gemeinsam zu verbringen? War es aus Neugierde gewesen? Oder weil sie einsam war und keine Lust hatte den restlichen Abend allein zu hause vor dem Fernseher zu sitzen? Doch genau so sehr fragte sie sich, wieso er zugestimmt hatte. Er schien nicht der Mensch zu sein, der viel Zeit mit anderen verbrachte. Obwohl sie nicht behaupten konnte, dass sie ihn in irgendeiner Weise verstand. Trotzdem hatte sie schon vorher gewusst, dass sie, egal wie viele Fragen sie stellen würde, keine Antwort erhalten würde, dass sie die einzige sein würde, die an dem Abend wirklich redete. Trotzdem hatte sie gewusst, dass er schon lange fort sein würde, wenn sie am Morgen aufwachte. Sie hatte gewusst, dass es dumm war. Natürlich hatte sie es gewusst. Wieso hatte sie es trotzdem getan? Noch einmal nahm sie einem Schluck von ihrem Kaffee und wandte sich zur Tür, um Juri zu folgen. Sie musste auf andere Gedanken kommen. Die Wahrheit war, dass sie von Shibumi auf eine seltsame Weise fasziniert war. Sie war fasziniert von ihm, seinen Schweigen... Davon, dass er anders war. Dabei wusste sie, wie dumm es war. Sie wusste es. Als sie wieder in die Überwachungsräume zurückkam, schlief Guilmon bereits wieder, seinen roten Reptilienkopf auf die Vorderklauen gelegt, während Juri damit beschäftigt war ihrem Freund den Nacken zu massieren. Mit einem Blick in den Raum stellte sie fest, dass die dritte Person der Schicht vor ihnen offenbar bereits gegangen war. Und Terayama Shinobu, die mit ihnen zusammen Schicht hatte, war offenbar noch nicht da. Für einen Moment überlegte sie, ein Gespräch mit den vermeintlichen Kindern anzufangen, doch dann sah sie zu einer der Computerstationen und dachte an die Unterlagen, die sie am Vorabend gesehen hatte. Sie zögerte kurz. Doch dann siegte die Neugierde darüber, ob es stimmte, was Shibumi gesagt hatte. Vielleicht konnte sie hier mehr über die Veränderungen, die es in der digitalen Welt angeblich gab, herausfinden. Natürlich war es ein Vorwand, um ihren Verstand mit etwas anderen zu beschäftigen, doch nicht ganz, ohne dass sie neugierig war, was dabei herauskommen würde. Konnte es wirklich sein, dass sich eine ganze Welt auf einmal veränderte? Rechenbalken liefen über die verschiedenen Bildschirme der Station, Quelltexte erschienen und sie bemühte sich, so gut es ging, diese zu verstehen. Selbst wenn sie nichts herausfand, war es besser, als sich sechs Stunden zu langweilen und ihren trüben Gedanken nachzuhängen. Wenn etwas vor sich ging, wollte sie es wissen. Sie wollte es verstehen, wenn sie schon sich selbst nicht verstand. Nur einer Sache, war sie sich sicher. Sie würde Shibumi nicht suchen. Wahrscheinlich war er ohnehin schon lange fort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)